10. Kapitel

Conway drückte den Knopf der Gegensprechanlage, und gleich darauf kam Major Stillman mit geröteten Augen hereingestolpert und setzte sich. Seine normalerweise steife, glatte Uniform war auch jetzt nur leicht zerknittert. Die beiden gähnten sich gegenseitig an, und schließlich eröffnete Conway das Gespräch.

„In ein paar Tagen werde ich die genauen Angaben über die Liefer- und Verteilungsmengen zusammenhaben, um in dieser Gegend mit der medizinischen Versorgung zu beginnen“, sagte er. „In der Liste ist jede ernsthafte Erkrankung zusammen mit Informationen über Alter, Geschlecht und Aufenthaltsort des Patienten sowie der berechneten Medikamentenmenge aufgeführt worden. Aber mir wäre viel leichter ums Herz, wenn wir erst einmal genaue Kenntnisse von dem ursprünglichen Zustandekommen dieser Verhältnisse hätten, bevor ich den Startschuß gebe, die ganze Gegend mit medizinischen Vorräten zu überschwemmen.

Ehrlich gesagt, ich mach mir Sorgen“, fuhr er fort. „Ich fürchte fast, wir begehen möglicherweise den Fehler, das zerschlagene Geschirr schon zu ersetzen, bevor wir überhaupt den Elefanten aus dem Porzellanladen gescheucht haben.“

Stillman nickte, aber Conway konnte nicht sagen, ob das Nicken Zustimmung oder Müdigkeit ausdrückte.

Warum waren auf einem Planeten, der einen ausgemachten Seuchenherd darstellte, die Säuglingssterblichkeit so gering und die wegen Komplikationen oder Infektionen während der Geburt auftretenden Todesfälle so selten? Weshalb zeigte sich auf der einen Seite bei den Kindern die deutliche Tendenz, gesund zu bleiben, und auf der anderen Seite bei den Erwachsenen die spürbare Neigung, chronisch zu erkranken? Zugegebenermaßen wurde zwar ein großer Teil der Säuglinge blind geboren oder war durch Erbkrankheiten körperlich beeinträchtigt, doch nur relativ wenige starben bereits in jungem Alter. Vielmehr überstanden sie ihre Mißbildungen und Entstellungen bis ans Ende des mittleren Alters, in dem dann — statistisch gesehen — die meisten ihrer Krankheit erlagen.

Darüber hinaus bewies die Statistik, daß die Etlaner in bezug auf ihre Krankheiten einen krassen Exhibitionismus an den Tag legten, denn bei ihnen entwickelten sich im großen Umfang unerfreuliche Hautkrankheiten: Leiden, die zu einem allmählichen körperlichen Verfall oder zur Deformierung der Gliedmaßen und zu einigen ziemlich grauenerregenden Kombinationen aus beidem führten. Ihre Nationaltracht trug nichts dazu bei, die Gebrechen zu verbergen, ganz im Gegenteil, und Conway drängte sich manchmal der Vergleich zu kleinen Jungen auf, die vor ihren Freunden so gerne mit zerschundenen Knien prahlten.

Als Stillman ihn unterbrach, bemerkte er plötzlich, daß er laut gedacht hatte.

„Das stimmt nicht, Doktor“, sagte Stillman in einem für seine Verhältnisse scharfen Ton. „Diese Leute sind keine Masochisten. Was auch immer hier ursprünglich einmal schiefgegangen ist, sie haben versucht, es zu bekämpfen. Seit über einem Jahrhundert haben sie sich mit nur sehr wenig Unterstützung von außen diesen Krankheiten widersetzt und dauernd Niederlagen einstecken müssen. Es überrascht mich, daß sie überhaupt noch eine Zivilisation haben. Und die kurze Tracht tragen sie in dem Glauben, frische Luft und Sonnenlicht wären für ihre Gebrechen gut — und in den meisten Fällen haben sie sogar völlig recht damit.

