Harey

Die Berechnungen hatte ich mit einer Art schweigender Verbissenheit durchgeführt, die mich allein auf den Beinen gehalten hatte. Ich war so stumpfsinnig vor Müdigkeit, daß ich es nicht zuwegebrachte, das Bett in der Kabine aufzuklappen. Statt die oberen Haltegriffe zu lösen, zog ich am Geländer, bis alles Bettzeug auf mich niederstürzte. Als ich das Bett endlich heruntergeklappt hatte, warf ich Anzug und Wäsche auf den Fußboden hin und fiel halb betäubt auf das Polster; ich blies es nicht einmal ordentlich auf. Ich schlief bei Licht ein, ich weiß nicht wann und wie. Als ich die Augen öffnete, hatte ich den Eindruck, ich hätte kaum einige Minuten geschlafen. Das Zimmerstand in umwölktem rotem Glanz. Ich hatte es kühl und gut. Ich lag nackt, mit nichts zugedeckt. Dem Bett gegenüber, beim Fenster, dessen Verdunklung halb zurückgezogen war, im Licht der roten Sonne, saß jemand auf dem Stuhl. Es war Harey im weißen Strandkleid, die Beine übereinandergeschlagen, barfuß, sie trug das dunkle Haar zurückgekämmt, der dünne Stoff spannte sich auf den Brüsten, die Arme, braungebrannt bis zu den Ellbogen, hingen herab, und sie schaute unter den schwarzen Wimpern hervor unverwandt auf mich. Lang sah ich ihr zu, ganz ruhig. Mein erster Gedanke war: "Wie gut, daß das so ein Traum ist, bei dem man weiß, daß man träumt.» Trotzdem hätte ich vorgezogen, sie würde verschwinden. Ich schloß die Augen und begann mir das sehr intensiv zu wünschen, aber als ich wieder schaute, saß sie genau wie zuvor. Die Lippen hielt sie so auf ihre eigene Weise gespitzt, wie zum Pfeifen, aber in den Augen lag nichts von einem Lächeln. Ich besann mich auf alles, was ich am Vorabend vor dem Einschlafen über die Träume gedacht hatte. Sie sah genauso aus wie damals, als ich sie zum letzten Mal lebend gesehen hatte, dabei war sie damals neunzehn Jahre alt gewesen, nun wäre sie also neunundzwanzig, aber natürlich hatte sie sich überhaupt nicht verändert — die Toten bleiben jung. Sie hatte dieselben immerzu verwunderten Augen und schaute mich an. — Ich schmeiße etwas nach ihr — dachte ich, aber obwohl das nur ein Traum war, brachte ich es irgendwie nicht über mich, eine Tote auch nur im Traum mit Gegenständen zu bewerfen.

— Arme Kleine —, sagte ich — bist du mich besuchen gekommen, ja?

Ein klein wenig erschrak ich, denn meine Stimme klang so echt, und das ganze Zimmer und auch Harey, alles präsentierte sich so wahrhaftig, wie sich das nur denken läßt.

Was für ein körperhafter Traum, nicht allein daß er farbig ist, ich sehe auch noch hier auf dem Fußboden eine Menge Gegenstände, die ich gestern beim Hinlegen gar nicht bemerkt habe! Sobald ich aufwache — dachte ich — muß ich nachprüfen, ob sie wirklich hier liegen oder nur das Fabrikat des Traumes sind, wie Harey…

— Willst du noch lang so dasitzen? — fragte ich und bemerkte, daß ich leise sprach, als fürchtete ich, daß mich jemand höre so, als ob irgend jemand imstande wäre, abzuhören, was im Traum geschieht!

Inzwischen war die Sonne schon etwas höher gestiegen. — Gut, — dachte ich — mir soll's recht sein. Ich habe mich während des roten Tages hingelegt, dann hat der blaue zu folgen, und erst dann wieder ein roter Tag. Ich kann nicht fünfzehn Stunden lang ununterbrochen geschlafen haben, also ist das bestimmt ein Traum!

Beruhigt sah ich Harey genauer an. Sie war von rückwärts beleuchtet; durch den Vorhangspalt fiel ein Lichtstrahl und vergoldete den samtigen Flaum auf ihrer linken

