Die Korridorröhre war leer. Ich stand eine Weile vor der geschlossenen Tür und horchte. Die Wände mußten dünn sein, von draußen klang das Wimmern des Windes durch. Auf der Türplatte präsentierte sich ein etwas schräg und schlampig aufgeklebtes rechteckiges Stück Pflaster, und darauf mit Bleistift die Aufschrift: "Mensch». Ich schaute dieses undeutlich gekritzelte Wort an. Einen Moment lang wollte ich zu Snaut zurückkehren, aber ich sah ein, das war unmöglich.
Die irre Warnung tönte mir noch in den Ohren. Ich bewegte mich, und die Schultern beugte mir das unerträgliche Gewicht des Raumanzugs. Leise, so als versteckte ich mich unwissentlich vor einem unsichtbaren Beobachter, kehrte ich zurück in den runden Raum mit den fünf Türen. Darauf befanden sich Schilder: Dr. Gibarian, Dr. Snaut, Dr. Sartorius. Auf der vierten war keines. Ich zögerte, dann drückte ich leicht den Griff und öffnete sie langsam. Als sie aufschwenkte, erlebte ich das an Gewißheit grenzende Gefühl, daß dort jemand war. Ich trat ein.
Niemand war da. Das gleiche vorgewölbte Fenster, nur etwas kleiner, war auf den Ozean gerichtet, der hier — gegen die Sonne — fettig glänzte, so als flösse von den Wellen hinunter gerötetes Öl. Scharlachener Widerschein erfüllte das ganze Zimmer, das einer Schiffskabine ähnlich war. Auf einer Seite standen Bücherregale, zwischen ihnen war ein mit Kardans befestigtes Bett senkrecht an die Wand geschnallt, auf der anderen Seite waren lauter Schränkchen, dazwischen hingen auf Nickelrahmen streifenweise zusammengeklebte Flugaufnahmen und in Metallgriffen Kolben und Reagenzgläser, alle mit Watte zugestopft. Unter dem Fenster waren weiß emaillierte Schachteln in zwei Reihen aufgestellt, so, daß man kaum zwischen ihnen durchkonnte. Bei manchen war der Deckel gelüpft — sie waren angefüllt mit Unmengen von Instrumenten, Plastikschläuchen; in beiden Ecken befanden sich Hähne, ein Rauchabzug, Tiefkühlfächer; das Mikroskop stand auf dem Fußboden, es fand nicht mehr Platz auf dem großen Tisch neben dem Fenster. Als ich mich umwandte, sah ich gleich bei der Eingangstür einen bis zur Decke reichenden, nicht ganz geschlossenen Schrank voll Overalls, Arbeits— und Schutzschürzen, in den Fächern Wäsche, zwischen den Schäften der Strahlenschutzstiefel glitzerten Aluminiumflaschen für die tragbaren Sauerstoffgeräte. Zwei Geräte samt den Masken baumelten, ans Geländer des hochgeklappten Bettes angehängt. Überall herrschte das gleiche nur oberflächlich und wie in Eile irgendwie geordnete Chaos. Ich sog prüfend die Luft ein und spürte einen schwachen Hauch von chemischen Reagenzien und eine Spur von einem scharfen Geruch — das war doch nicht etwa Chlor? Instinktiv suchte ich mit den Augen die vergitterten Ventilationsöffnungen in den Winkeln an der Decke. Die Papierstreifen, die an ihre Rahmen geklebt waren, flatterten sanft, zum Zeichen, daß die Kompressoren funktionierten und normale Luftzirkulation in Gang hielten. Ich trug Bücher, Apparate und Instrumente von zwei Stühlen in die Winkel und verstaute das, wie es nur ging, bis rund um das Bett zwischen dem Schrank und den Regalen verhältnismäßig freier Raum entstand. Ich zog den Ständer heran, um den Raumanzug aufzuhängen, nahm die Schieber der Reißverschlüsse zwischen die Finger, ließ aber gleich wieder los. Irgendwie konnte ich mich nicht entschließen, den Raumanzug abzuwerfen, so, als sollte ich dadurch wehrlos werden. Noch einmal überblickte ich das ganze Zimmer, prüfte, ob die Tür gut zugeschnappt war, und da sie kein Schloß hatte, schob ich nach kurzem Zögern die zwei schwersten Schachteln vor. Solcherart provisorisch verbarrikadiert, befreite ich mich durch dreimaliges Zerren aus meiner schweren, knarrenden Hülle. Der schmale Spiegel an der Innenseite des Schranks zeigte einen Teil des Zimmers. Aus dem Augenwinkel erfaßte ich dort irgendeine Bewegung, ich fuhr hoch, aber das war mein eigenes Spiegelbild. Das Trikot unter dem Raumanzug war durchgeschwitzt. Ich warf es ab und drückte gegen den Schrank. Er glitt zur Seite, in der Nische dahinter erglänzten die Wände eines winzigen
Badezimmers. Auf dem Fußboden, unter der Brause, ruhte eine stattliche flache Kassette. Ich trug sie nicht ohne Mühe ins Zimmer hinaus. Als ich sie auf den Fußboden stellte, sprang der Deckel auf wie durch eine Feder, und ich erblickte Fächer voll absonderlicher Exponate: lauter karikierte oder grob in dem dunklen Metall skizzierte Instrumente, zum Teil analog zu denen, die in den Schränkchen lagen. Alle waren unbrauchbar, unfertig geformt, abgerundet, angeschmolzen, wie aus einem Brand geborgen. Und das Merkwürdigste: das gleiche Gepräge von Zerstörung trugen auch die Griffe, die aus Cermet waren, also praktisch unschmelzbar. In keinem Laboratoriumsofen hätte sich ihre Schmelztemperatur erzielen lassen — höchstens im Inneren eines Atommeilers. Aus der Tasche meines aufgehängten Raumanzugs holte ich den kleinen Strahlungsmesser, aber die schwarze Schnauze schwieg, als ich sie den Trümmern näherte.
