Die Denker

— Kris, ist das wegen dieses Experiments?

Ich fuhr zusammen, als sie sprach. Schon stundenlang lag ich schlaflos, vertieft in das Dunkel, ganz allein, denn ich hörte sie nicht einmal atmen, und in den wirren Labyrinthen irrlichtem der, nur halb sinnvoller und dadurch neue Dimension und Bedeutung gewinnender Nachtgedanken vergaß ich sie.

Was… woher weißt du, daß ich nicht schlafe…? — fragte ich. In meiner Stimme war Angst.

— Danach, wie du atmest — sagte Harey leise, irgendwie schuldbewußt. — Ich wollte dich nicht stören… Wenn du es nicht sagen kannst, sag nichts…

— Aber nein, warum? Ja, das ist dieses Experiment. Du hast es erraten.

— Was erhoffen sie sich davon?

— Das wissen sie selbst nicht. Irgendwas. Die Aktion sollte nicht «Gedanke» heißen, sondern «Verzweiflung». Jetzt tut nur eins not, ein Mensch, der Mut genug hat und die Verantwortung für die Entscheidung auf sich nimmt, aber in dieser Art von Mut sehen die meisten simple Feigheit, denn das ist ein Rückzug, verstehst du, Resignation, Flucht, des Menschen nicht würdig. Als ob es des Menschen würdig wäre, zu tappen und steckenzubleiben und unterzusinken in etwas, was er nicht begreift und niemals begreifen wird!

Ich verstummte, aber bevor sich der beschleunigte Atem beruhigt hatte, drängte mir neu aufwallender Zorn das Weitere über die Lippen:

— Natürlich, es fehlt nie an Typen mit einem Blick für das Praktische. Sie haben gesagt, selbst wenn man keinen Kontakt wird anknüpfen können, hilft uns das Studium dieses Plasmas — aller dieser irren lebendigen Städte, die für einen Tag daraus hervorspringen und wieder verschwinden —, Geheimnisse der Materie zu erkennen; als ob diese Leute nicht wüßten, daß das ein Selbstbetrug ist, das Herumgehen in einer Bibliothek, die in unverständlicher Sprache geschrieben ist! Soll heißen, man geht ja nur die Farben der Buchrücken anschauen… Na und wie!

— Gibt es sonst keine solchen Planeten?

— Das weiß man nicht. Vielleicht gibt es welche, wir kennen nur diesen einen. Jedenfalls ist das etwas überaus Seltenes, nicht so wie die Erde. Wir, wir sind alltäglich, wir sind das Gras des Weltalls und rühmen uns dieser unserer Alltäglichkeit, die sei ja so universal, und wir haben gedacht, in ihr lasse sich alles unterbringen. Das war so ein Schema, womit die Leute kühn und freudig in die Ferne zogen: Andere Welten! Also los, was ist das schon, diese anderen Welten? Wir unterwerfen sie oder werden unterworfen, sonst war nichts drin in diesen unglückseligen Gehirnen, ach, es hat keinen Sinn. Keinen Sinn hat es.

Ich stand auf, ertastete die Hausapotheke, das platte Gläschen mit den Schlaftabletten.

— Ich werde schlafen, Liebling — sagte ich und wandte mich um, zu der Finsternis, worin hoch oben der Ventilator surrte. — Ich muß schlafen. Andernfalls weiß ich selbst nicht…

Ich setzte mich aufs Bett. Harey berührte meine Hand. Ich erfaßte die Unsichtbare und hielt sie reglos fest, bis der Schlaf die Stärke dieser Umarmung lockerte.

Am Morgen, als ich frisch und ausgeruht erwachte, erschien mir das Experiment als etwas Geringfügiges, ich verstand nicht, wie ich es in der Nacht hatte so wichtig nehmen können. Auch daß Harey mit mir ins Laboratorium gehen mußte, bekümmerte mich wenig. Nach ein paar Minuten meiner Abwesenheit im Zimmer wurden alle Anstrengungen Hareys vergeblich, also sah ich ab von den weiteren Versuchen, auf die sie drängte (sie war sogar bereit, sich irgendwo einsperren zu lassen), und riet ihr, sich irgendein Buch zum Lesen mitzunehmen.

Mehr als die Prozedur selbst interessierte es mich, was ich im Laboratorium vorfinden sollte. Bis auf ziemlich beträchtliche Lücken in den Regalen und Schränken mit Laborglasgerät (überdies fehlten Scheiben an manchen Schränken, und die Glasplatte der einen Tür war strahlenförmig zersprungen, als hätte sich hier vor kurzem ein Kampf

abgespielt, dessen Spuren eilig, aber gewissenhaft entfernt worden waren) gab es weiter nichts Auffälliges in diesem großen weiß-blauen Saal. Snaut, der bei der Apparatur herumwerkte, verhielt sich äußerst korrekt, nahm Hareys Erscheinen als etwas ganz Gewöhnliches hin und verneigte sich von weitem leicht vor ihr; während er mir Schläfen und Stirn mit physiologischer Lösung anfeuchtete, tauchte Sartorius auf. Er trat aus der kleinen Tür, die zur Dunkelkammer führte. Er trug einen weißen Mantel und hatte darüber eine schwarze Strahlenschutz-Schürze umgehängt, die bis an die Knöchel reichte. Sartorius begrüßte mich, sachlich, zackig, so, als gehörten wir zu den hundert Mitarbeitern eines großen irdischen Instituts und hätten uns erst tags zuvor getrennt. Erst jetzt bemerkte ich, daß er den toten Gesichtsausdruck von den Haftschalen hatte, die er unter den Lidern trug, anstatt Brillen zu tragen.

