1. Kapitel

Der Herrscher des Schiffs saß neben Cha Thrat vor dem Bildschirm auf dem Freizeitdeck, während der verschwommene Lichtfleck allmählich zu einem gewaltigen, komplexen Bauwerk heranwuchs, das in sämtlichen Farben und Lichtstärken funkelte, die Cha Thrats Augen wahrnehmen konnten. Der überwältigende Anblick des Orbit Hospitals erfüllte sie mit großer Ehrfurcht, Staunen und Verlegenheit.

Wie sie erfahren hatte, bekleidete Herrscher Chiang in der Monitorkorpsdivision für extraterrestrische Kommunikation und Kulturkontakte den Rang eines Majors. Hin und wieder irritierte der Herrscher sie allerdings, wenn er sich wie ein Krieger verhielt. Jetzt saß Chiang neben ihr, weil er sich anscheinend aus irgendwelchen ominösen terrestrischen Anstandsregeln dazu verpflichtet sah. Eigentlich hatte er ihr die Höflichkeit erweisen wollen, den Anflug des Hospitals vom Kommandodeck aus beobachten zu dürfen, aber da es Cha Thrat physiologisch unmöglich war, sich in diesen engen und bereits überfüllten Schiffsabschnitt zu begeben, hatte er es für seine Pflicht gehalten, seinen Platz zu verlassen und ihr hier Gesellschaft zu leisten.

Auch wenn er Cha Thrats Patient gewesen war, aber in Anbetracht des großen Unterschieds ihrer sozialen und beruflichen Stellung empfand sie diese Höflichkeitsbekundung als eine vollkommen überflüssige und sinnlose Zeitverschwendung, selbst wenn ihm diese Dummheit sogar noch Vergnügen zu bereiten schien.

Die gedämpfte Unterhaltung auf dem Kommandodeck wurde samt Bild auf den Repeaterschirm übertragen, und obwohl Cha Thrat von ihrem Translator jedes einzelne Wort übersetzt bekam, blieb ihr die Gesamtbedeutung des Gesagten doch unklar, da die Krieger des Schiffs fast ausschließlich technische Fachausdrücke verwendeten. Aber auf einmal ertönte eine andere, verstärkte Stimme, deren einfachen und unzweideutigen Worte von einem Bild der abstoßend stark behaarten Kreatur begleitet wurde, die sie sprach.

„Hier Anmeldezentrale des Orbit Hospitals“, meldete sich die Stimme forsch. „Identifizieren Sie sich bitte. Patient, Besucher oder Mitarbeiter? Dringlichkeitsgrad und physiologische Klassifikation, falls bekannt. Sollten Sie sich nicht sicher sein, stellen Sie bitte Sichtkontakt her, dann übernehmen wir die physiologische Klassifikation für Sie.“

„Hier Kurierschiff des Monitorkorps Thromasaggar“, antwortete eine Stimme vom Kommandodeck aus. „Benötigen Anlegeplatz für kurzen Aufenthalt, um einen Patienten und ein Personalmitglied abzusetzen. Klassifikation der Besatzung und des Patienten lautet terrestrische DBDGs. Der Patient ist gehfähig und auf dem Weg der Genesung, die Behandlung ist nicht dringend. Das medizinische Personalmitglied gehört der Klassifikation DCNF an und ist ebenfalls warmblütiger Sauerstoffatmer ohne besondere Temperatur—, Schwerkraft- oder Druckerfordernisse.“

„Moment bitte“, sagte die häßliche Kreatur, und erneut füllte das Bild des Hospitals den Schirm aus, was nach Cha Thrats optischer Empfindung eine eindeutige Verbesserung bedeutete.