Ich hatte nur Slips und ein Netzhemd an. Beides schmiß ich auf den Fußboden wie Fetzen und sprang nackt unter die Brause. Das Aufschlagen des Wassers empfand ich wie eine Erleichterung. Ich wand mich unter dem Guß harter, heißer Strahlen, massierte mich, prustete, alles irgendwie übertrieben, so, als schüttelte und schleuderte ich aus mir diese ganze trübe, mit Verdächtigungen ansteckende Ungewißheit fort, die die Station überflutete.
Ich suchte im Schrank einen leichten Trainingsanzug aus, der sich auch unter dem Raumanzug tragen ließ. In die Taschen räumte ich meine ganze spärliche Habe um. Zwischen den Blättern des Notizbuches spürte ich etwas Hartes. Das war mein Wohnungsschlüssel von der Erde, der sich ich weiß nicht wie hierher verirrt hatte. Ich drehte ihn eine Weile zwischen den Fingern und wußte nicht, was ich mit ihm anfangen sollte. Endlich legte ich ihn auf den Tisch. Mir fiel ein, daß ich vielleicht irgendeine Waffe brauchen konnte. Mein Universal-Taschenmesser war bestimmt keine, aber ich hatte nichts anderes und befand mich noch nicht in einem solchen Geisteszustand, daß ich mich auf die Suche nach einem Strahlenwerfer oder dergleichen gemacht hätte. Ich setzte mich auf ein Metallstühlchen mitten in dem leeren Raum, weit weg von allen Sachen. Ich wollte allein sein. Zufrieden stellte ich fest, daß ich noch über eine halbe Stunde Zeit hatte; nichts zu wollen, Gewissenhaftigkeit beim Einhalten aller Verpflichtungen liegt in meiner Natur, gleichviel, ob es um Wichtiges oder Unbedeutendes geht. Die Zeiger auf dem Vierundzwanzig-Stunden-Zifferblatt standen auf sieben. Die Sonne ging unter. Sieben Uhr Ortszeit, das war zwölf an Bord des Prometheus. Die Solaris mußte auf Moddards Bildschirmen schon auf das Ausmaß eines Fünkchens zusammenschrumpfen und sich in nichts von den Sternen unterscheiden. Aber was konnte mich der Prometheus angehen? Ich schloß die Augen. Völlige Stille herrschte, abgesehen von dem Miauen in den Röhren, das in regelmäßigen Abständen erscholl. Im Bad tickte leise das Wasser, das aufs Porzellan tröpfelte.
Gibarian war tot. Wenn ich richtig verstand, was Snaut gesagt hatte, dann war kaum mehr als ein halber Tag seit Gibarians Tod vergangen. Was hatten sie mit dem Körper gemacht? Begraben? Stimmt, auf diesem Planeten ließ sich das nicht machen. Ich dachte darüber sachlich längere Zeit nach, so, als wäre das Schicksal des Leichnams das Wichtigste, bis ich mir die Unsinnigkeit dieser Überlegungen bewußt machte, aufstand und anfing, diagonal durchs Zimmer auf und ab zu gehen, und dabei mit der Fußspitze die wirr verstreuten Bücher anstieß, dann eine kleine, leere Feldtasche; ich bückte mich und hob sie auf. Sie war nicht leer. Sie enthielt eine Flasche aus dunklem Glas, so leicht, als wäre sie aus Papier geblasen. Ich schaute durch sie hindurch auf das Fenster, in das düster rote, von schmutzigen Nebeln verqualmte letzte Abendlicht. Was war mit mir los?
Warum beschäftigte ich mich mit jedem Blödsinn, mit jedem unwichtigen Kleinkram, der mir unterkam?
Ich zuckte zusammen, denn das Licht schaltete sich ein. Selbstverständlich eine Fotozelle, die für die einfallende Dämmerung empfindlich war. Ich war voll Erwartung, die
Anspannung wuchs bis zu dem Grad, daß ich hinter mir keinen leeren Raum haben wollte. Ich beschloß, dagegen anzukämpfen. Ich rückte den Stuhl zu den Regalen. Ich zog den nur allzu wohlbekannten zweiten Band der alten Monographie «Die Geschichte der Solaris» von Hughes und Eugl heraus und begann darin zu blättern, den dicken, steifen Buchrücken aufs Knie gestützt.
Die Entdeckung der Solaris erfolgte nahezu hundert Jahre, bevor ich geboren wurde. Der Planet kreist um zwei Sonnen, eine rote und eine blaue. Über vierzig Jahre lang näherte sich ihm kein Raumschiff, die Gamov-Shapleysche Theorie über die Unmöglichkeit der Entstehung von Leben auf Planeten von Doppelsternen galt damals für erwiesen. Die Bahnen solcher Planeten ändern sich unentwegt infolge des Wechselspiels der Massenanziehungen, das vorsieh geht, während die beiden Sonnen einander umkreisen.
Die entstehenden Perturbationen kürzen und längen abwechselnd die Bahn des Planeten, und sollten Urkeime von Leben entstehen, so unterliegen sie der Zerstörung durch glutheiße Strahlung oder auch durch eisige Kälte. Diese Änderungen vollziehen sich im Zeitraum von Jahrmillionen, also der astronomischen oder biologischen Größenordnung nach (da die Evolution hunderte Millionen, wenn nicht eine Milliarde von Jahren erfordert) — in sehr kurzer Zeit.
Nach den ursprünglichen Berechnungen sollte sich die Solaris im Lauf von fünfhunderttausend Jahren bis auf die Distanz von einer halben astronomischen Einheit ihrer roten Sonne nähern und nach einer weiteren Million — in ihren Glutenabgrund stürzen.
