Am nächsten Tag, als ich vom Mittagessen zurückkam, fand ich auf dem Tisch beim Fenster einen Zettel von Snaut. Er berichtete, Sartorius sehe von der Arbeit am Annihilator vorläufig ab, um als letzten Versuch die Belichtung des Ozeans durch ein Bündel harter Strahlen durchzuführen.
— Liebling — sagte ich — ich muß zu Snaut gehen.
Der rote Sonnenuntergang flammte in den Scheiben und teilte das Zimmer in zwei Teile. Wir waren in bläulichem Schatten. Außerhalb seiner Grenze erschien alles wie aus Kupfer, man konnte meinen, jedes Buch müßte klingen, wenn es vom Regal fiele.
— Es handelt sich um dieses Experiment. Bloß weiß ich nicht, wie wir das machen. Lieber wäre mir, verstehst du… — ich verstummte.
— Du mußt dich nicht rechtfertigen, Kris. Ich möchte ja so… Wenn das nicht lange dauert?
— Ein bißchen dauern muß es — sagte ich. — Hör zu, und wenn du mitgehst und im Korridor wartest?
— Gut. Aber was ist, wenn ich es nicht aushalte?
— Wie ist das eigentlich? — fragte ich und knüpfte schnell an: — Ich frage nicht aus Neugier, verstehst du, aber vielleicht kannst du das selbst in die Gewalt bekommen, sobald du dich damit auskennst.
— Das ist Angst — sagte sie. Sie erbleichte etwas. — Ich weiß nicht einmal zu sagen, was ich fürchte, denn eigentlich fürchte ich mich nicht, sondern, sondern verliere mich. Im letzten Augenblick empfinde ich noch solche Scham, ich kann dir gar nicht sagen, wie. Und dann nichts mehr. Deshalb dachte ich, das sei irgendeine Krankheit… — endigte sie leiser und schauderte.
— Vielleicht ist das nur hier so, in dieser verdammten Station — sagte ich. — Ich für mein Teil werde alles tun, damit wir sie schleunigst verlassen.
— Du meinst, daß das möglich ist? — sie öffnete die Augen.
— Warum denn nicht? Ich bin hier letzten Endes nicht angekettet… im übrigen hängt das auch davon ab, was ich mit Snaut vereinbaren werde. Was glaubst du, kannst du lange allein sein?
— Das kommt drauf an… — sagte sie langsam. Sie senkte den Kopf. — Wenn ich deine Stimme höre, werde ich es wohl schaffen.
— Lieber wäre mir, du hörtest nicht, was wir reden werden. Nicht daß ich etwas vor dir zu verbergen hätte, aber ich weiß nicht, ich kann nicht wissen, was Snaut sagen wird.
— Sprich nicht weiter. Ich verstehe. Gut… Ich werde mich so hinstellen, daß ich nur den Klang deiner Stimme höre. Das wird mir genügen.
— Dann rufe ich ihn jetzt vom Arbeitsraum aus an. Ich lasse die Tür offen. — Harey nickte. Ich ging durch die Wand roter Sonnenstrahlen in den Korridor hinaus; der Kontrast ließ ihn fast schwarz erscheinen, trotz der künstlichen Beleuchtung. Die Tür des kleinen Arbeitsraums stand offen. Die Spiegelscherben einer Dewar-Thermosflasche auf dem Fußboden unter der Reihe großer Flüssigsauerstoffbehälter waren die letzte Spur der nächtlichen Vorfälle. Der kleine Bildschirm erhellte sich, als ich den Hörer abgenommen und die Nummer der Funkstation gewählt hatte. Dann platzte das bläuliche Lichthäutchen, das von innen her das matte Glas zu überziehen schien, und seitlich über die Lehne eines hohen Stuhls geneigt blickte Snaut mir geradewegs in die Augen.
— Grüß dich — sagte er.
— Ich habe den Zettel gelesen. Ich möchte mit dir sprechen. Kann ich kommen?
— Kannst du. Jetzt gleich? — Ja.
— Bitte. Kommst du… mit Begleitung?
— Nein.
