Träume

Nach sechs Tagen bewog uns das Fehlen jeder Reaktion, das Experiment zu wiederholen; die Station, die bisher regungslos am Schnittpunkt des dreiundvierzigsten Breitegrades und des hundertsechzehnten Längengrades verharrt hatte, trieb dabei unter Beibehaltung der Höhe von vierhundert Metern über dem Ozean in Richtung nach Süden, denn dort hatte sich die Plasmaaktivität erheblich belebt, wie die Radiogramme des Satelloids und die Radaranzeigegeräte meldeten.

Zwei Tage lang schlug das mit meinem EEG modulierte Röntgenbündel unsichtbar in mehrstündigen Abständen auf die fast völlig glatte Ozeanoberfläche ein.

Gegen Ende des zweiten Tages waren wir dem Pol schon so nahe, daß, sobald sich die blaue Sonnenscheibe fast ganz hinter dem Horizont verborgen hatte, purpurnes Anschwellen der Wolken an seiner gegenüberliegenden Seite den Aufgang der roten Sonne ankündigte. Die schwarze Weite des Ozeans und den leeren Himmel darüber erfüllte nun ein blendend heftiger Kampf harter, metallisch erglühter, giftiges Grün sprühender Farben gegen gedämpfte, stumpfe Flammen aus Purpur; den Ozean selbst durchschnitten die Widerspiegelungen zweier entgegengesetzter Scheiben, zweier heftiger Flammenherde, eines quecksilbernen und eines aus Scharlach; nun genügte das kleinste Wölkchen im Zenit, und die Lichter, die zusammen mit schwerem Schaum an den Wellenhängen hin abströmten, bereicherten sich um unwahrscheinliches, irisierendes Geflimmer. Knapp nach dem Untergang der blauen Sonne zeigte sich am nordwestlichen Horizont, zunächst von den Signalgeräten angekündigt, fast ununterscheidbar mit dem rostrot blutenden Nebel verschmolzen und nur durch vereinzeltes Spiegelblitzen daraus hervortauchend, wie eine dort an der Grenzlinie zwischen Himmel und Plasma entsprießende gigantische Blume aus Glas — eine Symmetriade. Die Station änderte jedoch den Kurs nicht, und der Koloß, der rot zuckte wie eine ausbrennende Lampe aus Rubinen, verbarg sich nach etwa einer Viertelstunde wieder hinter dem Horizont. Noch einige Minuten, und eine hohe, schlanke Säule, deren Basis bereits durch die Krümmung des Planeten unseren Blicken entzogen war, schlug einige Kilometerweit empor, in der Atmosphäre lautlos anwachsend. Dieses offenkundige Zeichen vom Ende der zuvor gesichteten Symmetriade, zur Hälfte blutig entbrannt, in der anderen Hälfte hell leuchtend wie eine Säule aus Quecksilber, wucherte auseinander zum zweifarbigen Baum; dann flössen die Enden seiner stärker und stärker aufquellenden Zweige zu einer einzigen pilzförmigen Wolke zusammen, deren oberer Teil im Feuer zweier Sonnen mit dem Wind aufweite Wanderschaft zog, während der untere in schweren, traubigen Trümmern, die ein Drittel des Horizonts durchflockten, überaus langsam absank. Nach einer Stunde war die letzte Spur von diesem Schauspiel verschwunden.

Und wieder vergingen zwei Tage, das Experiment wurde zum letzten Mal wiederholt, die Röntgenstiche hatten schon ein beträchtliches Stück Plasmafläche erfaßt, im Süden zeigten sich, von unserer Erhöhung aus trotz der Entfernung von dreihundert Kilometern bestens sichtbar, die Arrheniden, eine sechsfache felsige Kette wie mit Schnee überfrorener Gipfel; in Wirklichkeit ist der Belag organischer Herkunft und bezeugt, daß diese Formation einst den Grund des Ozeans gebildet hat.

Nun änderten wir den Kurs auf Südost und glitten eine Zeitlang parallel zu der Bergbarriere dahin; sie war mit Wolken durchmengt, wie sie für den rostroten Tag typisch sind; schließlich verschwanden auch sie. Seit dem ersten Experiment waren schon zehn Tage verstrichen.

