Sieben Stunden später verschaffte sich Conway zwar lustlos, aber doch mit einem gewissen Maß an Triumph einen Überblick über seinen schwerbeladenen Schreibtisch. Er rieb sich die Augen und blickte zum gegenüberstehenden Schreibtisch hinüber. Einen Augenblick lang fühlte er sich, als ob er wieder auf Etla wäre und ein rotäugiger Major Stillman aufschauen und ihn fragen würde, was er denn wolle. Doch statt dessen blickte ihn Colonel Skempton mit seinen rotunterlaufenen Augen an, als ihn Conway ansprach.
„Die Aufgliederung der Patienten, die evakuiert werden müssen, ist jetzt vollständig“, sagte Conway müde. „Die Patienten sind zuerst nach Spezies eingeteilt, woraus man die Anzahl der zum Abtransport benötigten Schiffe sowie die auf jedem Schiff zu reproduzierenden Lebensbedingungen ablesen kann. Aus diesem Grund sind für einige der exotischeren Arten sogar Konstruktionsänderungen an den Schiffen erforderlich, und das braucht natürlich Zeit. Dann sind auf der Liste die Patienten der einzelnen Spezies noch einmal nach dem Grad ihres jeweiligen Gesundheitszustands aufgeteilt, wodurch letztendlich die Reihenfolge des Abflugs bestimmt wird.“
Es sei denn, dachte Conway verärgert, der Zustand eines Patienten war so ernst, daß ein Transport sein Leben gefährden würde. In so einem Fall mußte man nämlich den betreffenden Patienten als Letzten statt als Ersten evakuieren, damit man die Behandlung so lange wie möglich fortsetzen konnte. Das wiederum würde bedeuten, spezialisiertes medizinisches Personal zurückhalten zu müssen, das man andernfalls schon längst evakuiert hätte, wobei sich das Leben des Patienten zu diesem Zeitpunkt bereits durch Raketen eines feindlichen Kriegsschiffs in viel größerer Gefahr befinden könnte. Im Orbit Hospital schien nichts mehr ordentlich und schön der Reihe nach abzulaufen.
„.dann wird es noch ein paar Tage dauern, bis O’Maras Abteilung das Pflege- und Wartungspersonal abgefertigt hat“, fuhr Conway fort. „Obwohl O’Mara ihnen natürlich nur ein paar Fragen in einem bestimmten Rahmen stellen muß. Bevor ich hier angekommen bin, hatte ich eigentlich schon mit einem Angriff auf das Hospital gerechnet. Im Augenblick weiß ich nicht, ob ich mich auf eine panikartige Evakuierung einstellen soll, die wenigsten achtundvierzig Stunden benötigen wird und durch die wir wahrscheinlich mehr Patienten töten als retten würden, oder ob ich mir mehr Zeit lassen und allenfalls mit einer überstürzten Evakuierung rechnen muß.“
„Ich kann den Transport jedenfalls nicht innerhalb von achtundvierzig Stunden organisieren“, erwiderte Skempton knapp und senkte den Kopf wieder. Als Chef der Wartungsabteilung und rangältester Offizier des Monitorkorps im Hospital hatte man ihm die Aufgabe übertragen, die Transportschiffe zusammenzuziehen, sie umzubauen und ihre Routen festzulegen. Und damit hatte man ihm wirklich eine unvorstellbare Menge Arbeit aufgebürdet.
„Ich will von Ihnen lediglich wissen, wieviel Zeit uns Ihrer Meinung nach noch bleibt“, hakte Conway nach.
Der Colonel blickte wieder auf. „Entschuldigen Sie, Doktor“, entgegnete er. „Hier ist eine ziemlich genaue Berechnung, die ich vor ein paar Stunden erhalten hab.“ Er nahm ein Blatt von der obersten Papierschicht auf seinem Tisch und begann, davon abzulesen.