„Was war das denn da eben?“ fragte sie Chiang. „Das Ding hat ausgesehen wie ein… ein Scroggüa. Wissen Sie, das ist eine unserer Nagetierarten.“

„Ah ja, ich habe schon mal Abbildungen davon gesehen“, antwortete Chiang und stieß wieder einmal einen dieser unangenehmen, bellenden Laute aus, die bei dieser Spezies Belustigung anzeigen. „Dieses Wesen hier ist allerdings ein nidianischer DBDG, der etwa die halbe Körpermasse eines Terrestriers hat und einen sehr ähnlichen Metabolismus aufweist. In technologischer und kultureller Hinsicht ist diese Spezies auf einem sehr hohen Entwicklungsstand. Das Wesen sieht also nur vom Äußeren her wie ein riesiges Nagetier aus. Im Orbit Hospital werden Sie lernen, mit weit weniger schönen Lebewesen zusammenarbeiten zu müssen.“

Als wieder das Bild des Nidianers erschien, verstummte Chiang sofort.

„Folgen Sie den blau-gelb-blauen Leitbaken“, wies das Wesen von der Anmeldezentrale sie an. „Lassen Sie den Patienten und das Personalmitglied an Schleuse eins null vier von Bord gehen, und ffiegen Sie dann an den blau-blau-weißen Baken entlang zu Dock achtzehn. Major Chiang und die sommaradvanische Heilerin werden bereits erwartet, und man wird die beiden an der Schleuse abholen.“

Oje! Von welchen Kreaturen bloß? fragte sich Cha Thrat besorgt.

Zwar hatte ihr der Herrscher etliche nützliche Ratschläge und Informationen über das Orbit Hospital im galaktischen Sektor zwölf gegeben, von denen sie ihm aber das meiste nicht abgenommen hatte. Und als sie kurz darauf die Schleusenvorkammer betraten, konnte sie nicht glauben, daß die hüfthohe Halbkugel aus einer grünen, gallertartigen Masse, die zwischen den beiden wartenden Terrestriern auf dem Boden hin und her schwabbelte, ein Lebewesen war.

„Das ist Lieutenant Braithwaite vom Büro des Chefpsychologen“, begann Chiang mit der Vorstellung. „Und das hier ist Wartungsoffizier Timmins, der für die Herrichtung Ihrer Unterkunft verantwortlich ist. Und das daneben ist Doktor Danalta, der dem Ambulanzschiff Rhabwar zugeteilt ist.“

Abgesehen von geringen Unterschieden zwischen den Abzeichen auf den Uniformen vermochte Cha Thrat die Terrestrier nicht auseinanderzuhalten. Der große, grüne Wackelpudding auf dem Boden war vermutlich so etwas wie ein Jux oder vielleicht Teil eines Einweihungsrituals für Neulinge im Krankenhaus. Sie entschied sich, vorläufig nicht darauf zu reagieren, „.und das ist Cha Thrat“, fuhr Chiang fort, „die neue Heilerin von Sommaradva, die von nun an im medizinischen Stab mitarbeiten wird.“

Beide Terrestrier hoben die rechten Hände auf Hüfthöhe und ließen sie wieder sinken, als der Herrscher den Kopf schüttelte. Cha Thrat hatte ihn nämlich bereits zuvor unterrichtet, daß man dort, wo sie herkam, das Ergreifen der Gliedmaße eines fremden Wesens für äußerst unanständig hielt. Aus ihrer Sicht wäre es von den Mitarbeitern des Hospitals sehr viel aufmerksamer gewesen, wenn sie ihr einen Hinweis auf ihre soziale Stellung gegeben hätten. Chiang sprach mit ihnen wie mit Gleichgestellten, allerdings hatte er das auch oft mit Untergebenen auf dem Schiff getan. Bereits das hatte Cha Thrat als sehr gedankenlos von dem Herrscher empfunden und war für sie äußerst verwirrend gewesen.