Sein braungebranntes, mageres Gesicht mit dicken Querfalten auf der Stirn, schräg geneigt in dem vorgewölbten Glas — so, als guckte er durch die Scheibe aus einem Aquarium, das er als seltsamer Fisch bewohnte — nahm einen mehrdeutigen Ausdruck an.
— Schau, schau — sagte Snaut. — Also dann erwarte ich dich.
— Wir können gehen, Liebling — begann ich mit nicht ganz natürlicher Munterkeit und betrat die Kabine durch die roten Lichtstreifen, hinter denen ich nur Hareys Umrisse flimmern sah. Die Stimme versagte mir; Harey saß da, in den Lehnstuhl verkeilt, die Ellbogen unter den Armstützen durchgefädelt. Hatte sie nun meine Schritte zu spät gehört oder nicht schnell genug diesen entsetzlichen Krampf lockern können, um sich normal zurechtzusetzen, jedenfalls sah ich eine Sekunde lang, wie sie gegen diese unverständliche Kraft ankämpfte, die in ihr verborgen war, und blinder rasender Zorn mit daruntergemischtem Mitleid drückte mir das Herz zusammen. Wir gingen schweigend durch den langen Korridor, wir passierten seine Abschnitte, deren verschiedenfarbiger Email-Überzug nach Absicht der Architekten den Aufenthalt innerhalb der Panzerschale abwechslungsreicher gestalten sollte. Schon von weitem sah ich die aufgeklinkte Tür der Funkstation. Ein langer Streifen Rot fiel von dort in den Hintergrund des Korridors, denn auch dorthin drang die Sonne. Ich blickte zu Harey hin, die nicht einmal zu lächeln versuchte; ich sah, wie sie sich den ganzen Weg lang gesammelt auf den Kampf gegen sich selbst vorbereitete. Die nahende Anstrengung hatte ihr schon jetzt das Gesicht verändert, es war blasser und wie verkleinert. An die zwanzig Schritt vor der Tür hielt sie an, ich wandte mich ihr zu, nur mit den Fingerspitzen stupste sie mich leicht, ich solle gehen, und meine Pläne, Snaut, das Experiment, die ganze Station, das alles schien mir auf einmal nichts gegen die Qual, der Harey hier entgegenging, um sie zu bestehen. Ich fühlte mich als Schinder und wollte schon kehrtmachen, da wurde der breite, an der Wand des Korridors geknickte Sonnenstreifen von einem menschlichen Schatten verdunkelt. Schneller ausschreitend betrat ich die Kabine. Snaut war gleich jenseits der Schwelle, als strebte er mir entgegen. Die rote Sonne stand gerade hinter ihm, und das purpurne Schimmern schien von seinem weißen Haar auszustrahlen. Eine hübsche Weile lang schauten wir einander an und sagten nichts. Er studierte gleichsam mein Gesicht. Wie er dreinblickte, sah ich nicht, mich blendete das Glänzen aus dem Fenster. Ich ging um ihn herum und blieb neben dem hohen Pult stehen, von dem die biegsamen Halme der Mikrofone wegragten. Er drehte sich langsam auf derselben Stelle um und folgte mir ruhig mit den Blicken, mit dieser leichten ihm eigentümlichen Mundverzerrung, die, fast ohne sich wirklich zu ändern, bald zum Lächeln wurde und bald zu einer Grimasse der Ermüdung. Ohne mich aus den Augen zu lassen, trat er zu dem wandgroßen Metallschrank, vor dem sich zu beiden Seiten kunterbunt wie in Eile herausgeworfene Haufen von Radio-Ersatzteilen, Werkzeuge und thermische Akkumulatoren auftürmten, zog sich einen Stuhl dorthin und setzte sich, den Rücken gegen die lackierte Tür gelehnt.
Das Schweigen, das wir bislang wahrten, wurde bereits zumindest merkwürdig. Ich horchte hinein, ich konzentrierte meine Aufmerksamkeit auf die Stille, die den Korridor erfüllte, worin Harey zurückgeblieben war; aber von dort drang nicht das leiseste Rascheln herüber.
— Wann werdet ihr soweit sein? — fragte ich.