Die Arme über der Brust gekreuzt, stand er und sah zu, wie mir Snaut die an den Kopf gelegten Elektroden mit einer Binde umwand, die so etwas wie eine weiße Haube formte. Sartorius überflog mit den Blicken mehrmals den ganzen Saal, gleichsam ohne Harey überhaupt wahrzunehmen, die geduckt und unglücklich an der Wand auf einem kleinen Schemel saß und vorgab, ein Buch zu lesen; als Snaut von meinem Lehnstuhl wegtrat, bewegte ich den Kopf mit der Last von Metall und Leitungen, um das Einschalten der Apparatur mit anzusehen, aber da reckte Sartorius unvermutet die Hand hoch, und salbungsvoll hob er an:

— Herr Doktor Kelvin! Ich bitte um einen Augenblick der Aufmerksamkeit und Konzentration! Ich möchte Ihnen nichts aufzwingen, da dies nicht zum Ziel führen würde, aber Sie müssen aufhören, an sich zu denken, an mich, an Herrn Kollegen Snaut, an jedwede andere Person, um die Zufälligkeit der Einzelindividualitäten auszuschalten und sich ganz auf die Angelegenheit einzustellen, die wir hier repräsentieren. Die Erde und die Solaris, die Forschergenerationen, die ein Ganzes bilden, wenn auch die einzelnen Menschen ihren Beginn und ihr Ende haben, unsere Unnachgiebigkeit in dem Bestreben nach der Anknüpfung eines intellektuellen Kontakts, die Ausmaße des von der Menschheit durchlaufenen historischen Weges, die Gewißheit, daß er in der Zukunft weiter verlängert werden wird, die Bereitschaft zu allen Opfern und Mühen, zur Hingabe aller persönlichen Gefühle an diese unsere Sendung — dies ist die Reihe der Themen, die Ihnen genauestens das Bewußtsein auszufüllen haben. Der Assoziationsablauf hängt zwar nicht zur Gänze von

Ihrem Willen ab, doch der Umstand, daß Sie sich hier befinden, sichert die Authentizität der von mir dargelegten Abfolge. Falls Sie nachher nicht sicher sind, die Aufgabe bewältigt zu haben, werden Sie es bitte sagen, und Herr Kollege Snaut wird die Aufzeichnung wiederholen. Wir haben ja Zeit…

Die letzten Worte äußerte er mit einem blassen, dürren Lächeln, das ihm den durchbohrend stutzigen Augenausdruck nicht nahm. Mich schüttelte es inwendig bei diesem Wust so ernst und mit solcher Würde vorgebrachter Phrasen, zum Glück unterbrach Snaut die gedehnte Stille.

— Kann es losgehen, Kris? — fragte er; in lässiger und zugleich vertraulicher Haltung stützte er den Ellbogen auf das hohe Pult des Elektroenzephalographen, als wäre es eine Stuhllehne. Ich war Snaut dafür dankbar, daß er mich beim Vornamen genannt hatte.

— Kann losgehen — sagte ich und senkte die Lider. Plötzlich wich die Nervosität, die meinen Verstand leergefegt hatte, als Snaut die Elektroden fertig befestigt und die Finger an den Schalter gelegt hatte; zwischen den Wimpern hindurch erblickte ich auf der schwarzen Platte des Apparats den rosigen Widerschein der Kontrollämpchen. Zugleich verging die feuchte, unangenehme Kühle der metallenen Elektroden, das Gefühl, als umkränzten mir den Kopf lauter kalte Münzen. Ich war wie eine graue, nicht beleuchtete Arena. Von allen Seiten wohnte dieser Öde ein Gewimmel unsichtbarer Zuschauer bei, das wie in einem Ring von Tribünen hochwogte, rund um das Schweigen, worin die ironische Verachtung für Sartorius und für «unsere Sendung» sich verflüchtigte. Bei den inneren Beobachtern, die darauf brannten, in nicht eingeplanter Rolle mitzuspielen, verebbte die Anspannung. — Harey? — Ich dachte dieses Wort probeweise, mit flauer Unruhe, bereit, es sofort zurückzunehmen. Aber diese meine wachsame, blinde Zuschauerschaft protestierte nicht. Eine Weile war ich nichts als reine Empfindsamkeit, aufrichtiger Kummer, bereit zu geduldigen, langwierigen Opfern. Ohne Formen, ohne Züge, ohne Gesicht füllte Harey mich aus, und durch ihren unpersönlichen, verzweifelte

Zärtlichkeit atmenden Begriff hindurch erschien mir auf einmal im grauen Dunkel mit aller Würde seines Professorenantlitzes der Vater der Solaristik und der Solaristen, Giese. Aber nicht an jene Schlamm-Eruption dachte ich, an die stinkende Abgrundtiefe, die seine goldene Brille und den sorgfältig gebürsteten weißen Schnurrbart verschlungen hat; ich sah nur den Kupferstich auf dem Titelblatt der Monographie, den dicht geschafften Hintergrund, womit der Künstler Gieses Haupt umrahmt hatte, so daß es nichtsahnend fast im Glorienschein stand; nicht den Zügen nach, sondern durch solide, altvaterische Bedachtsamkeit war es dem Gesicht meines Vaters so ähnlich, und zuletzt wußte ich nicht, welcher von beiden mich ansah. Beide hatten kein Grab, wie dies heutzutage viel zu häufig und gewöhnlich ist, um noch besondere Gemütsbewegungen wachzurufen.

Das Bild verging schon, und für diese eine Weile, ich weiß nicht, wie lange, vergaß ich die Station, das Experiment, Harey, den schwarzen Ozean, alles, ich flutete über von der blitzhaft spontanen Gewißheit, daß diese zwei schon nicht mehr existierenden, unendlich geringen, längst in vertrockneten Schlamm verwandelten Leute im Leben alles gemeistert hatten, was ihnen widerfahren war, und Ruhe strömte von dieser Entdeckung aus und machte das formlose Gewimmel zunichte, das im Kreis um die graue Arena stumm mein Versagen erwartete. Die Apparatur schnappte zweimal beim Ausschalten, zugleich drang mir das künstliche Licht in die Augen. Ich kniff die Lider ein. Sartorius, immer noch in der gleichen Haltung, sah mich prüfend an; Snaut kehrte ihm den Rücken zu, werkte am Apparat herum und schlurrte wie absichtlich mit den verrutschenden Pantinen.

— Herr Doktor Kelvin, nehmen Sie an, daß es gelungen ist? — Sartorius ließ seine abstoßende Näselstimme verklingen.

— Ja — sagte ich.

— Sind Sie sicher? — versetzte Sartorius mit einem Unterton von Verwunderung oder gar Argwohn.

— Ja.

Die Sicherheit und der rauhe Tonfall meiner Antwort brachten einen Moment lang Sartorius1 steife Würde ins Wanken.

— Ja dann… gut — murmelte er und blickte um sich, als wüßte er nicht, was er nun anfangen sollte. Snaut trat zum Lehnstuhl und begann die Binden abzuwickeln.

