12. Kapitel

Das einzig Konstruktive, was Conway während seines Rückfugs zum Orbit Hospital tat, war, Schlaf nachzuholen. Doch allzu oft überfielen ihn im Schlaf so scheußliche Alpträume vom aufziehenden Krieg, daß er es als angenehmer empfand, wach zu bleiben. Seine Wachphasen verbrachte er durch Diskussionen mit Williamson, Stillman und den anderen ranghöheren Offizieren auf der Vespasian. Seit er während der letzten halben Stunde auf Etla das Sagen gehabt hatte, schien Williamson sämtliche Ideen, die Conway in den Sinn kamen, hoch zu schätzen, selbst wenn Spionage- und Logistikprobleme nicht gerade zu den Spezialgebieten eines Chefarztes gehörten und erst recht nicht die durch Flottenmanöver aufgeworfenen Fragen.

Die Diskussionen waren interessant, informativ, und — genau wie Conways Träume — alles andere als angenehm.

Colonel Williamson zufolge war zwar ein interstellarer Eroberungskrieg logistisch unmöglich, doch ein einfacher Vernichtungskrieg konnte von jedem geführt werden, der über genügend Streitkräfte verfügte und Lust daran empfand, die intelligente Gesamtbevölkerung eines ganzen Planeten zu vernichten. Das Imperium hatte mehr als genug Streitkräfte, und die Stärke ihres kollektiven Lustgefühls an Massenvernichtungen hing von Faktoren ab, die sich der Kontrolle des Monitorkorps entzogen — zumindest bis jetzt.

Hätten sie genügend Zeit gehabt, wären die Agenten des Korps in der Lage gewesen, das Imperium an seinen entscheidenden Stellen zu unterwandern. Ihnen war bereits die Position von einem der Planeten des Imperiums bekannt, und da es Flugverkehr zwischen diesem und anderen Planeten gab, hätten sie auch bald die Position der restlichen in Erfahrung gebracht. Und dann hätte man als erstes Geheiminformationen gesammelt und schließlich. Nun, die Monitore waren schließlich auch keine schlechten Propagandisten, und in einer Situation, wo der Feind einen Propagandafeldzug auf der Grundlage einer Reihe faustdicker Lügen führte, konnte man sich ja eine Vorgehensweise ausdenken, die ihn genau an diesem schwachen Punkt traf. Das Korps war in erster Linie eine Polizeiorganisation, eine Truppe, die zum Erhalt des Friedens und nicht als Streitmacht zur Kriegsführung diente. Deshalb richteten sich wie bei jeder guten Polizeitruppe die Maßnahmen des Monitorkorps immer nach den möglichen Auswirkungen auf die am Krieg unschuldige Bevölkerung — in diesem Fall waren das sowohl die Bürger des Imperiums als auch die Bevölkerung der Föderation.

Und darum wurde geplant, das Imperium von innen zu untergraben, obwohl dieser Plan vor dem ersten kriegerischen Aufeinanderprall unmöglich Wirkung zeigen konnte. Williamsons kühnste Hoffnung — „Gebet“ ist vielleicht der treffendere Ausdruck — war, daß der in die Hände des Imperiums geratene Monitor die Koordinaten des Orbit Hospitals gar nicht kannte und sie deshalb auch nicht verraten konnte. Wenn der Agent allerdings etwas wußte, dann bekam das der Feind so oder so aus ihm heraus — das war dem Colonel klar, dazu war er Realist genug. Beim Nichteintreffen der Ideallösung wollte man das Orbit Hospital so verteidigen, daß der Feind keine weiteren Koordinaten von irgendeinem Planeten oder einer anderen Einrichtung der Föderation in Erfahrung bringen könnte — zumindest solange, bis das Imperium einen großen Teil seiner Streitkräfte für die zeitraubende Suche nach dem Zentrum der Galaxis vom Orbit Hospital abziehen würde. Denn genau das war es, was das Monitorkorps erreichen wollte.

Conway versuchte, gar nicht daran zu denken, wie es wohl um das Orbit Hospital herum aussehen würde, wenn sich dort sämtliche mobilen Streitkräfte des Imperiums konzentrierten.

Ein paar Stunden vor ihrem Auftauchen aus dem Hyperraum empfingen sie noch einen zweiten Bericht von dem Agenten, der sich derzeit auf dem Zentralplaneten des Imperiums aufhielt. Sein erster Bericht hatte noch neun Tage benötigt, um Etla zu erreichen, der zweite war jedoch mit höchster Dringlichkeitsstufe in nur achtzehn Stunden übertragen worden.