„Timmins wird dafür sorgen, daß Ihre persönliche Habe in das Ihnen zugewiesene Quartier gebracht wird“, wurde sie nun vom Herrscher informiert. „Was Danalta und Braithwaite jetzt mit uns beiden vorhaben, weiß ich allerdings auch nicht.“

„Nichts allzu Anstrengendes“, versicherte Braithwaite, während sich der zweite Terrestrier entfernte. „Nach der Zeitrechnung des Orbit Hospitals ist es jetzt Mittag, und die Unterkunft der Heilerin wird nicht vor dem frühen Abend hergerichtet sein. Sie müssen nachmittags zur Untersuchung, Major. Cha Thrat soll dabei auch zugegen sein. Wahrscheinlich wollen unsere Ärzte diese Gelegenheit nutzen und ihr persönlich zu ihrer chirurgischen Meisterleistung gratulieren.“

Er blickte in Cha Thrats Richtung, schob aus irgendeinem unerfindlichen Grund den Kopf ein Stückchen vor und fuhr dann fort: „Unmittelbar nach der Untersuchung haben Sie beide Termine in der psychologischen Abteilung. Cha Thrat für ein Orientierungsgespräch mit O'Mara und Sie für eine Untersuchung, die in Ihrem Fall reine Formsache ist, um sicherzustellen, daß Ihre jüngsten Verletzungen keine psychischen Wunden hinterlassen haben. Aber bis dahin. Haben Sie in letzter Zeit schon etwas gegessen?“

„Nein“, antwortete Chiang. „Aber ich würde es sehr begrüßen, mal etwas anderes als diese fade Schiffskost zu mir nehmen zu können.“

Sein terrestrisches Gegenüber stieß gedämpfte, bellende Laute aus und entgegnete: „Dann haben Sie noch nicht unser Krankenhausessen probiert. Allerdings geben wir uns redlich Mühe, unsere Besucher nicht zu vergiften.“

Braithwaite verstummte, um sich zu entschuldigen und sogleich zu erklären, daß er lediglich einen hausinternen Witz gemacht habe. In Wirklichkeit sei das Essen recht schmackhaft, und man habe bezüglich Cha Thrats Ernährungsbedürfnisse bereits umfassende Anweisungen erhalten.

Doch bekam Cha Thrat nur beiläufig mit, was er sagte, da sich ihre Aufmerksamkeit auf die grüne Halbkugel richtete, deren Oberfläche nun kleine Wellen schlug, Falten warf und Scheinfüßchen ausbildete. Sie wackelte jetzt schwerfällig und stemmte sich senkrecht in die Höhe, bis sie dieselbe Größe wie Cha Thrat hatte. Die Haut bekam farbige Flecken. Der feuchte Glanz dessen, was nur Augen sein konnten, erschien, und die Anzahl der kurzen und nur grob geformten Gliedmaßen nahm stetig zu, bis das Gebilde wie etwas aussah, das von einem sommaradvanishen Kind aus Ton hätte modelliert sein können. Auf einmal empfand Cha Thrat Ekel, aber als sich der Körper festigte, eine feinere Gliederung annahm und die charakteristischen Körpermerkmale ihrer Spezies erschienen, verspürte sie nur noch Neugierde und Verwunderung. Schließlich entwickelten sich an den entsprechenden Stellen die Bekleidung und die Arzttasche, und vor ihr stand plötzlich die Gestalt einer zweiten Sommaradvanerin, die Cha Thrat bis aufs I-Tüpfelchen glich.

„Sollten Ihre terrestrischen Freunde tatsächlich vorhaben, Sie bereits wenige Minuten nach Ihrer Ankunft dem Ambiente einer multikulturellen Kantine auszusetzen“, begann ihr Ebenbild mit einer Stimme, die zum Glück der von Cha Thrat nicht ähnelte, „dann verspüre ich regelrecht eine Verpflichtung, der Rücksichtslosigkeit dieser beiden Ignoranten entgegenzuwirken, indem ich ein Äußeres annehme, das Ihnen vertraut und angenehm ist. Das ist ja wohl das mindeste, was ich für ein neues Mitglied des medizinischen Personals tun kann.“