Wange, und die Wimpern warfen lange Schatten auf Hareys Gesicht. Sie war entzückend. — Na bitte, — dachte ich — so gewissenhaft bin ich, sogar wenn ich nicht wach bin: für die Sonnenbewegung sorge ich, und dafür, daß Hareys Grübchen richtig da ist, wo es sonst niemand hat, unterhalb des Winkels ihrer verwunderten Lippen; aber lieber wäre es mir, wenn das doch schon aus wäre. Ich muß schließlich etwas zu arbeiten anfangen. — Ich drückte die Augenlider zusammen und bemühte mich, aufzuwachen, da hörte ich etwas knarren. Sofort öffnete ich die Augen. Harey saß neben mir auf dem Bett und betrachtete mich ernst. Ich lächelte ihr zu, sie lächelte auch und neigte sich über mich; der erste Kuß war ganz zart, wie der Kuß zweier Kinder. Ich küßte Harey lang. — Darf ich einen Traum so ausnützen? — dachte ich. Aber das war ja nicht einmal Verrat an ihrem Andenken, denn im Traum war sie bei mir, sie selbst. Das hatte ich noch nie erlebt… Weiterhin sagten wir nichts. Ich lag auf dem Rücken; wenn sie den Kopf hob, konnte ich in ihre kleinen Nasenlöcher schauen, die bei ihr immer ein Barometer für die Gefühle waren; vom Fenster her schimmerte die Sonne hindurch. Mit den Fingerspitzen fuhr ich an Hareys Ohrmuscheln entlang, deren Läppchen von den Küssen ganz rosig waren. Ich weiß nicht, ob gerade das mich so beunruhigte; ich sagte mir fortwährend, das sei ein Traum, aber mir krampfte sich das Herz zusammen.

Ich spannte mich, um aus dem Bett zuspringen; ich war darauf vorbereitet, daß mir dies nicht gelingen werde: sehr oft beherrschen wir im Traum den eigenen Körper nicht, er ist wie gelähmt oder wie abwesend; ich rechnete eher darauf, durch diesen Vorsatz aufzuwachen. Ich wachte aber nicht auf, ich setzte mich nur auf und stellte die Füße auf den Boden. — Da hilft nichts, ich muß das zu Ende träumen — dachte ich, aber die gute Laune war spurlos verflogen. Ich fürchtete mich.

— Was willst du? — fragte ich. Meine Stimme war heiser, und ich mußte mich räuspern. Instinktiv suchte ich mit den bloßen Füßen nach Pantoffeln, und ehe mir einfiel, daß ich

hier keinerlei Pantoffel hatte, stieß ich mir so die Zehe an, daß ich zischte. — Na, jetzt wird Schluß sein! — dachte ich mit Genugtuung.

Aber weiterhin geschah nichts. Harey war zurückgewichen, als ich mich aufgesetzt hatte. Sie lehnte den Rücken ans Bettgeländer. Das Kleid vibrierte fein unterhalb der linken Brustspitze, im Rhythmus des Herzschlags. Harey sah mich mit ruhigem Interesse an. Ich dachte, ich sollte am besten unter die Brause, jedoch kam die Reflexion, daß eine geträumte Brause schließlich nicht wecken könne.

— Wie kommst du hierher? — fragte ich.

Harey griff meine Hand auf und begann, sie mit der alten Geste hochzuwerfen, schnippte meine Fingerspitzen hoch und fing sie ein.

— Ich weiß nicht, — sagte Harey. — Ist das schlimm?

Auch die Stimme war dieselbe, ganz dunkel, und auch der zerstreute Tonfall. Immer sprach Harey so, als liege ihr nicht viel an den geäußerten Worten, als sei sie schon mit etwas anderem beschäftigt, dadurch wirkte sie manchmal gedankenlos und manchmal wie ohne alle Scham, da sie alles mit gedämpfter Verwunderung besah, die sich nur in den Augen ausdrückte.

— Hat… jemand dich gesehen?

— Ich weiß nicht. Ich bin ganz gewöhnlich gekommen. Ist das wichtig, Kris?

Sie spielte immer noch mit meiner Hand, aber schon ohne daß das Gesicht daran Anteil nahm. Es verfinsterte sich.

— Harey…?

— Was denn, Liebling?

— Woher hast du gewußt, wo ich bin?

Das machte sie stutzig. Lächelnd ließ sie ein wenig die Zähne sehen, sie hatte so dunkle Lippen, daß man nichts merkte, wenn sie Weichsein gegessen hatte.

— Ich habe keine Ahnung. Komisch, nicht wahr? Du hast geschlafen, als ich hereinkam, aber ich habe dich nicht geweckt. Ich wollte dich nicht wecken, weil du bösartig bist. Bösartig und langweilig — im Rhythmus dieser Worte schlug sie energisch meine Hand hoch.

— Warst du unten, Harey?

— War ich. Von dort bin ich gleich weggelaufen, dort ist es kalt.

Sie ließ meine Hand los, legte sich auf die Seite, warf den Kopf zurück, um alles Haar in die gleiche Richtung hinüberzuschütteln, und blickte auf mich mit diesem halben Lächeln, das mich erst dann nicht mehr aufgebracht hatte, als ich Harey schon liebte.