Ich stand auf und spazierte durch den Saal, inzwischen kam Sartorius, der in der Dunkelkammer verschwunden war, mit dem bereits entwickelten und getrockneten Film zurück. Den weit über zehn Meter langen Streifen durchliefen zitternde, weißlich gezahnte Linien, als zögen sich Schimmelpilze oder Spinnweben das schwarze glitschige Zelluloidband entlang.

Ich hatte nichts mehr zu tun, aber ich ging nicht fort. Die beiden anderen führten den Film in den oxydierten Modulatorkopf ein, Sartorius betrachtete das Endstück nochmals, mißtrauisch verfinstert, als suchte er den in dieses Liniengezack eingeflossenen Inhalt zu entschlüsseln.

Der Rest des Experiments war schon unsichtbar. Ich wußte nur, was vorging, als sie an der Wand bei den Schaltpulten standen und die benötigte Apparatur in Gang setzten. Der Strom regte sich mit schwachem Baßbrummen in der Umdammung der Spulen unter dem gepanzerten Fußboden, dann liefen nur in den senkrechten verglasten Röhrchen der

Kontrollgeräte die Lichter abwärts, sie zeigten an, daß der große Tubus des Röntgengeschützes den senkrechten Schacht hinabsank, um in seiner geöffneten Ausmündung stillzustehen. Nun kamen die Lichter bei den untersten Streifen der Skala zur Ruhe, und Snaut begann die Spannung zu erhöhen, bis die Zeiger, oder vielmehr die weißen Streifchen, die deren Stelle vertraten, flatternd eine halbe Drehung nach rechts durchgeführt hatten. Das Geräusch des Stroms war kaum hörbar, nichts geschah, die Trommeln mit dem Film drehten sich unter dem Deckel, so daß nicht einmal das zu sehen war, der Laufmeterzähler tickte ganz leise, wie ein Uhrwerk.

Harey schaute über ihr Buch hinweg bald auf mich, bald auf die anderen. Ich ging zu ihr hinüber. Sie blickte fragend. Das Experiment endete schon, Sartorius ging langsam zum großen kegelförmigen Kopf des Apparats.

— Gehen wir…? — fragte Harey, nur die Lippen bewegend. Ich nickte. Sie stand auf. Ohne mich von jemandem zu verabschieden (das hätte mir gar zu unsinnig ausgesehen), ging ich an Sartorius vorbei.

Die hohen Fenster des oberen Korridors erfüllte ein Sonnenuntergang von ausnehmender Schönheit. Das war nicht die übliche düstere, verquollene Röte, das waren alle Abschattierungen von lichtvoll gedämpftem, wie mit feinstem Silber überstreutem Rosa. Die schwere, schlaff gewellte Schwärze der unendlichen Ozeanfläche schien durch flirrend braunvioletten, weichen Widerschein diesen sanften Schimmer zu beantworten. Nur ganz im Zenit war der Himmel noch hitzig rostrot.

Mitten im unteren Korridor hielt ich plötzlich an. Ich konnte es einfach nicht ausdenken, daß wir wieder wie in einer Gefängniszelle in der Kabine eingeschlossen sein sollten, mit Ausblick auf den Ozean.

— Harey — sagte ich — weißt du… ich möchte in die Bibliothek schauen… Hast du nichts dagegen…?

— Oh, sehr gern, ich suche mir etwas zum Lesen — antwortete sie mit leicht gekünstelter Munterkeit.

Ich fühlte: seit gestern gab es zwischen uns einen nicht zugeschütteten Riß; ein bißchen herzlich müßte ich Harey wenigstens begegnen; aber restlose Apathie umfing mich. Ich weiß nicht, was da hätte geschehen müssen, damit ich mich daraus aufgerüttelt hätte. Wir gingen den Korridor wieder zurück und erreichten über eine Schrägstrecke den kleinen Vorraum, drei Türen gab es hier, dazwischen Blumen hinter geschliffenen Scheiben, wie in Schaukästen ausgestellt.

Die Tür zur Bibliothek, die mittlere, war beiderseits mit vorgebauchtem Kunstleder bezogen; beim Öffnen bemühte ich mich immer, es nicht zu berühren. Drinnen, im runden großen Saal unter der blaßsilbernen Decke mit Sonnenornamenten, war es etwas kühler.

Ich fuhr mit der Hand die Buchrücken der klassischen Solariana-Sammlung entlang und wollte schon Gieses ersten Band herausgreifen, den mit diesem Kupferstich-Bildnis unter Seidenpapier auf dem Frontispiz, als ich unvermutet etwas entdeckte, was mir voriges Mal entgangen war: den klobigen Oktavband Gravinskys.

Ich setzte mich auf einen Polsterstuhl. Es war völlig still. Einen Schritt hinter mir blätterte Harey in einem Buch, ich hörte, wie ihr die Blätter locker durch die Finger glitten. Gravinskys Handbuch, das meist beim Studium als gewöhnliche «Klatsche» benützt wurde, ist eine Sammlung von Solaris-Hypothesen, in alphabetischer Reihenfolge, von «Abartigkeits-"bis „Zweckentfremdungs-“. Der Kompilator, der die Solaris nie auch nur gesehen zu haben scheint, hat alle Monographien, Expeditionsprotokolle, Teilarbeiten und Zwischenberichte durchgeackert, sogar die Zitate in den Werken der mit anderen Globen beschäftigten Planetologen ausgeschöpft und einen Katalog geliefert, dessen karge Formulierungen ein wenig beängstigen, weil sie sich oftmals zu Plattheiten vergröbern, so völlig herausgelöst aus der subtilen Verschlungenheit der Gedanken, die ihnen einst zur

