Der Neue

Um neunzehn Uhr Bordzeit stieg ich, vorbei an den Leuten, die den Schacht umstanden, über die Metallsprossen ins Innere der Kapsel hinab. Drinnen war gerade genug Platz, um die Ellbogen wegzuspreizen. Sobald ich das Ende in die Leitung geschraubt hatte, die aus der Wand hervorstand, blähte sich der Raumanzug auf, und von nun an konnte ich nicht die kleinste Bewegung mehr ausführen. Ich stand — oder hing vielmehr — im Luftbett, mit der Metallhülle in eins verfugt.

Als ich den Blick hob, sah ich durch die vorgewölbte Scheibe die Wände des Schachtes und weiter oben Moddards darübergeneigtes Gesicht. Es verschwand sofort, und Finsternis brach herein, denn von oben wurde der schwere Schutzkegel aufgesetzt. Ich hörte den achtmal wiederholten Pfiff der Elektromotoren, die die Schrauben festzogen. Dann — das Zischen der Luft, die in die Amortisatoren eingelassen wurde. Das Auge gewöhnte sich an die Finsternis. Schon sah ich den blaßgrünen Umriß des einzigen Kontrollanzeigers.

— Fertig, Kelvin? — ertönte es in den Kopfhörern.

— Fertig, Moddard — antwortete ich.

— Sorg dich um nichts. Die Station empfängt dich dann — sagte er. — Glückliche Reise! Ehe ich zum Antworten kam, knirschte etwas über mir, und die Kapsel erbebte. Instinktiv spannte ich die Muskeln an, aber es geschah weiter nichts.

— Wann geht es los? — fragte ich und hörte etwas rascheln, so, als rieselten Körnchen von feinstem Sand auf eine Membran.

— Du fliegst schon, Kelvin. Alles Gute! — antwortete Moddards nahe Stimme. Bevor ich noch daran glaubte, tat sich gerade vor meinem Gesicht ein breiter Spalt auf, durch den ich die Sterne erblickte. Vergebens bemühte ich mich, Alpha des Wassermanns aufzufinden, zu dem der Prometheus entflog. Der Himmel in dieser Gegend der Galaxis sagte mir nichts, ich kannte auch nicht eine Konstellation, im schmalen Fenster war andauernd funkenblitzender Staub. Ich wartete, wann sich der erste Stern eintrüben sollte. Ich gewahrte es nicht. Sie wurden nur schwächer und schwanden, verschwammen im immer röteren Grund. Ich begriff, daß ich schon in den äußersten Schichten der Lufthülle war. Steif, in die pneumatischen Polster eingemummt, konnte ich nur geradeaus schauen. Noch immer war kein Horizont da. Ich flog und flog und spürte es gar nicht, nur daß meinen Körper langsam, schleichend, Gluthitze überflutete. Draußen regte sich leises, durchdringendes Zwitschern wie von Metall über nasses Glas. Ohne die Ziffern, die im Fensterchen des Kontrollanzeigers sprangen, hätte ich mir gar nicht klargemacht, wie jäh ich fiel. Sterne waren nicht mehr da. Rostrote Helle füllte das Sichtfenster aus. Ich hörte den eigenen Puls schwer gehen, das Gesicht brannte, im Nacken spürte ich den kalten Luftzug von der Klimaanlage; ich bedauerte, daß es mir nicht geglückt war, den Prometheus noch zu sehen — er muß schon außer Sichtweite gewesen sein, als die automatische Vorrichtung das Sichtfenster öffnete.

Die Kapsel zuckte einmal und noch einmal, vibrierte unerträglich, dieses Zittern ging durch alle Isolierhüllen, durch die Luftpolster, und drang tief in meinen Körper— der blaßgrüne Umriß des Kontrollanzeigers verwischte sich. Ich betrachtete das ohne Angst. Nicht um am Ziel zugrundezugehen kam ich von so weit hergeflogen.

— Station Solaris sagte ich. — Station Solaris, Station Solaris! Tut irgendwas. Mir scheint, ich verliere die Stabilität. Station Solaris, hier ein Anflieger. Empfang.