Aber schon nach etwas mehr als zehn Jahren überzeugte man sich, daß die Solarisbahn keineswegs die erwarteten Änderungen aufwies, ganz als ob sie konstant wäre, so konstant wie die Bahnen der Planeten unseres Sonnensystems.
Man wiederholte, nun schon mit höchster Genauigkeit, die Beobachtungen und Messungen, die nur bestätigten, was bekannt war: die Solaris besitzt eine unbeständige Umlaufbahn.
Von einem unter etlichen hundert neuentdeckten Planeten pro Jahr, die mit Notizen von ein paar Zeilen, mit Angabe der Elemente ihrer Bewegung, in die großen Statistiken einbezogen werden, avancierte die Solaris nun in den Rang eines besonderer Beachtung würdigen Himmelskörpers.
Und so kreiste denn an die vier Jahre nach dieser Entdeckung Ottenskjolds Expedition um den Planeten und untersuchte ihn vom Laokoon und von zwei Begleitschiffen aus. Diese Expedition hatte den Charakter provisorischer, improvisierter Auskundschaftung, zumal da sie nicht zum Landen ausgerüstet war. Sie brachte in Äquator— und Pol-Umlaufbahnen eine größere Anzahl von Beobachtungssatelliten an, deren Hauptaufgabe die Messung der Gravitationspotentiale war. Überdies wurden die fast gänzlich vom Ozean bedeckte Planetenoberfläche und die wenigen aus seinem Niveau herausragenden Hochebenen erforscht. Diese erreichen insgesamt nicht den Flächeninhalt Europas, obwohl die Solaris um zwanzig Prozent größeren Durchmesser hat als die Erde. Diese unregelmäßig verstreuten Brocken von felsigem und ödem Land häufen sich vor allem auf der Südhalbkugel. Man stellte auch die Zusammensetzung der Atmosphäre fest, die keinen Sauerstoff enthält, und maß überaus genau die Dichte des Planeten sowie die Albedo und andere astronomische Elemente. Wie erwartet, wurden keine Spuren von Leben aufgefunden, weder an Land, noch gewahrte man welche am Ozean.
Während weiterer zehn Jahre zeigte die Solaris, nun schon im Zentrum der Aufmerksamkeit aller Observatorien dieses Bereichs, erstaunliche Tendenz zur Beibehaltung ihrer außer allem Zweifel gravitationsmäßig unbeständigen Umlaufbahn. Eine Zeit lang roch die Angelegenheit nach Skandal, denn die Schuld an einem solchen Beobachtungsergebnis suchte man (immer aus Sorge um das Wohl der Wissenschaft)
bald auf bestimmte Leute zu schieben, bald auf die Rechenanlagen, deren sie sich bedienten.
Der Mangel an Geldmitteln zögerte die Entsendung einer eigentlichen Solaris-Expedition weitere drei Jahre hinaus, bis zu dem Zeitpunkt, da Shannahan die Besatzung komplett hatte und vom Institut drei Einheiten der Tonnage C, Kosmodromklasse, erlangte. Anderthalb Jahre vor Eintreffen der Expedition, die vom Gebiet des Alpha des Wassermanns aus startete, brachte von Seiten des Instituts eine zweite Explorationsflotte ein automatisches Satelloid, Luna 247, in eine Solaris-Umlaufbahn. Nach drei jahrzehntelang auseinanderliegenden Rekonstruktionen arbeitet dieses Satelloid heute noch. Die Daten, die es sammelte, bestätigten endgültig, was Ottenskjolds Expedition wahrgenommen hatte: den aktiven Charakter der Ozeanbewegungen.
Ein Schiff Shannahans verblieb auf einer hohen Umlaufbahn, zwei dagegen landeten nach einleitenden Vorbereitungen auf einem felsigen Stück Land, das beim Südpol der Solaris etwa sechshundert Quadratmeilen einnimmt. Die Arbeiten der Expedition waren nach achtzehn Monaten beendet und verliefen günstig, bis auf einen Unglücksfall, der durch Fehlfunktion der Apparate verursacht wurde. Innerhalb des Wissenschaftlerteams kam es jedoch zur Aufspaltung in zwei gegnerische Lager. Zum Gegenstand des Streits wurde der Ozean. Auf Grund der Analysen wurde er als organisches Gebilde erkannt (ihn lebendig zu nennen, wagte damals noch niemand). Während jedoch die Biologen in ihm ein primitives Gebilde sahen — eine Art gigantischen Verband, also gleichsam eine einzige monströs auseinandergewachsene flüssige Zelle (aber sie nannten ihn «präbiologische Formation»), die den ganzen Globus mit einem gallertigen, stellenweise eine Tiefe von mehreren Meilen erreichenden Mantel überzogen hat — behaupteten Astronomen und Physiker, das müsse eine außerordentlich hoch organisierte Struktur sein, die möglicherweise an Verschlungenheit des Aufbaus die irdischen Organismen übertreffe, da sie doch imstande sei, aktiv die Ausformung der Planetenbahn zu beeinflussen. Es wurde nämlich keinerlei andere Ursache entdeckt, die das Verhalten der Solaris erklärt hätte; überdies fanden die Planetarphysiker eine Beziehung zwischen bestimmten Prozessen des Plasma-Ozeans und dem örtlich gemessenen Gravitationspotential, das sich in Abhängigkeit vom Ozean-eigenen «Stoffwechsel"änderte.
So brachten also Physiker und nicht Biologen die paradoxe Formulierung „plasmatische Maschine“ vor; darunter verstanden sie ein Gebilde, in unserem Sinne vielleicht auch unbelebt, doch fähig, zielbezogene Tätigkeiten zu unternehmen — fügen wir gleich hinzu: in astronomischer Größenordnung.