— Aber… Harey… aber… stammelte ich.

Ich neigte mich über sie und hob den kurzen Ärmel des Kleides. Dicht über dem fast wie ein Blümchen geformten Mal von der Pockenimpfung rötete sich eine feine Einstichspur. Obwohl ich darauf gefaßt war (da ich fortwährend völlig instinktiv mitten im Unmöglichen nach Fetzen von Logik suchte), wurde mir übel. Ich berührte mit dem Finger diesen Stich von der Injektion, von der ich jahrelang nachher geträumt hatte, so, daß ich jedesmal stöhnend aufwachte, auf zerfleddertem Bettzeug, immer in derselben Haltung, gekrümmt, fast zusammengeklappt, wie Harey lag, wie ich sie schon fast kalt aufgefunden habe, denn ich versuchte im Traum dasselbe zu tun wie sie, als wollte ich auf diese Weise ihrem Andenken abbitten oder bei ihr sein in diesen letzten Minuten, während sie schon die Wirkung der Injektion gespürt hat und sich gefürchtet haben muß. Sie fürchtete sich doch sogar vor einem gewöhnlichen Kratzer, sie hat nie Schmerzen oder den Anblick von Blut ertragen können, und auf einmal hat sie so etwas Furchtbares getan, und fünf Worte hat sie auf einem Zettel hinterlassen, der an mich adressiert war. Den hatte ich bei meinen Papieren, ich trug ihn ständig bei mir, er verschmuddelte sich und zerfiel längs des Knicks, ich hatte nicht den Mut, mich davon zu trennen, tausende Male kehrte ich zu dem Augenblick zurück, wo sie das geschrieben hat, und zu dem, was sie damals gefühlt haben muß. Ich beredete mich, sie habe das nur zum Schein tun wollen, um mich zu schrecken, und nur die Dosis sei — durch einen Irrtum — zu groß ausgefallen; alle wollten mich überzeugen, so sei das gewesen, oder aber, das müsse ein momentaner Entschluß gewesen sein, verursacht durch Depressionen, durch plötzliche Depressionen. Aber die Leute wußten alle nicht, was ich fünf Tage vorher zu ihr gesagt hatte, und auf welche Art, um sie am empfindlichsten zu verletzen, ich nahm meine Sachen mit, sie aber, während ich zusammenpackte, sagte sie außerordentlich ruhig: "Du weißt, was das bedeutet…?», und ich stellte mich, als verstünde ich nicht, obwohl ich genau verstand, aber ich hielt sie für feig, und ich sagte ihr auch noch das, — und da lag sie jetzt quer auf dem Bett und betrachtete mich aufmerksam und schien nicht zu wissen, daß ich sie getötet habe.

— Das ist alles, was du kannst? — fragte sie. Das Zimmer war rot vom Sonnenlicht, der Abglanz glomm in ihrem Haar, sie blickte auf den eigenen Arm, der auf einmal wichtig wurde, da ich ihn solang besah, und als ich die Hand sinken ließ, schmiegte Harey die kühle, glatte Wange hinein.

— Harey — krächzte ich hervor — das gibt es nicht… — Hör auf!

Harey hielt die Augen geschlossen, ich sah sie unter den gespannten Lidern beben, die schwarzen Wimpern berührten die Wangen.

— Wo sind wir, Harey?

— Bei uns daheim.

— Wo ist das?

Sie öffnete schnell ein Auge und schloß es gleich wieder. Sie kitzelte mit den Wimpern meine Hand.

— Kris! — Was?

— Gut ist es bei dir.

Ich saß hoch über ihr und rührte mich nicht weg. Ich hob den Kopf und sah ein Stück des Bettes, Hareys zerwühltes Haar und meine nackten Knie im Spiegel über dem Waschbecken. Ich zog mit dem Fuß eines dieser halbgeschmolzenen Werkzeuge heran, die auf dem Fußboden herumlagen, und hob es mit der freien Hand auf. Das Ende war spitz. Ich setzte es an die Haut oberhalb der Stelle, wo eine halbrunde symmetrische rosa Narbe war, und stieß es ins Fleisch. Das tat empfindlich weh. Ich schaute auf das rieselnde Blut, das in großen Tropfen die Innenseite des Schenkels entlangrollte und leise auf den Fußboden tröpfelte.

Das war zwecklos. Immer deutlicher wurden die gräßlichen Gedanken, die mir durch den Kopf gingen, ich sagte mir nicht mehr: "Das ist ein Traum», daran hatte ich längst zu glauben aufgehört, jetzt dachte ich: "Ich muß mich verteidigen.» Ich blickte auf Hareys Rücken, wie er unter dem weißen Stoff in die Biegung der Hüften überging. Die bloßen Füße baumelten über dem Fußboden. Ich griff nach ihnen, leicht umfaßte ich die rosige Ferse und ließ die Finger über die Fußsohle gleiten.