Und wieder verpaßte ich einen wichtigen Moment, das Auftauchen des Planeten. Riesig, flach breitete er sich aus; den Ausmaßen der Streifen auf seiner Oberfläche konnte ich entnehmen, daß ich noch weit war. Oder eigentlich — hoch, denn ich hatte schon diese nicht festsetzbare Grenze hinter mir, wo aus dem Abstand von einem Himmelskörper

Höhe wird. Ich fiel. Fortwährend fiel ich. Jetzt spürte ich das, sogar als ich die Augen schloß. Ich öffnete sie gleich wieder, denn ich wollte soviel wie möglich sehen.

Ich wartete einigemal zehn Sekunden Stille ab, dann rief ich neuerlich. Auch diesmal erhielt ich keine Antwort. In den Kopfhörern wiederholte sich salvenweise das Geknatter atmosphärischer Entladungen. Seinen Hintergrund bildete ein Rauschen, so dumpf und tief, als wäre das die eigene Stimme des Planeten. Den orangefarbenen Himmel im Sichtfenster überzog eine Trübung. Sein Glas wurde dunkel; instinktiv krampfte ich mich zusammen, so gut es meine pneumatischen Bandagen zuließen, bis ich in der nächsten Sekunde begriff: das waren Wolken. Wie hochgeblasen, sauste die Wolkenbank nach oben davon. Ich sank weiter, bald in der Sonne, bald im Schatten, die Kapsel drehte sich um eine senkrechte Achse, und die riesige, wie aufgeschwollene Sonnenscheibe trieb rhythmisch vor meinem Gesicht vorbei, von links erscheinend und rechts untergehend. Auf einmal, durch all das Rauschen und Geknatter, begann mir direkt ins Ohr eine ferne Stimme zu plappern:

— Station Solaris an Anflieger, Station Solaris an Anflieger. Alles in Ordnung. Anflieger unter Kontrolle der Station. Station Solaris an Anflieger, vorbereiten zur Landung zum Zeitpunkt null, ich wiederhole, vorbereiten zur Landung zum Zeitpunkt null, Achtung, Anfang. Zweihundertfünfzig, zweihundertneunundvierzig, zweihundertachtundvierzig…

Die einzelnen Wörter waren getrennt durch Bruchteile von Miau-Tönen, Anzeichen, daß es kein Mensch war, der sprach. Das war zumindest seltsam. Normalerweise rennt alles, was lebt, auf den Flughafen, wenn jemand Neuer ankommt, noch dazu direkt von der Erde. Ich konnte jedoch nicht länger darüber nachdenken, denn der gewaltige Kreis, den die Sonne rund um mich zog, bäumte sich hoch mitsamt der Ebene, auf die ich zuflog; dieser Neigung folgte eine zweite, in die Gegenrichtung; ich schwankte wie das Gewicht eines riesigen Pendels, und gegen den Schwindel ankämpfend, erblickte ich auf dem wie eine Wand hochstehenden, von schmutziglila und schwärzlichen Streifen gebänderten Planetengefilde ein winziges Schachbrett aus weißen und grünen Pünktchen — die Markierung der Station. Zugleich riß sich etwas mit Geknatter von der Außenseite der Kapsel los: das lange Geschirr des Ringfallschirms, der heftig knisterte; in diesem Geräusch lag etwas unaussprechlich Irdisches — erstmals, nach so vielen Monaten, das Rauschen von wirklichem Wind.

Alles begann nun sehr schnell zu gehen. Bisher hatte ich nur gewußt, daß ich fiel. Jetzt sah ich es. Das weiß-grüne Schachbrett wuchs überstürzt, schon sah ich, es war aufgemalt auf einem länglichen, walfischhaften, silbrig glänzenden Rumpf mit seitlich wegstehenden Nadeln von Funkmeßgeräten, mit Spalieren dunklerer Fensteröffnungen, und dieser metallene Koloß ruhte nicht auf der Oberfläche des Planeten, sondern hing über ihr und zog über tintig schwarzen Grund den eigenen Schatten mit, einen elliptischen Fleck noch tieferer Schwärze. Gleichzeitig gewahrte ich die violett angelaufenen Furchen des Ozeans, die schwache Bewegung zeigten, zugleich stiegen die Wolken nach oben fort, am Saum von blendendem Scharlach umfaßt, der Himmel zwischen ihnen wurde fern und flach, bräunlich orangefarben, und alles verwischte sich: ich geriet ins Schlingern. Bevor ich zum Rufen kam, brachte ein kurzer Schlag die Kapsel in senkrechte Lage zurück; im Sichtfenster funkelte in quecksilbrigem Licht, gewellt bis an den rauchigen Horizont, der Ozean; die knarrenden Leinen und Ringe des Fallschirms hakten sich plötzlich los und flogen über den Wellen dahin, vom Wind getragen, und die Kapsel schaukelte weich, mit dieser eigentümlichen verlangsamten Bewegung, wie gewöhnlich in einem künstlichen Kraftfeld, und senkte sich hinunter. Das letzte, was ich noch sehen konnte, waren die gegitterten Fliegerkatapulte und zwei wohl etliche Stock hoch aufragende Spiegel fein durchbrochener Radioteleskope. Etwas stoppte die Kapsel mit dem durchdringenden Laut von Stahl, der elastisch gegen Stahl schlägt, etwas öffnete sich unter mir, und mit einem gedehnten, schnaufenden Seufzer beendete die metallene Nußschale, in der ich aufrecht feststeckte, ihre hundertachtzig Kilometer lange Reise.