Dieser Bericht legte dar, daß der Hauptplanet den Extraterrestriern anscheinend nicht so feindlich gesonnen war wie Etla und die restlichen Planeten des Imperiums. Die Bürger des Zentralplaneten schienen viel kosmopolitischer zu denken, und gelegentlich konnte man sogar ETs auf den Straßen sehen. Diese Wesen besaßen diplomatischen Status und waren Bewohner von Planeten, mit denen das Imperium Handelsverträge abgeschlossen hatte. Doch gab es Anspielungen, daß das Imperium diese Verträge nur eingegangen war, um diese Planeten von sich abhängig zu machen und sich so bei der Annexion einzelner dieser Planeten den Rücken freizuhalten. Was die persönliche Behandlung des Agenten anging, hätten die Dinge gar nicht besser stehen können und schon in wenigen Tagen sollte er eine Audienz beim Imperator höchstpersönlich haben. Nichtsdestoweniger bekam er laut eigener Aussage allmählich ein unbehagliches Gefühl.

Den Grund für seine Beunruhigung konnte er allerdings nicht genauer bestimmen, da er, wie er in seinem Bericht zu bedenken gab, schließlich Arzt war — noch dazu einer, den man aus Forschungsarbeiten und Kolonisationsvorbereitungen gerissen hatte — und keiner von diesen Kontaktspezialisten. Sobald er allerdings auf den Aufbau und die Ziele der Föderation zu sprechen kam — und sei es nur am Rande —, blockte man ihn in gewissen Kreisen und zu bestimmten Anlässen sofort ab, während man ihn zu anderen Gelegenheiten regelrecht dazu ermutigte, in aller Ausführlichkeit darüber zu berichten. Das war normalerweise dann der Fall, wenn nur wenige Menschen anwesend waren. Ein weiterer, den Agenten beunruhigender Punkt war die Tatsache, daß in keiner einzigen der von ihm verfolgten Nachrichtensendungen seine Ankunft auch nur mit einem einzigen Wort erwähnt worden war. Wäre die Situation nämlich umgekehrt gewesen und ein Bürger des Imperiums mit der Föderation in Kontakt getreten, dann wäre so ein Ereignis wochenlang die Hauptmeldung gewesen.

Manchmal, so berichtete der Agent weiter, fragte er sich, ob er nicht vielleicht zu viel redete. Er wünschte sich, es würde ein Subraumfunkgerät in der Größe eines normalen Senders geben, um auf diese Weise Anweisungen erhalten zu können…

Das waren die letzten Worte, die man von diesem Agenten empfangen hatte.

Conways Rückkehr zum Orbit Hospital fiel nicht so erfreulich aus, wie er es sich noch ein paar Wochen zuvor ausgemalt hatte. Damals hatte er fest damit gerechnet, als Held gefeiert zu werden, der gerade die größte Aufgabe in seiner Karriere erfolgreich bewältigt hatte. Die Ovationen seiner Kollegen hatten ihm bereits in den Ohren geklungen, und Murchison hatte ihn sehnsüchtig erwartet und mit offenen Armen empfangen. Für das letztere bestand zwar wirklich nur eine geringe Wahrscheinlichkeit, aber Conway träumte eben von Zeit zu Zeit ganz gern. Statt dessen kehrte er nun von einem nicht erfüllten Auftrag zurück, der ihm auf äußerst schreckliche Weise direkt vor der Nase wie eine Seifenblase zerplatzt war, und hoffte nur, seine Kollegen würden ihn nicht aufhalten und ihn mit Fragen nach dem Wie und Was seines Tuns löchern. Schwester Murchison stand zwar mit einem freundlichen Lächeln in der Schleuse, ihre Arme hingen jedoch korrekt an der Seite.

Ihn nach seiner langen Abwesenheit zu erwarten, dachte Conway verdrossen, war ja wohl selbstverständlich, schließlich ist so etwas unter Freunden üblich — mehr konnte das aber auch nicht bedeuten. Murchison sagte ihm, es wäre schön, ihn wiederzusehen, und er antwortete, es wäre schön, wieder da zu sein. Und als sie anfing, Fragen zu stellen, entgegnete er, daß er jetzt leider eine Menge zu erledigen habe, doch falls sie nichts dagegen hätte, würde er sie gern später anrufen. Dabei lächelte er sie so an, als ob all seine Gedanken allein der noch zu treffenden Verabredung gelten würden. Doch Conway schien in den letzten Wochen das Lächeln verlernt zu haben, und Murchison mußte dessen Unaufrichtigkeit sofort bemerkt haben. Plötzlich verhielt sie sich ganz wie eine Krankenschwester gegenüber einem Arzt, sagte in geschäftsmäßigem Ton, daß er sich selbstverständlich um viel wichtigere Dinge zu kümmern habe und entfernte sich schnellen Schrittes.