Sie war zart wie bei einem Neugeborenen.

Ich wußte eigentlich schon sicher, daß das nicht Harey war, und beinahe sicher, daß sie selbst das nicht wußte.

Der bloße Fuß regte sich in meiner Hand, Hareys dunkle Lippen blähten sich in lautlosem Lachen.

— Hör auf… — flüsterte sie.

Sanft löste ich die Hand und stand auf. Ich war noch immer nackt. Während ich mich eilig anzog, sah ich, wie sich Harey im Bett aufsetzte. Sie schaute mich an.

— Wo sind deine Sachen? — fragte ich und bedauerte es sogleich.

— Meine Sachen?

— Na, hast du nur dieses Kleid?

Jetzt war das schon ein Spiel. Absichtlich versuchte ich mich lässig zu benehmen, ganz gewöhnlich, als hätten wir uns gestern getrennt, nein, als ob wir uns überhaupt niemals getrennt hätten. Sie stand auf und schlug mit der bekannten leichten, aber kräftigen Bewegung auf den Rock, um ihn zu glätten. Meine Worte beschäftigten sie, wenn sie auch nichts sagte. Sie erfaßte die Umgebung erstmals mit sachlichem, suchendem Blick und wandte sich merklich verwundert wieder zu mir.

— Ich weiß nicht… — sagte sie hilflos. — Wohl im Schrank.? fügte sie hinzu und öffnete die Tür einen Spalt weit.

— Nein, dort sind nur Overalls — entgegnete ich. Ich fand neben dem Waschbecken einen Elektroapparat und begann mich zu rasieren. Dem Mädchen kehrte ich dabei lieber nicht den Rücken, wer immer sie sein mochte.

Sie ging in der Kabine umher, guckte in alle Winkel, sah zum Fenster hinaus, näherte sich endlich mir und sagte:

— Kris, ich habe so ein Gefühl, als wäre etwas geschehen?

Sie verstummte. Ich wartete, den ausgeschalteten Apparat in den Händen. -Als hätte ich etwas vergessen… als hätte ich viel vergessen. Ich weiß… ich erinnere mich nur an dich… und… und an nichts sonst. Ich hörte das an und suchte das eigene Gesicht zu beherrschen. -Warich… krank?

— Hm… man kann das so nennen. Ja, eine Zeitlang warst du ein wenig krank.

— Aha. Das kommt wohl daher.

Schon war sie aufgeheitert. Ich kann nicht ausdrücken, was ich erlebte. Wenn sie schwieg, ging, sich setzte, lächelte, dann war die Gewißheit, ich hätte Harey vor mir, stärker als meine würgende Angst; dann wieder, wie eben in diesem Augenblick, schien es mir, das sei eine vereinfachte Harey, eingeengt auf ein paar charakteristische Äußerungen, Gesten, Bewegungen. Sie kam mir ganz nahe, stemmte die lockeren Fäuste auf meine Brust, dicht unter dem Hals, und fragte:

— Wie steht es zwischen uns? Gut oder schlecht?

— Bestens — entgegnete ich. Harey lächelte leicht.

— Wenn du so redest, steht es eher schlecht.

— Aber wieso denn, Harey, Liebling, ich muß jetzt gehen sagte ich rasch. — Du wartest auf mich, gut? Oder vielleicht… bist du hungrig? — setzte ich hinzu, denn selbst verspürte ich mit einemmal wachsenden Hunger.

— Hungrig? Nein.

Sie schüttelte den Kopf, daß das Haar wogte.

— Ich soll auf dich warten? Lang?

— Eine Stunde — begann ich, aber sie unterbrach mich:

— Ich gehe mit dir.

— Du kannst nicht mitgehen, ich muß ja arbeiten.

— Ich gehe mit dir.

Das war eine völlig andere Harey: die andere hatte sich nicht aufgedrängt. Niemals.

— Liebes Kind, das ist unmöglich…

Sie sah zu mir auf, faßte mich plötzlich bei der Hand. Ich strich mit der Handfläche Hareys Unterarm hinauf, ihr Arm war warm und mollig, ich wollte gar nicht, aber das wurde fast eine Liebkosung. Mein Körper bekannte sich zu Harey, wollte sie, zog mich zu ihr hin, jenseits des Verstandes, jenseits der Argumente und der Angst.

Bemüht, um jeden Preis Ruhe zu bewahren, wiederholte ich:

— Harey, das ist unmöglich. Du mußt hierbleiben.

— Nein.

Und wie das klang!

— Warum nicht?… ich weiß nicht.