— Wir könnten sogar heute anfangen, aber die Aufzeichnung wird noch ein wenig Zeit erfordern.
— Die Aufzeichnung? Du meinst das EEG?
— Ja doch, du hast ja zugestimmt. Und? — Snaut hielt inne.
— Nein, eh nichts.
— Sprich nur, ich höre — rührte sich Snaut, als zwischen uns das Schweigen wieder anzuwachsen begann.
— Sie weiß schon… über sich — ich senkte die Stimme fast bis zum Flüstern. Er zog die Brauen hoch.
— Ja?
Ich hatte die Empfindung, er sei nicht wirklich überrascht. Warum verstellte er sich also? In einem Augenblick verging mir die Lust, zu reden, aber ich überwand mich. — Soll es Fairneß sein — dachte ich — wenn es schon sonst nichts ist.
— Etwas zu ahnen begann sie, scheint's, seit unserem Gespräch in der Bibliothek, sie beobachtete mich, fügte eins zum anderen, dann fand sie Gibarians Tonbandgerät und hörte das Band an…
Er änderte seine Haltung nicht, lehnte noch immer am Schrank, aber in den Augen zeigte sich ein schwaches Funkeln. Ich stand beim Pult und hatte gerade vor mir den Flügel der Tür, die leicht zum Korridor hin geöffnet war. Ich senkte die Stimme noch mehr:
— Heute nacht, als ich schlief, versuchte sie sich umzubringen. Flüssigsauerstoff…
Da raschelte etwas, wie Zugluft in losen Papieren. Ich erstarrte, horchte auf das, was im Korridor war, aber die Quelle des Geräusches war näher. Das knisterte wie eine Maus… Eine Maus! Unsinn. Hier gab es keine Mäuse. Unter den Lidern hervor beobachtete ich den Sitzenden.
— Sprich nur — sagte er ruhig.
— Versteht sich, es ist ihr nicht gelungen… Jedenfalls weiß sie, wer sie ist.
— Warum sagst du mir das? — fragte er plötzlich. Ich wußte nicht gleich, was ich antworten sollte.
— Ich will, daß du Bescheid weißt… daß du weißt, wie es ist — murmelte ich.
— Ich habe dich gewarnt.
— Du willst sagen, du hast es gleich gewußt! — Wider Willen erhob ich die Stimme.
— Nein, selbstverständlich nicht. Aber ich habe dir erklärt, wie
das ist. Wenn er erscheint, ist jeder «Gast» fast ein Phantom. Bis auf ein ungeordnetes Gemisch von Erinnerungen und Bildern, die aus seinem… Adam… geschöpft sind, ist er eigentlich
— leer. Je länger er hier ist, mit dir, desto mehr vermenschlicht er sich. Verselbständigt sich auch, bis zu gewissen Grenzen, versteht sich. Deshalb wird es umso schwieriger, je länger das dauert…
Er verstummte. Schielte unter der gesenkten Stirn hervor nach mir und warf beiläufig hin: — Sie weiß alles?
— Ja, das habe ich dir schon gesagt.
— Alles? Auch, daß sie schon einmal hier war, und daß du…
— Nein!
Er lächelte.
— Kelvin, hör mal, wenn das bis zu diesem Grad… was hast du eigentlich vor? Die Station zu verlassen?
— Ja.
— Mit ihr?
— Ja.
Er schwieg, er schien die Antwort zu überlegen, aber da war noch etwas in seinem Schweigen… was? Wiederum raschelte dieser nicht spürbare Windhauch, als wäre es gleich hier, hinter einer dünnen Wand. Snaut bewegte sich auf dem Stuhl.
— Ausgezeichnet — sagte Snaut. — Was schaust du so? Hast du gedacht, ich könnte mich dir in den Weg stellen? Du wirst es machen, wie du willst, mein Lieber. Schön würden wir aussehen, wenn wir zu allem Überfluß noch anfingen, hier Zwang anzuwenden! Ich habe nicht vor, dich zu überreden, nur so viel sage ich dir: Du versuchst dich in einer unmenschlichen Situation wie ein Mensch zu benehmen. Vielleicht ist das ja schön, aber fruchtlos. Im übrigen, ob das schön ist, bin ich auch nicht sicher, denn was dumm ist, kann das schön sein? Aber darum geht es nicht. Du verzichtest auf weitere Experimente, willst fortgehen und die Deinige mitnehmen. Stimmt's?
