8. Kapitel

Cha Thrat wußte nicht mit Sicherheit, wieviel Zeit sie nach der Operation zur Erholung brauchen würde, sondern nur, daß sie mehrmals lange bewußtlos gewesen war und jede Menge Besuche vom Chefpsychologen O'Mara und den Diagnostikern Thornnastor und Conway erhalten hatte. Die ihr zugeteilte DBLF-Schwester lästerte fortwährend über die besondere Aufmerksamkeit, die Cha Thrat von den führenden Kreisen des Hospitals zuteil wurde, über die Mengen an Essen, die sie für eine vermeintlich kranke Patientin heranschaffen mußte, und über eine frisch eingetroffene nidianische Schwesternschülerin, der ausgerechnet Cresk-Sar den pelzigen kleinen Kopf verdreht hatte. Aber sobald Cha Thrat auf ihren eigenen Fall zu sprechen kam, war an dem aufgewühlten Fell der kelgianischen Schwester deutlich zu erkennen, daß es sich hierbei um ein verbotenes Thema handelte.

Doch scherte sie das nicht weiter, weil die Medikamente, die ihr verabreicht wurden, bei ihr beabsichtigt oder unbeabsichtigt das Gefühl hervorriefen, ihr Gehirn wäre eine Art lenkbares Luftschiff, das sich gleichgültig und losgelöst von allen weltlichen Problemen auf sie zubewegte. Wie sie schnell feststellte, war das zwar ein sehr angenehmer, aber auch labiler Zustand.

Bei einem seiner letzten Besuche hatte O'Mara sie daraufhingewiesen, daß sie ganz unabhängig von den Gründen, die sie für ihre Handlungsweise gehabt habe, ihren besonders strengen beruflichen Verpflichtungen nachgekommen sei und deshalb keine weiteren Handlungen von ihrer Seite erforderlich seien; sie habe ihre eigene Gliedmaße vollständig vom Rumpf abgetrennt. Die Tatsache, daß Conway und Thornnastor gemeinsam einen sehr kunstvollen mikrochirurgischen Eingriff durchgeführt hätten, um das Glied ohne Einbuße der Funktionen und des Gefühls wieder anzunähen, sei ein Glücksfall, den sie dankbar und ohne Schuldgefühle hinnehmen solle.

Es hatte lange gedauert, den Zauberer davon zu überzeugen, daß sie bereits zu demselben Schluß gelangt sei und nicht nur ihrem Glück danke,

sondern auch den Diagnostikern Conway und Thornnastor, weil sie ihr die Gliedmaße zurückgegeben hatten. Wie sie O'Mara weiterhin erzählte, sei ihr an dem ganzen Vorfall nur noch rätselhaft, warum es auf ihre edle und löbliche Tat eine solch allgemein ablehnende Reaktion gegeben habe.

O'Mara schien sich daraufhin etwas beruhigt zu haben und war danach mit einer langen, verschlungenen Beschwörung fortgefahren, bei der er Themen angeschnitten hatte, die Cha Thrat schon bei einem Gespräch mit einem Sommaradvaner für zu persönlich und sensibel gehalten hätte, und erst recht bei einem Fremden. Vielleicht waren es damals die Medikamente, die ihre Erschütterung und Empörung über die aufgestellten Behauptungen des Zauberers dämpften und es ihr wert erscheinen ließen, lieber über das Gesagte nachzudenken, anstatt es vorbehaltlos zurückzuweisen.

Eine seiner Behauptungen lautete, daß ihre Tat aus objektiver Sicht weder edel noch löblich gewesen sei, sondern schlicht ein bißchen dämlich. Am Ende dieses Gesprächs war sie mit ihm fast einer Meinung gewesen, und auf einmal hatte er ihr erlaubt, wieder Besucher zu empfangen.

Tarsedth und der hudlarische Krankenpflegeschüler waren die ersten, die vorbeischauten. Die Kelgianerin stürmte ins Zimmer, um Cha Thrat zu fragen, wie es ihr gehe, während der PROB mitten im Eingang schweigend stehenblieb. Cha Thrat fragte sich, ob ihn irgend etwas bedrückte, und vergaß dabei völlig, daß sie wegen der Medikamente ihre Gedanken häufig laut aussprach.