Sie schaute umher und hob wieder den Blick zu mir auf.

— Ich kann nicht… — sagte sie ganz leise.

— Aber warum!?

Ich weiß nicht Ich kann nicht Mir scheint mir scheint…

Sichtlich suchte sie nach einer Antwort in ihrem Inneren, und als sie eine gefunden hatte, war das eine Neuentdeckung für sie.

— Es scheint, daß ich dich fortwährend… sehen muß.

Der sachliche Tonfall dieser Worte schloß die Deutung als Gefühlsbekenntnis aus; das war etwas völlig anderes. So empfand ich, und der Griff, mit dem ich Harey umschlungen hielt, veränderte sich plötzlich, obwohl sich nach außen hin nichts veränderte: sie stand, ich umarmte sie; ihr in die Augen schauend, begann ich ihr die Arme zurückzubiegen, und diese Bewegung, anfangs nicht völlig entschieden, führte schon zu etwas, fand ihr Ziel. Mein Blick suchte schon nach etwas, womit ich Harey fesseln könnte.

Ihre zurückgedrehten Ellbogen klopften leicht aneinander und spannten sich zugleich mit solcher Kraft, daß mein Zugriff umsonst war. Ich kämpfte vielleicht eine Sekunde lang. So zurückgebogen wie Harey und mit den Fußspitzen kaum den Boden berührend, hätte sich sogar ein Athlet nicht befreien können, sie aber — mit einem Gesicht, das an alledem keinen Anteil nahm, mit schwachem, unsicherem Lächeln —, sprengte meinen Griff, richtete sich auf und ließ die Arme sinken.

Hareys Augen beobachteten mich mit demselben ruhigen Interesse wie gleich zu Beginn, als ich erwacht war, sie schien sich nicht klar über meine verzweifelte Anstrengung von vorhin, die ein Anfall von Angst mir diktiert hatte. Harey stand jetzt untätig da und wartete anscheinend auf etwas, zugleich teilnahmslos, gesammelt und eine Spur verwundert über das alles.

Die Hände sanken mir von selbst herab. Ich ließ Harey mitten im Zimmer stehen und trat zu dem Regal beim Waschbecken. Ich fühlte, daß ich in einer unvorstellbaren Falle gefangen war, ich suchte nach einem Ausweg und erwog immer rücksichtslosere Mittel. Hätte mich jemand gefragt, was mit mir los sei, und was das alles bedeute, ich hätte kein Wort herausgebracht, aber ich hatte schon das Bewußtsein, daß alles, was in der Station mit uns allen vorging, ein Ganzes bildete, ebenso furchtbar wie unverständlich, doch nicht daran dachte ich im Moment, denn ich versuchte irgendeinen Trick zu erfinden, ein Manöver, das die Flucht ermöglichte. Über dem Regal war in die Wand eine kleine Hausapotheke eingebaut. Ich sah flüchtig ihren Inhalt durch. Ich fand ein Gläschen Schlafpulver und warf vier Tabletten — die Höchstdosis — in ein Trinkglas. Ich verbarg meine Anstalten gar nicht sonderlich vor Harey. Das ist schwer zu begründen. Ich dachte darüber nicht nach. Ich goß heißes Wasser ins Glas, wartete, bis die Pillen aufgelöst waren, und trat zu Harey, die immer noch mitten im Zimmer stand.

— Bist du böse? — fragte sie leise.

— Nein. Trink das aus.

Ich weiß nicht, warum ich annahm, sie werde mir gehorchen. Wirklich nahm sie mir ohne ein Wort das Glas aus den Händen und leerte es auf einen Zug. Ich stellte es auf dem Tischlein ab und setzte mich in den Winkel zwischen dem Schrank und dem Bücherregal. Harey kam langsam zu mir und setzte sich bei meinem Lehnsessel auf den Fußboden, wie sooft, mit untergeschlagenen Beinen; und mit einer ebenso wohlbekannten Bewegung warf sie das Haar zurück. Ich glaube zwar durchaus nicht mehr, daß sie es selbst sei, aber jedesmal schnürte es mir die Kehle zu, wenn ich Harey in diesen kleinen Angewohnheiten wiedererkannte. Das war unbegreiflich und gräßlich, aber das gräßlichste war, daß ich mich auch selbst ungeheuerlich verhalten mußte, mich stellen, als hielte ich sie für Harey, aber sie selbst glaubte ja Harey zu sein und handelte ihrem Urteil nach nicht arglistig. Ich weiß nicht, wie ich darauf verfiel, daß es so war und nicht anders, aber das war für mich gewiß, sofern es überhaupt noch etwas Gewisses geben konnte!