Entstehung verholfen haben; im übrigen hatte dieses der Absicht nach enzyklopädische Ganze bereits eher den Wert eines Kuriosums; seit dem Erscheinen des Bandes waren zwanzig Jahre verstrichen, in dieser Zeit hatte sich ein Berg neuer Hypothesen aufgetürmt, die ein einzelnes Buch nicht mehr gefaßt hätte. Das alphabetische Autorenregister sah ich durch, wie eine Gefallenenliste: kaum jemand lebte noch, aktiv betätigte sich in der Solaristik wohl keiner mehr. All dieser in sämtliche Richtungen zersplitterte geistige Reichtum erregte den Eindruck, irgendeine dieser Hypothesen müsse ganz einfach richtig sein, es sei unmöglich, daß die Wirklichkeit völlig fremdartig wäre, wieder anders als diese Myriaden auf sie losgelassener Denk-Ansätze. Gravinsky hat der Sache eine Vorrede vorausgeschickt, worin er die nahezu sechzig Jahre der vor ihm schon bekannten Solaristik in Perioden einteilt. In der ersten — die er von der einleitenden Untersuchung der Solaris an datiert,hat eigentlich niemand bewußtermaßen Hypothesen aufgestellt. Irgendwie intuitiv, der „gesunden Vernunft“ zufolge, legte man sich damals darauf fest, der Ozean sei ein totes chemisches Konglomerat, ein ungeheuerlicher Klumpen aus Gallerte, die den ganzen Globus überflutend die wundersamsten Gebilde infolge von „quasi-vulkanischer“ Tätigkeit hervorbringe und die unbeständige Planetenbahn durch naturgegeben automatische Prozesse stabilisiere, so, wie ein Pendel die Ebene der ihm einmal verliehenen Bewegung unverändert beibehält. Zwar behauptete drei Jahre später schon Magenon den belebten Charakter der „Gallertmaschine“, aber Gravinsky setzt den Beginn der Periode biologischer Hypothesen erst neun Jahre danach an; damals begann der vorher isolierte Standpunkt Magenons eine immer größere Zahl von Anhängern zu gewinnen. Im Überfluß erbrachten die folgenden Jahre sehr verschlungene, durch biomathematische Analysis gestützte, ausführliche Modelle des lebenden Ozeans. Die dritte Periode war die des Zerfalls der bis dahin fast einheitlichen Wissenschaftlermeinung.

Nun tauchte eine Vielzahl einander oft erbittert bekämpfender Schulen auf. Das war die Zeit, in der Panmaller, Strobla, Freyhouss, le Greuille und Osipowicz wirkten; Gieses ganzes Erbe wurde damals zermalmender Kritik unterworfen. Zu jener Zeit entstanden die ersten Atlanten und Kataloge, die Stereoaufnahmen der Asymmetriaden, die bis dahin als nicht untersuchbare Gebilde gegolten hatten; zum Umschwung kam es dank neuen ferngesteuerten Vorrichtungen, die ins stürmische Innere der Kolosse ausgesendet wurden, während diese von Sekunde zu Sekunde zu explodieren drohten. Damals begannen am Rande tobender Diskussionen vereinzelte, verächtlich totgeschwiegene Minimalprogramme anzufallen: selbst wenn es nicht gelingen sollte, den berühmten „Kontakt“ mit dem „vernunftbegabten Monstrum“ anzuknüpfen, so werde auch ohnedies die Untersuchung der verknöchernden Mimoid-Städte und jener sich blähenden Berge, die der Ozean auswirft, um sie wieder einzusaugen, bestimmt wertvolles chemisches und chemisch-physikalisches Wissen und neue Erfahrungstatsachen auf dem Gebiet des Aufbaus von Riesenmolekülen liefern; aber mit den Verkündern solcher Programmsätze ließ sich niemand auch nur auf eine Polemik ein. Das war ja die Periode, in der die bis heute geltenden Kataloge der typischen Metamorphosen entstanden, oder etwa Francks bioplasmatische Mimoidtheorie, die zwar später als falsch fallengelassen wurde, aber ein großartiges Muster gedanklicher Schwungkraft und logischen Konstruierens geblieben ist.

Diese zusammen einige dreißig Jahre umfassenden „Gravinskyschen Perioden“ waren die naive Jugend, die unbändig optimistische Romantik und endlich die von ersten skeptischen Äußerungen gezeichnete Reife der Solaristik. Schon vor der Mitte des dritten Jahrzehnts lebte die erste, die kolloidmechanistische Denkweise wieder auf, denn als deren späte Nachkommenschaft wurden Hypothesen über die nichtpsychische Natur des solarischen Ozeans laut. Jedwede Suche nach Bekundungen bewußten Willens, nach Zweckbestimmtheit der Prozesse, nach Handlungen, die durch innere Bedürfnisse des Ozeans motiviert wären, all das wurde nahezu allgemein als eine Art von Verirrung einer

ganzen Forschergeneration gewertet. Der publizistische Eifer, ihre Behauptungen zu widerlegen, bereitete den Boden für die nüchternen, analytisch ausgerichteten, auf emsiges Faktensammeln konzentrierten Untersuchungen der Gruppe Holden-Eonides-Stoliwa; das war die Zeit der gewaltsam schwellenden und auseinanderwuchernden Archive und Mikrofilmkarteien, der Expeditionen, die reich mit allen erdenklichen Apparaten ausgestattet waren, mit Registrierautomaten, Feinanzeigern, Sonden und allem, was die Erde nur hergab. In manchen Jahren beteiligten sich damals an den Forschungen über tausend Leute zugleich, aber während das Tempo der Zunahme des unentwegt gesammelten Materials sich immer noch steigerte, war der Geist, der die Wissenschaftler belebte, bereits am Veröden, und es begann die schwer eindeutig abgrenzbare Endzeit dieser trotz allem noch optimistischen Phase der solarischen Forschungen.

Sie war vor allem geprägt durch die großen, in der theoretischen Vorstellungskraft oder auch in der Negation mutigen Persönlichkeiten solcher Leute, wie Giese, wie Strobla, oder wie Sevada, dieser letzte der großen Solaristen, der in der Gegend um den Südpol des Planeten unter rätselhaften Umständen umgekommen ist, indem er etwas getan hat, was nicht einmal einem Anfänger unterläuft. Er flog seinen knapp über dem Ozean dahingleitenden Apparat vor den Augen hunderter Beobachter in den Schlund eines Schnellers hinein, der ihm deutlich auswich. Man sprach von irgendeiner plötzlichen Schwäche, einer Ohnmacht, oder auch von einem Defekt an den Steuern; ich denke, in Wirklichkeit war das der erste Selbstmord, der erste plötzliche, offene Ausbruch der Verzweiflung.

Jedoch nicht der letzte. Aber Gravinskys Band enthält keine solchen Angaben, ich selbst fügte dazu Daten, Fakten und Einzelheiten aneinander, während ich seine vergilbten, mit dichtem kleinem Druck übersäten Seiten betrachtete.