Unterzog man alle bekannten Faktoren einer genauen Analyse, so legte der Bericht dar, dann würde, sobald das Imperium die genaue Position des Orbit Hospitals herausgefunden hatte, wahrscheinlich noch eine kurze Zeit bis zur ersten Reaktion vergehen. Denn zuerst einmal würde das Imperium die Angaben mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit durch ein Aufklärungsschiff oder eine kleine Aufklärungstruppe überprüfen lassen. Die gegenwärtig um das Orbit Hospital herum stationierten Einheiten des Monitorkorps würden natürlich versuchen, diese Truppe zu vernichten. Und ob sie damit nun Erfolg hätten oder nicht, der nächste Schritt des Imperiums wäre dann auf jeden Fall entschlossener, vielleicht sogar eine groß angelegte Offensive, deren Vorbereitung allerdings mehrere Tage in Anspruch nehmen würde. Inzwischen hätten jedoch zusätzliche Einheiten des Monitorkorps das Gebiet erreicht.
„.sagen wir also acht Tage“, schloß Skempton, „vielleicht sogar drei Wochen, wenn wir Glück haben. Ich glaube aber nicht, daß wir Glück haben.“
„Danke“, entgegnete Conway und machte sich wieder an die Arbeit.
Als erstes bereitete er einen grob umrissenen Situationsbericht vor, der in den nächsten sechs Stunden an das medizinische Personal verteilt werden sollte. Darin hob er so stark wie möglich die Notwendigkeit einer schnellen, geordneten Evakuierung hervor, ohne sie allerdings so zu übertreiben, daß daraus Panik erwuchs. Er empfahl, die Patienten durch ihren jeweiligen Arzt zu informieren, um ihnen so wenig Sorgen wie möglich zu bereiten. Bei schwerkranken Patienten sollten die verantwortlichen Ärzte nach eigenem Ermessen entscheiden, ob sie die Patienten aufklären oder lieber unter Beruhigungsmitteln evakuieren wollten. Conway fügte seinem Bericht außerdem die Mitteilung hinzu, daß eine momentan noch unbestimmte Anzahl medizinischer Mitarbeiter zusammen mit den Patienten evakuiert werden würde und jeder darauf vorbereitet sein sollte, das Hospital innerhalb weniger Stunden zu verlassen. Dann schickte er dieses Dokument zur optischen und akustischen Vervielfältigung an die zuständige Abteilung, damit alle ungefähr zur gleichen Zeit in den Besitz dieser Informationen gelangen würden.
Zumindest steckte diese Idee dahinter. Aber so, wie er die Gerüchteküche des Orbit Hospitals kannte, würden die wesentlichen Einzelheiten schon zehn Minuten nach Verlassen seines Schreibtisches in Umlauf sein.
Als nächstes arbeitete er detailliertere Anweisungen bezüglich der Patienten aus. Die warmblütigen, sauerstoffatmenden Lebensformen konnten das Orbit Hospital zwar durch irgendeine von mehreren möglichen Ebenen verlassen, doch die Spezies mit großer Schwerkraft und hohem Druck würden noch besondere Probleme aufwerfen, ganz zu schweigen von den unter geringer Schwerkraft lebenden MSVKs und LSVOs, den riesigen, wasseratmenden AUGLs, den unter extremer Kälte lebenden Methanarten und den ungefähr zwölf Wesen auf Ebene achtunddreißig, die extrem heißen Dampf atmeten. Conway veranschlagte für das Unternehmen bei den Patienten eine Dauer von fünf Tagen und noch einmal zwei für das Personal. Aber für diese schnelle Räumung der Stationen würde er die Wesen durch ihnen unbekannte Ebenen zu ihren Einschiffungspunkten schicken müssen. Es bestand durchaus die Möglichkeit, daß Umweltbedingungen mit einer Chloratmosphäre durch Sauerstoff verseucht werden könnten, und die Gefahr, daß Chlor in die AUGL-Stationen entwich, oder alles von Wasser überflutet wurde. Man müßte Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, damit nicht die Kühlmaschinen der Methanlebensformen ausfielen, die Schwerkraftgürtel der zerbrechlichen, vogelähnlichen LSVOs versagten oder die Druckhüllen der Illensaner in sich zusammenfielen.