In diesem Streit, der innerhalb von Wochen die bedeutendsten Autoritäten sämtlich in seinen Wirbel hineinzog, geriet zum ersten Mal seit achtzig Jahren die Gamov-Shapleysche Doktrin ins Wanken.
Eine Zeitlang suchte man sie noch zu verteidigen, indem man behauptete, der Ozean habe nichts mit Leben zu tun, er sei nicht einmal ein „para" — oder „prä"-biologisches Gebilde, sondern eine geologische Formation, gewiß ungewöhnlich, aber nur zur Fixierung der Solarisbahn durch Schwerkraftänderungen fähig, wobei man sich auf die Le-Chateliersche Regel berief.
Solchem Konservatismus zum Trotz erwuchsen Hypothesen, wie etwa eine der besser ausgearbeiteten, von Civito und Vitta, der Ozean sei das Ergebnis dialektischer Entwicklung: aus seiner Vorform, dem Ur-Ozean, einer Lösung träge reagierender chemischer Körper, vermochte er unter dem Druck der Verhältnisse (das heißt, der Bahnänderungen, die seine Existenz bedrohten) ohne alle Zwischenstufen irdischer Entwicklung, also ohne das Entstehen von Ein— und Vielzellern, ohne pflanzliche und tierische Evolution, ohne das Auftreten von Nervensystem und Gehirn, gleich in das Stadium des „homöostatischen Ozeans“ umzuspringen. Das heißt mit anderen Worten, daß er sich nicht wie die irdischen Organismen hunderte Jahrmillionen lang an die Umwelt anpaßte, um erst nach einer so enormen Zeitspanne eine intelligente Rasse zu erzeugen, sondern sofort seine Umwelt bewältigte.
Das war durchaus originell, bloß wußte weiterhin niemand, wie eine sirupartige Gallerte die Bahn eines Himmelskörpers stabilisieren kann. Seit fast hundert Jahren kannte man Anlagen zur Herstellung künstlicher Kraft— und Schwerefelder, die Gravitoren, aber niemand konnte sich auch nur vorstellen, wie ein Resultat, das — in den Gravitoren — das Ergebnis komplizierter Kernreaktionen und enormer Temperaturen ist, von einem gestaltlosen Brei zustandegebracht werden kann. In den Zeitungen, die damals zur Kurzweil der Leser und zum Grauen der Wissenschaftler nur so strotzten von hanebüchenen Schwindeleien zum Thema „Geheimnis der Solaris“, fehlte es auch nicht an Behauptungen, der planetare Ozean sei… ein entfernter Verwandter der irdischen elektrischen Zitteraale.
Als es gelang, das Problem zumindest einigermaßen zu entwirren, erwies sich, daß die Erklärung, wie dies bei der Solaris später noch oft vorkam, an die Stelle eines Rätsels ein anderes, vielleicht noch erstaunlicheres, setzte.
Die Untersuchungen ergaben, daß der Ozean keineswegs nach dem Prinzip unserer Gravitoren funktioniert (was im übrigen unmöglich wäre), sondern direkt die Raum-Zeit-Metrik zu modellieren vermag, was unter anderem zu Abweichungen in der Zeitmessung an einem und demselben Längengrad der Solaris führt. Demnach kannte der Ozean nicht nur in gewissem Sinne die Einstein-Boevische Theorie, sondern vermochte sogar (was man von uns nicht sagen kann), ihre Konsequenzen zu nutzen.
Als dies ausgesprochen war, brach in der wissenschaftlichen Welt einer der heftigsten Stürme unseres Jahrhunderts los. Die ehrwürdigsten, allgemein als Wahrheiten anerkannten Theorien stürzten zu Schutt zusammen, in der wissenschaftlichen Literatur tauchten die ketzerischsten Artikel auf, und die Alternative „genialer Ozean“ oder „Graviations-Gallerte“ erhitzte alle Gemüter.
Das alles geschah an die zwanzig Jahre, bevor ich geboren wurde. Als ich zur Schule ging, galt auf Grund weiterhin erkannter Tatsachen die Solaris bereits allgemein als mit Leben ausgestatteter Planet — der freilich nur einen einzigen Bewohner hat.
Den zweiten Band Hughes-Eugl, den ich immer noch fast gedankenlos durchblätterte, eröffnete eine Systematik, ebenso originell ausgedacht wie komisch. Die Klassifikationstabelle präsentierte der Reihe nach: Art — Polytheria, Ordnung — Syncytialia, Klasse — Metamorpha.
Ganz, als kennten wir weiß Gott wieviele Exemplare der Gattung, während es doch in Wirklichkeit fortwährend nur einer war, allerdings mit einem Gewicht von siebzehn Billionen Tonnen.
Unter meinen Fingern schwirrten bunte Diagramme, Farbgraphiken, Spektralanalysen und Spektren vorbei, die Typus und Tempo der grundlegenden Umsetzung und ihre chemischen Reaktionen demonstrierten. Je weiter ich in dem klobigen Band vordrang, desto mehr Mathematik huschte auf den Kunstdruckblättern vorbei; man hätte meinen können, unser Wissen über diesen Vertreter der Klasse Metamorpha, der in die Finsternis der vierstündigen Nacht gehüllt einige hundert Meter unter dem Stahlboden der Station lag, sei vollkommen.