„Nein, nichts“, antwortete Tarsedth für ihn. „Vergiß diesen riesigen Weichling einfach. Als ich eben gekommen bin, hat er schon wer weiß wie lange vor der Tür gestanden, weil er befürchtete, daß du schon von dem bloßen Anblick eines weiteren Hudlarers so eine Art emotionalen Rückfall bekommen könntest. Trotz ihrer harten Muskeln haben die Hudlarer ein sehr weiches Herz, und das gleich in doppelter Ausführung. Nach dem, was O'Mara unserem lieben Cresk-Sar erzählt hat, wirst du hier höchstwahrscheinlich nichts Unerwartetes oder Melodramatisches veranstalten. Du bist weder geistig noch psychisch gestört. Seine genauen Worte waren, daß du ganz normal verrückt, aber nicht vollkommen durchgedreht wärst, was ja bei einer ganzen Reihe von Leuten, die hier arbeiten, der Normalzustand sei.“

Sie wandte sich plötzlich an den FROB und rief ihm zu: „Jetzt kommen Sie schon endlich herein! Cha Thrat liegt im Bett, kann eine Gliedmaße und den größten Teil des Körpers nicht mehr bewegen, ist mit Beruhigungsmitteln in eine niedrige Umlaufbahn geschossen worden und wird Sie wahrscheinlich auch nicht beißen!“

Der Hudlarer näherte sich und sagte schüchtern: „Wir alle, das heißt jeder der im Vorlesungssaal war, wünschen Ihnen eine gute Besserung. Das schließt auch Patient Elf-Zweiunddreißig ein, der inzwischen keine Schmerzen mehr hat und gute Fortschritte macht, und Oberschwester Segroth, deren gute Wünsche, nun. ehm. etwas allgemeiner ausfielen. Werden Sie Ihre Gliedmaße später wieder ganz bewegen können?“

„Seien Sie nicht albern!“ mischte sich Tarsedth ein. „Bei zwei Diagnostikern, die sich mit dem Fall beschäftigen, wird sie es erst gar nicht wagen, sich nicht wieder vollkommen zu erholen.“ An Cha Thrat gewandt fuhr sie fort: „Aber dir ist in letzter Zeit so viel zugestoßen, daß ich überhaupt nicht mehr folgen kann. Stimmt es, daß du den Chefpsychologen auf der Chalder-Station vor allen Anwesenden angepfiffen hast? Und hast du ihn wirklich eine Art Medizinmann genannt und ihn an seine ärztliche Pflicht gegenüber dem Patienten AUGL-Eins-Sechzehn erinnert? Nach den Gerüchten, die man überall so hört.“

„So schlimm war das alles nicht“, unterbrach Cha Thrat ihre kelgianische Freundin.

„Das sagt man immer so“, plapperte die DBLF unbeirrt weiter, deren gekräuseltes Fell sich allerdings enttäuscht legte. „Aber jetzt zu dieser Geschichte bei der FROB-Demonstration. Was da passiert ist, kannst du nun wirklich nicht abstreiten oder so einfach herunterspielen.“

„Vielleicht möchte sie lieber nicht darüber reden“, gab der Hudlarer leise zu bedenken.

„Wieso denn nicht?“ begehrte Tarsedth auf. „Es sprechen doch sowieso alle darüber.“

Cha Thrat schwieg einen Moment lang und blickte zum Kopf und den Schultern der Kelgianerin auf, deren Gestalt wie ein mit silbernem Fell bewachsener Bergkegel auf der einen Seite ihres Bettes emporragte. Dann schaute sie zu dem mächtigen Körper des Hudlarers hinüber, der sich auf der anderen Seite erhob, und versuchte, ihre ungewöhnlich wirren Gedanken auf das zu konzentrieren, was sie sagen wollte.

„Ich würde mich lieber über die ganzen Vorlesungen unterhalten, die ich verpaßt habe“, schlug sie schließlich vor. „Gab es irgend etwas besonders Wichtiges oder Interessantes? Und würdet ihr Cresk-Sar bitte fragen, ob ich eine Fernbedienung für den mit dem Kommunikator verbundenen Bildschirm bekommen könnte, damit ich die Schulungskanäle anschalten kann? Sagt ihm, daß ich hier nichts zu tun habe und so bald wie möglich mit dem Lernen weitermachen möchte.“

„Meine liebe Freundin, ich glaube, damit würdest du leider nur deine Zeit verschwenden“, gab Tarsedth zu bedenken, wobei sich ihr Fell verärgert zu Stacheln aufrichtete.