In einem Hospital mit vielfältigen Umweltbedingungen stellte eine Verseuchung die größte Gefahr dar, und zwar die Verseuchung durch Sauerstoff, Chlor, Methan, Wasser, Kälte, Hitze oder Strahlung. Denn während der Evakuierung würde man die Sicherheitsvorrichtungen, die üblicherweise in Betrieb waren — wie zum Beispiel gasdichte Türen, Doppelschleusen zwischen den Ebenen und die verschiedensten Meß- und Alarmsysteme —, im Interesse einer schnellen Flucht außer Kraft setzen müssen.
Sobald die Patienten schließlich ohne Zwischenfall an den Einschiffungspunkten angelangt waren, müßte man vor der Einschiffung erst das Personal zur Inspektion des Transporters abkommandieren, um auch die exakte Reproduktion der Umweltbedingungen der mitfliegenden Patienten sicherzustellen.
Auf einmal streikte Conways Verstand — er war einfach nicht mehr aufnahmefähig. Er schloß die Augen, ließ den Kopf in die Hände sinken und beobachtete, wie das Nachbild seiner Schreibtischplatte langsam in einen Rotschimmer überlief. Er hatte diesen ganzen Papierkram allmählich satt; seit er den Auftrag auf Etla erhalten hatte, bestand sein Leben nur noch aus Schreibarbeit: Berichte, Zusammenfassungen, Tabellen, Anweisungen.
Er war ein Arzt, der zur Zeit eine komplizierte Operation ausarbeitete; aber es handelte sich um die Art Operation, die eher von einem leitenden Büroangestellten durchzuführen war als von einem Chirurgen. Schließlich hatte er nicht den größten Teil seines Lebens mit einem Studium und einer langwierigen Ausbildung verbracht, um Büroangestellter zu werden.
Er stand auf, entschuldigte sich mit heiserer Stimme beim Colonel und verließ das Büro. Ohne wirklich darüber nachzudenken, ging er in Richtung der ihm zugeteilten Stationen.
Gerade fing eine neue Schicht mit dem Dienst an, und für die Patienten war es eine Stunde vor der ersten Tagesmahlzeit. Für eine Chefarztvisite war die Zeit deshalb eigentlich sehr ungewöhnlich, und die leichte Panik, die Conway dadurch auslöste, wäre unter anderen Umständen komisch gewesen. Er grüßte freundlich den diensthabenden Medizinalassistenten und stellte mit einiger Überraschung fest, daß es sich um genau den gleichen creppelianischen Oktopoden handelte, den er noch zwei Monate zuvor als Auszubildenden kennengelernt hatte. Als ihm der AMSL dann unbedingt, wenn auch in respektvollem Abstand, bei seiner Visite folgen wollte, ärgerte sich Conway. Für einen relativ unerfahrenen Medizinalassistenten war dieses Verhalten natürlich vollkommen korrekt, aber in diesem Moment wollte Conway mit seinen Patienten und seinen eigenen Gedanken lieber allein sein.
Am stärksten von allem verspürte er das Bedürfnis, die manchmal seltsamen, aber immer wunderbaren extraterrestrischen Patienten zu sehen und zu sprechen, die zwar theoretisch gesehen unter seiner Obhut standen, denen er aber praktisch noch nie begegnet war — alle Lebewesen, die er vor dem Abflug zum Planeten Etla kennengelernt hatte, waren nämlich inzwischen schon längst entlassen worden. Er warf keinen Blick auf die Diagramme der Patienten, weil er im Moment eine Allergie gegen die Abstraktion von Informationen durch gedruckte Zahlen hatte. Statt dessen befragte er sie eingehend und fast begierig über ihre Krankheitssymptome, ihre Verfassung und ihren Werdegang. Einige der geringfügigeren Fälle waren erfreut und verblüfft zugleich, daß ihnen von einem Chefarzt so viel
Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde, während sich einige andere von seiner Neugier möglicherweise eher belästigt fühlten. Doch Conway mußte einfach so handeln; denn solange er noch Patienten hatte, wollte er auch Arzt sein.