So pathetische Anschläge auf das eigene Leben kamen im übrigen später nicht mehr vor, es fehlte auch an jenen großen Persönlichkeiten. Die Rekrutierung der Forscher, die sich einem bestimmten Bereich der Planetologie widmen, ist eigentlich ein von niemandem erforschtes Phänomen. Leute von großer Begabung und großer Charakterstärke kommen mit mehr oder weniger gleichbleibender Häufigkeit zur Welt, nur ihre Wahl treffen sie unterschiedlich. Ihr Vorhandensein oder Fehlen in einem bestimmten Forschungsbereich erklärt sich wohl durch die Aussichten, die er eröffnet. Die Klassiker der Solaristik werden verschiedentlich beurteilt, aber Größe und oftmals Genie kann ihnen niemand absprechen. Die besten Mathematiker, Physiker, Spitzenkräfte auf dem Gebiet der Biophysik, der Informationstheorie, der Elektrobiologie, hat ganze Jahrzehnte lang der schweigende solarische Gigant an sich gezogen. Mit einem Mal wurde das Heer der Forscher von einem Jahr aufs andere gleichsam der Führer beraubt. Übrig blieb die farblose, namenlose Schar von geduldigen Sammlern, Kompilatoren, Schöpfern so mancher Experimente von originellem Zuschnitt, aber es fehlte bereits an Massenexpeditionen nach Plänen in globaler Größenordnung, und es fehlte an kühnen, ganzheitlichen Hypothesen.

Die Solaristik fing gleichsam zu zerbröckeln an, und gleichsam die Begleitstimme, die Parallele zu ihrem absinkenden Flug, bildeten die massenhaft gezeugten, kaum durch zweitrangige Einzelheiten voneinander unterschiedenen Hypothesen über die Degeneration, Abartigkeit oder Rückbildung der Solarismeere. Dann und wann tauchte eine kühnere, interessantere Konzeption auf, aber in allen wurde der Ozean gleichsam abgeurteilt, für das Endprodukt einer Entwicklung erklärt, das einst, vor Jahrtausenden, die Periode höchster Organisiertheit durchlaufen habe und jetzt, nur mehr physisch geeint, in ein Gewimmel nutzloser, sinnloser Agoniegebilde zerfalle. Also bereits monumentale Agonie, die sich durch Jahrhunderte hinzieht: so sah man die Solaris. Man wollte in den Längichten und Mimoiden Anzeichen von Krebswucherung wahrnehmen, deutete die

Prozesse, die den flüssigen Fleischberg bewegten, als Äußerungen des Chaos und der Anarchie, bis diese Richtung zur fixen Idee wurde, so daß die ganze wissenschaftliche Literatur der nächsten sieben, acht Jahre (obwohl klarerweise keinerlei Formulierungen darin die Gefühle der Verfasser offen ausdrücken) gleichsam eine einzige Flut von Beleidigungen bildet, die Rache der verlassenen, ihrer Anführer beraubten farblosen Solaristenscharen an dem fortwährend gleichermaßen teilnahmslosen, ihre Gegenwart ignorierenden Objekt der angestrengten Forschungen.

Ich kannte die originellen, meiner Ansicht nach zu Unrecht nicht in diese Sammlung klassischer Solariana aufgenommenen Arbeiten einer Gruppe von über zehn europäischen Psychologen, die insofern mit der Soiaristik zu schaffen hatten, als sie über einen langen Zeitraum hinweg die Reaktion der öffentlichen Meinung untersucht hatten, durch das Sammeln der allerdurchschnittlichsten Aussagen, der Laienstimmen. Solcherart haben sie den erstaunlich engen Zusammenhang zwischen den Wandlungen dieser Meinung und den gleichzeitig innerhalb des Wissenschaftlermilieus ablaufenden Prozessen aufgezeigt.

Auch innerhalb der Koordinationsgruppe des Pianetoiogischen Instituts, dort, wo über die materielle Unterstützung der Forschungen entschieden wurde, liefen Wandlungen ab; sie äußerten sich in stetiger, wenn auch allmählicher Beschneidung des Budgets für die solaristischen Institute und Stützpunkte und der Zuwendungen an die Teams, die zum Planeten abreisten.

Die Aussagen über die Notwendigkeit, die Forschungen einzuschränken, vermischten sich mit den Auftritten derer, die den Einsatz von Mitteln mit energischerer Wirkung verlangten, aber wohl niemand ging weiter als der Verwaltungsdirektor des Gesamtirdischen Kosmologischen Instituts, der beharrlich verkündete, der lebende Ozean ignoriere die Menschen keineswegs, sondern er nehme sie nicht wahr, wie ein Elefant die Ameise, die ihm über den Rücken läuft, und um seine Aufmerksamkeit zu erregen und auf uns zu konzentrieren, müsse man gewaltige Impulse und Monstermaschinen im Maßstab des ganzen Planeten anwenden. Eine drollige Einzelheit daran war, wie die Presse boshaft hervorhob, daß so kostspielige Unternehmungen der Direktor des Kosmologischen Instituts forderte und nicht der des Pianetoiogischen, das die Solariserkundung finanzierte; das war also Freigebigkeit aus fremder Tasche.

Und dann folgte der Ringeltanz der Hypothesen: die alten wurden aufgefrischt, mit unwesentlichen Änderungen versehen, zugespitzt oder im Gegenteil ins Vieldeutige gewendet, all dies verwandelte die bislang trotz ihres Umfangs so übersichtliche Soiaristik in ein immer mehr verwickeltes, sackgassenreiches Labyrinth. In der Atmosphäre allgemeiner Abstumpfung, Stockung und Lustlosigkeit schien ein zweiter Ozean aus tot bedrucktem Papier den solarischen durch die Zeit zu begleiten.

Etwa zwei Jahre, bevor ich mich als Institutsabsolvent der Arbeitsgruppe Gibarians angeschlossen hatte, war die Mett Irving-Stiftung entstanden, die hochdotierte Preise für die Erfinder vorsah, welche die Energie der Ozeanmasse für den menschlichen Bedarf nutzbar zu machen wüßten. Dies war auch vorher schon angestrebt worden, und die Raumschiffe hatten so manche Ladung Plasma-Gallerte auf die Erde transportiert.