Dieser Glaube wird ihnen nämlich von Kindesalter an genauso eingeimpft wie ihr Haß auf alle fremdartig aussehenden Wesen und die Überzeugung, es sei unnötig, Infektionsherde oder an ansteckenden Krankheiten leidende Patienten zu isolieren“, fuhr Stillman fort, wobei sein Ton nach und nach seine Schärfe verlor. „Und das ist sogar gefährlich, weil sie glauben, die Erreger der einen Krankheit würden die Erreger der zweiten bekämpfen, so daß dann schließlich alle Bazillen geschwächt wären.“

Bei diesem Gedanken schauderte es Stillman, und er verfiel in Schweigen „Ich wollte unsere Patienten nicht persönlich angreifen, Major“, entgegnete Conway. „Ich hab ja auch keine vernünftigen Antworten auf dieses Problem, und deshalb fallen mir eben nur dumme ein. Aber Sie haben vorhin die mangelnde Unterstützung angesprochen, die die Etlaner von ihrem Imperium erhalten. Darüber hätte ich gerne mehr Einzelheiten gewußt, besonders darüber, wie diese minimalen Hilfsmittel überhaupt verteilt werden. Aber noch lieber würde ich mal den Vertreter des Imperiums auf Etla danach fragen. Konnten Sie den inzwischen ausfindig machen?“

Stillman schüttelte den Kopf und antwortete trocken: „Diese Hilfsmittel werden nicht wie eine Sendung von Lebensmittelpaketen geliefert. Natürlich sind Medikamente dabei, aber zum größten Teil handelt es sich um die neueste, auf die hiesigen Zustände bezogene medizinische Fachliteratur. Wie diese dann die Leute erreicht, das versuchen wir im Moment noch herauszufinden.“

Wie Stillman in seinen Erklärungen fortfuhr, landete alle zehn Jahre ein Schiff des Imperiums auf Etla, das der Vertreter des Imperiums am Landeplatz erwartete. Nachdem das Schiff die Ladung gelöscht und an den Vertreter etwas übergeben hatte, bei dem es sich vermutlich um Berichte handelte, startete es schon einige Stunden später wieder. Anscheinend wollte kein Bürger des Imperiums auch nur eine Sekunde länger als nötig auf Etla verweilen, was ja auch verständlich war. Anschließend machte sich dann der Vertreter des Imperiums, eine Persönlichkeit namens Teltrenn, an die Verteilung der medizinischen Hilfsmittel.

Aber anstatt sich der Mittel des Massenvertriebs zu bedienen, um die örtlichen medizinischen Institutionen über die neuesten Behandlungsmethoden aufzuklären und den ortsansässigen Ärzten Zeit zu geben, sich vor dem Eintreffen der Medikamente erst einmal mit deren Wirkungsweise vertraut zu machen, hielt Teltrenn die gesamten Informationen so lange zurück, bis er den Ärzten und Institutionen einen persönlichen Besuch abstatten konnte. Dann erst überreichte er ihnen alles als persönliches Geschenk ihres glorreichen Imperators, wobei ihm selbst natürlich auch kein geringes Maß an Ehre zuteil wurde, weil er ja schließlich der Mittelsmann war. Deshalb erreichten die Informationen, die jeder Arzt auf dem Planeten innerhalb von drei Monaten in Händen hätte halten können, die Ärzte und Institutionen Stück für Stück über einen Zeitraum von bis zu sechs Jahren.

„Sechs Jahre!“ rief Conway entsetzt aus.

„Teltrenn ist, soweit wir herausfinden konnten, kein besonders tatkräftiger Mensch“, antwortete Stillman. „Und was die Sache noch viel schlimmer macht: auf Etla wird nur wenig oder gar keine medizinische Grundlagenforschung betrieben, und zwar deshalb, weil das lebenswichtigste Instrument des Forschers fehlt: das Mikroskop. Auf Etla ist man nämlich nicht in der Lage, optische Präzisionsgeräte zu fertigen, und anscheinend hat kein Schiff des Imperiums jemals daran gedacht, Mikroskope mitzubringen.

Und das alles läuft dann darauf hinaus, daß sämtliche medizinischen Überlegungen für den Planeten Etla vom Imperium übernommen werden. Und allen Anzeichen nach ist das Imperium medizinisch ja nicht gerade gewitzt.“

„Ich würde gern den direkten Zusammenhang zwischen dem Eintreffen dieser Hilfsmittel und der Krankheitsquote unmittelbar danach untersuchen“, entgegnete Conway in bestimmtem Ton. „Können Sie mir dabei helfen?“

