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Der Kommandant starrte ihn zunächst sprachlos an, weil er sich nicht vorstellen konnte, wodurch er sich verraten hatte. Allerdings blieb ihm kaum Zeit, lange darüber nachzudenken; er mußte irgend etwas unternehmen – je schneller, desto besser. Reejaaren hatte den Flugzeugen bereits zugerufen, sie sollten die Bree auf der Stelle festnageln, sobald sie zu fliehen versuchte, und die Katapulte am Ufer schleuderten weitere Maschinen in die Luft. Barlennan wußte nur zu gut, daß die Flugzeuge hier in Landnähe unbegrenzt lange in der Luft bleiben konnten; über dem Meer hätten sie vielleicht nicht genügend Höhe gewonnen, um ihre Speere wirksam einsetzen zu können – das hatte der Kommandant von Lackland erfahren –, aber die Bree war noch weit vom offenen Meer entfernt. Barlennan kannte die Zielsicherheit der Flugzeugbesatzungen und wußte, daß es zwecklos war, den Wurfgeschossen ausweichen zu wollen. Während er noch überlegte, ergriff Dondragmer die Initiative und langte nach der Armbrust, die Reejaaren ihnen geschenkt hatte. Er legte einen Bolzen auf die Sehne und spannte die Waffe mit einer Geschwindigkeit, die deutlich zeigte, daß er sich nicht nur mit seinem Flaschenzug beschäftigt hatte. Er legte die Waffe auf den verblüfften Dolmetscher an.

»Halt, Reejaaren, du bewegst dich in der falschen Richtung!« Der Insulaner blieb zögernd am Ufer stehen und schien zu überlegen, wie ernst diese Bedrohung zu nehmen war.

»Falls du glaubst, ich würde dich nicht treffen, weil ich mit der Waffe nicht umzugehen verstehe, kannst du ruhig weitergehen. Ich bin selbst neugierig. Und wenn du nicht bald hier herkommst, m ache ich gleich den ersten Versuch. Los, komm her!«

Reejaarens Unentschlossenheit war plötzlich verschwunden; er hatte offenbar beschlossen, Dondragmers Schießkünste nicht auf die Probe zu stellen, und schwamm jetzt gehorsam auf die Bree zu. Da er die Wirkung der Bolzen nur allzu gut kannte, machte er auch nicht den Versuch, im seichten Methan zu tauchen und unter der Oberfläche fortzuschwimmen. Als er an Bord kletterte, zitterte er vor Angst und Wut.

»Bildet ihr euch etwa ein, das könnte euch retten?« fragte er. »Die Flugzeuge greifen auf jeden Fall an, wenn ihr euch bewegt.«

»Du gibst ihnen jetzt den Befehl, es nicht zu tun«, wies Dondragmer ihn an.

»Die Besatzungen würden ihn nicht befolgen, solange ich in eurer Gewalt bin«, antwortete Reejaaren. »Das müßtet ihr eigentlich wissen, wenn es bei euch zu Hause eine Art Streitmacht gibt.«

»Wir haben uns nie mit Soldaten abgegeben«, erwiderte Barlennan, der inzwischen wieder Herr der Lage war. »Aber ich glaube dir sogar. Du bleibst jedenfalls an Bord, bis geklärt ist, daß wir nicht die Absicht haben, nochmals an Land zu gehen – es sei denn, wir werden vorher mit den Flugzeugen fertig.

Nur schade, daß wir keine modernen Waffen in diese rückständige Gegend mitgenommen haben.«

»Diesen Unsinn kannst du dir sparen«, warf der Gefangene ein. »Ihr habt keine besseren Waffen als die übrigen Barbaren. Ich gebe zu, daß ich mich zunächst habe täuschen lassen, aber vorhin hast du dich verraten.«

»Weshalb glaubst du, daß ich lüge?«

»Ich sehe keinen Grund, es dir zu erklären«, antwortete Reejaaren trotzig.

»Ich kann mir vorstellen, worum es sich handelt, Barl«, warf Dondragmer ein. »Du erinnerst dich sicher an die Bedenken, die ich von Anfang an vorgebracht habe… Aber daran ist jetzt nichts mehr zu ändern. Die Flugzeuge sind unser wichtigstes Problem; ich sehe keine Schiffe in der Nähe, und die Leute am Ufer haben nur drei oder vier Armbrüste, mit denen sie nicht viel ausrichten können.

Ich nehme an, daß sie sich vorläufig auf die Flugzeuge verlassen werden.« Er sprach auf Englisch weiter. »Haben die Flieger zufällig erwähnt, wie wir uns gegen diese verdammten Maschinen zur Wehr setzen könnten?«

Barlennan konnte sich nur an die günstigen Luftströmungen über dem Meer erinnern, die hier am Strand jedoch nicht sehr nützlich waren. »Vielleicht können wir mit der Annbrust nach ihnen schießen«, meinte er schließlich in seiner Sprache.