In Wirklichkeit waren sich noch nicht alle darüber einig, ob der Ozean nun ein „Wesen“ sei, geschweige denn, ob man ihn als „denkend“ bezeichnen dürfe. Ich stellte den schweren Band rumpelnd ins Regal und holte den nächsten heraus. Er umfaßte zwei Teile. Der erste war der Zusammenfassung der Versuchsprotokolle aller jener unzähligen Unternehmungen gewidmet, die das Ziel hatten, einen Kontakt mit dem Ozean anzuknüpfen. Dieses Kontaktknüpfen war in meiner Studentenzeit — nur zu gut erinnerte ich mich — eine Quelle unaufhörlicher Anekdoten, Spötteleien und Witze gewesen; die mittelalterliche Scholastik erschien als leichtfaßliche, taghell einleuchtende Erörterung im Vergleich zu dem Dickicht, das dieser Problemkreis hervorbrachte. Den zweiten Teil des Bandes, fast dreizehnhundert Seiten, nahm allein die Bibliographie zu diesem Gegenstand ein. Die Originalliteratur hätte bestimmt nicht in dem Zimmer Platz gefunden, worin ich saß.
Die ersten Kontaktversuche gingen über eigene elektronische Apparate vor sich, die die in beide Richtungen gesendeten Impulse transformierten, wobei der Ozean aktiv an der Ausformung dieser Apparate mitwirkte. Aber all das geschah in völliger Finsternis. Er „wirkte mit" — was hieß das? Er modifizierte bestimmte Elemente der in ihn eingetauchten Vorrichtungen, dadurch änderten sich die aufgezeichneten Rhythmen der Entladungen, die Registrierapparaturen hielten Unmengen von Signalen fest, etwas wie Bruchstücke irgendwelcher riesenhafter Operationen der höheren Analysis, aber was bedeutete das alles? Vielleicht waren das Daten über den jeweiligen Erregungszustand des Ozeans? Vielleicht die Impulse, die irgendwo, tausende Meilen weit weg von den Forschern, seine Riesengebilde entstehen lassen? Vielleicht die in unergründliche elektronische Gefüge umgesetzten Wiederspiegelungen der ewigen Wahrheiten dieses Ozeans? Vielleicht seine Kunstwerke? Wer konnte das wissen, wenn sich doch zweimal die gleiche Reaktion auf irgendeinen Reiz nicht erzielen ließ? Wenn einmal ein Ausbruch von Impulsen die Antwort war, die fast die Apparate sprengten, und ein andermal totes Schweigen? Wenn sich kein Experiment wiederholen ließ? Fortwährend schienen wir dicht vor dem Entziffern dieses unaufhörlich anwachsenden Meeres von Aufzeichnungen zu stehen; eigens zu diesem Zweck waren ja Elektronengehirne mit so hoher Informationswandlerleistung gebaut worden, wie bislang kein Problem sie erfordert hatte. Wirklich erhielt man gewisse Resultate. Der Ozean, die Quelle elektrischer, magnetischer und gravitativer, Impulse, schien sich in der Sprache der Mathematik zu äußern; gewisse Sequenzen seiner Stromentladungen ließen sich klassifizieren, wenn man sich der abstraktesten Zweige der irdischen Analysis und Mengenlehre bediente; es erschienen Entsprechungen zu Strukturen, wie sie aus demjenigen Teilgebiet der Physik bekannt sind, das die Stellung von Materie und Energie zueinander, von endlichen und unendlichen Größen, von Teilchen und Feldern erörtert. Dies alles ließ die Wissenschaftler zu der Überzeugung neigen, ein denkendes Monstrum vor sich zu haben, etwas wie ein millionenfach auseinandergewuchertes, den ganzen Planeten umfangendes protoplasmatisches Hirn-Meer, das die Zeit hinbringt mit gespenstisch ausgedehnten theoretischen Betrachtungen über das Wesen des Alls; all das aber, was unsere Apparate herausgreifen, das sind kleine, zufällig aufgeschnappte Bruchstücke dieses ewig in den Tiefen abrollenden, jegliche Möglichkeit unseres Begreifens überschreitenden gigantischen Monologs.
Soweit die Mathematiker. Solche Hypothesen wurden von manchen als ein Ausdruck der Geringschätzung menschlicher Möglichkeiten bezeichnet, als Kapitulation vor etwas, was wir noch nicht verstehen, was aber verstanden werden kann als Versuch, die alte Doktrin aus dem Grab hervorzuholen: "ignoramus et ignorabimus“. Andere wiederum meinten, das sei schädliches und unergiebiges Gefasel, in diesen Hypothesen der Mathematiker äußere sich die Mythologie unserer Zeit, der ein riesiges Gehirn — ob elektronisch oder plasmatisch, gleichviel — als höchstes Ziel der Existenz erscheine, als Inbegriff des Seins.
Wieder andere… aber es gab ja Legionen von Forschern und Ansichten. Im übrigen, was war schon diese ganze um „Kontaktanknüpfung“ bemühte Fachrichtung gegen andere Zweige der Solaristik, in denen insbesondere während des letzten Vierteljahrhunderts die Spezialisierung so vorangeschritten war, daß unter den Solaristen der Kybernetiker sich kaum mit dem Symmetriadologen verständigen konnte.“Wie könnt ihr euch mit dem Ozean verständigen, wenn ihr es nicht einmal mehr untereinander fertigbringt?“— fragte im Scherz einmal Veubeke, der damals in meiner Studienzeit Direktor des Instituts war; an diesem Scherz war viel Wahres.
Auch war ja der Ozean nicht von ungefähr in die Klasse Metamorpha eingereiht worden. Seine wellige Oberfläche konnte die unterschiedlichsten, mit nichts Irdischem vergleichbaren Formen aus sich hervorbringen; die Zweckbestimmtheit dieser oft heftigen Eruptionen plasmatischen „Schaffens" — ob zur Anpassung, zur Erkenntnis oder zu irgend etwas sonst — war völlig rätselhaft.