„Da ist gerade ein Bericht reingekommen, der Ihnen möglicherweise dabei helfen kann“, erwiderte Stillman. „Das ist eine Kopie der Akten von einem Hospital auf dem Nordkontinent, die bis auf Teltrenns letzten Besuch zurückgehen. Nach diesen Unterlagen hat Teltrenn bei der Gelegenheit einige nützliche Informationen über Geburtshilfe und ein spezifisches Heilmittel gegen eine Krankheit mitgebracht, die wir B-achtzehn genannt haben. Die Häufigkeit von B-achtzehn hat im Hospital nach Teltrenns Besuch innerhalb von ein paar Wochen rapide abgenommen, obwohl die Gesamtzahl der Patienten ziemlich gleich geblieben ist, da ungefähr zur selben Zeit allmählich F-einundzwanzig aufgetaucht ist.“

B-achtzehn entsprach einer schweren Grippe, die für Kinder und junge Erwachsene in vier von zehn Fällen tödlich war. F-einundzwanzig stellte ein leichtes, nicht tödliches, drei bis vier Wochen dauerndes Fieber dar, in dessen Verlauf große, sichelförmige Striemen im Gesicht, an den Gliedmaßen und am Körper auftraten. Sobald das Fieber abgeklungen war, verdunkelten sich die Striemen zu einem Blauviolett und blieben für den Rest des Lebens am Körper des Patienten.

Conway schüttelte wütend den Kopf und sagte: „Eine der Hauptursachen für die entsetzlichen Zustände auf Etla ist auf jeden Fall auch der Vertreter des Imperiums!“

Stillman stand auf und erwiderte: „Wir würden ihm auch gern ein paar Fragen stellen. Wir haben die ganze Geschichte über Radio und durch Druckerzeugnisse weit publik gemacht, und zwar in so großem Umfang, daß wir uns jetzt ziemlich sicher sind, Teltrenn versteckt sich absichtlich vor uns. Wahrscheinlich hat er wegen der miserablen Abwicklung der Angelegenheiten ein schlechtes Gewissen. Außerdem haben wir für Lonvellin einen psychologischen Bericht über Teltrenn ausgearbeitet, der auf all den Zeugenaussagen beruht, die wir durch Hörensagen bekommen konnten. Ich werde Ihnen vom Schiff aus eine Kopie schicken lassen.“

„Danke“, erwiderte Conway.

Stillman nickte, gähnte und ging hinaus. Conway betätigte mit dem Daumen den Schalter des Kommunikators, stellte Kontakt mit der Vespasian her und bat um eine Sprechverbindung mit dem achtzig Kilometer entfernten Lonvellin. Er war immer noch beunruhigt und wollte sich jetzt einmal alles von der Seele reden. Das einzige Problem war nur, daß er nicht genau wußte, was „alles“ war.

„Daß Sie Ihren Teil des Unternehmens so schnell erledigt haben, war wirklich gute Arbeit, mein Freund“, entgegnete Lonvellin, nachdem ihm Conway über den Stand der Dinge unterrichtet hatte. „Ich hab mit der Qualität und dem Eifer meiner Assistenten wirklich Glück. Mittlerweile haben wir in den meisten Gegenden das Vertrauen der etlanischen Ärzte gewonnen, und bald ist auch der Weg für eine umfassende Aufklärung der Ärzte über die neuesten Heilmethoden frei gemacht. Deshalb werden Sie, Conway, innerhalb weniger Tage ins Orbit Hospital zurückkehren, und ich möchte Ihnen eindringlich nahelegen, nicht mit dem Gefühl abzufliegen, Sie hätten Ihre Aufgabe nicht in vollkommen zufriedenstellender Weise gelöst. Das sind völlig grundlose Sorgen, die Sie da geäußert haben.

Aber Ihr Vorschlag, das Wesen Teltrenn im Rahmen des Umerziehungsprogramms zu entfernen oder zu ersetzen, ist vernünftig“, fuhr Lonvellin schwerfällig fort. „Auch ich hatte schon an diesen Schritt gedacht. Ein weiterer Grund für Teltrenns Entfernung aus dem Amt ist die gut belegte Tatsache, daß schließlich er größtenteils die Verantwortung dafür trägt, die Intoleranz gegenüber außerplanetarischen Lebensformen lebendig erhalten zu haben. Ihre Vermutung, diese schädlichen Ansichten würden vielleicht nicht von Teltrenn, sondern vom Imperium selbst herrühren, kann richtig oder falsch sein. Ich halte es allerdings im Gegensatz zu Ihnen nicht für erforderlich, deshalb eine sofortige Suchaktion nach dem Imperium zu starten, um dessen Hintergrundstrukturen genauer zu beleuchten.“