— Ja.
— Aber das ist auch ein… Experiment. Nicht wahr?
— Wie meinst du das? Wird sie… können…? Wenn sie mit mir zusammen ist, sehe ich nichts, was…
Ich sprach immer langsamer, bis ich verstummte. Snaut seufzte leicht. -Wir alle betreiben hier eine Vogel-Strauß-Politik, Kelvin, aber wir wissen das wenigstens und spielen nicht die Edelmütigen.
— Ich spiele gar nichts.
— Gut, ich wollte dich nicht verletzen. Ich nehme zurück, was ich über den Edelmut gesagt habe, aber die Vogel-Strauß-Politik bleibt in Kraft. Du betreibst sie in besonders gefährlicher Form. Du belügst dich, und sie, und wieder dich. Kennst du die Bedingungen der Stabilisierung eines Gefüges, das aus Neutrino-Materie aufgebaut ist?
— Nein. Und du auch nicht. Die kennt niemand.
— Selbstverständlich. Aber wir wissen das eine, daß ein solches Gefüge unbeständig ist und nur dank unentwegtem Energiezufluß existieren kann. Das weiß ich von Sartorius. Diese Energie erzeugt ein stabilisierendes Wirbelfeld. Also: ist dieses Feld nun äußerlich im Verhältnis zum «Gast»? Oder befindet sich die Quelle für dieses Feld in seinem Körper? Begreifst du den Unterschied?
— Ja — sagte ich langsam. — Wenn es äußerlich ist, wird sie… wird so ein…
— Wird bei Entfernung von der Solaris das Gefüge zerfallen — endigte er an meiner statt. -Vorhersehen können wir das nicht, aber du hast ja das Experiment schon durchgeführt. Die kleine Rakete, die du abgeschossen hast… die kreist noch immerzu, weißt du. Einmal in einem Viertelstündchen Freizeit habe ich sogar die Elemente ihrer Bewegung ausgerechnet. Du kannst ausfliegen, in die Bahn einschwenken, dich nähern und feststellen, was aus dem… Fahrgast geworden ist…
— Du bist verrückt! — zischte ich.
— Findest du? So… und wenn wir… sie kommen ließen, diese Rakete? Das läßt sich machen. Sie ist ferngesteuert. Wir holen sie von der Bahn und…
— Hör auf!
— Auch nicht? Dann gibt es noch eine Möglichkeit, sehr einfach. Die Rakete muß nicht einmal in der Station landen. Soll sie nur Weiterreisen. Wir verbinden uns nur per Funk mit ihr; wenn die drinnen noch lebt, meldet sie sich und…
— Aber… aber dort ist längst der Sauerstoff aus! — stammelte ich…
— Vielleicht kommt sie ohne Sauerstoff aus. Also, versuchen wir's?
— Snaut… Snaut…
— Kelvin… Kelvin… spottete er mir zornig nach. — Überleg doch, was bist du für ein Mensch? Wen willst du beglücken? Erlösen? Dich? Sie? Welche? Die oder die andere?
Für beide reicht dir schon nicht mehr der Mut? Du siehst selbst, wohin das führt! Ich sage dir zum letzten Mal: das hier, das ist eine außermoralische Situation.
Auf einmal hörte ich das gleiche Knistern wie zuvor, so, als kratzte jemand mit den Fingernägeln über die Wand. Ich weiß nicht, warum, aber mich umfing etwas wie träge, schlammige Ruhe. Es war, als betrachtete ich diese ganze Situation, ihn, mich und alles aus großer Entfernung durch ein umgekehrtes Fernglas: etwas Kleines, ein bißchen Lächerliches, wenig Wichtiges.
— Also gut — sagte ich. — Und was sollte ich deiner Ansicht nach tun? Sie beseitigen? Morgen erscheint genau die gleiche, stimmt's? Und nochmals? Und täglich so? Wie lange? Wozu? Was habe ich davon? Und du? Sartorius? Die Station?