Sie hatte so schön und begehrenswert wie immer ausgesehen, und zweifellos hatte er ihre Gefühle verletzt, aber darauf kam es ihm im Moment nicht an. Seine Gedanken galten allein dem bevorstehenden Treffen mit O’Mara, und als er sich kurz darauf im Büro des Chefpsychologen einfand, schienen sich seine schlimmsten Befürchtungen zu bewahrheiten.

„Setzen Sie sich, Doktor“, begann O’Mara. „Also haben Sie es endlich doch noch geschafft, uns in einen interstellaren Krieg zu verwickeln, wie.?“

„Das ist überhaupt nicht komisch“, erwiderte Conway.

O’Mara musterte ihn mit einem ausgiebigen Blick. Dabei beobachtete er nicht nur Conways Gesichtsausdruck, sondern bemerkte auch andere Faktoren wie die Körperhaltung im Stuhl und die Position und Bewegungen der Hände. O’Mara legte zwar keinen großen Wert auf korrekte Anredeformen, doch daß es Conway unterlassen hatte, ihn mit „Sir“ anzusprechen, nahm er ebenfalls als Begleitumstand zur Kenntnis, dem er den richtigen Stellenwert in seiner Situationsanalyse beimaß. Der ganze Vorgang dauerte vielleicht zwei Minuten, und während dieser Zeit zuckte der Chefpsychologe nicht ein einziges Mal mit den Augenlidern. Aber O’Mara legte sowieso keine irritierenden Gebärden an den Tag — seine kräftigen, groben Hände zuckten nie und spielten auch keinen Augenblick mit irgendwelchen Gegenständen herum, und wenn er es wollte, konnten seine Gesichtszüge so ausdrucksvoll wie ein Felsblock aussehen.

Bei diesem Anlaß jedoch entspannte er das Gesicht zu einem Ausdruck von fast gütiger Mißbilligung, und dann redete er endlich.

„Da gebe ich Ihnen ausnahmsweise mal recht“, entgegnete er leise. „Das ist kein bißchen komisch. Aber in einem Hospital wie diesem besteht eben immer die Möglichkeit, daß ein Arzt zum Unruhestifter wird, gerade weil er es so gut meint — das wissen Sie genausogut wie ich. Wir haben doch schon oft irgendein seltsames Lebewesen einer bisher unbekannten Spezies ins Hospital eingeliefert bekommen, das dringend behandelt werden mußte. In so einem Fall bleibt eben keine Zeit für die Suche nach den Freunden des Patienten, bloß um herauszubekommen, ob die beabsichtigte Behandlungsmethode unter den gegebenen Umständen auch wirklich die richtige Verfahrensweise ist. Ein ganz typischer Fall war zum Beispiel diese riesige ianische Schmetterlingspuppe, die Sie vor ein paar Monaten behandelt haben, noch bevor wir uns mit den Ianern formell in Verbindung setzten konnten. Hätten Sie damals nicht vollkommen richtig diagnostiziert, daß der Patient eine im Wachstum befindliche Puppe war und keineswegs an bösartigen, unverzüglich zu entfernenden Hautwucherungen litt — eine Operation, an der der Patient bestimmt gestorben wäre — dann hätten wir jetzt mit den Ianern ernsthafte Schwierigkeiten. Daran sieht man ja, das Sie auch anders können.“

„Ja, Sir“, erwiderte Conway.

O’Mara fuhr fort: „Mit meiner Bemerkung wollte ich Sie vorhin doch nur aufziehen. Aber wenn man an Ihr noch gar nicht so lange zurückliegendes Erlebnis mit dem Ianer denkt, dann war meine Feststellung auf gewisse Weise sogar treffend. Gut, vielleicht war sie geschmacklos, aber falls Sie nun annehmen, ich würde mich entschuldigen, dann glauben Sie offenbar an Wunder. So, und jetzt berichten Sie mir über Etla.

Übrigens, mein Schreibtisch und mein Papierkorb sind voll von Berichten, die ausführlich auf die Auswirkungen und furchtbaren Konsequenzen dieser ganzen Geschichte mit Etla eingehen“, fügte er schnell hinzu, bevor Conway etwas sagen konnte. „Alles, was ich wissen will, ist also, wie Sie Ihren ursprünglich erhaltenen Auftrag ausgeführt haben.“

Ganz nach O’Maras Weisung lieferte Conway nun einen so knapp wie möglich gehaltenen Bericht. Er spürte, wie er sich während des Rapports langsam entspannte. Zwar spukte ihm noch immer ein wirres und äußerst erschreckendes Bild von den Auswirkungen eines Krieges auf unzählige Millionen von Lebewesen, auf das Hospital und auf ihn selbst im Kopf herum, aber wenigstens fühlte er sich nicht mehr für die Kriegsursache mitverantwortlich. Genau das hatte ihm O’Mara zu Anfang des Gesprächs aber vorgeworfen, dann hatte er ihm allerdings ohne allzu viele Worte klargemacht, wie albern dieses Schuldgefühl war. Als Conway mit seinem Bericht bei der Zerstörung von Lonvellins Schiff anlangte, kehrte dieses Gefühl jedoch mit voller Stärke zurück. Wenn er damals die einzelnen Teile früher zusammengefügt hätte, wäre Lonvellin heute noch am Leben.