„Doktor Danalta ist keineswegs so uneigennützig, wie er Sie glauben lassen möchte, Cha Thrat“, mischte sich Braithwaite ein, wobei er wieder einen dieser bellenden Laute ausstieß. „Wegen der unglaublich rauhen Umweltbedingungen auf seinem Heimatplaneten hat seine Spezies eine erstklassige Schutzanpassung entwickelt. Es gibt im Orbit Hospital nur wenige warmblütige sauerstoffatmende Lebensformen, in die sich Doktor Danalta nicht in ein paar Minuten verwandeln könnte, wie Sie eben selbst gesehen haben. Allmählich haben wir allerdings den Verdacht, daß er jedes neue intelligente Wesen, das im Hospital eintrifft, als Herausforderung für seine Fähigkeiten auf dem Gebiet der Körperanpassung betrachtet — wobei es ihm völlig egal ist, ob es sich dabei um einen Patienten, Besucher oder Mitarbeiter handelt.“

„Trotzdem bin ich tief beeindruckt“, antwortete Cha Thrat.

Sie starrte ihrem vollkommen fremden und dennoch identischen Ebenbild in die Augen. Nach ihrem Dafürhalten hatte der Alien große Anteilnahme an ihrem gegenwärtigen geistig-seelischem Wohlbefinden bewiesen, zumal sie sich durch den Einsatz seiner ungeheuren Begabung schon sehr viel wohler fühlte. Das konnte nur die Tat eines Heilers für Herrscher gewesen sein — womöglich war er sogar selbst ein Herrscher. Instinktiv machte Cha Thrat die Geste, die bei ihrer Spezies Achtung vor Höherstehenden ausdrückte, und erst im nachhinein fiel ihr ein, daß wahrscheinlich weder die Terrestrier noch ihr Ebenbild namens Danalta die Bedeutung dieser Gebärde erkennen würden.

„Danke schön, Cha Thrat“, sagte Danalta und erwiderte die Geste. „Mit meiner Schutzanpassung sind nämlich empathische Fähigkeiten verbunden. Obwohl ich nicht genau weiß, was diese Gebärde mit den Gliedmaßen zu bedeuten hat, konnte ich doch spüren, daß Sie mir ein Kompliment gemacht haben.“

Danalta, da war sich Cha Thrat sicher, war sich jetzt auch ihrer Verlegenheit bewußt, doch der Gestaltwandler erwähnte nichts davon, als sie den beiden Terrestriern aus der Kammer folgte.

Auf dem Korridor vor der Schleuse drängte sich eine ganze Menagerie von Lebewesen, von denen einige, wenn auch nicht von der Größe, so doch von der Gestalt her nichtintelligenten Tierarten ähnelten, wie man sie auf Sommaradva vorfand. Als einer der kleinen, von rotem Pelz bedeckten Zweifüßler, die Cha Thrat bereits in der Anmeldezentrale gesehen hatte, vorbeilief, versuchte sie, nicht vor ihm zurückzuschrecken, und als riesige Ungeheuer mit sechs Gliedern, unzähligen Tentakeln und einem Vielfachen ihrer Körpermasse auf sie zusteuerten, wurde sie von panischer Angst ergriffen. Doch nicht alle der Aliens wirkten furchteinflößend oder sogar häßlich. So klackerte ein großer, krebsähnlicher Alien mit einem wunderschön gezeichneten Panzer auf den knochenharten Gliedmaßen seines Ektoskeletts vorüber. Die Zangen öffneten und schlossen sich langsam, als dieses Wesen ein Gespräch mit einem wirklich schönen Geschöpf führte, das wenigstens dreißig kurze, stummelartige Beine hatte und von einem sich kräuselnden, silbernen Fell bedeckt war. Es gab noch etliche andere Aliens, die Cha Thrat allerdings wegen der Schutzanzüge, in denen sie steckten, zumeist nur undeutlich erkennen konnte. Im Fall des Insassen eines fahrbaren Druckbehälters, aus dem Dampf zischte, vermochte sie sich nicht einmal eine Vorstellung davon zu machen, welche eigentümliche oder prachtvolle Gestalt sich in diesem mysteriösen Gefährt verbarg.

Die Kakophonie aus heulenden, piepsenden, krächzenden und jammernden Lauten war kaum zu beschreiben, denn dieser Lärm war etwas vollkommen anderes als alles, was sie bisher erlebt hatte.