— Nein, erst antworte mir du. Du startest mit ihr und wirst, sagen wir, Zeuge der folgenden Verwandlung. In ein paar Minuten siehst du vor dir…
— Nun, was denn? — sagte ich bissig. — Ein Ungeheuer? Einen Dämon, was?
— Nein. Die gewöhnlichste, simpelste Agonie. Glaubst du wirklich schon, daß sie unsterblich sind? Ich versichere dir, sie kommen um… Was wirst du dann tun? Zurückkommen… um die Reserve?
— Hör auf!!! — donnerte ich und ballte die Faust. Er sah mir zu, nachsichtigen Spott in den zusammengekniffenen Augen.
— Ich, meinst du, soll aufhören? Weißt du, an deiner Stelle ließe ich ab von diesem Gespräch. Da mach schon lieber irgendwas anderes, zum Beispiel kannst du mit Ruten den Ozean auspeitschen, als Rache. Worum geht es dir? Also wenn du — Snaut beschrieb mit der Hand eine schelmische Abschiedsgebärde und richtete gleichzeitig den Blick zur Decke empor, wie um irgendeine entschwindende Gestalt dort zu verfolgen — dann wärst du ein Schuft? Und so bist du keiner? Lächeln, wenn du Lust hast, zu brüllen, Freude und Ruhe vortäuschen, wenn du die Finger zerbeißen möchtest, und dann bist du kein Schuft? Und wenn einer hier nichts anderes sein kann? Was dann? Dann tobst du Snaut etwas vor, denn der ist an allem schuld, ja? Na dann bist du noch obendrein ein Idiot, mein Lieber…
— Du redest von dir — sagte ich mit gesenktem Kopf. — Ich… liebe sie.
— Wen? Deine Erinnerung.
— Nein. Sie. Ich habe dir gesagt, was sie tun wollte. So hätte kaum ein…. echter Mensch gehandelt.
— Du gibst es ja selbst zu, wenn du sagst…
— Laß die Wortklauberei.
— Gut. Dann liebt sie dich also. Und du willst sie lieben. Das ist nicht dasselbe.
— Du irrst dich.
— Tut mir leid, Kelvin, aber du selbst hast deine Intimangelegenheiten zur Sprache gebracht. Du liebst nicht. Du liebst. Sie ist bereit, das Leben dahinzugeben. Du auch. Sehr ergreifend, sehr schön, erhaben, alles, was du nur willst. Aber für das alles ist kein Platz hier. Da ist keiner. Verstehst du? Nein, du willst das nicht verstehen. Durch Zutun von Kräften, über die wir keine Gewalt haben, bist du in einen Ringprozeß verwickelt, und sie ist ein Teil davon. Eine Phase. Ein wiederkehrender Rhythmus. Wäre sie… würdest du von einem Scheusal verfolgt, das alles für dich zu tun bereit wäre, so würdest du keinen Augenblick zögern, es zu beseitigen. Stimmt's?
— Stimmt.
— Demnach, demnach ist sie vielleicht gerade deshalbkeinsolches Scheusal! Das bindet dir die Hände? Darum geht es eben, daß sie dir gebunden sein sollen!
7. Das ist noch eine Hypothese zu der Million von anderen, drüben in der Bibliothek. Snaut, gib's auf, sie ist… Nein. Dar über will ich mit dir nicht sprechen.
— Gut. Du hast selbst angefangen. Aber denk nur daran, daß sie im Grunde genommen ein Spiegel ist, worin sich ein Teil deines Gehirns spiegelt. Wenn sie großartig ist, dann deshalb, weil deine Erinnerung großartig war. Du hast die Rezeptur geliefert. Ein Ringprozeß, vergiß das nicht!
— Also was willst du von mir? Daß ich sie… daß ich sie beseitige? Ich habe dich schon gefragt: Wozu sollte ich das tun? Du hast nicht geantwortet.
