19. Kapitel

Sie sprachen schon wieder alle gleichzeitig. Cha Thrat mußte den Kopfhörer nach hinten schieben, um das plötzliche Heulen des Translators zu dämpfen, zumal sie bei diesem Lärm keine klaren Gedanken fassen konnte. Die Kamera folgte ihr noch immer, und schließlich mußte man den Sinn ihres Handelns begriffen haben, denn das Geplapper verstummte rasch und wurde zu der Stimme Priliclas.

„Meine Freundin, hören Sie mir jetzt genau zu. Irgendeine parasitäre Lebensform hat sich an Sie geheftet, und der Charakter Ihrer emotionalen Ausstrahlung verändert sich. Versuchen Sie möglichst. nein, versuchen Sie mit aller Kraft, sich den Parasiten vom Hinterkopf zu reißen, und machen Sie, daß Sie nach draußen kommen, bevor sich Ihr Zustand weiter verschlechtert!“

„Ich bin völlig in Ordnung“, protestierte Cha Thrat. „Ehrlich, mir geht es gut. Lassen Sie mich einfach in Ruhe, bis ich.“

„Aber Ihre Gedanken und Gefühle sind nicht mehr Ihre eigenen!“ fiel ihr Murchison ins Wort. „Wehren Sie sich, verdammt noch mal! Versuchen Sie, die Kontrolle über Ihren Verstand zu behalten! Bemühen Sie sich wenigstens, wieder die Tür zu öffnen, damit wir keine Zeit damit verlieren müssen, ein Loch hineinzuschweißen, wenn wir zu Ihnen kommen.“

„Nein!“ widersprach der Captain in bestimmtem Ton. „Tut mir leid, Cha Thrat, aber das medizinische Team wird das Schiff nicht verlassen.“

Der sich daraus ergebende Streit überlastete sogleich wieder Cha Thrats Translator und machte es ihr unmöglich, mit irgendeinem von ihnen zu sprechen. Doch gab es im Verlauf der Auseinandersetzung auch einige Abschnitte, die sie deutlich verstehen konnte, insbesondere, wenn Fletcher mit seiner Herrscherstimme sprach.

Der Captain erinnerte sie daran, und forderte Prilicla auf, dies zu bestätigen, daß unter den gegebenen Umständen die strengstmöglichen Quarantänebestimmungen galten. Sie waren auf eine neue Lebensform gestoßen, die sich die Erinnerung, Persönlichkeit und Intelligenz ihrer Opfer einverleibte und sie zu unvernünftigen Tieren machte. Überdies konnten sich die Wesen, nach dem jüngst bei der Technikerin Cha Thrat beobachteten Vorfall zu urteilen, an jede Spezies anpassen und sie rasch kontrollieren.

Bislang versuchte niemand, Fletcher zu unterbrechen. „Das könnte bedeuten, daß diese Scheiben nicht vom Heimatplaneten der FGHJs stammen, sondern an irgendeinem anderen Ort aufs Schiff gelangt sind, und daß sie das, was sie eben mit Cha Thrat gemacht haben, den Mitgliedern jeder intelligenten Spezies in der Föderation antun könnten!“ fuhr der Captain fort. „Ich habe keine Ahnung, was sie dazu treibt, weshalb sie sich damit begnügen, ihren Opfern den Verstand auszusaugen, anstatt sich vom Körper zu ernähren. Ich will auch gar nicht darüber nachdenken und auch nicht darüber, auf welche Weise oder mit welcher Geschwindigkeit sie sich vermehren. In dem Raum bei Cha Thrat befinden sich Dutzende von diesen Intelligenzsaugern, und sie sind so klein, daß sich noch mehr von ihnen in allen möglichen Ecken auf dem gesamten Schiff verstecken könnten.

Bevor wir nicht einen anständig ausgerüsteten und geschützten Entgiftungstrupp hinübergeschickt haben, bleibt mir nichts anderes übrig, als den Bordtunnel zu verschließen und davor eine Wache zu postieren. Diese Geschichte ist für uns etwas völlig Neues, und es kann gut sein, daß das Hospital die vollständige Zerstörung des Schiffs samt allem, was sich an Bord befindet, anordnen wird.

Wenn Sie alle mal einen Moment lang darüber nachdenken“, schloß der Captain, der sich ganz so anhörte, als sei er mit sich selbst sehr unglücklich, „dann werden Sie einsehen, daß wir es keinesfalls riskieren dürfen, diese Lebensform auf die Rhabwar gelangen oder gar ins Orbit Hospital.“

Eine Weile herrschte absolute Stille, in der sich das Team die Worte des Captains durch den Kopf gehen ließ, und Cha Thrat dachte über diese seltsame Geschichte nach, die ihr zugestoßen war und immer noch zustieß.