Während all dieser Zeit geschah in der Station eigentlich nichts; nachdem Sartorius die Programmierung des Experiments einmal ausgearbeitet hatte, wiederholte es die automatische Apparatur, und ich bin nicht einmal sicher, ob irgend jemand ihre Tätigkeit kontrollierte. Aber zugleich geschah in der Station weit mehr, als wünschenswert sein konnte. Nicht von Mensch zu Mensch. Ich befürchtete, Sartorius werde die Wiederaufnahme der Arbeiten am Annihilator fordern; ich wartete auch auf eine Reaktion Snauts: der andere konnte ihn ja darüber aufklären, daß ich ihn in gewissem Grade betrogen hatte, durch Übertreiben der Gefahren, die das Vernichten von Neutrino-Materie nach sich zieht. Doch nichts dergleichen erfolgte, aus zunächst für mich völlig rätselhaften Gründen; selbstverständlich zog ich auch eine Hinterlist der beiden in Betracht, die

Geheimhaltung von Vorbereitungen und Arbeiten; daher warf ich täglich einen Blick in den fensterlosen Raum dicht unter dem Fußboden des Hauptlaboratoriums, dorthin, wo sich der Annihilator befand. Nie traf ich dort jemanden an, und daß seit vielen Wochen niemand den Apparat auch nur berührt hatte, davon zeugte die Staubschicht, die seine Panzer und Kabel bedeckte.

Snaut wurde zu jener Zeit ebenso unsichtbar wie Sartorius und noch ungreifbarer als er, denn auch das Visofon in der Funkstation antwortete nicht mehr auf Anrufe. Die Bewegungen der Station muß jemand gelenkt haben, aber ich kann nicht sagen wer, denn das kümmerte mich einfach nicht, obwohl das vielleicht sonderbar klingt. Das Fehlen einer Reaktion seitens des Ozeans ließ mich auch gleichgültig, in solchem Grade, daß ich nach zwei, drei Tagen nicht bloß aufhörte, auf eine zu rechnen oder sie zu befürchten, sondern sie und den Versuch gänzlich vergaß. Ganze Tage versaß ich entweder in der Bibliothek oder in der Kabine mit Harey, die mich wie mein Schatten umschlich. Ich sah, daß es ungut zwischen uns stand, und daß sich dieser apathische und besinnungslose Schwebezustand nicht ins Unendliche hinziehen konnte. Ich hatte ihn irgendwie zu überwinden, an unseren Beziehungen etwas zu ändern, aber den bloßen Gedanken irgendeiner Änderung schob ich von mir, ich war unfähig, irgendeine Entscheidung zu treffen; ich weiß das nicht anders zu erklären, jedenfalls schien mir alles in der Station, und schon besonders das, was zwischen Harey und mir war, im Zustand ungemein labilen, halsbrecherisch aufgetürmten Gleichgewichts zu verweilen, so daß jedes Antasten alles zum Einsturz bringen konnte. Warum? Das weiß ich nicht. Das Merkwürdigste war, daß auch sie, zumindest in gewissem Grad, etwas Derartiges verspürte. Wenn ich jetzt an all das denke, scheint es mir, daß diese Empfindung der Ungewißheit, der Schwebe, des Augenblicks vor dem nahenden Erdbeben, hervorgerufen wurde durch jene auf keine andere Weise spürbare, alle Decks und Räumlichkeiten der Station erfüllende Präsenz. Allerdings gab es da vielleicht noch eine andere Weise, sie zu erahnen: die Träume. Da ich solche Gesichte nie zuvor gehabt hatte — ebensowenig wie danach —, beschloß ich, jeweils ihren Inhalt aufzuschreiben, und nur dies ermöglicht mir, irgend etwas über diese Träume aus mir herauszuquetschen, aber das ist auch nur Stückwerk, das fast alle ihre erschütternde Fülle eingebüßt hat. In Verhältnissen, die sich eigentlich nicht ausdrücken lassen, in Räumen ohne Himmel, Erde, Fußböden, Decken oder Wände verweilte ich, wie eingeschrumpft oder eingekerkert in einer Substanz, die mir äußerlich fremd war, so, als wäre mir der ganze Körper hineinverwachsen in einen halb leblosen, trägen, formlosen Klumpen, oder eher, als wäre ich er selbst und ohne Körper, umgeben von zunächst undeutlichen Flecken in Blaßrosa, die in einem Medium mit anderen optischen Eigenschaften als die Luft in Schwebe waren; demnach wurden erst aus allernächster Nähe die Dinge deutlich, sogar übermäßig und übernatürlich deutlich, denn meine unmittelbarste Umgebung übertraf in diesen Träumen an Dinglichkeit und Körperhaftigkeit die Eindrücke des Wachdaseins. Beim Aufwachen hatte ich das paradoxe Gefühl, daß das Wachdasein, das echte Wachdasein eben jenes vorige gewesen sei — und was ich nach Öffnen der Augen sah, das sei nur ein vertrockneter Schatten davon.