Zum erstenmal wünschte sich Cha Thrat, daß ihre kelgianische Klassenkameradin einmal ein bißchen weniger als absolut ehrlich sein würde. Sie hatte zwar damit gerechnet, so etwas zu hören, aber die schlechte Nachricht hätte man ihr auch etwas schonender beibringen können.

„Was unsere offenherzige Freundin Ihnen hätte mitteilen sollen, ist, daß wir uns bei Cresk-Sar nach etwaigen Konsequenzen für Sie erkundigt haben“, ergriff der Hudlarer das Wort. „Er wollte uns allerdings keine eindeutige Antwort geben und hat uns nur erklärt, daß Sie nicht so sehr daran schuld seien, irgendwelche Regeln des Hospitals verletzt zu haben, sondern vielmehr Regeln, die es gar nicht gibt und an die niederzuschreiben niemand auch nur im Traum gedacht hätte. Wie er sagt, sei die Entscheidung, was mit Ihnen letztendlich geschehen soll, nach oben weitergeleitet worden, und Sie könnten sehr bald mit einem Besuch von O'Mara rechnen.

Als wir ihn gefragt haben, ob wir Ihnen Vorlesungsmaterial mitbringen dürften, hat Cresk-Sar leider nein gesagt“, beendete er seine Ausführungen entschuldigend.

Es machte keinen Unterschied, wie einem die Nachricht beigebracht worden war, dachte Cha Thrat, nachdem die beiden gegangen waren, schlecht blieb sie so oder so. Doch der plötzliche, kratzende Klang des Kommunikators an ihrem Bett hielt sie davon ab, zu lange über ihre Probleme nachzudenken.

Es war Patient AUGL-Eins-Sechzehn, der mit Oberschwester Hredlichlis Hilfe vom Eingang zur AUGL-Station aus in einen der Kommunikatoren des dortigen Personalraums schrie. Er begann damit, sich dafür zu entschuldigen, daß er Cha Thrat nicht besuchen könne, da seine Physiologie und die Umweltbedingungen dies nicht zuließen, und erzählte ihr dann, wie sehr er ihre Besuche vermisse — dem terrestrischen Zauberer O'Mara fehle einfach ihre verständnisvolle Art und vor allem der notwendige Charme — und er hoffe, sie werde möglichst bald wieder gesund, ohne körperlichen oder seelischen Schaden davonzutragen.

„Es ist alles in bester Ordnung“, log sie ihn an. Es war nicht gut, einen Patienten mit den Problemen einer Ärztin zu belasten, auch wenn diese Ärztin nur den Rang einer Schwesternschülerin bekleidete und vorübergehend selbst Patientin war. „Wie geht es Ihnen?“

„Sehr gut, danke“, antwortete der Chalder in einem Ton, der begeistert klang, obwohl seine Worte Cha Thrat durch zwei Kommunikatoren, einen Translator und eine beachtliche Menge Wasser erreichten. „O'Mara sagt, daß ich schon sehr bald entlassen werden soll und zu meine Familie zurückkehren kann und schon mal anfangen soll, mich mit der Raumbehörde auf Chalderescol II wegen meiner alten Arbeitsstelle in Verbindung zu setzen. Für einen Chalder bin ich nämlich immer noch relativ jung, und ich fühle mich wirklich ausgezeichnet.“

„Das freut mich sehr für Sie, Eins-Sechzehn“, entgegnete Cha Thrat, wobei sie absichtlich seinen Namen vermied, weil vielleicht andere zuhörten, die ihn nicht beim Namen nennen durften. Zudem war sie überrascht, welch überwältigende Gefühle sie für dieses Wesen empfand.

„Ich habe die Schwestern über Sie sprechen hören“, fuhr der Chalder fort, „und es scheint, daß Sie in ernsthaften Schwierigkeiten stecken. Ich hoffe, es wendet sich für Sie alles zum Guten, doch falls das nicht der Fall sein sollte und Sie das Hospital verlassen müssen. Na ja, Sie sind hier draußen so weit von Sommaradva entfernt; wenn Sie auf Ihrem Flug nach Hause Lust haben sollten, mal einen anderen Planeten zu sehen, würde meine Familie sich freuen, Sie so lange bei sich zu beherbergen, wie Sie möchten. Wir auf Chalderescol II sind in technologischer Hinsicht fast auf dem neuesten Stand, und die synthetische Herstellung Ihrer Nahrung und die Fertigung eines Lebenserhaltungssystems für Sie wäre überhaupt kein Problem.