Reejaaren schnaubte verächtlich, aber Krendoranic, der Waffenoffizier der Bree, griff die Idee begierig auf.

»Ausgezeichnet, Barl!« rief er. »Dabei kann ich gleich etwas anderes versuchen, das mir seit unserem Erlebnis am Fluß vorschwebt.«

»Was?«

»Ich möchte es lieber nicht erklären, solange u nser Freund zuhört. Zeigen wir es ihm doch gleich!«

Barlennan gab seine Zustimmung und wußte nicht recht, was er sagen sollte, als Krendoranic daraufhin einen der Flammentanks öffnete. Aber der Waffenoffizier wußte, was er tat: Er nahm ein kleines Bündel heraus, das in lichtundurchlässigem Stoff eingeschlagen war, und zeigte nun, was ihm seit dem Überfall am Fluß eingefallen war.

Das Bündel war kugelrund und sollte offenbar geworfen werden, denn Krendoranic hatte die Vorteile dieser neuen Methode rasch erkannt; aber jetzt verbesserte er sie sogar noch und befestigte das Bündel an einem Bolzen der Armbrust. Er hatte sich mit dieser Waffe bereits vertraut gemacht und war davon überzeugt, ein ortsfestes Ziel aus größerer Entfernung treffen zu können. Bewegliche Ziele boten eher Schwierigkeiten, aber die Flugzeuge waren dafür entsprechend größer.

Krendoranic gab einem seiner Leute ein Zeichen, er solle sich mit einer Lunte neben ihm bereithalten, hob die Armbrust und zielte auf das nächste Flugzeug, das langsam heranschwebte. Als er seiner Sache sicher war, erteilte er dem Helfer einen kurzen Befehl und folgte dabei weiter der Bahn des Segelflugzeuges. Das Bündel an der Spitze des Bolzens fing Feuer, Krendoranic betätigte den Abzug, und eine Rauchfahne bezeichnete den Weg des Geschosses.

Der Waffenoffizier und sein Helfer warfen sich sofort zur Seite, um dem Rauch zu entgehen, und die Besatzungsmitglieder in der Nähe flüchteten ebenfalls. Als sie sich endlich in Sicherheit gebracht hatten, trat der gewünschte Erfolg bereits ein.

Der Bolzen hätte das Ziel fast verfehlt, denn Krendoranic hatte die Geschwindigkeit des Flugzeugs unterschätzt. Das Brandgeschoß steckte im hintersten Teil des Rumpfes und brannte dort knisternd weiter; dabei erzeugte es eine lange Rauchspur, der die folgenden Maschinen keineswegs auszuweichen versuchten. Die Besatzung des getroffenen Flugzeugs brauchte den giftigen Rauch nicht zu fürchten, aber die Maschine ließ sich schon Sekunden später nicht mehr steuern und stürzte ab. Pilot und Besatzung sprangen aus dem Wrack, bevor es am Strand zerschellte. Die beiden folgenden Flugzeuge schwankten heftig, als der Rauch die Besatzungen betäubte, und gingen in der Bucht nieder. Krendoranic hatte sich als Meister der Luftabwehr erwiesen.

Barlennan wartete nicht ab, bis das letzte Flugzeug abgestürzt war, sondern ließ alle Segel setzen.

Der Wind war nicht günstig, aber durch geschicktes Kreuzen erreichte die Bree bald die Mitte der Fahrrinne. Vom Ufer her drohte keine Gefahr, denn die Insulaner waren erschrocken geflohen, als Krendoranic ein zweites Brandgeschoß in ihre Richtung schickte.

Reejaaren hockte schweigend an Deck, aber allein seine Körperhaltung drückte tiefste Verzweiflung aus. Über der Bucht schwebten noch weitere Segelflugzeuge, die jetzt Höhe zu gewinnen versuchten, als wollten sie von dort aus einen Angriff wagen; aber er wußte, daß die Bree nur Zufallstreffer a bbekommen würde, wenn der Angriff aus dieser Höhe erfolgte. Eines der Flugzeuge setzte in hundert Meter Höhe dazu an, aber Krendoranic erschreckte den Piloten mit einem Brandbolzen und unterband damit ähnliche Versuche. Die Maschinen zogen weite Kreise um die Bree, als das Schiff jetzt die Bucht verließ.