So war also das erste Bild, der Anfang, woraus der Traum sich entspann. Rings um mich wartete etwas auf Genehmigung, auf mein Einverständnis, auf ein innerliches Beifallnicken, indessen wußte ich, oder eher wußte etwas in mir, daß ich der unverständlichen Versuchung nicht erliegen durfte, denn je mehr ich — schweigend — verspräche, um so furchtbarer werde das Ende sein. Aber eigentlich wußte ich das nicht, sonst hätte ich mich wohl gefürchtet, Angst jedoch empfand ich nie. Ich wartete. Aus dem rosigen Nebel, der mich umgab, tauchte die erste Berührung hervor, und ich, unbeweglich wie ein Klotz, irgendwo tief drinnen feststeckend in dem, was mich gleichsam einsperrte, konnte weder zurückweichen, noch mich rühren, und das andere untersuchte meinen Kerker durch blinde und zugleich sehende Berührungen, und schon war das gleichsam eine Hand, die mich schuf; bis dahin hatte ich nicht einmal das Augenlicht gehabt, und nun sah ich; unter Fingern, die tastend mein Gesicht entlangwanderten, tauchten aus dem Nichts meine Lippen, meine Wangen hervor, und in dem Grad, wie sich diese in unendlich kleine Bruchteile zerlegte Berührung ausweitete, hatte ich schon Gesicht und atmenden Oberkörper, alles ins Dasein gerufen durch diesen — symmetrischen — Schöpfungsakt: denn auch ich, im Geschaffenwerden, schuf meinerseits, und es erschien ein Gesicht, wie ich es nie gesehen hatte, fremd, bekannt, ich suchte ihm in die Augen zu schauen, aber das konnte ich nicht, weil fortwährend alles in den Proportionen vertauscht war, weil es hier keine Richtungen gab, und nur in einer Art von inbrünstigem Schweigen entdeckten wir einander und wurden, wechselweise, und ich war schon ich in voller Lebendigkeit, ich, aber gleichsam grenzenlos gesteigert, und jenes Wesen — jene Frau? — verharrte mit mir zusammen in Regiosigkeit. Puls erfüllte uns, und wir waren eins, doch in die Langsamkeit dieser Szene, außer der es nichts gab und gleichsam nichts geben konnte, schlich sich nun plötzlich etwas unaussprechlich Grausames, Unmögliches und Widernatürliches ein. Eben diese Berührung, die uns erschuf und sich als unsichtbarer goldener Mantel um unsere Körper schmiegte, begann zu kribbeln. Unsere Körper, nackt und weiß, fingen zu fließen an, schwärzten sich zu Strömungen sich windenden Gewürms, das uns entströmte wie die Luft; und ich war — wir waren — ich war glänzende, sich verflechtende und entflechtende fiebrige Masse spulwurmhafter Bewegung, nicht endend, unendlich; und in dieser Uferlosigkeit — nein! — ich, diese Uferlosigkeit, winselte schweigend um das Erlöschen, um das Ende, aber gerade dann breitete ich mich nach allen Richtungen auf einmal aus und schwoll an von verhundertfachtem, über alles Wachsein hinaus grell deutlichem, in schwarzen und roten Fernen gebündeltem, bald zu Fels erstarrendem, bald irgendwo im Strahlenglanz einer anderen Sonne oder Welt gipfelndem Leiden.