Chalderescol II ist ein wunderschöner Planet“, fügte er hinzu, „viel, viel schöner als diese AUGL-Station.“

Als der Chalder schließlich die Verbindung abbrach, lehnte sich Cha Thrat müde, aber nicht niedergeschlagen oder unglücklich in die Kissen zurück und dachte an die Wasserwelt von Chalderescol II. Vor ihrer Arbeit auf der AUGL-Station hatte sie das Video aus der Krankenhausbibliothek über diesen Planeten sorgfältig studiert, um sich mit den Patienten über deren Heimat unterhalten zu können. Folglich war ihr diese Welt nicht mehr ganz unbekannt. Die Vorstellung, dort zu leben, war aufregend, und sie wußte, daß sie als Außerplanetarierin, die Muromeshomon mit seinem Namen ansprechen durfte, von seiner Familie und seinen Freunden herzlich empfangen werden würde, egal, wie lang oder kurz ihr Aufenthalt dort wäre. Doch waren solche Gedanken auch unangenehm, weil sie von der Grundvoraussetzung ausgingen, daß sie das Hospital verlassen müßte.

Statt dessen fragte sie sich lieber, wie der normalerweise schüchterne und liebenswürdige Chalder die scharfzüngige Hredlichli dazu gebracht hatte, den Kommunikator des Personalraums benutzen zu dürfen. Hatte er sie womöglich durch die Drohung, die Station ein zweites Mal zu verwüsten, zur Hilfe gezwungen? Oder war sein Anruf, was wahrscheinlicher war, von O'Mara befürwortet oder sogar vorgeschlagen worden?

Das war ebenfalls ein unangenehmer Gedanke, der sie aber nicht wachzuhalten vermochte. Die anhaltende Beschwörung des terrestrischen Zauberers beziehungsweise die Arznei, die er ihr verschrieben hatte, oder beides zusammen hatte noch nichts von seiner tückischen Wirkung verloren.

Im Laufe der folgenden Tage erhielt Cha Thrat Besuche von verschiedenen Klassenkameraden und, wenn es die physiologischen Umstände zuließen, auch von kleinen Gruppen. Cresk-Sar kam gleich mehrere Male, wollte aber wie alle anderen Besucher keinesfalls über medizinische Themen sprechen. Dann trafen eines Tages der Psychologe O'Mara und der Diagnostiker Conway gemeinsam ein, die sich wiederum über nichts anderes unterhalten wollten.

„Guten Morgen, Cha Thrat, wie geht es Ihnen?“ fragte der Diagnostiker, wie sie es im voraus gewußt hatte.

„Sehr gut, danke“, antwortete sie, wie Conway es im voraus gewußt hatte. Danach wurde sie der wohl gründlichsten körperlichen Untersuchung unterzogen, die sie je erlebt hatte.

„Ihnen ist inzwischen wahrscheinlich klar, daß diese Untersuchung nicht unbedingt notwendig war“, sagte Conway, als er Cha Thrat wieder mit dem Betttuch zudeckte. „Aber für mich war das die erste Gelegenheit, mir die physiologische Klassifikation DCNF einmal ganz genau von oben bis unten anzusehen — und nicht nur eine der Gliedmaßen. Vielen Dank, das war sehr interessant und äußerst lehrreich.

Aber da Sie nun wieder vollkommen gesund sind“, fuhr er mit einem raschen Seitenblick auf O'Mara fort, „und nur noch ein bißchen Heilgymnastik brauchen werden, bevor Sie wieder diensttauglich sind, was sollen wir da mit Ihnen machen?“

Cha Thrat hatte den Verdacht, daß die Frage rhetorisch gemeint war, aber sie wollte sie dennoch unbedingt beantworten. „Es. es hat Irrtümer und Mißverständnisse gegeben“, stammelte sie ängstlich. „Das wird bestimmt nicht wieder vorkommen. Ich würde gerne am Hospital bleiben und meine Ausbildung fortsetzen.“