Ich saß, das Mädchen lehnte den Rücken an meine Knie, kitzelte mit den Haaren meine reglose Hand, und so verharrten wir fast unbeweglich. Ein paarmal schaute ich unauffällig auf meine Uhr. Eine halbe Stunde war um, das Schlafmittel sollte schon wirken. Harey murmelte etwas, ganz leise.

— Was hast du gesagt? — fragte ich, aber sie antwortete nicht. Ich hielt das für Anzeichen aufsteigender Schläfrigkeit, wenn ich auch bei Gott auf dem Grunde meiner Seele bezweifelte, daß die Arznei wirken werde. Weshalb? Auch auf diese Frage finde ich keine Antwort. Höchstwahrscheinlich deshalb, weil meine Finte schon gar zu simpel war.

Langsam sank Hareys Kopf auf meinen Schoß, das dunkle

Haar verhüllte sie ganz, sie atmete gleichmäßig wie ein Schlafender. Ich bückte mich, um sie aufs Bett zu tragen, da auf einmal, ohne die Augen zu öffnen, packte sie mich mit leichter Hand beim Schopf und brach in schrilles Gelächter aus.

Ich erstarrte, und sie quoll einfach über von Lustigkeit, sah mich mit schmalgekniffenen Augen an, mit gleichzeitig naiver und listiger Miene. Ich saß unnatürlich steif da, verdattert und hilflos; Harey kicherte noch einmal auf, schmiegte das Gesicht an meine Hand und verstummte.

— Warum lachst du? — fragte ich mit hölzerner Stimme. Der vorige Ausdruck ein wenig beunruhigten Nachdenkens erschien in Hareys Gesicht. Ich sah, daß sie ehrlich sein wollte. Sie tippte sich mit dem Finger auf die kleine Nase und sagte endlich mit einem Seufzer:

— Ich weiß es selbst nicht. Das klang aufrichtig verblüfft.

— Ich benehme mich wie eine Idiotin, stimmt's? — setzte sie fort. — Auf einmal war mir so irgendwie… Na, aber du bist auch gut: du sitzt so aufgeblasen da, wie… wie Pelvis.

— Wie wer? — fragte ich, denn ich meinte mich verhört zu haben.

— Wie Pelvis, na, du weißt schon, der Dicke…

Nun konnte Harey außer allem Zweifel weder Pelvis kennen, noch von mir etwas über ihn gehört haben, aus dem einfachen Grund, daß er erst gut drei Jahre nach ihrem Tod von seiner Expedition zurückgekehrt war. Ich hatte ihn bis dahin auch nicht gekannt, und nicht gewußt, daß er als Vorsitzender von Institutsversammlungen die unleidliche Gewohnheit hatte, die Sitzungen bis ins Unendliche auszudehnen. Er hieß im übrigen Pelle Villis, daraus war die familiäre Kurzform entstanden, die wir vor seiner Rückkehr auch noch nicht gekannt hatten.

Harey stützte die Ellbogen auf meine Knie und schaute mir ins Gesicht. Ich legte ihr die Hände auf die Schultern, langsam verschob ich die Hände zur Mitte hin, bis sie über dem pulsierenden, nackten Halsansatz fast zusammentrafen. Letzten Endes konnte das eine Liebkosung sein, und nach Hareys Blick zu schließen, faßte sie es auch nicht anders auf. In Wirklichkeit überzeugte ich mich, daß ihr Körper beim Betasten ein gewöhnlicher, durchwärmter menschlicher Körper war, und daß sich darin unter den Muskeln Knochen und Gelenke verbargen. Ich schaute ihr in die ruhigen Augen und verspürte schreckliche Lust, die Finger gewaltsam zusammenzudrücken.

Schon schlössen sie sich fast, da besann ich mich plötzlich auf die blutigen Hände Snauts und ließ los.

— Wie du dreinschaust… — sagte sie ruhig.

Das Herz hämmerte mir so, daß ich nicht imstande war, zu sprechen. Ich schloß auf einen Augenblick die Lider.

Mit einemmal erschien mir der ganze Plan für mein Vorgehen, vom Anfang bis zum Ende, mit allen Einzelheiten. Ohne einen Augenblick zu verlieren, stand ich aus dem Lehnsessel auf.

— Harey, ich muß schon gehen, — sagte ich — wenn du unbedingt willst, so komm mit. -Gut.

Sie sprang auf die Beine.

— Warum bist du barfuß?— fragte ich und ging zum Schrank; ich wählte unter den bunten Schutzanzügen zwei aus, für mich und für sie.

— Ich weiß nicht… ich muß die Schuhe irgendwo liegengelassen haben… — sagte sie unsicher. Ich hörte weg.

— Im Kleid kannst du da nicht hinein, du mußt es ausziehen.