Das war der einfachste der Träume, die anderen vermag ich nicht zu schildern, denn die Quellen des Entsetzens, die dort entsprangen, hatten bereits keinerlei Entsprechung im wachenden Bewußtsein. Vom Dasein Hareys wußte ich in den Träumen nichts, aber ich konnte darin auch keinerlei Erinnerungen oder Tageserlebnisse wiederfinden.

Da waren auch andere Träume, worin ich mich in leblos erstarrter Finsternis als Gegenstand fleißiger, langsamer, keinerlei Sinneswerkzeug gebrauchender Untersuchungen fühlte; das war Eindringen, Zerkleinern, da verlor ich mich, bis es völlig leer war, und die letzte Stufe, der Boden dieser schweigenden, vernichtenden Überschneidungen war Angst, solche, daß allein die Erinnerung daran untertags den Herzschlag beschleunigte.

Die Tage aber waren alle gleich, wie ausgebleicht, voll öder Lustlosigkeit an allem schleppten sie sich schläfrig in äußerster Gleichgültigkeit dahin, nur die Nächte fürchtete ich und wußte nicht, wie ich mich vor ihnen retten sollte; ich wachte gemeinsam mit Harey, die gar keinen Schlaf brauchte, ich küßte und liebkoste sie, aber ich wußte, daß ich das nicht um ihretwillen tat und nicht um meinetwillen, sondern alles aus Furcht vor dem Schlaf, sie aber muß etwas vermutet haben, obwohl ich ihr kein Wort von diesen zerrüttenden Alpträumen gesagt hatte — denn in ihrem Erstarren fühlte ich das Bewußtsein unausgesetzter Demütigung, und ich konnte daran nichts ändern. Wie gesagt, traf ich mit Snaut und Sartorius die ganze Zeit hindurch nicht zusammen. Snaut ließ jedoch alle paar Tage von sich hören, manchmal durch einen Zettel, doch öfter durch einen Telefonanruf. Snaut fragte, ob ich nicht irgendein neues Phänomen wahrgenommen hätte, eine Änderung, etwas, was sich als Reaktion deuten ließe, die durch das so oft wiederholte Experiment ausgelöst worden sei. Ich antwortete mit nein und stellte selbst die gleiche Frage. Snaut verneinte nur durch ein Kopfschütteln, tief hinten im Bildschirm.

Am fünfzehnten Tag nach dem Abbruch der Versuche erwachte ich früher als gewöhnlich, so zermürbt vom Alptraum, als öffnete ich die Augen nach einer Betäubung infolge tiefer Narkose. Durch das unverdunkeite Fenster gewahrte ich im ersten Glanz der roten Sonne, deren riesige Verlängerung als Strom purpurnen Feuers den Ozeanspiegel entzweischnitt, daß diese bislang leblose Fläche sich unmerklich eintrübte. Ihr Schwarz verblaßte zunächst, wie von einer feinen Nebelschicht bedeckt, aber dieser Nebel hatte überaus körperhafte Konsistenz. Stellenweise entstanden darin Unruhezentren, bis unbestimmte Bewegung die ganze sichtbare Weite erfaßt hatte. Das Schwarz verschwand, zugedeckt und verwischt von Häutchen, die an den Ausbauchungen blaßrosa und in den Mulden perlschimmernd braun waren. Die zunächst abwechselnden Farben, die diesen seltsamen Vorhang des Ozeans zu langen Reihen gleichsam mitten in der Schwingung erstarrter Wellen ausformten, vermengten sich nun, und schon warder ganze Ozean mit dickblasigem Schaum bedeckt, der in ungeheuren Fetzen aufstieg, unter der Station selbst wie auch ringsherum. Von allen Seiten zugleich stiegen zum rostroten leeren Himmel hautflügelige Schaumgewölke auf, waagrecht ausgebreitet, mit verdickten, wie aufgeblasenen Rändern, ohne jede Ähnlichkeit mit Wolken. Die einen, die als waagrechte Streifen die tiefstehende Sonnenscheibe überzogen, erschienen durch den Kontrast zu ihrem Brand schwarz wie Kohle, andere, in der Nähe der Sonne, liefen rostrot an, entbrannten kirschfarben, amarantfarben, je nachdem, unter welchem Winkel die Strahlen des Sonnenaufgangs sie trafen; und dieser Prozeß dauerte an, als schuppte sich der Ozean in blutigen Schichten, ließe manchmal seine schwarze Oberfläche darunter hervorscheinen und verdeckte sich dann wieder mit einem neuen Anflug verfestigten Schaums. Manche dieser Gebilde segelten in nächster Nähe auf, gleich hinter den Fensterscheiben, im Abstand von kaum ein paar Metern, und einmal streifte eines mit der seidig aussehenden Oberfläche das Glas, während die Schwärme, die als erste ins Weite aufgestiegen waren, kaum noch wie versprengte Vögel hoch im Himmel sichtbar waren und als durchsichtiger Belag im Zenit verflossen.