— Dann antworte ich dir jetzt. Ich habe dich zu diesem Gespräch nicht eingeladen. Ich habe nicht an deine Angelegenheiten gerührt. Ich gebiete dir nichts und verbiete dir auch nichts, und ich täte es nicht, selbst wenn ich könnte. Du, du bist hergekommen und hast alles vor mir ausgebreitet, und weißt du, warum? Nein? Um das loszuwerden. Von dir abzuwälzen. Ich kenne diese Last, mein Lieber! Ja, ja, unterbrich mich nicht! Ich hindere dich an nichts, du aber, du willst, daß ich dich behindern soll. Wollte ich dir den Weg vertreten, so schlügest du mir vielleicht den Schädel ein, dann hättest du mit mir zu tun, mit einem, der aus ebensolchem Lehm und Blut geknetet ist, wie du, und selbst könntest du dich wie ein Mensch fühlen. So aber… kannst du damit nicht fertig werden, und deshalb diskutierst du mit mir… aber eigentlich mit dir selbst! Jetzt sag mir nur noch, du würdest dich krümmen vor Leid, wenn sie plötzlich verschwände, nein, sag gar nichts.
— Also weißt du! Ich bin hergekommen, um dir aus bloßer Fairneß zu sagen, daß ich vorhabe, mit ihr die Station zu verlassen — wehrte ich den Angriff ab, aber das klang für mich selbst nicht überzeugend. Snaut zuckte die Achseln.
— Sehr leicht möglich, daß du auf dem Deinigen beharren
mußt. Wenn ich mich überhaupt zu dieser Sache geäußert habe, dann nur deshalb, weil du dich immer höher versteigst, und der Sturz aus der Höhe, du verstehst selbst… Komm morgen früh etwa um neun hinauf zu Sartorius… Kommst du?
— Zu Sartorius? — Ich wunderte mich. — Er läßt doch niemanden ein, du hast gesagt, daß er nicht einmal anzurufen ist.
— Jetzt hat er sich irgendwie geholfen. Wir reden darüber nicht, weißt du. Du bist… das ist ganz etwas anderes. Na, egal. Kommst du in der Früh?
— Ich komme — murmelte ich. Ich schaute Snaut an. Seine linke Hand war wie von ungefähr hinter der Schranktür verborgen. Wann war die aufgesprungen? Wohl vor ziemlich langer Zeit, aber in der Hitze dieses für mich gräßlichen Gesprächs hatte ich das nicht beachtet. Wie unnatürlich das aussah… So, als… versteckte er etwas dort. Oder als hielte ihn jemand bei der Hand. Ich leckte mir die Lippen.
— Snaut, was treibst du?…
— Geh hinaus — sagte er leise, sehr ruhig. — Geh.
Im letzten roten Widerschein ging ich fort und schloß die Tür hinter mir. Harey saß auf dem Fußboden, etwa zehn Schritte weiter, dicht an der Wand. Als ich mich zeigte, sprang Harey auf.
— Siehst du…? — sagte sie und sah mich mit blitzenden Augen an. — Es ist gelungen, Kris… Ich freue mich so… Vielleicht… vielleicht wird es nun immer besser…
— Aber ja, gewiß — entgegnete ich zerstreut. Wir gingen wieder heim, und ich zerbrach mir den Kopf über diesen idiotischen Schrank. Also… also Snaut versteckte dort…? Und dieses ganze Gespräch…? Die Wangen fingen mir so zu brennen an, daß ich sie unwillkürlich rieb. Gott, was für ein Irrsinn. Und was hatten wir eigentlich abgemacht? Gar nichts? Richtig, morgen früh…
Und plötzlich packte mich die Angst, fast solche, wie vorige Nacht. Mein EEG. Übersetzt in die Schwingungen eines Strahlenbündels, sollte die vollständige Aufzeichnung aller Gehirnprozesse hinabgesendet werden. In die Tiefe dieses unermeßlichen, uferlosen Monstrums. Wie hatte Snaut gesagt? «Du littest ganz gräßlich, wenn sie verschwände, was…?»Das FEG ist die vollständige Aufzeichnung. Auch der unbewußten Prozesse. -