O’Mara mußte seinen Gefühlswandel wohl bemerkt haben, ließ Conway aber seinen Bericht beenden, bevor er sagte: „Bei der ganzen Sache wundert mich nur, daß Lonvellin den Stand der Dinge nicht schon vor Ihnen erkannt hat. Er war doch schließlich der Kopf, der hinter der ganzen Operation gestanden hat. Wo wir gerade von Köpfen sprechen: Ihrer scheint ja von den Problemen, die eine große Anzahl von unterschiedlich zu behandelnden Wesen aufwirft, überhaupt nicht durcheinandergebracht worden zu sein. Und deshalb hab ich auch eine neue interessante Aufgabe für Sie. Und dieser Job hat gleich mehrere Vorteile — er ist weniger umfangreich als der Auftrag auf Etla, Sie müssen dazu nicht das Hospital verlassen, und mit etwas Glück werden Sie ihn ohne große Probleme erledigen.

Ich möchte nämlich, daß Sie die Evakuierung des Orbit Hospitals organisieren.“

Conway schluckte. Und dann schluckte er noch ein zweites Mal.

„Also, nun gucken Sie bitte nicht so, als ob ich Ihnen einen Schlag in die Magengrube versetzt hätte!“ sagte O’Mara. „Sonst mache ich das nämlich wirklich. Auch Ihnen muß klargeworden sein, daß wir hier keine Patienten gebrauchen können, wenn die Streitkräfte des Imperiums anrücken. Genausowenig sollte sich im Hospital nichtmilitärisches Personal aufhalten, wenn es nicht freiwillig hierbleibt. Auf jeden Fall müssen sämtliche Wesen, die detaillierte Informationen über die Position irgendeines Planeten der Föderation besitzen, aus dem Orbit Hospital verschwinden. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, welchen Rang oder welche Stellung diese Wesen haben. Aber bestimmt erschreckt Sie die Vorstellung sowieso nicht mehr, Ihren nominellen Vorgesetzten Befehle zu erteilen, wo Sie ja schon einen Colonel des Monitorkorps herumkommandiert haben.“

Conway spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoß. Er ließ O’Mara jedoch den Seitenhieb über Williamson durchgehen und erwiderte: „Ich hab eigentlich gedacht, wir sollten dem Imperium das Hospital am besten leer hinterlassen.“

„Nein“, entgegnete O’Mara trocken. „Dafür ist der ideelle, finanzielle und strategische Wert zu groß. Wir hoffen, durch Unterstützung der Verteidigungseinheiten ein paar Ebenen zur Behandlung von Opfern funktionsfähig halten zu können. Colonel Skempton befaßt sich bereits mit dem Problem der Evakuierung und wird Ihnen helfen, wo er kann. Wie spät ist es denn jetzt bei Ihnen, Doktor?“

Conway erklärte O’Mara, daß es für ihn zwei Stunden nach dem Frühstück gewesen sei, als er von Bord der Vespasian gegangen war.

„Schön“, entgegnete O’Mara. „Dann können Sie sich ja mit Skempton in Verbindung setzen und sich anschließend sofort an die Arbeit machen. Für mich ist die Schlafenszeit zwar schon lange überschritten, aber ich schlafe eben hier, falls Sie oder der Colonel irgend etwas wollen. Gute Nacht, Doktor.“

Kaum gesagt, zog er auch schon seine Uniform aus, legte sie zusammen, stieg aus den Schuhen und legte sich hin. Innerhalb von Sekunden ging sein Atem tief und regelmäßig. Conway mußte plötzlich lachen.

„Es ist doch irgendwie fast schon ein traumatisches Erlebnis, wenn man den Chefpsychologen auf seiner eigenen Couch liegen sieht“, stellte Conway zwischen dem Gelächter fest. „Nach diesem Anblick bezweifle ich doch sehr, ob unser Verhältnis jemals wieder dasselbe sein wird, Sir.“

Als er hinausging, murmelte O’Mara schläfrig: „Da bin ich ja heilfroh. Eben hab ich noch befürchtet, Sie würden wegen mir noch ganz melancholisch.“

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