Die Station stand still, sie war angehalten worden; so verharrte sie etwa drei Stunden, und das Schauspiel hörte nicht auf. Zuletzt, als die Sonne hinter dem Horizont versunken war, und den Ozean unter uns schon Dunkelheit bedeckte, schwebten tausenderlei Schwärme schlanker Umrisse rot überhaucht immer höher und höher in den Himmel auf, glitten in unendlichen Kolonnen wie an unsichtbar gespannten Saiten entlang, reglos, schwerelos — und diese hoheitsvolle Himmelfahrt von Gebilden wie zerfetzte Flügel dauerte fort, bis völliges Dunkel sie umfing.

Dieses ganze Schauspiel war erschütternd in seinem ruhigen Unmaß, Harey war darüber entsetzt, aber ich wußte davon nichts zu sagen, für mich, den Solaristen, war das ebenso neu und unbegreiflich wie für sie. Aber Formen und Gebilde, die noch kein Katalog verzeichnete, konnte man auf der Solaris ungefähr zwei— oder dreimal pro Jahr beobachten, mit ein wenig Glück sogar noch öfter.

In der nächsten Nacht, etwa eine Stunde vor dem erwarteten Aufgang der blauen Sonne, waren wir Zeugen eines anderen Phänomens: der Ozean phosphoreszierte. Zunächst tauchten auf seiner vom Dunkel verborgenen Oberfläche vereinzelte Flecken von Licht auf, oder eher von weißlichem, diffusem Aufdämmern, und bewegten sich nach dem Wellenrhythmus. Sie flössen ineinander und weiteten sich aus, bis die schemenhafte Helligkeit alle Horizonte einnahm. Etwa fünfzehn Minuten lang stieg die Intensität des Leuchtens; dann endete das Phänomen auf erstaunliche Weise: der Ozean begann zu erlöschen, in breiter Front von wohl Hunderten Meilen zog von Westen her eine Zone der Finsternis auf, und als sie bis zur Station gelangt und über sie hinweggeschritten war, erschien der noch phosphoreszierende Teil des Ozeans als hoch in die Nacht hinaufreichender Lichtschein, der sich immer weiter gegen Osten entfernte. Am Horizont selbst eingetroffen, wurde er einem riesigen Nordlicht ähnlich und verschwand sofort. Als bald darauf die Sonne aufging, erstreckte sich wieder nach allen Richtungen die leere, leblose Fläche, kaum vom Kräuseln der Wellen gezeichnet, die quecksilbriges Blitzen in die Fenster der Station entsandten. Die Phosphoreszenz des Ozeans war ein bereits