Lonvellins Translatorstimme war zwar langsam und klang notgedrungen emotionslos, doch glaubte Conway trotzdem, einen härteren Ton herauszuhören, als der EPLH fortfuhr: „Ich begreife Etla als einen isolierten Planeten, der unter Quarantäne gehalten wird. Und deshalb kann man die Schwierigkeiten lösen, ohne Überlegungen über Einflüsse des Imperiums ins Spiel zu bringen oder die verschiedenen Ungereimtheiten vollkommen verstehen zu müssen, über die wir uns beide den Kopf zerbrechen. Denn diese Widersprüche werden sich schon auflösen, sobald die Heilung Erfolg hat. Und die Antworten, nach denen wir suchen, sind für die planetenweite Linderung des Leidens erst recht nur von sekundärer Bedeutung.

Schließlich ist Ihre Behauptung, die Besuche des Schiffs vom Imperium, das alle zehn Jahre auftaucht und nur ein paar Stunden bleibt, wären ein Hauptbestandteil des Problems, überhaupt nicht stichhaltig“, fuhr Lonvellin fort. „Ich könnte Ihnen sogar unterstellen, daß Sie — vielleicht unterbewußt — diesen Punkt nur deshalb so stark überbetonen, damit Sie Ihre Wißbegier über das Imperium stillen können.“

Da haben Sie ja so recht, dachte Conway. Aber bevor er darauf etwas entgegnen konnte, fuhr der EPLH schon fort: „Ich möchte Etla als ein Einzelproblem behandeln, denn es würde nur den Umfang der Operation über die zu bewältigenden Grenzen hinaus vergrößern, wenn man das Imperium mit ins Spiel bringt; ob es nun selbst ebenfalls medizinische Hilfe benötigt oder nicht.

Sie können trotzdem — nur, um Ihre offensichtliche Beunruhigung auszuräumen — Ihrem Mitwesen Williamson meine Erlaubnis ausrichten, nach diesem Imperium Ausschau zu halten, um über die dort herrschenden Zustände zu berichten. Falls Williamson das Imperium jedoch finden sollte, darf er dort auf keinen Fall etwas von unserer Tätigkeit auf Etla erwähnen, bevor wir hier die Operation nicht abgeschlossen haben.“

„Ich verstehe, Sir“, antwortete Conway und brach die Verbindung ab. Er fand es ausgesprochen seltsam, daß ihm Lonvellin wegen seiner Neugier Vorhaltungen gemacht und dann im selben Atemzug die Erlaubnis zur Befriedigung dieser Neugier gegeben hatte. War Lonvellin selbst vielleicht doch mehr über den Einfluß des Imperiums beunruhigt, als er zugeben wollte? Oder fing die große Kreatur einfach mit zunehmendem Alter allmählich an zu spinnen?

Jedenfalls setzte sich Conway umgehend mit Captain Williamson in Verbindung.

Nachdem er ihm von Lonvellins Erlaubnis berichtet hatte, räusperte sich der Captain erst ein paarmal. Und als Williamson schließlich antwortete, hatte seine Stimme einen ausgesprochen verlegenen Klang. „Doktor, in den letzten zwei Monaten haben wir schon eine ganze Reihe von medizinischen und Kontaktoffizieren nach dem Imperium suchen lassen“, sagte er. „Einer hatte mit der Suche auch Erfolg und uns einen Vorbericht geschickt. Dabei handelt es sich jedoch um einen medizinischen Offizier, der dem Etla-Projekt gar nicht zugeteilt war und deshalb auch nur sehr wenig von den hiesigen Vorgängen weiß. Darum ist sein Bericht möglicherweise nicht ganz so aufschlußreich, wie Sie es vielleicht gerne hätten. Ich schicke Ihnen aber zusammen mit dem Material über Teltrenn auf jeden Fall eine Kopie von diesem Bericht.

Lonvellin müssen Sie natürlich über diese Neuigkeit in Kenntnis setzen“, schloß Williamson, wobei er sich deutlich vernehmbar räusperte, „aber wann Sie das tun, kann ich selbstverständlich nur Ihnen selbst überlassen.“

Conway lachte plötzlich laut auf. „Da machen Sie sich mal keine Sorgen, Colonel, diese Information werde ich schon noch eine Zeitlang für mich behalten. Doch falls man Ihnen schon vorher auf die Schliche kommen sollte, können Sie Lonvellin ja immer noch daraufhinweisen, daß es eben zu den Pflichten eines guten Dieners gehört, die Wünsche seines Herrn vorherzusehen.“

Er lachte auch noch weiter, nachdem sich Williamson schon längst verabschiedet hatte. Und dann setzte ganz plötzlich der Umschwung ein.