„Es gibt noch einen viel kürzeren Weg zur Kantine“, sagte Danalta, während ein stacheliges Wesen mit einer membranartigen Haut vorbeischlurfte, das eher wie eine dunkelfarbige Ölfrucht im Großformat aussah, da in dem durchsichtigen Anzug die einzelnen Körpermerkmale von einem dichten, gelben Nebel verhüllt wurden. „Aber das würde einen Ausflug durch die wassergefüllten Stationen der Chalder bedeuten, und Ihre Schutzanzüge werden erst in sechs, möglicherweise sogar erst in sieben Tagen fertig sein. Aber wie ist eigentlich Ihr bisheriger Eindruck vom Orbit Hospital, und wie kommen Sie damit klar?“

Es war beunruhigend und beschämend zugleich, daß Danalta, der zumindest ein zauberkundiger Heiler für Herrscher sein mußte, solche Fragen an eine einfache Chirurgin für Krieger richtete. Doch war die Frage gestellt worden, und nun wurde eine Antwort erwartet. Wenn der Alien seine Verwandlungskünste unbedingt mitten in einem überfüllten Korridor ausüben wollte, dann stand es ihr ganz gewiß nicht zu, Kritik daran zu üben.

Rasch antwortete Cha Thrat: „Ich empfinde Verwirrung, Furcht, Ekel und Neugierde zugleich und bin mir meiner Anpassungsfähigkeit nicht sicher. Ich bin derart verwirrt, daß ich meinen derzeitigen Zustand nicht einmal genauer erklären kann. Zum Beispiel habe ich allmählich das Gefühl, daß die beiden Terrestrier, die vor uns gehen und einer Spezies angehören, die ich noch vor kurzem als völlig fremdartig eingestuft hätte, jetzt etwas fast angenehm Normales an sich haben. Zudem habe ich den Eindruck, daß Sie, weil Sie sich in das Lebewesen verwandelt haben, das auf mich in diesem Hospital am vertrautesten und beruhigendsten wirkt, von Ihrer eigentlichen Natur her das fremdartigste Wesen von allen sind. Um brauchbare Eindrücke zu gewinnen oder mir eine Meinung über das Hospital bilden zu können, habe ich noch nicht genügend Zeit gehabt, aber möglicherweise kennen Sie ja bereits dank Ihrer empathischen Fähigkeiten meine Empfindungen.

Ist es in der Kantine denn sehr viel schlimmer als hier?“ fügte sie besorgt hinzu.

Danalta beantwortete die Frage nicht gleich, und die beiden Terrestrier hatten schon seit geraumer Zeit nichts mehr gesagt. Der mit dem Namen Braithwaite hatte sich ein wenig hinter die anderen zurückfallen lassen und den Kopf zur Seite gewandt, damit einer der beiden fleischigen Auswüchse, die offensichtlich als Hörorgane dienten, Cha Thrats Worte besser auffangen konnte. Es hatte ganz den Anschein, als ob ihre Empfindungen nicht nur den Gestaltwandler interessierten. Als Danalta schließlich sprach, glichen seine Worte eher einem Vortrag als einer einfachen Antwort auf ihre Frage.

„Auf niedrigem Niveau sind empathische Fähigkeiten bei den meisten intelligenten Lebensformen normal, doch nur bei einer Spezies, nämlich den Bewohnern von Cinruss, sind sie voll entwickelt. Sie werden bald einen Vertreter dieser Spezies kennenlernen, denn auch er ist auf neuentdeckte Lebensformen neugierig und wird Sie bei der erstbesten Gelegenheit aushorchen wollen. Dann können Sie ja mal meine begrenzten empathischen Fähigkeiten mit denen von Prilicla vergleichen.“