Auch arbeitete man lange und geduldig an Frischhaltemethoden für das Plasma, verwendete hohe, beziehungsweise niedrige Temperaturen, den Solarisverhältnissen angenäherte künstliche Mikroatmosphäre und Mikroklimatisierung, konservierende Bestrahlungen, endlich tausenderlei chemische Rezepte, und all dies nur, damit ein mehr oder weniger schleppender Zerfallsprozeß beobachtet werden konnte; versteht sich, daß auch er, wie alles andere, oft und oft mit höchster Genauigkeit in allen seinen Stadien beschrieben wurde: Autolyse, Auslaugung, dann die Primär— oder Frühverflüssigung und die späte, die sekundäre. Die Probe-Entnahmen aus allen Ausblühungen und Gebilden des Plasmas traf ein vergleichbares Los. Es unterschieden sieh nur die Wege zum Ende, das sich als metallisch glänzende, wie Asche leichte, durch Selbstgärung dünngelockerte Schwammstruktur darbot. Ihre Zusammensetzung, das Verhältnis der Elemente und die chemischen Formeln konnte jeder Solarist aus dem Schlaf heraus angeben.

Da es völlig mißlang, kleine oder große Teilchen des Monstrums außerhalb seines planetaren Organismus am Leben oder auch nur in einem Zustand stillgelegten Vegetierens, in einer Art Kühlschlaf, zu erhalten, entsprang hieraus die Überzeugung (entwickelt von der Schule Meuniers und Prorochs), zu enträtseln sei eigentlich nur ein einziges Geheimnis, und schlössen wir es erst mit dem passend gewählten Interpretationsschlüssel auf, so werde sieh auf einen Schlag alles aufklären…

Leute, die vielfach nichts mit der Wissenschaft zu schaffen hatten, wandten Zeit und Energie an die Suche nach diesem Schlüssel, nach diesem solarischen Stein der Weisen, und die Zahl der Spekuliersüchtigen, die außerhalb wissenschaftlicher Kreise erwuchsen, aller dieser Besessenen, die ihre einstigen Vorgänger, etwa die Propheten des „Perpetuum mobile“ oder der „Quadratur des Zirkels“, an Fanatismus übertrafen, nahm im vierten Jahrzehnt solaristischer Geschichte die Ausmaße einer Epidemie an, was manche Psychologen geradezu beunruhigte. Diese Leidenschaft erlosch jedoch nach einigen Jahren, und zur Zeit meiner Vorbereitungen auf die Solarisreise war sie längst aus Zeitungsspalten und Gesprächen verschwunden, ähnlich wie im übrigen die ganze Ozean-Frage.

Als ich Gravinskys Band zurückstellte, entdeckte ich daneben, da die Bücher alphabetisch gereiht waren, die winzige, zwischen den dicken Buchrücken fast verschwindende Broschüre Grattenstroms, eine der wunderlichsten Blüten solarischen Schrifttums. Das ist eine Arbeit, die sich — im Kampf um die Einsicht in Außermenschliches — gegen die Menschheit selbst wendet, gegen den Menschen, eine eigentümliche, auf uns als Gattung gemünzte Schmähschrift, wütend in ihrer kahlen Mathematik, die Arbeit eines Autodidakten, der nach etlichen Veröffentlichungen ungewöhnlicher Beiträge zu gewissen hochspeziellen und eher entlegenen Zweigen der Quantenphysik schließlich in diesem seinem allerungewöhnlichsten und wichtigsten, wenn auch kaum ein Dutzend Seiten starken Werk aufzuzeigen sucht, daß sogar die scheinbar abstraktesten, extrem theoretischen, mathematisierten Leistungen der Wissenschaft in Wirklichkeit kaum ein, zwei Schritte über die vorgeschichtliche, plump sinnenhafte, vermenschlichende Umwelt-Erkenntnis hinausgehen. In den Formeln der Relativitätstheorie und des Kraftfeldertheorems, in der Parastatik, in Annahmen eines einzigen kosmischen Feldes spürt er die Prägung durch den Körper auf, all das, was durch die Existenz unserer Sinne, durch den Aufbau unseres Organismus, durch die Beschränkungen und Gebrechen der tierischen Leiblichkeit des Menschen bestimmt und bedingt ist; so gelangt Grattenstrom zu der abschließenden Folgerung, ein „Kontakt“ des Menschen zu irgendeiner ahumanoiden, nicht menschenartigen Zivilisation könne nicht und werde nicht in Betracht kommen. Diese Sehmähschrift auf die ganze Gattung erwähnt mit keinem Wort den lebenden Ozean, aber seine Gegenwart in Gestalt verächtlich triumphierenden Schweigens ist unter fast jedem Satz herauszuspüren. So hatte ich das zumindest bei der ersten Begegnung mit Grattenstroms Broschüre empfunden. Im übrigen ist diese Arbeit eher ein Kuriosum, als ein Solarianum in normalem Sinne; hier in der Klassikersammlung schien sie auf, weil Gibarian selbst sie hineingestellt hatte; von ihm hatte ich sie im übrigen zu lesen bekommen.

Mit merkwürdigem, der Hochachtung ähnlichem Gefühl schob ich den dünnen, nicht einmal eingebundenen Abzug vorsichtig zwischen die Bücher auf dem Brett. Ich berührte mit den Fingerspitzen den grünlichbraunen „Solaris-Almanach“. Bei all dem Chaos, bei aller Hilflosigkeit, die uns eingekesselt hielt, ließ sich nicht bestreiten, daß wir durch die Erlebnisse zweier Wochen Gewißheit in einigen Grundfragen erlangt hatten, um derentwillen jahrelang ein Meer von Tinte vergeudet worden war; sie hatten nämlich die Themen nichtssagender, weil unentscheidbarer Auseinandersetzungen gebildet.

Jemand, der Gefallen an Paradoxa fand und hartnäckig genug war, konnte wohl weiterhin anzweifeln, daß der Ozean ein Lebewesen sei. Jedoch die Existenz seiner Psyche ließ sich unmöglich abstreiten, gleichviel, was auch immer unter jenem Wort zu verstehen sein sollte. Es war offenkundig geworden, daß er unsere Anwesenheit über seinem Bereich nur allzu gut wahrnahm… Diese eine Feststellung tilgte einen ganzen ausgebauten Flügel der Solaristik aus, der darauf bestanden hatte, der Ozean wäre „eine Welt in sich selbst“,"in sieh ruhendes Sein», er hätte durch nachträglichen Schwund die einst vorhanden gewesenen Sinnesorgane eingebüßt, er wüßte nichts von der Existenz irgendwelcher Phänomene oder Objekte der Außenwelt, eingeschlossen in den Ringeltanz gigantischer Denkströmungen, deren Sitz und Rahmen und Schöpfer sein eigener unter zwei Sonnen wirbelnder Abgrund sei.