Seit er auf den Planeten Etla gekommen war, hatte Conway nämlich nicht mehr viel gelacht. Aber nicht deshalb, weil er etwa den Fehler einer übermäßigen Identifikation mit seinen Patienten begangen hätte — kein halbwegs anständiger Arzt, dem das Beste seiner Patienten am Herzen lag, würde solch einen Frevel begehen.

Es lag vielmehr daran, daß auf Etla niemand besonders oft lachte. Auf diesem Planeten lag irgend etwas in der Luft, ein Gefühl, daß einerseits die Zeit langsam knapp wurde und andererseits die ganze Sache sowieso vollkommen hoffnungslos war, und dieses Gefühl schien sich mit jedem Tag zu verstärken. Es hatte ziemliche Ähnlichkeit mit der Atmosphäre auf einer Station, auf der ein Patient im Sterben lag, wie Conway meinte. Mit dem Unterschied, daß die dort Beschäftigten selbst unter solchen Umständen noch die Zeit fanden, Witze zu reißen und sich zwischen den Krisen des Patienten wenigstens ein paar Minuten lang auszuruhen.

Langsam vermißte er das Orbit Hospital. Er war froh, daß er in ein paar Tagen dorthin zurückfliegen würde, und darauf freute er sich trotz der Unzufriedenheit über die vielen offenen und dann auch nicht mehr zu lösenden Probleme. Vor allem dachte er aber allmählich auch wieder an Schwester Murchison.

Denn die Gedanken an sie waren ihm auf Etla genauso vergangen wie das Lachen. Nur zweimal hatte er den ans Orbit Hospital geschickten etlanischen Proben Mitteilungen an Murchison beigelegt. Er wußte, daß Thornnastor in der Pathologie schon für die Weiterleitung der Briefe sorgen würde, auch wenn Thornnastor ein FGLI mit nur andeutungsweise vorhandenem Interesse für die emotionalen Verhältnisse terrestrischer DBDGs war. Aber warum hatte ihm Murchison dann nie einen Antwortbrief geschickt? Sie gehörte eben zum zurückhaltenden Typ. Möglicherweise hatte sie gedacht, es würde Conway zu sehr ermutigen, wenn sie sich die Mühe machte, eine Antwort an ihn zurückzuschmuggeln. Vielleicht war er bei ihr aber auch wegen der Episode mit dem Abschiedskuß und der anschließenden Flucht, die sich damals vor der Luftschleuse abgespielt hatte, völlig untendurch. Sie war eine eigenartige Frau: Sie besaß einen sehr ernsten Charakter, war mit Leib und Seele bei der Sache und hatte überhaupt keine Zeit für Männer.

Das erstemal war sie nur deshalb mit einer Verabredung einverstanden gewesen, weil Conway gerade eine sehr komplizierte Operation glatt über die Bühne gebracht hatte und feiern wollte. Außerdem hatte er kurz vorher mit ihr zusammen an einem Fall gearbeitet und dabei keinen einzigen Annäherungsversuch unternommen. Seit diesem Treffen hatte er sich regelmäßig mit ihr getroffen und sich dadurch den Neid sämtlicher männlichen DBDGs im Hospital zugezogen. Das einzige Problem dabei war nur, daß es für ihren Neid eigentlich überhaupt keinen Grund gab.

Conways wehmütiger Gedankengang wurde durch die Ankunft eines Monitors unterbrochen, der einen Ordner auf den Schreibtisch warf und sagte: „Das Material über Teltrenn, Doktor. Der andere Bericht ist mit dem Vermerk „vertraulich“ direkt an Captain Williamson gerichtet und muß deshalb erst von seinem Schreiber kopiert werden. Wir haben ihn aber in fünfzehn Minuten für Sie fertig.“

„Danke“, erwiderte Conway. Der Monitor ging wieder hinaus, und Conway fing gleich an zu lesen.