Und zwar ein Arzt für ETs…
Das Orbit Hospital löste sich auf. Das gewaltige, komplexe Bauwerk, das der Linderung des Leidens und dem Fortschritt der xenologischen Medizin gewidmet war, stand vor dem Kollaps, erlag wie jeder unheilbare Patient einer übermächtigen Krankheit. Morgen oder übermorgen würden sich diese Stationen langsam leeren. Die Patienten, die sich in Physiologie, Metabolismus und in ihren Beschwerden auf so exotische Weise unterschieden, wären verschwunden. In abgedunkelten Stationen würden sich die seltsamen und wunderbaren Spezialanfertigungen, unter denen sich Aliens ein bequemes Bett vorstellten, wie surrealistische Gespenster an den Wänden entlang zusammenkauern. Und mit dem Abflug der ET-Patienten und des Personals würde auch keine Notwendigkeit mehr bestehen, die für sie lebensnotwendigen Umweltbedingungen aufrechtzuerhalten, die Translatoren zu betreiben, die ihnen die gegenseitige Verständigung ermöglichten, die Physiologiebänder zu speichern, die eine Spezies in die Lage versetzte, eine zweite zu behandeln.
Doch das größte Hospital für ETs in der Galaxis würde nicht vollkommen untergehen, jedenfalls nicht in den nächsten paar Tagen oder Wochen. Das Korps hatte zwar keine Erfahrung in interstellaren Kriegen, denn der sich hier anbahnende Krieg war immerhin der erste, doch glaubten die Monitore zu wissen, was sie erwartete. Unter den Schiffsbesatzungen wurde mit starken Verlusten gerechnet. Die eingelieferten überlebenden Opfer würden in erster Linie unter Dekompression, Knochenbrüchen und Strahlenverseuchung leiden. Man glaubte, daß zwei oder drei Ebenen zu ihrer Versorgung ausreichen müßten; sollte das Gefecht mit Nuklearwaffen geführt werden — und es gab keinen Grund für eine gegenteilige Annahme —, dann wären die meisten Verwundeten nämlich gleichzeitig auch unheilbar strahlenverseucht. Zynisch ausgedrückt, bestand für das Orbit Hospital also zumindest keine Überffülungsgefahr.
Sobald die Streitkräfte des Imperiums angreifen sollten, würde sich der mit der Evakuierung eingesetzte innere Zerfall außen am Bauwerk fortsetzen. Conway war zwar kein Militärstratege, aber er konnte sich nicht vorstellen, wie dieses gewaltige, beinahe leere Hospital überhaupt verteidigt werden sollte. Es stellte für seine Angreifer eine leichte, wenn auch nicht lohnenswerte Beute dar, weil nur ein großer, eingeschmolzener, zerbombter Metallfriedhof übrigbleiben würde.
Plötzlich wurde Conway von einer ungeheuer starken Gefühlswelle übermannt: Niedergeschlagenheit, Traurigkeit und eine Woge von purem Zorn ließen ihn am ganzen Körper zittern. Als er aus der Station hinausstolperte, wußte er nicht, ob er heulen, fluchen oder jemanden niederschlagen sollte. Aber die Entscheidung wurde ihm abgenommen, als er um die Ecke in den zur Abteilung der PVSJs führenden Gang einbog und heftig mit Schwester Murchison zusammenprallte.
Der Zusammenstoß war nicht schmerzhaft, denn einer der beiden kollidierenden Körper war hinreichend mit stoßdämpfendem Material ausgestattet. Die Kollision war aber stark genug, um Conways Verstand von einem sehr finsteren Gedankengang auf einen unendlich erfreulicheren zu bringen. Plötzlich war Conways Verlangen, Murchison anzusehen und mit ihr zu reden, genauso groß wie vorher der Drang, seine Patienten zu besuchen. Der Grund war derselbe — vielleicht sah er sie zum letztenmal in seinem Leben.
„En. entschuldigen Sie“, stotterte Conway und trat zurück. Dann erinnerte er sich an ihre letzte Begegnung und sagte: „Ich war neulich nach meiner Rückkehr in der Schleuse etwas in Eile und konnte deshalb nicht viel sagen. Sind Sie im Dienst?“
„Ich hab gerade Feierabend“, antwortete Murchison in neutralem Ton.