Ferner hatten wir folgendes erfahren: er vermochte künstlich zusammenzusetzen, was wir selbst nicht zustandebrachten, unsere Körper, und sie sogar zu vervollkommnen, indem er in ihre subatomare Struktur unfaßliche Änderungen einführte, sicherlich im Zusammenhang mit den Zwecken, die er verfolgte.

Er existierte also, lebte, dachte, betätigte sieh; die Aussicht, das «Problem Solaris» auf etwas Widersinniges oder auf null zu reduzieren, das Urteil, wir hätten es nicht mit einem Wesen zu tun, und unsere Niederlage wäre demnach gar keine Niederlage — das alles versank ein für allemal. Ob sie wollten oder nicht, mußten die Menschen jetzt eine Nachbarschaft zur Kenntnis nehmen, eine, die ihnen bei ihrer Expansion auf dem Weg lag, wenn auch hinter Billionen Kilometern luftleeren Raums, ganze Lichtjahre weit abgelegen, eine Nachbarschaft, die schwerer zu fassen war als das übrige Weltall.

— Vielleicht sind wir an einem Wendepunkt der Geschichte überhaupt — dachte ich. Der Entschluß, zu resignieren, kehrtzumachen, sofort oder in unferner Zukunft, konnte sieh durchsetzen; sogar die Auflassung der Station selbst hielt ich nicht für etwas Unmögliches oder auch nur Unwahrscheinliches. Doch glaubte ich nicht, daß sieh auf diese Weise etwas werde retten lassen: — Die bloße Existenz des denkenden Kolosses wird die Menschen nie mehr zur Ruhe kommen lassen. Selbst wenn sie Galaxien durchmessen, selbst wenn sie sieh mit anderen Zivilisationen uns ähnlicher Wesen verbinden, bleibt doch die Solaris eine ewige Herausforderung an den Menschen.

Und ein schmächtiger Lederband hatte sieh da auch noch zwischen die «Almanach"-Jahrgänge verirrt. Eine Weile betrachtete ich den Deckel, der vom Abgreifen schon ganz dunkel war, erst dann schlug ich ihn auf. Das war ein altes Buch, diese „Einführung in die Solaristik“ von Muntius; ich erinnerte mich noch an die Nacht, die ich darüber verbracht hatte, und an Gibarians Lächeln, als er mir dieses Exemplar, sein eigenes, mitgegeben hatte, und an das irdische Morgengrauen im Fenster, als ich bis zu dem Wort „Ende“ gelangt war. — Die Solaristik — schreibt Muntius — ist die Ersatzreligion des Weltraumzeitalters, sie ist Glaube, eingehüllt in das Gewand der Wissenschaft; der Kontakt, das Ziel, dem sie entgegenstrebt, ist ebenso nebelhaft und dunkel wie die Gemeinschaft der Heiligen oder die Herabkunft des Messias. Die Erkundung kommt einem in methodologischen Formeln existierenden Liturgie-System gleich; die demütige Arbeit der Forscher ist das Warten auf Erfüllung, auf die Verkündigung, denn Brücken zwischen Solaris und Erde gibt es nicht und kann es nicht geben. Aber diese Selbstverständlichkeit wird wie andere, wie das Fehlen gemeinsamer Erfahrungen, wie das Fehlen von Begriffen, die man übermitteln könnte, von den Solaristen zurückgewiesen, so ähnlich, wie von den Gläubigen die Argumente zurückgewiesen wurden, die ihres Glaubens Grundlage umstürzten. Im übrigen, was erwarten sich Menschen, was können Menschen sich vom „Anknüpfen einer Nachrichtenverbindung“ mit denkenden Meeren versprechen? Ein Register der Erlebnisse im Zusammenhang mit zeitlich endloser Existenz, die so alt ist, daß sie sich bestimmt nicht an den eigenen Anfang erinnert? Eine Beschreibung der Begierden, Leidenschaften, Hoffnungen und Leiden, die sich in spontanen Geburten lebender Berge freisetzen, der Umwandlung aus der Mathematik in die Existenz, aus Einsamkeit und Resignation — in die Fülle? Aber das alles ist doch unübertragbares Wissen, und wenn ihres in eine beliebige unter den irdischen Sprachen zu übersetzen versucht, dann gehen alle die gesuchten Werte und Bedeutungen verloren, bleiben drüben auf der anderen Seite. Im übrigen, nicht diese Art von sensationellen Erkenntnissen, wie sie eher eines poetischen Systems als einer Wissenschaft würdig wäre, erwarten sich die „Bekenner“, nein, denn ohne sich selbst darüber klar zu werden, harren sie der Offenbarung, die ihnen den Sinn des Menschen selbst auseinandersetzen soll! Die Solaristik ist also ein Spätling längst verstorbener Mythen, eine Ausblühung mystischer Sehnsüchte, die offen, in voller Lautstärke, kein menschlicher Mund mehr auszusprechen wagt; und ihr Grundstein, tief in den Fundamenten ihres Gebäudes verborgen, ist die Hoffnung auf Erlösung…

Aber die Solaristen sind nicht fähig, zuzugeben, daß es in Wahrheit so ist, emsig weichen sie jeder Erläuterung des Kontakts aus, so daß er in ihrer aller Schriften zu etwas Letztgültigem wird, und während erder ursprünglichen, noch nüchternen Auffassung nach ein Anfang sein sollte, eine Einleitung, das Betreten eines neuen Weges, eines unter vielen, ist er nach Jahren, sakralisiert, zur Ewigkeit und zum Himmel für sie alle geworden