— Station Solaris. Null und null. Landung beendet. Ende — vernahm ich die tote Stimme der Kontrollvorrichtung. Mit beiden Händen (ich spürte einen unbestimmten Druck auf der Brust, und die Eingeweide wurden als unangenehme Last spürbar) faßte ich den Griff hinter meinen Schultern und trennte die Kontakte. Die grüne Aufschrift ERDE leuchtete auf, und die Wand der Kapsel öffnete sich; das pneumatische Bett stieß mich leicht in den Rücken, so daß ich, um nicht zu fallen, einen Schritt vorwärts machen mußte.

Mit leisem Zischen, fast wie mit einem resignierten Seufzer, verließ die Luft die Windungen des Raumanzugs. Ich war frei.

Ich stand unter einem silbrigen, wie ein Kirchenschiff hohen Trichter. Die Wände herab liefen Bündel farbiger Rohre und verschwanden in kleinen runden Schächten. Ich wandte mich um. Die Ventilationskanäle röhrten und sogen die Restchen giftiger Planetenatmosphäre ein, die während der Landung hiereingedrungen waren. Leer, wie ein geplatzter Kokon, stand die zigarrenförmige Kapsel auf einem Becken, das in eine stählerne Erhöhung eingelassen war. Die Außenbleche waren schmutzigbraun verrußt. Ich ging eine kleine Rampe hinab. Danach war auf das Metall eine rauhe Plastikschicht aufgespritzt. An den Stellen, wo gewöhnlich die fahrbaren Raketenheber entlangrollten, war sie bis auf den nackten Stahl abgewetzt. Auf einmal verstummten die Gasverdichter der Ventilatoren, und völlige Stille trat ein. Ich schaute ein wenig hilflos umher, wartete auf das Auftauchen irgendeines Menschen, aber noch immer kam niemand. Nur ein Neonpfeil wies flammend auf ein lautlos gleitendes Fließband. Ich betrat es. Das Gewölbe der Halle verlief in einer schönen Parabel-Linie nach unten und ging in die Röhre des Korridors über. In seinen Nischen türmten sich Stöße von Flaschen für komprimierte Gase, von Tanks, Ringfallschirmen, Kisten, alles in Unordnung hingeschmissen, wie es kam. Auch das gab mir zu denken. Das Fließband endete bei einer runden Erweiterung des Korridors. Hier herrschte noch größere Unordnung. Unter einem Berg Blechkannen verströmte eine Pfütze öliger Flüssigkeit. Ein unangenehmer, starker Geruch erfüllte die Luft. Nach verschiedenen Seiten gingen Schuhspuren, deutlich abgedrückt in diesem klebrigen Saft.