Danalta hielt kurz inne und fuhr dann fort: „Meine bescheidenen Fähigkeiten beruhen nämlich eher auf der genauen Beobachtung von Körperbewegungen, Muskelanspannungen, Veränderungen der Hautfarbe und dergleichen als auf der direkten Wahrnehmung der emotionalen Ausstrahlung des betreffenden Wesens. Sie als Heilerin müssen ja auch ein gewisses Maß an Einfühlungsvermögen für Ihre Patienten besitzen und deren gesundheitlichen Zustand oder eine Veränderung dieses Zustands oft ohne direkte medizinische Untersuchung spüren können. Aber wie hoch meine Fähigkeiten auch entwickelt sein mögen, Ihre Gedanken bleiben für mich dennoch stets im verborgenen und sind allein Ihnen vorbehalten. Ich nehme lediglich Ihre stärkeren Empfindungen wahr.“

„Die Kantine“, verkündete Braithwaite plötzlich und bog bereits in den breiten, türlosen Eingang ein. Er konnte gerade noch einen Zusammenstoß mit einem herauskommenden Nidianer und zwei der Wesen mit silbernem Fell vermeiden, und bellte leise, als die drei abfällige Bemerkungen über sein ungeschicktes Verhalten machten. Dann deutete er in eine Ecke des Raums und drängte die anderen zur Eile: „Schnell, da drüben ist noch ein Tisch frei!“

Einen Moment lang war Cha Thrat nicht in der Lage, auch nur einen einzigen Muskel zu bewegen. Sie starrte auf den sich weit ausdehnenden, spiegelblank polierten Boden und auf die wie kleine Inseln gruppierten Eßtische, Bänke und Stühle, die nach Größe und Form zusammengestellt waren, um der unglaublichen Vielfalt von Benutzern Platz zu bieten. Der erste Eindruck war viel, viel schlimmer als ihre Erlebnisse auf den Korridoren, wo sie immer nur zwei oder drei Aliens auf einmal begegnet war. Hier hielten sich Hunderte von ihnen auf und saßen entweder nach Spezies getrennt oder mit mehreren verschiedenen Lebensformen zusammen am selben Tisch.

Es befanden sich dort Wesen, die einem schon aufgrund ihrer auffallenden Körperstärke und der Reichweite ihrer natürlichen Waffen Angst einjagten. Es gab andere, die durch ihre Farbe, den Glanz des Schleimüberzugs oder ekelerregende Wucherungen auf der Haut her grauenhaft, schrecklich und widerlich wirkten, und viele, die die Wahnvorstellungen sommaradvanischer Alpträume furchtbare Realität werden ließen. An einigen der Tische saßen oder hockten Aliens, deren Körper und Gliedmaßen so unglaublich grotesk gebaut waren, daß Cha Thrat kaum ihren Augen trauen mochte.

„Hier entlang“, bat Danalta, der gewartet hatte, bis Cha Thrats Glieder nicht mehr zitterten. Er führte sie zu dem von Braithwaite bereits besetzten Tisch, wo sie feststellte, daß das Mobiliar weder für die Physiologie der Terrestrier geeignet war, noch zu den drei krebsähnlichen Aliens mit Ektoskelett paßte, die gerade aufgestanden waren.

Sie fragte sich, ob sie jemals in der Lage sein würde, sich den Gebräuchen dieser hoffnungslos chaotisch und schlampig wirkenden Wesen anzupassen. Auf Sommaradva wußte wenigstens jeder, wo sein Platz war.

„Der Automat für die Bestellung und anschließende Auslieferung des Essens funktioniert hier praktisch genauso wie auf dem Schiff“, erklärte Braithwaite, als sich Cha Thrat vorsichtig in den furchtbar ungemütlichen Stuhl sinken ließ und durch ihr Körpergewicht das Display mit der Speisekarte einschaltete. „Sie geben einfach Ihre physiologische Klassifikation ein, und dann werden die vorhandenen Gerichte aufgelistet. Bis der Versorgungscomputer für Speisen und Getränke mit den Einzelheiten der von Ihnen bevorzugten Zusammenstellungen, der Beschaffenheit und der Anordnung der Speisen auf dem Teller programmiert worden ist, wird Ihnen das Gericht wahrscheinlich vorerst nur in unansehnlichen, aber nahrhaften Klumpen serviert werden können. Sie werden sich bald an dieses System gewöhnen, aber in der Zwischenzeit bestelle ich lieber für Sie.“