Ich stellte den Band ins Regal zurück, so schwer war er, daß ich ihn mit beiden Händen festhalten mußte, und ich dachte: unser Wissen über die Solaris, das Bibliotheken füllt, ist unnützer Ballast, ein bodenloser Sumpf von Fakten, und wir sind auf dem gleichen Fleck, wo man es vor achtundsiebzig Jahren anzuhäufen begonnen hat, eigentlich ist die Situation jetzt viel schlimmer, weil sich alle Anstrengungen dieser Jahre als vergeblich erwiesen haben.
Was wir genau wußten, das waren lauter Verneinungen. Der Ozean verwendete keine Maschinen und baute keine, obwohl es unter bestimmten Umständen so aussah, als sei er dazu fähig, er vervielfältigte nämlich Teile mancher in ihn eingetauchter Apparate, aber das tat er nur im ersten und zweiten Jahr der Forschungsarbeiten; danach ignorierte er alle diese mit benediktinischer Geduld immer wieder aufgenommenen Versuche, als hätte er an unseren Vorrichtungen und Produkten (und, wie daraus folgen würde, auch an uns…) jegliches Interesse verloren. Auch besaß er — ich setze die Liste unserer „negativen Kenntnisse“ fort — weder irgendein Nervensystem, noch Zellen, noch eine Struktur, die an die von Eiweiß erinnert hätte; nicht immer reagierte er auf Reize, selbst nicht auf die stärksten (so „ignorierte“ er zum Beispiel völlig die Katastrophe des Hilfs-Raketenschiffs der zweiten Gieseschen Expedition, das aus einer Höhe von dreihundert Kilometern auf die Planetenoberfläche abstürzte und durch nukleare Explosion seiner Atommeiler das Plasma im Umkreis von anderthalb Meilen zerstörte).
In Wissenschaftlerkreisen begann „Angelegenheit Solaris“ allmählich so zu klingen wie „verfahrene Angelegenheit“, insbesondere in den Sphären der wissenschaftlichen Administration des Instituts, wo in den letzten Jahren mehrfach die Forderung laut geworden war, die Zuwendungen für die weitere Forschungsarbeit zu kürzen. Von gänzlicher Auflassung der Station hatte bisher niemand zu sprechen gewagt; das wäre ein allzu klares Eingeständnis der Niederlage gewesen. Im übrigen äußerten manche in privaten Gesprächen, wir brauchten sonst nichts als die Strategie eines möglichst „ehrenvollen“ Rückzugs aus der „Affäre Solaris“.
Für viele jedoch, und besonders für die Jüngsten, wurde diese „Affäre“ langsam zu einer Art Probierstein für den eigenen Wert: "Im Grund genommen" — sagten sie —"geht es um höheren Einsatz, als um das Ergründen der Solaris-Zivilisation. Um uns selbst wird gespielt, um die Grenzen der menschlichen Erkenntnis.
Einige Zeit lang war die Ansicht beliebt (und wurde eifrig von der Tagespresse verbreitet), der denkende Ozean, der die ganze Solaris umspült, sei ein gigantisches Gehirn, das Jahrmillionen der Entwicklung vor unserer Zivilisation voraus habe; das sei etwas wie ein „Jogi des Kosmos“, ein Weiser, Gestalt gewordene Allwissenheit, die längst die Nichtigkeit jeglicher Betätigung begriffen habe und deshalb uns gegenüber unbedingtes Schweigen bewahre. Das war einfach unwahr, der lebende Ozean betätigt sich ja — und ob! — , nur eben anderen, nicht den menschlichen Vorstellungen gemäß; also baut er weder Städte noch Brücken, noch Flugkörper, er versucht auch nicht, den Raum zu überwinden oder zu überbrücken (manche Verfechter menschlicher Überlegenheit um jeden Preis faßten das als unschätzbaren Trumpf für uns auf), hingegen befaßt er sich mit tausendfältiger Umformung, mit „ontologischer Autometamorphose“, na, an gelehrten Fachausdrücken ist ja kein Mangel auf den Blättern der solaristischen Werke! Da andererseits einen Menschen, der sich beharrlich in alle nur möglichen Solariana vertieft, der unabweisliche Eindruck befällt, uns böten sich Bruchteile vielleicht genialer intellektueller Konstruktionen dar, planlos und sinnlos vermengt mit den Erzeugnissen vollkommenster, an Irrsinn grenzender Blödheit — so entstand denn als Antithese zu der Konzeption eines „Ozean-Jogi“ der Gedanke an einen „Ozean-Schwachsinnigen“.
Diese Hypothesen gruben eines der ältesten philosophischen Probleme wieder aus und belebten es neu: das des Bewußtseins, der Beziehung zwischen Materie und Geist. Es gehörte nicht wenig Mut dazu, erstmals — wie Duhaart es tat — dem Ozean Bewußtsein zuzusprechen. Dieses Problem, das von den Wissenschaftstheoretikern eiligst für metaphysisch erklärt wurde, gloste im Untergrund bei fast allen Diskussionen und Auseinandersetzungen. Ist Denken ohne Bewußtsein möglich? Aber kann man denn die im Ozean ablaufenden Prozesse als Denken bezeichnen? Ist ein Berg ein sehr großer Stein? Ein Planet — ein ungeheurer Berg? Man kann diese Benennungen gebrauchen, aber die neue Größenordnung bringt neue Gesetzmäßigkeiten und neue Phänomene ins Blickfeld.
Dieses Problem wurde zur Zirkel-Quadratur unserer Zeit. Jeder selbständige Denker suchte der Schatzkammer der Soiaristik seinen Beitrag einzuverleiben; Theorien häuften sich, die besagten, uns biete sich das Produkt einer Degeneration dar, einer Rückbildung, die auf die verflossene Phase „intellektueller Hochblüte“ des Ozeans gefolgt sei — dann wieder, der Ozean sei in Wahrheit ein Gewebekrebs: im Inneren der Körper einstiger Bewohner des Planeten entstanden, habe er sie sämtlich zerfressen und verschlungen, die Überreste einschmelzend zur Gestalt eines ewig dauernden, sich selbst verjüngenden, über die Zelleneinteilung hinausgewachsenen Mediums.