Zwischen den Blechbehältern kugelten Schlangen weißer Fernschreiberstreifen, zerrissene Papiere und Müll, das sah aus wie aus den Kabinen herausgefegt. Und wieder leuchtete ein grüner Anzeiger auf und verwies mich zur mittleren Tür. Dahinter verlief ein so enger Korridor, daß darin kaum zwei Leute aneinander vorbei konnten. Licht gaben die oberen Fenster, gegen den Himmel gerichtet, mit linsenartigen Glasscheiben. Noch eine Tür, im Schachbrettmuster weiß und grün gestrichen. Sie stand einen Spalt weit offen. Ich trat ein. Die halbkugelförmige Kabine hatte ein großes Panoramafenster; in ihm flammte der nebelverhängte Himmel. Unten verschoben sich lautlos die schwärzlichen Hügel der Wellen. In den Wänden waren lauter geöffnete Schränkchen. Sie waren angefüllt mit Instrumenten, Büchern, Trinkgläsern mit eingetrocknetem Bodensatz, verstaubten Thermosflaschen. Auf dem schmutzigen Fußboden standen fünf oder sechs mechanische» marschierende Tischlein», dazwischen einige Lehnsessel, schlaff, denn die Luft war aus ihnen ausgelassen. Nur einer war aufgeblasen, mit zurückgebogener Lehne. In ihm saß ein kleiner, schmächtiger Mensch mit sonnverbranntem Gesicht. Die Haut schälte sich ihm in ganzen Fetzen von der Nase und den Jochbeinen. Ich kannte ihn. Das war Snaut, Gibarians Stellvertreter, ein Kybernetiker. Im solaristischen Almanach hatte er seinerzeit ein paar recht originelle Artikel veröffentlicht. Gesehen hatte ich ihn noch nie. Er trug ein Netzhemd, bei dem die weißen Haare auf der flachen Brust einzeln durch die Maschen hervorschlüpften, und eine einstmals weiß gewesene, auf den Knien fleckige und von Chemikalien verätzte Leinenhose mit zahlreichen Taschen wie bei einem Monteur. In den Händen hielt er eine Plastikbirne, so eine, woraus man auf Raumschiffen ohne künstliche Gravitation trinkt. Er schaute mich an, wie von blendendem Licht geschockt. Die Birne entfiel den gelockerten Fingern und hüpfte ein paarmal nach Art der Luftballons. Ein wenig von einer durchsichtigen Flüssigkeit rann heraus. Langsam wich ihm alles Blut aus dem Gesicht. Ich war zu verblüfft, um etwas zu äußern, und die schweigende Szene dauerte an, bis seine Angst mich irgendwie auf unfaßliche Weise ansteckte. Ich machte einen Schritt. Und er duckte sich im Lehnsessel.

— Snaut… — flüsterte ich. Er zuckte, wie unter einem Hieb. Schaute mich mit unbeschreiblichem Abscheu an, krächzte hervor:

— Ich kenn dich nicht, ich kenn dich nicht, was willst du…?

Die ausgeschüttete Flüssigkeit verdunstete schnell. Ich spürte den Geruch von Alkohol. Trank der? War er betrunken? Aber warum fürchtete er sich so? Ich stand immer noch in der Mitte der Kabine. Die Knie hatte ich weich, und die Ohren wie mit Watte verstopft. Den Druck des Fußbodens unter den Sohlen empfand ich als etwas noch nicht völlig Sicheres. Jenseits der gebogenen Fensterscheibe bewegte sich rhythmisch der Ozean. Snaut wandte die blutunterlaufenen Augen nicht von mir. Die Angst schwand aus seinem Gesicht, aber was nicht verschwand, war unsäglicher Ekel.

— Was hast du…? fragte ich halblaut. — Bist du krank?

— Sorgst du dich… — sagte er dumpf. — Aha. Sorgen wirst du dich, was? Aber warum um mich? Ich kenn dich nicht.

— Wo ist Gibarian? — fragte ich. Eine Sekunde lang blieb ihm die Luft weg, seine Augen wurden wieder glasig, etwas strahlte in ihnen auf und verlosch.

— Gi… giba — stotterte er — nein! Nein!!!

Er schüttelte sich in lautlosem, idiotischem Gekicher, das plötzlich aussetzte.

— Zu Gibarian bist du gekommen…? — sagte er fast ruhig. — Zu Gibarian? Was willst du mit ihm machen?

Er schaute mich an, als hätte ich plötzlich aufgehört, für ihn gefährlich zu sein; in seinen Worten und noch mehr in ihrem Tonfall lag etwas wie gehässige Beleidigung.

— Was sagt du da… — stammelte ich ganz benebelt. — Wo ist er? Er war starr.

— Das weißt du nicht…?

Er ist betrunken — dachte ich. Sinnlos betrunken. Mich packte wachsender Zorn. Eigentlich hätte ich weggehen sollen, aber mir riß die Geduld.