„Danke“, murmelte Cha Thrat. Der größte Klumpen auf dem Teller, der jetzt ankam, sah wie ein Block Tasam aus. Aber er roch wie gebratenes Cretsi, hatte die Konsistenz von gebratenem Cretsi und, so fand Cha Thrat heraus, nachdem sie eine kleine Ecke davon probiert hatte, er schmeckte auch wie gebratenes Cretsi. Jetzt erst merkte sie, daß sie wirklich Hunger hatte.

„Manchmal kann es vorkommen, daß Sie sich vom bloßen Anblick der anderen Gerichte oder der Tischgenossen derart belästigt fühlen, daß Ihnen dabei der Appetit vergeht“, fuhr Braithwaite fort. „Sie sollten deshalb lieber ein Auge auf Ihrem Teller behalten und die übrigen schließen; wir fühlen uns dadurch keineswegs beleidigt.“

Cha Thrat folgte dem Vorschlag, ließ aber ein Auge leicht geöffnet, damit sie Braithwaite sehen konnte, der sie immer noch aufmerksam musterte, obwohl er aus irgendeinem merkwürdigen terrestrischen Grund vorgab, das nicht zu tun. Während des Essens kehrten ihre Gedanken zu dem Zwischenfall mit dem Herrscher des Schiffs auf Sommaradva sowie zu der Raumreise hierher und ihrem Empfang im Hospital zurück, und sie mußte feststellen, daß sie allmählich mißtrauisch wurde und sogar leicht verärgert war.

„Um noch einmal auf Ehre stärkeren Empfindungen zurückzukommen“, meldete sich Danalta erneut zu Wort, der offenbar vorhatte, seinen am Kantineneingang unterbrochenen Vortrag fortzusetzen, „haben Sie eigentlich irgendwelche starken Vorbehalte dagegen, persönliche oder berufliche Fragen in Gegenwart von Fremden zu besprechen?“

Chiang, der Herrscher des Schiffs, hielt mit einem Stück Nahrung, das wie ein Teil von einem einst lebendigen Wesen aussah, auf halbem Weg zu seiner Eßöfmung inne und sagte: „Den Bewohnern von Sommaradva ist es lieber, wenn man ihnen frei heraus sagt, was man über sie denkt. Andererseits halten sie die Anwesenheit aufgeschlossener Beobachter bei einer Besprechung ihrer Angelegenheiten häufig für nützlich.“

Wie Cha Thrat feststellte, konzentrierte sich Braithwaite fast ausschließlich auf sein ekelerregendes Essen. Deshalb richtete sie so viele Augen auf den Gestaltwandler, wie es ihr Anstand gerade noch zuließ, und übersah die zahlreichen Dinge im Hintergrund, die sie nicht sehen wollte.

„Na gut“, fuhr Danalta fort und blickte sie mit seinen nachgeahmten, aber dennoch fremden Augen an. „Ihnen müßte bereits klargeworden sein, Cha Thrat, daß Sie sich in einer anderen Lage befinden als die übrigen Mitarbeiter, die im Hospital auf Probe beschäftigt werden. Die Stellen im Orbit Hospital sind sehr begehrt, und die Bewerber müssen auf ihren Heimatplaneten äußerst schwierige Eignungstests und gründliche psychologische Untersuchungen bestehen. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, daß sie eine wirkliche Chance haben, sich auf die Umgebung in einem Hospital einzustellen, das für viele verschiedene Spezies eingerichtet worden ist, weil ihnen unsere hiesige Ausbildung ansonsten überhaupt nichts nützt.