„Ach, wirklich.?“ entgegnete Conway etwas unbeholfen und stammelte dann: „Ich hab mich nämlich gefragt. ich meine, hätten Sie vielleicht Lust.“
„Also, ich hätte nichts dagegen, schwimmen zu gehen“, erwiderte sie.
„Na prima“, freute sich Conway.
Sie gingen zum Freizeitbereich hoch, zogen sich um und trafen sich wieder im Innern auf dem künstlichen Strand. Als sie zum Wasser gingen, sagte Murchison plötzlich: „Oh, was ich Sie noch fragen wollte, Doktor: Als Sie mir diese Briefe geschickt haben, sind Sie dabei eigentlich nie auf die Idee gekommen, sie in Umschläge mit meinem Namen und meiner Zimmernummer zu stecken?“
„Damit alle gleich gewußt hätten, daß ich Ihnen geschrieben hab?“ fragte Conway. „Ich hab gedacht, so was wollen Sie nicht.“
Murchison schnaubte damenhaft. „Also, das System, das Sie sich ausgedacht haben, war ja auch nicht gerade geheim“, entgegnete sie, wobei ihre Stimme leicht verärgert klang. „Thornnastor von der Pathologie hat schließlich drei Münder, und ich schaffe es nicht einmal, daß er auch nur einen davon hält. Es waren ja wirklich nette Briefe, aber nach meinem Empfinden sind die Rückseiten von Testberichten über Auswurf nicht gerade angebracht für.!“
„Tut mir leid“, entschuldigte sich Conway. „Soll nicht wieder vorkommen.“
Mit diesem Wortwechsel kehrte wieder die düstere Stimmung zurück, die Murchisons Anblick aus seinen Gedanken vertrieben hatte. Es würde ganz sicher nicht wieder vorkommen, dachte Conway betrübt, nie wieder. Die heiße, künstliche Sonne schien seine Haut nicht so zu wärmen, wie er es in Erinnerung hatte, auch das Wasser war nicht mehr so prickelnd kalt, und selbst unter den Schwerkraftverhältnissen von einem halben Ge war das Schwimmen für ihn eher ermüdend als belebend. Es kam ihm so vor, als wäre sein Körper in einen dichten Schleier von Müdigkeit gehüllt, der sämtliche Gefühle betäubte. Nach nur wenigen Minuten schwamm er ins flache Wasser zurück und watete an den Strand. Murchison folgte ihm mit besorgter Miene an Land.
„Sie sind dünner geworden“, stellte sie fest, als sie ihn eingeholt hatte.
Conways erster Gedanke war zu antworten: „Sie aber nicht“, doch Murchison hätte das beabsichtigte Kompliment falsch verstehen können. Und als Gesellschaft war er zum gegenwärtigen Zeitpunkt so schon miserabel genug, da mußte er es nicht auch noch riskieren, sie zu beleidigen.
Plötzlich hatte er eine Idee und sagte schnell: „Ich hab ganz vergessen, daß Sie ja gerade erst Feierabend gemacht und noch nichts gegessen haben. Wollen wir ins Restaurant gehen?“
„O ja, bitte“, antwortete Murchison begeistert.
Das Restaurant thronte hoch oben auf der Klippe, gegenüber den Vorsprüngen, die als Absprungschanzen dienten. Der ganze Stolz des Lokals war eine durchgezogene transparente Wand, die eine uneingeschränkte Aussicht auf den Strand ermöglichte und gleichzeitig den Lärm abhielt. Daher war dies der einzige Ort im Freizeitbereich, wo man ein ruhiges Gespräch führen konnte. Doch für Murchison und Conway war die Stille vollkommen überflüssig, weil sie sowieso kaum miteinander sprachen, jedenfalls bis sie die Mahlzeit halb beendet hatten.
„Sie essen auch nicht mehr soviel“, unterbrach Murchison schließlich das Schweigen.
„Haben Sie jemals ein Raumschiff besessen oder navigiert?“ fragte Conway unvermittelt.