— Reiß dich zusammen! — donnerte ich. — Woher kann ich wissen, wo er ist, wenn ich den Moment erst eingeflogen bin! Was ist mit dir los, Snaut!!!

Die Kinnlade klappte ihm herab. Wieder blieb ihm einen Moment lang der Atem weg, aber irgendwie anders, ein plötzlicher Glanz erschien in den Augen. Mit zitternden Händen faßte er die Armlehnen des Sessels und erhob sich mühsam, daß die Gelenke knackten.

— Was? — sagte er fast ernüchtert. — Eingeflogen? Von wo bist du eingeflogen?

— Von der Erde — antwortete ich wütend. — Vielleicht hast du schon von ihr gehört? Sieht aus, als hättest du nicht!

— Von der… lieber Himmel… so bist du also — Kelvin?!

— Ja. Was schaust du so? Was ist daran so merkwürdig?

— Nichts. — sagte er und klapperte schnell mit den Liddeckeln.

— Nichts.

Er rieb sich die Stirn.

— Kelvin, entschuldige, das ist nichts, weißt du, einfach die Überraschung. Ich war nicht darauf gefaßt.

— Was heißt du warst nicht gefaßt? Ihr habt doch vor Monaten die Nachricht bekommen, und Moddard hat heute noch telegrafiert, von Bord des Prometheus…

— Ja, ja… gewiß, bloß, siehst du, hier herrscht ein gewisser… Wirrwarr.

— Allerdings — antwortete ich trocken. — Das ist schwer zu übersehen.

Snaut wanderte um mich herum, als überprüfte er das Aussehen meines Raumanzugs, des gewöhnlichsten von der Welt, mit dem Zaumzeug von Leitungen und Kabeln auf der Brust. Hustete ein paarmal. Berührte die knochige Nase.

— Vielleicht willst du ein Bad nehmen…? Das wird dir guttun. Die blaue Tür, auf der drüberen Seite.

— Danke. Ich kenne den Plan der Station.

— Vielleicht hast du Hunger…?

— Nein. Wo ist Gibarian?

Er trat ans Fenster, als hätte er meine Frage nicht gehört. Den Rücken zu mir gewandt, sah er wesentlich älter aus. Das kurzgeschorene Haar war weiß, den sonnverbrannten Nacken zeichneten Falten, tief wie Schnitte. Vor dem Fenster glitzerten die großen Kämme der Wellen, die sich so langsam hoben und senkten, als sollte der Ozean gerinnen. Beim Hinschauen gewann man den Eindruck, die Station verschiebe sich eine Spur seitwärts, als ob sie von einem unsichtbaren Untersatz glitte. Dann kehrte sie ins Gleichgewicht zurück und ging mit ebenso träger Neigung nach der anderen Seite. Aber das war wohl Täuschung. Fetzen schleimigen Schaums in der Farbe von Blut sammelten sich in den Kesseln zwischen den Wellen. Einen Augenblick lang spürte ich einen flauen Druck in der Magengrube. Die trockene Ordnung an Bord des Prometheus erschien mir als etwas Wertvolles, unwiederbringlich Verlorenes.

— Hör zu… — rührte sich unverhofft Snaut — momentan bin nur ich… — Er wandte sich um. Rieb sich nervös die Hände. — Du wirst dich mit meiner Gesellschaft zufriedengeben müssen. Vorläufig. Sag Ratz zu mir. Du kennst mich nur vom Foto, aber das macht nichts, alle sagen so. Ich fürchte, dagegen ist nichts zu wollen. Wenn einer im übrigen Eltern mit so kosmischen Ambitionen gehabt hat, wie ich, dann klingt Ratz erst so richtig…

— Wo ist Gibarian? — fragte ich hartnäckig noch einmal. Er blinzelte.

— Tut mir leid, daß ich dich so empfangen habe. Das… ist nicht nur meine Schuld. Ich hab ganz vergessen, hier hat sich viel abgespielt, weißt du…

— Ach, in Ordnung — antwortete ich. — Genug davon. Also was ist mit Gibarian? Er ist nicht in der Station? Er ist irgendwohin geflogen?