Sie sind nicht auf diese Weise überprüft worden“, fuhr Cha Thrats fremdes Spiegelbild fort. „Bei Ihnen hat es weder Eignungstests gegeben noch psychologische Persönlichkeitsdiagramme von der Geburt bis zum Erwachsenenalter oder eine objektive Beurteilung Ihres Werts als Heilerin. Wir wissen nur, daß Sie sich auf erstklassige Empfehlungen der Monitorkorpsdivision für Kommunikation und Kulturkontakte berufen können und wahrscheinlich auch auf die Fürsprache Ihrer Fachkollegen auf Sommaradva, einem Planeten, über den uns ebensowenig bekannt ist wie über seine Bevölkerung.

Sind Sie sich unserer Schwierigkeit bewußt, Cha Thrat? Ein Mitarbeiter, der mit Ausnahme seiner eigenen Spezies völlig unvorbereitet ist und keinerlei Vorkenntnisse besitzt, könnte sich selbst wie auch dem Krankenhauspersonal und den Patienten unermeßlichen Schaden zufügen. Wir müssen ganz genau wissen, was wir mit Ihnen bekommen haben, und das umgehend.“

Die anderen hatten ihre Mahlzeit unterbrochen, und Cha Thrat folgte ihrem Beispiel, obwohl sie noch immer einen Mund zum Sprechen frei hatte. „Als Fremde, die mit der Erwartung hierhergekommen ist, eine Stelle anzutreten, habe ich Ihr Verhalten mir gegenüber zunächst für wenig feinfühlig gehalten, aber dann bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß daran die fremden Verhaltensmuster schuld sind, mit denen ich nur sehr wenig Erfahrung habe. Schließlich kam mir der Verdacht, daß Ihr schroffes und unsensibles Verhalten Absicht ist und ich auf irgendeine Weise auf die Probe gestellt werden soll. Diesen Verdacht haben Sie eben bestätigt, aber ich ärgere mich sehr darüber, daß ich über den Test nicht informiert worden bin. Meiner Meinung nach können verdeckte Tests durchaus ein Indiz für die mangelnde Befähigung des Testleiters sein.“

Eine Weile herrschte absolute Stille am Tisch. Cha Thrat blickte Danalta an und wandte die Augen wieder ab. Die Körperhaltung und der Gesichtsausdruck des Gestaltwandlers waren wie ein Spiegelbild von ihr und verrieten ihr somit nichts. Deshalb richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Braithwaite, der sich die ganze Zeit auf so verstohlene Weise für sie interessiert hatte, und wartete auf eine Reaktion von ihm.

Einen Moment lang blickten die beiden tiefliegenden Sehorgane des Terrestriers ruhig in ihre vier Augen, und allmählich war sich Cha Thrat fast sicher, daß es sich bei ihm nicht um einen Krieger, sondern um einen Herrscher handeln mußte.

„Manchmal wird ein verdeckter Test nur deshalb durchgeführt, um dem Kandidaten, wenn er durchgefallen ist, diese unerfreuliche Mitteilung zu ersparen“, sagte er. „Wenn man so tut, als habe gar kein Test stattgefunden, kann man dem Kandidaten irgendeine andere Begründung dafür geben, daß man seine Anstellung ablehnt, eine, die keine mangelnde Berufsbefähigung oder psychologische oder seelische Defekte zu verstehen gibt und die von ihm akzeptiert wird. Es tut mir leid, daß der geheime Charakter des Tests Sie verärgert hat. Aber unter den gegebenen Umständen waren wir zu dem Schluß gekommen, es wäre besser, Ihnen.“

Er brach den Satz ab, bellte leise, als ob die Situation irgend etwas Erheiterndes an sich hätte, und fuhr dann fort: „Wir Terrestrier haben eine Redewendung, die Ihre Lage sehr treffend beschreibt: Wir haben Sie sozusagen ins kalte Wasser gestoßen.“

„Und was haben Sie durch den verdeckten Test herausgefunden?“ wollte Cha Thrat wissen, wobei sie sich absichtlich die einem Herrscher gebührende Höflichkeitsgeste sparte.

„Wir haben herausgefunden, daß Sie auch im kalten Wasser eine ausgezeichnete Schwimmerin sind“, antwortete Braithwaite geheimnisvoll, und diesmal bellte er nicht.

Загрузка...