„Ausgeschlossen!“ widersprach Conway in scharfem Ton. Mit ruhigerer Stimme fuhr er fort: „Sie sind eine ausgezeichnete Chirurgin, Cha Thrat — eventuell sogar eine ganz bedeutende Kapazität auf Ihrem Gebiet. Sie zu verlieren wäre eine geradezu schändliche Vergeudung von Talent. Aber bei Ihren eigenartigen Vorstellungen, wie man sich dem Berufsethos entsprechend verhält, kommt es gar nicht in Frage, Sie weiterhin im medizinischen Stab zu beschäftigen. Im Hospital gibt es keine einzige Station, die Sie noch zur praktischen Ausbildung aufnehmen würde. Selbst Segroth hat das nur getan, weil O'Mara und ich sie darum gebeten hatten.

Ich halte meine Vorlesungen ja gerne so interessant und aufregend wie möglich ab“, fügte Conway hinzu, „aber alles hat, verdammt noch mal, seine Grenzen!“

Bevor einer der beiden die schicksalhaften Worte aussprechen konnte, die Cha Thrats Laufbahn am Hospital beenden würden, fragte sie schnell: „Und was wäre, wenn es eine Möglichkeit gäbe, die garantiert, daß ich mich in Zukunft vernünftig verhalte? In einer meiner ersten Unterrichtsstunden sind diese Schulungsbänder behandelt worden, durch die man Alienphysiologie und — medizin lernt und die Dinge aus dem Blickwinkel einer anderen Spezies betrachtet. Wenn ich das Band einer Spezies im Kopf speichern könnte, die in Ihren Augen eine akzeptablere Vorstellung vom Berufsethos hat als wir Sommaradvaner, würde ich bestimmt nicht mehr in Schwierigkeiten geraten.“

Gespannt wartete sie auf eine Antwort, aber die beiden Terrestrier blickten sich schweigend an und beachteten sie nicht.

Ohne diese Schulungs- oder Physiologiebänder, so hatte Cha Thrat gelernt, hätte ein Krankenhaus mit vielfältigen Umweltbedingungen wie das Orbit Hospital nicht funktionieren können. Kein einzelnes Lebewesen, egal, welcher Spezies es angehörte, konnte die gewaltige Menge physiologischen Wissens im Kopf behalten, die für die erfolgreiche Behandlung der vielen verschiedenen Patienten, die ins Hospital eingeliefert wurden, erforderlich war. Deshalb wurden die vollständigen physiologischen Daten jeder beliebigen Spezies durch ein Schulungsband vermittelt, auf dem einfach die Gehirnströme einer medizinischen Kapazität aufgezeichnet worden waren, die derselben oder einer ähnlichen Spezies angehörte wie der zu behandelnde Patient.

Ein Wesen, das ein derartiges Band im Kopf speicherte, mußte seinen Geist mit einer vollkommen fremdartigen Persönlichkeit teilen, und genau diesen subjektiven Eindruck hatte der Betreffende dann auch. Mit einem Schulungsband wurden einem nämlich nicht nur ausgewählte medizinische Informationen ins Gehirn übertragen, sondern auch sämtliche Erinnerungen, Erlebnisse und persönlichen Eigenschaften des Wesens, von dem das Band stammte. Ein Schulungsband konnte nicht geschnitten werden, und nicht einmal die Chefärzte und Diagnostiker, die darin Erfahrung besaßen, waren imstande, das Ausmaß an Verwirrung, seelischer Desorientierung und persönlicher Zerrüttung zu beschreiben, das es bei einem auslösen konnte.

Die Diagnostiker waren die höchsten medizinischen Herrscher des Orbit Hospitals und Wesen, deren Psyche und Verstand sowohl für anpassungsfähig als auch stabil genug erachtet wurden, permanent bis zu zehn Physiologiebänder gleichzeitig im Kopf gespeichert zu haben. Ihren mit Daten vollgestopften Hirnen oblag in erster Linie die Aufgabe, Grundlagenforschung in Alienmedizin zu leisten und neue Krankheiten bislang unbekannter Lebensformen zu behandeln.