Da Etla eine Kolonie war, die nicht die Möglichkeit zu natürlichem Wachstum gehabt hatte, gab es auf dem Planeten keine nationalen Grenzen und natürlich auch nicht die dazugehörigen Streitkräfte. Dafür waren jedoch die Polizeikräfte, die für die Einhaltung der Gesetze auf dem Planeten sorgten, genaugenommen eigentlich Soldaten des Imperiums und unterstanden dem Befehl von Teltrenn. Es war auch eine Einheit dieser Polizeisoldaten gewesen, die Lonvellins Schiff angegriffen hatte und es auch jetzt noch immer angriff. Dem Bericht zufolge sprachen zwar sämtliche Anhaltspunkte zumindest auf den ersten Blick für einen stolzen und machthungrigen Charakter Teltrenns, dem jedoch die normalerweise in solchen Charakteren vorzufindende Grausamkeit fehlte. In seinen Beziehungen zur einheimischen Bevölkerung — der Vertreter des Imperiums war nämlich nicht auf Etla geboren — bewies Teltrenn Rücksicht und Fairneß. Es war aber offensichtlich, daß er dennoch auf die Einheimischen herabblickte, und zwar von ziemlich weit oben, fast so, als ob sie Angehörige einer niederen Spezies wären. Doch verachtete er sie immerhin nicht offen und war auch niemals grausam zu ihnen.

Conway knallte den Bericht auf den Tisch. Das war nur ein weiteres dummes und unbrauchbares Teil eines jetzt schon an sich unsinnigen Puzzles, und auf einmal hing ihm diese ganze alberne Geschichte zum Hals raus. Er stand auf und stapfte ins Vorzimmer, wobei er die Tür beim Aufstoßen gegen die Wand krachen ließ. Stillman zuckte leicht zusammen und blickte auf.

„Lassen Sie Ihre Schreibarbeiten einfach bis morgen liegen!“ fauchte Conway. „Heute nacht werden wir einmal schamlos in fleischlichen Lüsten schwelgen — wir schlafen in unseren eigenen Kabinen.“

„Schlafen?“ fragte Stillman und grinste plötzlich. „Was ist das denn?“

„Keine Ahnung“, entgegnete Conway, „ich dachte, Sie wüßten das vielleicht. Ich hab gehört, das soll ein neues Gefühl von unbeschreiblichem Glück sein und schnell zur Gewohnheit werden können. Na, was ist? Wollen wir mal richtig gefährlich leben.?“

„Nach Ihnen“, erwiderte Stillman.

Die Nacht draußen vor dem Bürogebäude war angenehm kühl. Am Horizont hingen zwar zerrissene Wolken, trotzdem schienen sich jedoch die gleißenden, kalten, dichtgedrängten Sterne über ihren Köpfen herabzusenken. Denn dies war ein Abschnitt des Alls, der voll von Sternen war, was zusätzlich noch durch die vielen Meteoriten bestätigt wurde, die alle paar Minuten weiße Schlieren über den Himmel zogen. Insgesamt war es zwar ein inspirierender und zugleich beruhigender Anblick, aber Conway konnte dennoch nicht aufhören, sich Sorgen zu machen. Er war überzeugt, daß er irgend etwas übersah, und seine Besorgnis war hier unter dem Sternenhimmel plötzlich noch viel größer, als sie es im Büro jemals gewesen war — auf einmal wollte er den Bericht über das Imperium so bald wie möglich lesen.

Dann kreisten seine Gedanken wieder um Murchison, und er fragte Stillman: „Haben Sie manchmal auch diese Gedanken, für die man sich im nachhinein wegen ihrer schmutzigen Phantasie furchtbar schämen sollte?“

Stillman grunzte nur und tat Conways Frage als rein rhetorisch ab. Schließlich setzten sie ihren Weg zum Schiff fort, doch plötzlich blieben sie abrupt stehen.

Am südlichen Horizont schien die Sonne aufzugehen. Der Himmel hatte ein helles, kräftiges Blau angenommen, das über Türkis in Schwarz überging. Die unteren Ränder der fernen Wolken leuchteten in Rosa und Gold. Doch bevor sie sich auch nur ansatzweise über diesen phantastischen, fehlplazierten Sonnenaufgang freuen oder sonstwie auf ihn reagieren konnten, war diese Farbenpracht bereits hinter einem bedrohlich roten Fleck am Horizont verschwunden. Durch ihre Schuhsohlen hindurch spürten Sie plötzlich eine leichte Erschütterung, und kurz darauf hörten sie ein Geräusch wie ein fernes Donnergrollen.

„Lonvellins Schiff“ rief Stillman.

Sie rannten sofort los.

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