»Was habt ihr eigentlich angestellt, Barl?« erkundigte Lackland sich, der die Ereignisse der letzten Tage nur teilweise auf seinen Bildschirmen gesehen hatte. »Ich wollte mich nicht einmischen, um deine Pläne nicht zu stören, aber jetzt könntest du mir erzählen, was geschehen ist.«

Barlennan schilderte ihm die jüngste Entwicklung, nachdem er die Besatzung angewiesen hatte, das Schiff nachts in Ufernähe zu halten. Reejaaren verfolgte entsetzt das Gespräch, denn er nahm selbstverständlich an, Barlennan melde jetzt weiter, was er ausspioniert hatte; er konnte sich allerdings nicht vorstellen, auf welche Weise die Verständigung erfolgte. Bei Sonnenaufgang bat er demütig, hier in Land gelassen zu werden, solange die Bree noch in Ufernähe war; Barlennan hatte zum erstenmal fast Mitleid mit ihm und ließ ihn über Bord gehen. Lackland beobachtete diese Szene erleichtert; er kannte Barlennan recht gut, war aber nicht imstande gewesen, genau zu beurteilen, was der Kommandant unter diesen Umständen für richtig halten würde.

»Barl«, sagte er nach einer kurzen Pause, »könntest du einige Wochen lang nichts mehr anstellen, bis wir uns wieder einigermaßen erholt haben? Seit eurem letzten Abenteuer sind alle hier oben um zehn Jahre gealtert.«

»Und wer hat mich überhaupt in diese Lage g ebracht?« fragte der Mesklinit ungerührt. »Hättet ihr mir nicht geraten, hier Schutz vor dem Sturm zu suchen, den wir auf dem Meer besser überstanden hätten, wäre ich den Inselbewohnern nie begegnet.

Aber ich bin ganz zufrieden damit; ich habe viel gelernt und weiß, daß einige deiner Freunde begeistert zugesehen haben. Unsere Fahrt war bisher fast langweilig; diese kleinen Auseinandersetzungen bringen Abwechslung in die Sache – und sogar Gewinn.«

»Was ist dir lieber: Abenteuer oder Gewinne?«

»Hmmm, das ist schwer zu sagen. Ich lasse mich manchmal auf Dinge ein, die interessant sein könnten; aber ich bin natürlich froh, wenn dabei ein Gewinn herauskommt.«

»Dann konzentrierst du dich bitte in Zukunft auf den Gewinn dieser Fahrt. Wenn du willst, sammeln wir hundert oder tausend Schiffsladungen Gewürze für dich und bringen sie an den früheren Liegeplatz der Bree. Als Gegenleistung erwarten wir nur, daß du auf weitere Abenteuer verzichtest.«

»Vielen Dank, ich verdiene auch so genug. Das wäre zu langweilig.«

»Ich kann dir nichts befehlen«, antwortete Lackland, »aber ich hoffe, daß du daran denkst, wie viel vom Erfolg deiner Reise abhängt.«

Barlennan versicherte ihm, er denke ständig daran, was in gewisser Beziehung zutraf, und setzte die weitere Fahrt in Richtung Süden fort.

An der Vierzig-g-Linie steuerte die Bree nach Südosten, um einem Festlandsvorsprung auszuweichen, der nach Osten ins Meer hinausragte. Tatsächlich segelte das Schiff jetzt durch eine verhältnismäßig schmale Meeresstraße, deren Küsten aber von Bord aus nicht zu sehen waren.

Als die Bree das andere Meer erreicht hatte und sich der Sechzig-g-Linie näherte, begann das Kanu, das noch immer im Schlepptau hing, allmählich tiefer zu sinken. Eine Untersuchung ergab, daß der Bootsboden unter Methan stand, obwohl der Rumpf kein sichtbares Leck aufwies. Barlennan ließ das Kanu ausschöpfen und bestimmte einen seiner Leute, der es regelmäßig kontrollieren sollte.

Diese Maßnahme genügte zunächst; das Kanu schwamm nach jedem Ausschöpfen so hoch wie früher, aber das unsichtbare Leck schien immer größer zu werden. Lackland wußte ebenfalls keine Erklärung für dieses Phänomen, meinte aber, das Holz sei vielleicht porös; in diesem Fall hätte das Boot jedoch von Anfang an leck sein müssen.