Einfach und bitter ist die Analyse von Muntius, diesem „Ketzer“ der Planetologie, jäh erhellend in der Negation, indem sie den Mythos der Solaris zertrümmert, oder eher den der „Sendung des Menschen“. Die erste Stimme, die sich erkühnte, in einer noch von Zuversicht und Romantik erfüllten Entwicklungsphase der Solaristik laut zu werden, wurde mit vollkommenem, ignorierendem Schweigen aufgenommen. Das ist nur zu verständlich, denn die Worte von Muntius aufzunehmen wäre gleichbedeutend gewesen mit dem Austilgen der Solaristik in der Form, wie sie bestand. Die Anfänge einer anderen, nüchternen, resignierenden warteten vergebens auf ihren Stifter. Fünf Jahre nach dem Tod von Muntius, als sein Buch längst zur bibliographischen Rarität, zum Unikum geworden war und sich weder in Solariana-Sammlungen noch in philosophischen Bibliotheken auftreiben ließ, entstand eine Schule, die sich auf Muntius berief, der Norwegische Kreis. Aufgespalten zwischen die Einzelpersönlichkeiten der Denker, die Muntius1 Hinterlassenschaft aufgriffen, verwandelte sich dort die Ruhe seiner Darlegung in die ätzende, verbissene Ironie des Erle Ennesson und, in gleichsam versimpelter Fassung, in Phaelangas Gebrauchssolaristik oder „Utilaristik“. Letztererforderte dazu auf, das Hauptaugenmerk auf die konkreten Vorteile zu richten, die sich aus den Forschungen ziehen lassen, ohne Seitenblicke auf ein mit Hirngespinsten ausgeschmücktes, aus falschen Hoffnungen entsprungenes Streben nach dem Zivilisationskontakt, nach geistiger Verbundenheit zweier Zivilisationen. Gegen die unerbittliche Klarheit der Analyse von Muntius sind jedoch die Schriften aller seiner Geistesjünger nicht mehr als Fleißarbeiten, wenn nicht gar gewöhnliche Populärfassungen, außer den Werken Ennessons und vielleicht noch Takatas. Muntius hat eigentlich alles schon selbst vollendet: die erste Phase der Solaristik bezeichnet er als „Stadium der Propheten“, unter die er Giese, Holden, Sevada gerechnet hat, die zweite hat er „Das Große Schisma“ genannt, als den Zerfall der einen solarianischen Kirche in eine Menge einander befehdender Konfessionen, und eine dritte Phase hat er vorausgesagt: die der Dogmatisierung und scholastischen Verknöcherung, die eintreten werde, sobald alles erforscht sein werde, was es zu erforschen gibt. Doch ist es nicht so gekommen. — Gibarian — dachte ich hatte doch recht, wenn er den Muntiusschen Abrechnungsdiskurs für eine monumentale Vergröberung hielt, die alles unbeachtet lasse, was an der Solaristik den Elementen eines Glaubens zuwiderlaufe; denn in ihr entscheidet ja die nicht nachlassende irdische

Zeitlichkeit der Arbeiten, die nichts verheißt als einen konkreten, körperlichen, um zwei Sonnen kreisenden Erdball.

In dem Buch von Muntius steckte mittendurch gefaltet ein ganz vergilbter Sonderdruck aus der Vierteljahrsschrift „Parerga Solariana“, eine der ersten Arbeiten, die Gibarian verfaßt hatte, noch vor Übernahme der Institutsleitung. Auf den Titel „Warum ich Solarist bin" — folgte kurzgefaßt, beinahe wie ein Gliederungsentwurf, eine Aufzählung von konkreten Phänomenen, Beweisgründen für das Bestehen realer Chancen eines Kontakts. Denn Gibarian hatte zu der wohl letzten Generation jener Forscher gehört, die den Mut gehabt haben, an die frühen Jahre des Glanzes und des Optimismus anzuknüpfen, und die dabei einen eigentümlichen, alle von der Wissenschaft gesteckten Grenzen überschreitenden Glauben nicht verleugnet haben, einen äußerst materiellen Glauben: denn er vertraute auf den Erfolg von Anstrengungen, sofern sie nur beharrlich genug und unablässig wären.

Gibarian ging aus von den klassischen, so wohlbekannten Untersuchungen der Bioelektronikergruppe mit eurasischer Marke (Cho En Min, Ngyalla und Kavakadze). Sie ergaben Elemente von Ähnlichkeit zwischen dem Bild der gehirnelektrischen Arbeit und gewissen Entladungen im Bereich des Plasmas, die vor sich gehen, ehe aus ihm solche Gebilde entstehen, wie etwa die frühstadialen Polymorpha oder die Zwillings-Solaride. Gibarian wies allzu vermenschlichende Deutungen zurück, alle diese mystifizierenden Thesen psychoanalytischer, psychiatrischer oder neurophysiologischer Schulen, die in die Ozeanmasse die einzelnen menschlichen Krankheitsbilder hineinzuinterpretieren suchten, zum Beispiel das der Epilepsie (deren Entsprechung die krampfigen Eruptionen der Asymmetriaden sein sollten), denn unter den Verfechtern des Kontakts war er einer der vorsichtigsten und nüchternsten, und nichts war ihm so zuwider wie die Sensationen, die der einen oder anderen Entdeckung — nun freilich schon ungemein selten — das Geleit gaben. Eine Welle derartigen billigsten Interesses war im übrigen durch meine Diplomarbeit ausgelöst worden. Auch sie befand sich hier, natürlich nicht als Druckwerk, sie steckte irgendwo in einem der Mikrofilmbehälter. Ich hatte mich da auf die bahnbrechenden Studien von Bergmann und Reynolds gestützt, denen es gelungen war, aus dem Mosaik der Rindenprozesse diejenigen Komponenten zu isolieren und „abzufiltern“, welche die stärksten Emotionen begleiten, Verzweiflung, Schmerz, Lust; meinerseits hatte ich diese Aufzeichnungen den Entladungen von Ozeanströmen gegenübergestellt und Schwingungen und Kurvenprofilierungen entdeckt, die eine bemerkenswerte Analogie aufwiesen (an gewissen Partien der Symmetriadenkappen, am Fundament unreifer Mimoide, u. a.). Dies hatte genügt, um meinen Namen schleunigst in der Regenbogenpresse auftauchen zu lassen, unter läppischen Titeln wie etwa: "Die Gallerte verzweifelt“, oder: "Planet im Orgasmus». Aber das war mir zum Guten ausgeschlagen (zumindest hatte ich bis vor kurzem so gedacht), denn Gibarian, der wie jeder andere Solarist nicht alle die zu Tausenden erscheinenden Arbeiten gelesen hatte, und schon gar nicht die der Anfänger, war auf mich aufmerksam geworden, und so hatte ich einen Brief von ihm erhalten. Dieser Brief hatte einen Abschnitt in meinem Leben beendet und einen neuen eröffnet.

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