Aber Cha Thrat hatte nicht vor, sich wie die Diagnostiker freiwillig einer Vielfalt fremder Vorstellungen und Einflüsse auszusetzen. Wie sie mitbekommen hatte, gab es unter den Mitarbeitern des Hospitals die Redensart, daß jeder geistig Zurechnungsfähige, der freiwillig Diagnostiker werden wollte, schon von vornherein verrückt sein müsse, und das glaubte sie gern. Mit ihrem Plan verfolgte sie nämlich eine viel weniger rigorose Lösung des Problems.

„Wenn ich mein Gehirn mit einer terrestrischen, kelgianischen oder sogar nidianischen Persönlichkeit teilen würde, könnte ich verstehen, warum man die Dinge, die ich manchmal tue, für falsch hält, und so eine Wiederholung vermeiden“, beteuerte Cha Thrat. „Die Informationen über eine fremde Spezies würde ich nur als Orientierungshilfe für mein Verhalten anderen gegenüber benutzen. Als Auszubildende — und erst recht nicht als Schwesternschülerin — würde ich auf keinen Fall versuchen, die medizinischen oder chirurgischen Kenntnisse ohne Erlaubnis auf meine Patienten anzuwenden.“

Den Diagnostiker überkam plötzlich ein Hustenanfall. Als er sich wieder erholt hatte, sagte er: „Ich danke Ihnen, Cha Thrat, und ich bin mir sicher, Ihre Patienten wären Ihnen ebenfalls sehr verbunden. Aber es ist unmöglich. O'Mara, das ist Ihr Fachgebiet. Antworten Sie.“

Der Chefpsychologe rückte nah an die Bettkante heran und sah Cha Thrat mitleidig an. „Die Vorschriften des Hospitals gestatten es mir nicht, Ihrem Wunsch nachzukommen, aber selbst wenn ich es könnte, würde ich es nicht tun. Obwohl Sie eine ungewöhnlich starke und unbeugsame Persönlichkeit besitzen, würden Sie große Schwierigkeiten haben, Ihren Gehirnpartner unter Kontrolle zu halten. Natürlich ist er kein Alien, der um die geistige Vorherrschaft in Ihrem Gehirn kämpft, aber da die Bänder stets von einem führenden medizinischen Spezialisten stammen, dessen Charakter sich häufig durch Willensstärke und Überzeugungskraft auszeichnet und der es zudem gewohnt ist, seinen Willen durchzusetzen, würde es Ihnen so vorkommen, als ob er die Macht über sie gewinnt. Der sich daraus ergebende, lediglich eingebildete Konflikt könnte zu zeitweiligen Schmerzen, Hautausschlag und noch unangenehmeren organischen Störungen führen. Das alles hat natürlich psychosomatische Gründe, aber die werden Ihnen genauso viele Schmerzen bereiten wie körperliche Ursachen. Zudem besteht die große Gefahr eines bleibenden Gehirnschadens. Bevor ein Auszubildender nicht gelernt hat, die äußeren Wesenszüge der Aliens in seiner Umgebung zu verstehen, bekommt er auch keins der Schulungsbänder eingespielt.

In Ihrem Fall spricht noch ein weiterer Grund dagegen“, merkte O'Mara noch an. „Sie sind eine Frau.“

Sogar im Orbit Hospital gab es also sommaradvanische Vorurteile, dachte Cha Thrat wütend und stieß einen Laut aus, der bei ihr zu Hause zu einem sofortigen und wahrscheinlich gewaltsamen Abbruch des Gesprächs geführt hätte. Zum Glück wurde der Laut nicht vom Translator übersetzt.

„Die Schlußfolgerung, die Sie eben offenbar gezogen haben, ist falsch“, fuhr O'Mara fort. „Es ist einfach so, daß sämtliche weiblichen Angehörigen der bislang entdeckten Spezies mit zwei Geschlechtern gewisse Eigenheiten — aber beileibe nicht Abnormitäten — in den Denkstrukturen entwickelt haben. Eine davon ist eine tiefverwurzelte, auf dem Geschlecht beruhende Feindseligkeit und Abneigung gegen alles und jeden, der in ihre Gedanken eindringt oder sich ihrer zu bemächtigen versucht. Die einzige Ausnahme von dieser Regel findet man nach der Verbindung mit einem Lebensgefährten, in der sich die beiden Partner bei vielen Spezies durch den körperlichen und geistigen Austausch und das Gefühl des gegenseitigen Besitzes ergänzen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie sich in die Sinneseindrücke eines Aliens verlieben.“

„Erhalten denn männliche Lebewesen Aufzeichnungen der Gehirnströme von weiblichen Aliens?“ fragte Cha Thrat, von O'Maras Erklärung zugleich zufriedengestellt und fasziniert. „Könnte ich nicht ein Band von einer Frau bekommen?“

„Dafür gibt es bei den Aufzeichnungen nur ein einziges Beispiel.“, setzte O'Mara an.