beschriebenes Phänomen; in einem bestimmten Prozentsatz der Fälle war sie vor dem Ausbruch von Asymmetriaden beobachtet worden, außerdem war sie ein eher typisches Anzeichen örtlich verstärkter Plasmaaktivität. Doch während der nächsten zwei Wochen ereignete sich nichts, weder draußen, noch in der Station. Nur einmal, mitten in der Nacht, hörte ich einen fernen Schrei, der überallher und zugleich nirgendsher zu kommen schien, ungemein hoch, scharf und langgezogen, eigentlich ein übermenschlich gesteigertes Wimmern; aus einem Alptraum aufgerüttelt, lag ich lange Zeit und lauschte dem Schrei, nicht völlig sicher, ob er nicht auch ein Traum sei. Tags zuvor waren aus dem Laboratorium, das zum Teil über unserer Kabine lag, gedämpfte Geräusche herabgedrungen, etwas wie das Verrücken großer Lasten oder Apparate; dieser Schrei schien mir auch von oben zu kommen, im übrigen auf unbegreifliche Weise, denn die beiden Stockwerke trennte eine schalldichte Decke. Fast eine halbe Stunde lang dehnte sich diese Agoniestimme aus. Schweißgebadet, halb wahnsinnig, wollte ich schon hinauflaufen, so zerrte sie an den Nerven. Doch zuletzt verstummte sie, und wieder war nur das Verrücken von Lasten zu hören.

Zwei Tage später, am Abend, als ich mit Harey in der kleinen Küche saß, kam unvermutet Snaut herein. Ertrug einen Anzug, einen echten irdischen Anzug, der ihn veränderte. Er sah größer aus und gealtert. Er schaute uns kaum an, trat zum Tisch, beugte sich darüber und begann, ohne sich hinzusetzen, das kalte Fleisch direkt aus der Dose zu essen und Brot dazwischen einzuschieben. Dabei ließ er den Ärmel in die Dose hängen und beschmutzte ihn mit Fett.

— Du beschmierst dich — sagte ich.

Mit vollem Mund machte Snaut nur: — Hm? — Er aß, als hätte er seit Tagen nichts zu kauen gehabt, schenkte sich ein halbes Glas Wein ein, trank in einem Zug aus, wischte sich den Mund, atmete auf und blickte mit den blutunterlaufenen Augen um sich. Nun schaute Snaut zu mir herüber und murmelte:

— Du hast dir den Bart wachsen lassen…? Schau, schau…

Harey warf mit Gepolter das Geschirr ins Spülbecken. Snaut begann sich leicht auf den Absätzen zu wiegen, verzog das Gesicht und schmatzte laut, als er mit der Zunge die Zähne reinigte. Ich hatte den Eindruck, daß er das absichtlich tat.

— Das Rasieren freut dich nicht, wie? — fragte er und starrte mich hartnäckig an. Ich sagte nichts.

— Gib acht! — versetzte er nach einer Weile. — Ich rate es dir. Er hat auch zuerst aufgehört, sich zu rasieren.

— Geh schlafen — murmelte ich.

— Wie? Du hältst mich wohl für blöd! Warum sollen wir nicht miteinander plaudern? Hör zu, Kelvin, es kann doch auch sein, daß er uns wohlwill? Vielleicht will er uns beglücken, bloß weiß er noch nicht wie. Er liest uns die Wünsche von den Hirnen ab, und nur zwei Prozent der Nervenprozesse sind ja bewußt. Also kennt er uns besser, als wir selbst. Also haben wir auf ihn zu hören. Beizupflichten. Hörst du? Du willst nicht? Warum — seine Stimme überschlug sich weinerlich — warum rasierst du dich nicht?

— Hör auf— knurrte ich. — Du bist betrunken.

— Wie? Betrunken? Ich? Na und? Ein Mensch, der seine Kotfladen von einem Ende der Galaxis ans andere geschleppt hat, um zu erfahren, wieviel er wert ist, darf sich der nicht betrinken? Warum? Du glaubst an die Sendung des Menschen, was, Kelvin? Gibarian hat mir von dir erzählt, bevor er sich den Bart wachsen ließ… Du bist genau so, wie Gibarian gesagt hat… Nur geh nicht ins Laboratorium, sonst verlierst du noch den Glauben… dort schafft Sartorius, unser umgedrehter Doktor Faust, er sucht ein Mittel gegen die Unsterblichkeit, weißt du? Das ist der letzte Ritter vom heiligen Kontakt, so einer, wie wir ihn eben aufbringen können… sein voriger Einfall war auch nicht übel — prolongierte Agonie. Ist doch gut, oder? Agonia perpetua… Strohhalme… Strohhüte… wie kannst du nur nicht trinken, Kelvin?