— Nein — antwortete er. Schaute in den Winkel, der mit Kabelspulen vollgestellt war. — Er ist nirgendshin geflogen. Und wird nicht fliegen. Dadurch eben… unter anderem…

— Was? — fragte ich. Immer noch waren mir die Ohren verstopft, und ich glaubte schlechter zu hören. — Was soll das heißen? Wo ist er?

— Du weißt es eh schon — sagte er in ganz anderem Ton. Sah mir kalt in die Augen, daß mich ein Frösteln überlief. Vielleicht war er auch betrunken, aber er wußte, was er sagte.

— Da war was…?

— Da war was.

— Unfall?

Er nickte. Er bejahte nicht nur, er hieß es auch gut, wie ich reagierte.

— Wann?

— Heute vor Tag.

Merkwürdig, ich verspürte keinen Schock. Dieser ganze kurze Austausch einsilbiger Fragen und Antworten beruhigte mich eher durch seine Sachlichkeit. Ich bildete mir ein, daß ich Snauts zuvor unverständliches Verhalten jetzt schon begriff.

— Wie?

— Zieh dich um, räum die Sachen ein und komm wieder her… in… sagen wir, in einer Stunde.

Ich zauderte einen Moment. — Gut.

— Wart — sagte er, als ich mich zur Tür wandte. Er schaute mich eigentümlich an. Ich sah: was er sagen wollte, das wollte ihm nicht über die Lippen.

— Wir waren drei, und jetzt mit dir sind wir wieder drei. Kennst du Sartorius?

— Wie dich, vom Foto her.

— Er ist oben im Laboratorium, und ich nehme nicht an, daß er vor der Nacht von dort herauskommt, aber… jedenfalls erkennst du ihn. Wenn du sonst jemanden sehen solltest, verstehst du, nicht mich und nicht Sartorius, verstehst du, dann…

— Was, dann?

Ich wußte nicht, ob ich träumte. Vor dem Hintergrund der schwarzen Wellen, die im Licht der sinkenden Sonne blutig glitzerten, setzte ersieh in den Lehnsessel, ließ den Kopf hängen wie zuvor und schaute zur Seite, auf eine Spule mit aufgewickeltem Kabel.

— Dann… mach gar nichts.

Ich brauste auf. — Wen kann ich sehen? Ein Gespenst?!

— Ich verstehe dich. Du denkst, ich bin verrückt geworden. Nein. Ich bin nicht verrückt geworden. Ich kann dir das nicht anders sagen… vorläufig. Im übrigen, vielleicht… geschieht gar nichts. Jedenfalls denk daran. Ich hab dich gewarnt.

— Wovor!? Wovon redest du?

Beherrsch dich — er redete hartnäckig seines. — Benimm dich, wie wenn… sei auf alles gefaßt. Das ist unmöglich, ich weiß. Versuch es trotzdem. Das ist der einzige Ausweg. Sonst weiß ich keinen.

— Aber WAS werde ich sehen!!! — ich schrie fast. Kaum hielt ich mich davor zurück, ihn an den Schultern hochzureißen und tüchtig zu schütteln, wie er so das aß, in den Winkel starrte, mit diesem erschöpften sonnverbrannten Gesicht, und mit sichtlicher Anstrengung jedes einzelne Wort aus sich herauswürgte.

— Ich weiß nicht. In gewissem Sinne hängt das von dir ab.

— Halluzinationen?

— Nein. Das ist — real. Nicht… attackieren. Denk daran.

— Was sagst du da?! — äußerte ich, und die Stimme war nicht meine.

— Wir sind nicht auf der Erde.

— Polytheria? Aber die sind überhaupt nicht menschenähnlich! — rief ich. Ich wußte nicht, was ich tun sollte, um ihn herauszureißen aus diesem Starren auf einen Punkt, wo er eine das Blut in den Adern einfrierende Unsinnigkeit herauszulesen schien.

— Deshalb ist es eben so furchtbar — sagte er leise. — Denk daran: nimm dich in acht!

— Was ist mit Gibarian geschehen? Er antwortete nicht.

— Was macht Sartorius?

— Komm in einer Stunde.

Ich wandte mich um und ging. Während ich die Tür öffnete, schaute ich noch einmal zu ihm hin. Ersaß, das Gesicht in den Händen, klein, geduckt, in der fleckigen Hose. Erst jetzt bemerkte ich: an den Knöcheln beider Hände hatte er verkrustetes Blut.

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