„Wir sollten uns jetzt wirklich nicht damit befassen!“ unterbrach ihn Conway, dessen Gesicht einen dunkleren Rotton annahm. „Tut mir leid, Cha Thrat, aber Sie werden weder jetzt noch irgendwann später ein Schulungsband bekommen. O'Mara hat Ihnen erklärt, weshalb. Genauso hat er Ihnen bereits die politischen Hintergründe Ihrer Anstellung am Hospital und den heiklen Stand des Kulturkontakts mit Sommaradva erläutert, der gefährdet wäre, wenn wir Sie kurzerhand aus dem Hospital rauswerfen würden. Wäre es nicht für alle Beteiligten besser, wenn Sie uns aus freiem Entschluß heraus verlassen?“

Cha Thrat schwieg für einen Moment, wobei sie die Augen auf die Gliedmaße richtete, die sie schon als für alle Zeiten verloren geglaubt hatte, und versuchte die richtigen Worte zu finden. „Für die Behandlung des Herrschers über das Schiff Chiang schulden Sie mir nichts“, sagte sie schließlich. „Schon bei meinem ersten Gespräch mit dem Chefpsychologen habe ich erklärt, daß die Verzögerung bei der Behandlung der Wunden eingetreten ist, weil ich selbst keine Gliedmaße verlieren wollte. Hätte Chiang nämlich infolge meiner Entscheidung, die Operation durchzuführen, eine Gliedmaße eingebüßt, hätte ich auch eine opfern müssen. Als Chirurgin für Krieger kann ich mich nicht einer Verantwortung entziehen, die ich bereitwillig übernommen habe.

Aber wenn ich jetzt das Hospital verlassen müßte, wie Sie es mir nahelegen“, fuhr sie fort, „dann wäre das nicht mein eigener, freier Entschluß. Ich kann nicht etwas tun oder unterlassen, wenn ich weiß, daß es falsch wäre.“

Der Diagnostiker blickte ebenfalls auf die wiederangenähte Gliedmaße. „Ich vertraue Ihnen da ganz“, bemerkte er knapp.

O'Mara, schon halb zum Gehen gewandt, atmete langsam aus. „Ich bedaure sehr, daß ich die Bemerkung über das Opfern eines Glieds, die sie bei unserem ersten Gespräch gemacht haben, nicht mitbekommen habe; das hätte uns allen eine Menge Ärger erspart. Ich habe mich schon nach der Sache mit AUGL-Eins-Sechzehn wider besseres Wissen erweichen lassen, aber das blutige Schauspiel bei der FROB-Demonstration war einfach zu viel. Der Rest Ihres Aufenthalts im Hospital wird nicht besonders angenehm werden, weil Sie trotz der früheren Empfehlungen von Diagnostiker Conway und mir niemand mehr in der Nähe seiner Patienten haben will.

Seien wir ehrlich, Cha Thrat“, schloß O'Mara, während er mit Conway zur Tür ging, „Sie sind bei den meisten in Ungnade gefallen.“

Cha Thrat hörte die beiden mit einem Dritten auf dem Korridor sprechen, aber die Stimmen waren für den Translator zu gedämpft. Dann öffnete sich die Tür, und ein anderer Terrestrier betrat das Zimmer. Er trug die dunkelgrüne Uniform des Monitorkorps und kam ihr irgendwie bekannt vor.

„Ich habe draußen gewartet, für den Fall, daß es den beiden nicht gelingen sollte, Sie zu einem vorzeitigen Abschied zu überreden. O'Mara war sich von vornherein ziemlich sicher, daß er und Conway das nicht schaffen würden. Ich bin Timmins, falls Sie sich nicht an mich erinnern. Wir werden ein langes Gespräch miteinander führen müssen.

Und bevor Sie etwas fragen“, fuhr er fort, „die Ungnade, in die Sie laut O'Mara bei den meisten gefallen sind, bedeutet für Sie Wartungsdienst.“

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