Im weißen Licht der Leuchtröhren, das irdischem Licht ähnlich war, räumte ich die Geräte und Bücher vom Tisch, die dort gelegen hatten, breitete auf der Kunststoff platte die Karte der Solaris aus und betrachtete sie, auf die metallenen Randleisten aufgestützt. Der lebende Ozean hatte seine Untiefen und Tiefen; seine Inseln, mit einem Anflug verwitternder Mineralien bedeckt, ließen erkennen, daß sie einst seinen Grund gebildet hatten. Regelte er auch das Hervortauchen und Untergehen der Felsformationen, die in seinem Schoß versenkt waren? Das war völlig im dunklen. Ich schaute auf die riesigen, mit verschiedenen Violett— und Blautönen bemalten Halbkugeln auf der Karte und empfand, ich weiß nicht, zum wievielten Mal im Leben, das gleiche überwältigende Staunen, das ich zum ersten Mal als Bub gefühlt hatte, als ich in der Schule von der Existenz der Solaris erfahren hatte.
Ich weiß nicht, wie es kam, daß die Umgebung samt dem in ihr harrenden Geheimnis um Gibarians Tod, ja daß selbst meine Ungewisse Zukunft mir mit einemmal unwichtig erschien, und daß ich an nichts dachte, versunken in die Betrachtung dieser jeden Menschen erschütternden Karte.
Die einzelnen Gegenden der Lebendbildung waren nach Forschern benannt, die sich ihrer Exploration gewidmet hatten. Ich musterte das Thexallsche Schlammassiv, das die äquatornahen Archipele umspült, da spürte ich jemandes Blick auf mir.
Immer noch stand ich über die Karte gebeugt, aber ich sah sie nicht mehr, ich war wie gelähmt. Die Tür hatte ich direkt vor mir; sie war mit den Kisten verstellt, und davor hatte ich noch ein Schränkchen geschoben. — Das ist irgendein Automat dachte ich, obwohl vorhin keiner im Zimmer gewesen war, und keiner unbemerkt von mir hätte hereinkommen können. Die Haut auf Genick und Rücken begann mich zu brennen; das Gefühl, daß dieser Blick unbeweglich auf mir lastete, wurde unerträglich. Ich zog den Kopf ein, und es fiel mir nicht auf, daß ich mich zugleich immer fester gegen den Tisch stemmte: er begann langsam über den Fußboden zu rutschen. Dieser Ruck wirkte auf mich wie eine Befreiung. Ich wandte mich jäh um.
Das Zimmer war leer. Vor mir klaffte nur schwarz das große halbrunde Fenster. Die Empfindung wich nicht. Die Finsternis starrte mich an, gestaltlos, riesig, augenlos, ohne Grenzen. Kein Stern erhellte das Dunkel hinter den Scheiben. Ich zog die lichtdichten Vorhänge zu. Noch keine Stunde lang war ich in der Station, aber ich begann schon zu verstehen, warum hier Fälle von Verfolgungswahn vorgekommen waren. Instinktiv verknüpfte ich das mit dem Tod Gibarians. So wie ich ihn kannte, hatte ich bisher gedacht, ihn könnte nichts aus dem geistigen Gleichgewicht bringen. Nun war ich dessen nicht mehr so sicher.
Ich stand mitten im Zimmer, neben dem Tisch. Mein Atem beruhigte sich, ich spürte, wie der Schweiß auskühlte, der mir auf die Stirn getreten war. Woran hatte ich nur eben gedacht? Stimmt — an die Automaten. Daß ich nicht einen auf dem Korridor oder in den Zimmern antraf, war sehr merkwürdig. Wohin waren die alle verschwunden? Der einzige, der mir — auf Distanz — untergekommen war, gehörte zu der mechanischen Flughafenwartung. Und die anderen?
Ich schaute auf die Uhr. Eigentlich war es Zeit, daß ich zu Snaut ging.
Ich ging hinaus. Unter der Decke entlanglaufende Glimmröhren beleuchteten den Korridor ziemlich schwach. Ich schritt an zwei Türen vorbei, dann kam ich zu der, worauf Gibarians Name stand. Ich blieb lang davorstehen. Stille erfüllte die Station. Ich faßte die Klinke. Eigentlich wollte ich gar nicht dort hineingehen. Sie senkte sich, die Tür schob sich einen Zoll weit auf, ein Spalt entstand, einen Augenblick lang schwarz, dann schaltete sich dort das Licht ein. Jetzt konnte mich jeder sehen, der etwa durch den Korridor kam. Schnell überschritt ich die Schwelle und schloß die Tür hinter mir, lautlos und fest. Dann wandte ich mich um.