Wenn ich nun will, daß sie verschwinden soll, umkommen? Hätte mich sonst so erschüttert, daß sie diesen gräßlichen Versuch überlebt hat? Gibt es das: Verantwortlichkeit für das eigene Unterbewußtsein? Wenn nicht ich dafür verantwortlich bin, wer dann?… Welche Idiotie! Warum zum Teufel habe ich zugestimmt, daß gerade mein, mein… Natürlich kann ich sie vorher durchstudieren, diese Aufzeichnung, aber ich entziffere sie ja doch nicht. Das vermag niemand. Die Spezialisten können nur bestimmen, worüber der Untersuchte nachgedacht hat, aber in ganz groben Zügen: daß er zum Beispiel gerade eine mathematische Aufgabe löste, aber was für eine, das können sie schon nicht mehr beurteilen. Sie erklären das für unmöglich, denn das FEG ist ja die Resultierende, das Gemengsei aus einer ganzen Vielzahl gleichzeitig ablaufender Prozesse, und nur manche davon sind psychisch «unterlegt»… Und die unterbewußten… Von denen wollen die Fachleute gar nicht reden, und wie sollten sie gar jemandes Erinnerungen entziffern wollen, unterdrückte oder nicht unterdrückte… Aber warum fürchte ich mich so? Selbst habe ich doch in der Früh zu Harey gesagt, dieses Experiment werde zu nichts führen. Klar, denn wenn unsere Neurophysiologen die Aufzeichnung nicht zu entziffern verstehen, woher sollte dann dieser zutiefst fremde, schwarze, flüssige Gigant…
Aber er ist in mich eingetreten, ich weiß nicht, wie, um all mein Gedächtnis zu durchmessen und das Atom mit dem wundesten Punkt aufzufinden. Wie ließe sich daran zweifeln. Und das ohne alle Hilfe, ohne jede"Übertragung per Ausstrahlung»; er ist durch den doppelt hermetisierten Panzer gedrungen, durch die schweren Verschalungen der Station, hat in ihrem Innenraum meinen Körper herausgesucht und von dort die Beute davongetragen…
— Kris..? — meldete sich Harey leise. Ich stand beim Fenster; mit Augen, die nichts sahen, starrte ich in die beginnende Nacht. Zarter, auf dieser geographischen Breite ganz schwacher Flor verschleierte die Sterne: eine einheitliche, wenn auch dünne Wolkenhülle, so hoch oben, daß ihr die Sonne aus den Tiefen jenseits des Horizonts ganz feinen rosigsilbrigen Schimmer verlieh.
… Wenn Harey danach verschwunden sein wird, dann wird das bedeuten, daß ich es so gewollt habe. Daß ich sie getötet habe. Nicht hingehen? Zwingen können sie mich nicht. Aber was sage ich ihnen? Das — nicht. Ich kann nicht. Ja, es heißt sich verstellen, es heißt lügen, in einem fort und immer. Ja, aber deshalb, weil in mir vielleicht Gedanken sind, Vorsätze, Hoffnungen, grausame, großartige, mörderische, ich aber weiß nichts davon. Der Mensch ist anderen Welten entgegengezogen, anderen Zivilisationen, ohne die eigenen Winkel durch und durch kennengelernt zu haben, Sackgassen, Schächte, dunkle verrammelte Türen. Harey preisgeben… aus Beschämung? Preisgeben, nur weil mir der Mut fehlt?
— Kris… — flüsterte Harey noch leiser als zuvor. Sie trat lautlos zu mir, ich spürte es mehr, als ich es hörte, und ich tat, als wüßte ich nichts davon. In diesem Augenblick wollte ich allein sein. Ich mußte allein sein. Noch hatte ich mich zu nichts aufgerafft, zu keiner Entscheidung, kein Beschluß war gefaßt. Ich stand reglos, vertieft in den nachdunkelnden Himmel, in die Sterne, die nur der schemenhafte Schatten irdischer Sterne waren. Und in der Öde, die den Gedankentrubel von vorhin abgelöst hatte, erwuchs ohne Worte die tote, gleichgültige Gewißheit, daß dort, wohin ich nicht reichen konnte, meine Wahl schon getroffen war. Und während ich vorgab, daß nichts geschehen sei, hatte ich nicht einmal Kraft genug, um mich zu verachten.