Seine Augen, fast nicht zu sehen zwischen den aufgeschwollenen Lidern, blieben auf Harey ruhen, die regungslos an der Wand stand.

— O weiße Aphrodite, ozeangeboren.

Mit Göttlichkeit geschlagen, deine Hand — begann er zu rezitieren und verschluckte sich vor Lachen.

— Fast aufs Haar… was… Kel… vin…? — würgte er hustend hervor.

Ich war immer noch ruhig, aber diese Ruhe begann sich zu kalter Wut zu verdichten.

— Hör auf! — zischte ich. — Hör auf und geh!

— Du wirfst mich hinaus? Du auch? Läßt den Bart wachsen und wirfst mich hinaus? Du willst nicht mehr, daß ich dich warne, dich berate, wie ein rechtschaffener Sternkamerad den anderen? Kelvin, machen wir die unteren Luke, auf, wir rufen ihn, rufen dort hinunter, vielleicht hört er uns? Aber wie heißt er? Denk nur, wir haben alle Sterne und Planeten benannt, aber vielleicht hatten die schon Namen? Welch ein Übergriff! Hör zu, gehen wir hin. Wir werden schreien… wir sagen ihm, was er aus uns gemacht hat, bis er entsetzt ist… dann erbaut er uns silberne Symmetriaden und betet für uns mit seiner Mathematik und überschüttet uns mit blutenden Engeln, und seine Qual wird unsere Qual sein, und seine Angst unsere Angst, und er wird uns anflehen um das Ende. Denn das alles, was er sein mag und tun mag, das ist Flehen um das Ende. Warum lachst du nicht? Ich mache doch nur Spaß. Wenn wir als Rasse genommen mehr Humor hätten, wäre es vielleicht nicht soweit gekommen. Weißt du, was der dort tun will? Er will ihn bestrafen, diesen Ozean, will ihn soweit bringen, daß er schreit, aus allen Bergen auf einmal… Meinst du, der wird nicht den Mut haben, diesen Plan dem verkalkten Rat der Alten zur Genehmigung vorzulegen, der uns hierhergeschickt hat als Sühneopfer für anderer Leute Schuld? Du hast recht, der wird zu feig sein… aber nur des Hütchens wegen. Das Hütchen wird er niemandem verraten, so mutig ist er nicht, unser Faust…

Ich schwieg. Snaut stand immer wackliger auf den Beinen. Die Tränen flössen ihm übers Gesicht und fielen auf den Anzug.

— Wer hat das getan? Wer hat das aus uns gemacht? Gibarian? Giese? Einstein? Plato? Das waren Verbrecher, weißt du. Denk nur, in der Rakete kann der Mensch zerplatzen wie eine Blase, oder gerinnen, oder sich zerkochen, oder so schnell das Blut aus sich ausschleudern, daß er gar nicht mehr schreit, und dann trommeln nur noch die Knöchelchen ans Blech, drehen sich auf Newtonschen Bahnen mit Einsteinscher Korrektur, diese unsere Kinderklappern des Fortschritts! Wir aber, mit Freuden, denn das ist ein schöner Weg… bis wir angelangt waren, und in diesen Zellen, mit diesen Tellern vor uns, hier inmitten unsterblicher Tellerwäscher, mit einem Heerhaufen treuer Schränke, ergebener Klosette, hier ist unsere Erfüllung… schau doch, Kelvin. Wenn ich nicht betrunken wäre, würde ich nicht so reden, aber letzten Endes muß das jemand sagen. Letzten Endes muß das jemand? Da sitzt du, du Kind in der Schlächterei, und die Haare wachsen dir… Wer ist schuld? Gib dir selbst die Antwort…

Snaut wandte sich langsam um und ging, auf der Schwelle hielt er sich an der Tür fest, um nicht hinzufallen, dann war noch das Echo der Schritte zu hören, aus dem Korridor kam es zu uns zurück. Ich wich Hateys Augen aus, aber unsere Blicke trafen plötzlich zusammen. Ich wollte zu ihr gehen, sie umarmen, ihr übers Haar streichen, aber ich konnte nicht. Ich konnte nicht.

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