Ich stand so, daß mein Rücken fast die Tür berührte. Das Zimmer war größer als meines und hatte auch ein Panoramafenster; drei Viertel der Scheibe verdeckte eine zweifellos von der Erde mitgebrachte, nicht zum Stationsinventar gehörige Gardine mit feinem blauem und rosarotem Blümchenmuster. Die Wände entlang reihten sich Bücherregale und Schränkchen, alle mit silbrig glänzendem Lackanstrich in sehr hellem Grün. Ihr Inhalt, in ganzen Stapeln auf den Fußboden herausgewälzt, türmte sich zwischen den Schemeln und Lehnstühlen auf. Dicht vor mir sperrten zwei „marschierende Tischlein“ den Durchgang, umgeworfen und teilweise in die Raufen von Zeitschriften eingebohrt, die aus geplatzten Mappen quollen. Über aufgeschlagene Bücher, worin die Blätter flatterten, ergossen sich die Flüssigkeiten aus zersplitterten Kolben und Flaschen mit eingepaßten Stöpseln; das meiste war so dickwandig, daß es bei einem gewöhnlichen Fall auf den Fußboden, selbst aus beträchtlicher Höhe, niemals zerbrochen wäre. Beim Fenster lag umgestürzt der Schreibtisch samt der zertrümmerten Arbeitslampe mit Auslegerarm; der Hocker lag davor, und zwei seiner Beine wühlten sich in die halb heraushängenden Schubladen. Eine wahre Flut von Zetteln, Papieren, handbeschriebenen Bögen bedeckte den ganzen Fußboden. Ich erkannte Gibarians Schrift und bückte mich nach ihnen. Beim Aufheben der losen Blätter bemerkte ich, daß meine Hand nicht wie bisher einen einfachen, sondern einen doppelten Schatten warf.
Ich wandte mich um. Als hätte die rosa Gardine oben Feuer gefangen, flammte darin eine scharfe Linie verheerend blauer Glut, die sich mit jedem Augenblick weiter ausbreitete. Ich zerrte den Stoff zur Seite — blendender Brand fraß sich in die Augen. Er nahm ein Drittel des Horizonts ein. Ein Gewirr gespenstisch zerdehnter langer Schatten lief durch die Wellentäler auf die Station zu. Das war der Morgen. In der Zone, wo die Station sich befand, erschien am Himmel nach einstündiger Nacht die zweite, blaue Sonne des Planeten. Der selbsttätige Ausschalter löschte die Deckenlichter, als ich zu den liegengelassenen Papieren zurückkehrte. Ich traf auf die knappe Beschreibung eines Experiments, das vor drei Wochen geplant war: Gibarian beabsichtigte da, das Plasma der Einwirkung sehr harter Röntgenstrahlen auszusetzen. Dem Text entnahm ich, daß er für Sartorius bestimmt war, der den Versuch organisieren sollte; ich hielt eine Kopie in den Händen. Die weißen Papierbögen begannen mich zu blenden. Der Tag, der anbrach, war anders als der vorige. Unter dem orangefarbenen Himmel der erkaltenden Sonne war der Ozean — Tinte mit blutigen Glanzlichtern — fast immer von schmutzigrosa Nebel überlagert, der Wellen, Wolken und Firmament in eins verschmolz. All das war nun verschwunden. Sogar durch den rosa Stoff gefiltert, flammte dieses Licht wie der Brenner einer starken Quarzlampe. Meine braungebrannten Hände erschienen fast grau. Das ganze Zimmer verwandelte sich: alles, was rote Nuancen hatte, wurde braun und verwelkte ins Leberfarbene, dafür traten weiße, grüne und gelbe Gegenstände so grell hervor, daß sie eigenes Licht auszustrahlen schienen. Ich kniff die Augen ein, spähte durch den Vorhangspalt: der Himmel war ein weißes Feuermeer, und darunter flimmerte und zuckte es wie flüssiges Metall. Ich preßte die Lider zusammen, im Gesichtsfeld weiteten sich rote Kreise aus. Auf der Konsole des Waschbeckens (sein Rand war zerschmettert) entdeckte ich dunkle Augengläser, die fast das halbe Gesicht deckten, und setzte sie auf. Der Fenstervorhang loderte jetzt wie eine Natriumflamme. Ich las weiter, klaubte Blätter vom Boden auf und ordnete sie auf dem einzigen nicht umgeworfenen Tischlein. Ein Teil des Textes fehlte.
Die Reihe kam an Berichte über die bereits durchgeführten Experimente. Ich erfuhr, daß der Ozean an einem Punkt vierzehnhundert Meilen nordöstlich der gegenwärtigen Position vier Tage lang bestrahlt worden war. Das alles zusammen verblüffte mich, denn der Einsatz von Röntgenstrahlen war wegen ihrer zerstörenden Wirkung durch ein UNO-Abkommen untersagt, und ich war sicher, daß sich niemand um die Erlaubnis zu diesen Versuchen an die Erde gewandt hatte. Einmal, als ich den Kopf hob, erblickte ich im Spiegel der halb geöffneten Schranktür mein eigenes Bild, ein totenweißes Gesicht mit schwarzen Gläsern. Das Zimmer sah unheimlich aus, in weißen und blauen Flammen, aber nach einigen Minuten war ein langgezogener Knirschlaut zu hören, und von außen schoben sich hermetische Klappen vor die Fenster; der Innenraum verdunkelte sich, und das künstliche Licht schaltete sich ein, jetzt merkwürdig matt. Nur die Temperatur stieg fortwährend, bis der gleichmäßige Ton, der aus den Leitungen der Klimaanlage kam, wie übersteigertes Jaulen klang. Die Kühlapparaturen der Station arbeiteten mit voller Kraft. Trotzdem wuchs die tote Hitze immer noch an.
Schritte drangen bis zu mir. Jemand ging durch den Korridor. Zweimal trat ich geräuschlos auf, und schon war ich bei der Tür. Die Schritte wurden langsamer und verstummten. Derjenige, der da gegangen war, stand draußen vor der Tür. Die Klinke senkte sich allmählich; instinktiv, ohne zu denken, faßte ich sie auf meiner Seite und hielt sie fest. Der Druck verstärkte sich nicht, aber er ließ auch nicht nach. Dieser Jemand auf der anderen Seite der Tür verhielt sich ebenso lautlos, womöglich verblüfft. Wir hielten die Klinke ein ganz schönes Weilchen lang. Dann schnellte sie mir plötzlich entlastet in der Hand hoch, und ein schwaches Rascheln zeigte an, daß der andere fortging. Ich stand noch und horchte, aber alles war still.