Die Entwicklung erreichte ihren Höhepunkt vor der Zweihundert-g-Linie, als die Bree ein Drittel ihrer Seereise runter sich hatte. Der Besatzungsangehörige, den Barlennan für diese Aufgabe abgestellt hatte, kletterte eines Tages wie gewöhnlich in das Kanu, um es auszuschöpfen. Das Boot sank unter seinem Gewicht selbstverständlich etwas tiefer, und die Bordwände gaben eine Kleinigkeit nach; als die Seiten nachgaben, sank es noch tiefer… Als es noch tiefer sank, gaben die Seiten weiter nach… Der ganze Vorgang dauerte nur Bruchteile von Sekunden. Der überraschte Matrose fand sich plötzlich im Meer wieder, stellte fest, daß das Boot dicht unter der Oberfläche schwamm, weil die Ladung genügend Auftrieb besaß, und kletterte an Bord der Bree zurück. Dort wurde er von der g esamten wachfreien Besatzung erwartet, die auf das Verschwinden des Kanus aufmerksam geworden war. Der Kommandant ließ es an Bord holen und entleeren; da das elastische Holz jedoch wieder seine frühere Form angenommen hatte, konnte niemand sich vorstellen, was geschehen war.

Lackland wurde um seine Meinung gebeten und ließ sich ausführlich schildern, wie das Boot versunken war. Als er dann erklärte, daß die Bordwände unter dem Druck der umgebenden Flüssigkeit nachgegeben haben mußten, wich Barlennan Dondragmers Blick aus und fühlte sich auch nicht getröstet, als der Maat hinzufügte, Reejaaren sei bestimmt nur deshalb mißtrauisch geworden.

Schwimmende Hohlkörper! Die Inselbewohner mußten längst erkannt haben, daß Boote dieser Art weiter im Süden nicht zu verwenden waren.

Das Kanu wurde am Deck vertäut, obwohl es dort wertvollen Platz einnahm, und Barlennan ließ es mit Nahrungsmitteln voll packen, die sonst nicht so hoch gestapelt werden konnten. Dondragmer brachte Bedenken vor, weil das Boot die Biegsamkeit des Schiffskörpers beeinträchtigte, da es sich über drei Flöße erstreckte, aber der Kommandant ließ sich nicht davon abbringen, es an Bord zu behalten. Die Zeit verging; erst Hunderte, dann Tausende von Tagen. Für die Meskliniten, die von Natur aus langlebig waren, bedeutete die Zeit wenig, aber die Beobachter auf Toorey hatten den Eindruck, sie stehe still, während die Bree unendlich langsam ihrem Ziel näherkam. Lackland und seine Freunde unterhielten sich mit Barlennan, verfolgten den roten Strich auf dem Globus, bestimmten die Position des Schiffes, gaben den Kurs durch, lehrten die Besatzung Englisch und warteten ungeduldig, bis vier Erdmonate – über neuntausendvierhundert Tage auf Mesklin – vergangen waren.

Die Bree erreichte die Vierhundert-g-Linie, segelte weiter, ließ die Sechshundert-g-Linie hinter sich zurück und drang weiter nach Süden vor. Die Tage wurden länger, bis die Sonne schließlich nicht mehr unterging, und der Horizont schien an allen Seiten über dem Schiff aufzusteigen, wie Barlennan Lackland vor langer Zeit erklärt hatte. Der Kommandant hörte auch jetzt geduldig zu, als die Beobachter ihm versicherten, dabei handle es sich nur um eine optische Illusion; aber als endlich Land vor ihnen aus dem Meer auftauchte, lag es offenbar ebenfalls über ihnen – wer konnte da noch von Illusionen sprechen?

Die Bree erreichte eine gewaltige Bucht, die dreitausend Kilometer weit nach Süden führte – über die Hälfte der Entfernung zum Ziel, wo die gestrandete Rakete lag. Das Schiff kreuzte durch die Bucht, die sich allmählich verengte, und lief in eine Flußmündung ein. Hier mußte abwechselnd ein Teil der Besatzung an Land gehen und die Bree treideln, denn die Strömung ließ sich nicht mehr mit Hilfe der Segel überwinden. Wieder vergingen Tage und Wochen, aber die Männer auf Toorey verfolgten jetzt mit zunehmender Spannung den Weg des Schiffes stromaufwärts. Das Ziel war fast in Sicht, und die Beobachter zweifelten nicht daran, daß es bald erreicht sein würde.

Dann kam die Enttäuschung, die nur mit dem Zwischenfall vor einigen Monaten vergleichbar war, als Lacklands Schlepper ein unüberwindbares Hindernis erreicht hatte. Die Barriere war ähnlich, aber diesmal befanden sich Schiff und Besatzung am Fuß einer Klippe, anstatt am oberen Rand. Die Felswand war hundert Meter hoch, nicht nur zwanzig, und hier an der Siebenhundert-g-Linie waren die Meskliniten nicht mehr imstande, rasch und leicht zu klettern, wie sie es am. Äquator getan hatten.

Die Rakete war nur achtzig Kilometer vom Fuß der Felswand entfernt; der Höhenunterschied betrug jedoch – auf menschliche Verhältnisse umgerechnet – etwa fünfundfünfzig entlang einer senkrechten Wand.

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