— In den Schutzanzug…? Wozu? — fragte sie und machte sich sofort ans Ausziehen, aber gleich stellte sich etwas Merkwürdiges heraus: das Kleid ließ sich nicht ausziehen, weil es nichts zum Aufknöpfen hatte. Die roten Knöpfe in der Mitte waren bloßer Aufputz. Da war kein Reiß— oder sonstiger Verschluß. Harey lächelte verlegen. Ich tat, als wäre das die alltäglichste Sache der Welt, hob ein skalpellähnliches Instrument vom Fußboden auf und schnitt hinten den Stoff ein, wo der Halsausschnitt endete. Nun konnte Harey das Kleid über den Kopf ziehen. Der Schutzanzug war ihr etwas zu weit.

— Fliegen wir?… Aber du auch? — erkundigte sie sich, als wir fertig angekleidet das Zimmer verließen. Ich nickte nur. Ich hatte gräßliche Angst, wir könnten Snaut treffen, aber der Korridor zum Flughafen war leer, und die Tür zur Funkstation, an der wir vorbeimußten, war geschlossen.

In der Station herrschte immer noch Totenstille. Harey sah zu, wie ich mit einem kleinen elektrischen Wägelchen eine Rakete aus der mittleren Box auf die freie Bahn fuhr. Ich überprüfte der Reihe nach den Zustand des Mikroreaktors, der fernlenkbaren Steuer und der Düsen, dann schob ich den Flugkörper mit dem Startwägelchen auf die runde rollengelagerte Fläche der Startplattform unter dem zentralen Kuppeltrichter, von der ich vorher die leere Kapsel entfernt hatte.

Dieses Kleinschiff war für den Verkehr zwischen Station und Satelloid bestimmt; außer in Ausnahmefällen wurden darin nur Frachtladungen und nicht Menschen befördert, da es sich von innen nicht öffnen ließ. Gerade das kam mir gelegen und bildete einen Teil meines Plans. Natürlich hatte ich nicht vor, die kleine Rakete abzuschießen, aber ich tat alles, wie um sie zum echten Start bereit zu machen: Harey, die mich so oft auf Reisen begleitet hatte, wußte da ein wenig Bescheid. Ich überprüfte noch drinnen den Zustand der Klimaanlage und der Sauerstoffversorgung, setzte beides in Betrieb, und als nach dem Einschalten des Hauptstromkreises die Kontrollämpchen aufleuchteten, kroch ich aus der engen Zelle und wies Harey hinein, die an der Leiter stand.

— Steig ein.

— Und du?

— Ich komme nach. Ich muß hinter uns die Klappe schließen.

Ich nahm nicht an, daß sie den Betrug vorzeitig durchschauen konnte. Kaum war sie über die Leitersprossen ins Innere geklettert, steckte ich sofort den Kopf zum Einstieg hinein und fragte, ob sie bequem unterkommen könne, und als ich ein dumpfes, von der Enge des Raumes ersticktes «Ja» vernahm, wich ich zurück und knallte mit Schwung die Klappe zu. Mit zwei Bewegungen warf ich beide Riegel vor, dann begann ich mit dem bereitgehaltenen Schlüssel die fünf Halteschrauben in den Vertiefungen des Panzers anzuziehen.

Die zugespitzte Zigarre stand senkrecht, als sollte sie wirklich sogleich in den Raum hinausfliegen. Ich wußte, daß der Eingeschlossenen nichts passieren konnte: im Schiff gab es genug Sauerstoff und sogar ein wenig Proviant, im übrigen hatte ich durchaus nicht vor, sie ewig dort einzukerkern.

Ich wollte um jeden Preis wenigstens ein paar Stunden Freiheit gewinnen, um Pläne für die weitere Zukunft zu entwerfen und mich mit Snaut zu besprechen, jetzt schon auf gleichem Fuß.

Als ich die vorletzte Schraube anzog, spürte ich, daß die Metallstreben, zwischen denen die Rakete nur an Vorsprüngen aus drei Richtungen aufgehängt war, ganz leicht zitterten. Aber ich dachte, ich selbst hätte beim heftigen Arbeiten mit dem großen Schlüssel unabsichtlich den stählernen Körper ins Schwingen gebracht.

Als ich jedoch ein paar Schritte zurücktrat, sah ich etwas, was ich nicht noch einmal sehen möchte.

Die ganze Rakete zuckte, erschüttert durch Serien von Schlägen aus dem Inneren. Aber was für Schläge! Hätte im Schiff den Platz des schwarzhaarigen, schlanken Mädchens ein stählerner Automat eingenommen, so hätte er die achttönnige Masse bestimmt nicht in so konvulsivisches Zucken versetzen können!