„Ich…? Natürlich nicht!“
„Dann nehmen wir einmal an, Sie haben Schiffbruch erlitten, und der Astronavigator ist verletzt und bewußtlos“, hakte Conway unbeirrt nach. „Der Schiffsantrieb ist inzwischen wieder repariert. Könnten Sie dann die Koordinaten von irgendeinem Planeten innerhalb der Föderation angeben?“
„Nein“, antwortete Murchison ungeduldig. „Ich müßte schon so lange aushalten, bis der Astronavigator wieder aufgewacht ist. Was sind denn das für komische Fragen?“
„Das sind Fragen, die ich allen meinen Freunden stellen werde“, erwiderte Conway grimmig. „Wenn Sie eine davon mit Ja beantwortet hätten, wäre mir ein Stein vom Herzen gefallen.“
Murchison legte Messer und Gabel hin und runzelte leicht die Stirn. Conway fand, daß sie herrlich aussah, wenn sie die Stirn runzelte oder lachte oder überhaupt irgend etwas tat. Und ganz besonders, wenn sie einen Badeanzug trug. Das war eins der Dinge, die er am Freizeitbereich am meisten schätzte — man durfte in Badeanzügen und — hosen essen. Wenn er sich bloß von dieser düsteren Stimmung befreien und ein paar Stunden lang ein vor Leben sprühender Gesprächspartner sein könnte. Denn so, wie er sich gegenwärtig aufführte, bezweifelte er, ob sich Murchison auch heute von ihm nach Hause begleiten ließ. Und noch weniger würde sie sich die Umarmung in den zwei Minuten und achtundvierzig Sekunden gefallen lassen, die es dauerte, bis die Roboterstimme dazwischenfuhr.
„Irgend etwas bedrückt Sie doch“, stellte Murchison fest. Sie zögerte und fuhr dann fort: „Wenn Sie eine Schulter zum Anlehnen brauchen, dann nur zu. Aber merken Sie sich eins: meine Schulter ist nur zum Ausweinen da und zu nichts sonst!“
„Wozu könnte ich sie denn sonst noch gebrauchen?“ fragte Conway scheinheilig.
„Keine Ahnung“, entgegnete sie lächelnd. „Aber das werde ich wahrscheinlich noch herausfinden.“
Conway erwiderte das Lächeln nicht. Statt dessen sprach er von den Dingen, die ihm Kopfzerbrechen machten, und auch von den Leuten, einschließlich ihr. Als er sich schließlich alles von der Seele geredet hatte, sagte sie lange Zeit nichts. Traurig beobachtete Conway, wie sich das etwas absonderlich wirkende Bild von einer hingebungsvollen, äußerst hübschen jungen Frau in einem weißen Badeanzug zu einer Entscheidung durch rang, die ihr ziemlich sicher das Leben kosten würde.
„Ich glaube, ich bleibe hier“, lautete schließlich ihre Antwort. Conway hatte gewußt, daß sie das sagen würde. „Sie bleiben doch wohl auch?“
„Ich hab mich noch nicht entschieden“, reagierte Conway zurückhaltend. „Ich kann sowieso nicht weg bevor die Evakuierung abgeschlossen ist. Und dann gib es vielleicht nichts mehr, wofür es sich lohnen würde zu bleiben.“ Er unternahm einen letzten Versuch, sie zur Änderung ihrer Meinung zu bewegen: „. Ihre ganze ET-Ausbildung wäre für die Katz. Es gibt eine Menge anderer Hospitäler, die äußerst froh darüber wären, Sie zu beschäftigen.“
Murchison richtete sich im Stuhl auf. Im forschen, kompetenten und sachlichen Ton einer Schwester, die einem möglicherweise aufsässigen Patienten die Behandlung vorschrieb, antwortete sie: „Nach dem, was Sie mir erzählt haben, steht Ihnen morgen ein arbeitsreicher Tag bevor. Sie sollten deshalb jede Minute Schlaf ausnutzen, die Sie kriegen können. Deshalb sollten Sie jetzt schnurstracks auf Ihr Zimmer gehen.“
Und dann fügte sie in einem vollkommen anderen Ton hinzu: „Aber wenn Sie mich lieber erst nach Hause bringen möchten.“