Die Spiegelungen der Flughafenlichter auf dem polierten Rumpf flirrten und bebten. Im übrigen hörte ich keinerlei Gehämmer, drinnen im Flugkörper herrschte absolute Stille, nur daß die weit auseinanderstehenden Füße des Gerüstes, in dem die Rakete hing, die scharfen Konturen verloren und vibrierten wie Saiten. Die Frequenz dieser Schwingungen war so, daß ich für das Heilbleiben des Panzers fürchtete. Ich drehte mit schlotternden Händen die letzte Schraube fest, schmiß den Schlüssel fort und sprang von der Leiter. Ich entfernte mich langsam, rücklings, und da sah ich, wie die Bolzen der Dämpfer, die nur für stetigen Druck berechnet waren, in den Fassungen hüpften. Mir schien es, die Panzerhülle verliere ihren einheitlichen Glanz. Wie rasend lief ich zum Fernsteuerpult, drückte mit beiden Händen den Anschalthebel für Reaktor und Funkverbindung hoch — da schlug aus dem Lautsprecher, der nun mit dem Innenraum der Rakete verbunden war, durchdringendes Gejaul oder auch Zischen, das nichts mit einer menschlichen Stimme gemein hatte, — trotzdem unterschied ich darin den wiederholten, heulenden Ruf: "Kris! Kris! Kris!!!»

Das hörte ich im übrigen nicht deutlich. Das Blut schoß mir von den aufgeplatzten Knöcheln, so chaotisch und gewaltsam suchte ich den Flugkörper zu starten. Bläulicher Widerschein fiel auf die Wände, von der Startplattform stob unter den Düsenauslässen in Schwaden der Staub auf, er verwandelte sich in eine Säule grellgiftiger Funken, und alle Geräusche übertönte ein hohes, langgezogenes Dröhnen. Die Rakete hob sich auf drei Flammen, die sofort zu einer einzigen Feuersäule verschmolzen, und flog, zuckende Glutfahnen hinter sich zurücklassend, durch die geöffnete Ausstoßöffnung hinaus. Die Blenden schlössen sie sofort wieder, die automatisch angelassenen Kompressoren begannen frische Luft durch die Halle zu spülen, in der beißender Rauch wogte. Das alles machte ich mir nicht klar. Die Hände aufs Pult gestützt, das Gesicht noch vom Feuer durchbrannt, die Haare geringelt und verrußt vom thermischen Schlag, schnappte ich krampfhaft nach Luft; sie roch brenzlig und war zugleich erfüllt von dem charakteristischen ozonartigen Geruch der Ionisation. Obwohl ich im Augenblick des Starts instinktiv die Augen geschlossen hatte, war ich doch durch die Strahlflamme geblendet worden. Geraume Zeit sah ich nur schwarze, rote und goldene Kreise. Allmählich verflüchtigten sie sich. Rauch, Staub und Nebel verschwanden, von den gedehnt stöhnenden Ventilationsleitungen eingesaugt. Das erste, was ich zu sehen vermochte, war der grünlich leuchtende Radarschirm. Ich fing an, mit dem Direktreflektor zu manövrieren und die Rakete zu suchen. Als ich sie endlich erwischte, war sie schon außerhalb der Lufthülle. In meinem Leben hatte ich noch keinen Flugkörper so rasend und blindlings abgeschickt, ohne jede Vorstellung davon, welche Beschleunigung ich ihm verleihen solle, und wohin ich ihn überhaupt schicken wollte. Ich hielt es nun für das einfachste, ihn auf eine Kreisbahn rund um die Solaris umzulenken, in einer Höhe von ungefähr tausend Kilometern: dann konnte ich die Triebwerke stillegen; solange sie arbeiteten, war ich ja nicht sicher, ob nicht irgendeine in den Folgen unberechenbare Katastrophe eintreten würde. Wie ich auf der Tabelle nachprüfte, war die Bahn in tausend Kilometer Höhe stationär. Auch sie gab, ehrlich gesagt, keinerlei Garantie; das war einfach der einzige Ausweg, den ich fand.

Den Lautsprecher, den ich gleich nach dem Start ausgeschaltet hatte, wagte ich nicht einzuschalten. Im Gegenteil, ich hätte alles nur Erdenkliche getan, nur um zu vermeiden, daß ich wiederum diese gräßliche Stimme hören müßte, die nichts Menschliches mehr an sich hatte. Eines konnte ich mir sagen: daß alles Blendwerk zerrissen war, und daß durch Hareys vorgespiegeltes Gesicht ein anderes Gesicht hindurchzublicken begann, das wahre Gesicht, gegen das die Alternative des Wahnsinns wirklich einer Befreiung gleichkam.

Es war ein Uhr, als ich den Flughafen verließ.

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