Bei dem Versuch, Khone zu helfen, hatte sie damals am eigenen Leib einen Zusammenschluß erfahren und zugleich den Schreck, die Verwirrung und die Aufregung darüber, daß eine ihr völlig fremde Persönlichkeit in ihre Gedanken eingedrungen war, die aber nie die Kontrolle übernommen hatte. Der Eindruck war dadurch noch eigenartiger und erschreckender geworden, daß das Gehirn der Gogleskanerin auch Erfahrungen eines früheren Zusammenschlusses mit einem Verstand enthalten hatte, dessen Erinnerungen noch verwirrender waren, nämlich dem des Terrestriers Conway. Doch das gegenwärtige Gefühl war völlig anders. Die Annäherung und das Eindringen des Wesens waren sanft, beruhigend und sogar angenehm gewesen und hatten bei Cha Thrat den Eindruck eines durch lebenslange Erfahrung perfektionierten Vorgangs hervorgerufen. Aber wie sie selbst schien nun auch der Eindringling von dem Inhalt ihres teils sommaradvanischen, teils gogleskanischen und teils terrestrischen Verstands höchst verwirrt zu sein und hatte deswegen Mühe, ihren Körper zu steuern. Sie war sich über seine Absichten noch immer nicht im klaren, hatte aber kaum Zweifel, daß sie noch sie selbst war und mit jeder Sekunde mehr und mehr über den Alien erfuhr.

Murchison brach als erste das Schweigen. „Wir haben doch Schutzanzüge und Schneidbrenner“, sagte sie. „Warum entgiften wir den Raum nicht selbst, indem wir alle Scheiben, auch die auf dem Nacken der Technikerin, verbrennen und Cha Thrat zur Behandlung hierherholen, solange noch etwas von ihrem Verstand übrig ist? Die Hospitalärzte können später die Entgiftung abschließen, wenn wir.“

„Nein!“ unterbrach sie der Captain in bestimmtem Ton. „Wenn einer von Ihnen auf das fremde Schiff geht, darf er nicht mehr zurück!“

Cha Thrat wollte sich nicht einmischen, weil mit dem Sprechen eine leichte geistige Anstrengung verbunden gewesen wäre, die zu einer Blockierung des Bereichs ihres Gehirns geführt hätte, der nach ihrem Wunsch aufnahmefähig bleiben sollte. Statt dessen machte sie mit den unteren Armen die Geste, die zur Geduld aufforderte, aber dann fiel ihr ein, daß diese für Nicht-Sommaradvaner keine Bedeutung hatte, und bediente sich des terrestrischen Zeichens, indem sie eine nach vorn gerichtete Handfläche hochhielt.

„Ich bin völlig durcheinander“, meldete sich Prilicla plötzlich. „Freundin Cha Thrat hat keine Schmerzen oder geistig-seelische Beschwerden. Sie verspürt irgendeinen ganz dringenden Wunsch, aber die emotionale Ausstrahlung ist typisch für jemanden, der sich angestrengt bemüht, gelassen zu bleiben und die übrigen Gefühle unter Kontrolle zu halten.“

„Aber sie hat sich nicht unter Kontrolle“, fiel ihm Murchison ins Wort. „Sehen Sie sich doch an, wie sie mit den Armen herumgefuchtelt hat. Sie vergessen, daß die Empfindungen und Emotionen nicht mehr Cha Thrats eigene sind.“

„Freundin Murchison, wer von uns beiden ist hier eigentlich das Wesen, das für Emotionen empfänglich ist?“ rügte Prilicla sie, wie es sanfter nicht möglich war. „Freundin Cha Thrat, versuchen Sie zu sprechen. Was sollen wir für Sie tun?“

Eigentlich wollte Cha Thrat ihnen sagen, daß sie alle endlich den Mund halten und sie in Ruhe lassen sollten, doch brauchte sie dringend die Hilfe des Teams, aber diese Bitte hätte nur noch mehr Fragen, Unterbrechungen und geistige Verwirrung hervorgerufen. Ihr Gehirn war ein brodelndes Gemisch aus Gedanken, Eindrücken, Erfahrungen und Erinnerungen, die nicht nur ihre eigene Vergangenheit auf Sommaradva betrafen, sondern auch die der Heilerin Khone und des Diagnostikers Conway. Darin stolperte der Neuankömmling wie ein ungebetener Gast in einem großen, üppig möblierten, aber nur unzulänglich beleuchteten Haus herum, untersuchte einige Gegenstände und schreckte vor anderen wiederum zurück. Wie Cha Thrat wußte, war jetzt nicht die Zeit, ihn einfach gewähren zu lassen.

Am besten wäre es vielleicht, wenn sie einige der Fragen des Teams beantwortete und gerade soviel sagte, daß man den Mund hielt und das tat, was sie wollte.

„Ich befinde mich nicht in Gefahr und habe auch keine körperlichen oder seelischen Beschwerden“, antwortete Cha Thrat vorsichtig. „Wenn ich will, kann ich jederzeit die volle Gewalt über meinen Verstand und Körper zurückerlangen, aber ich habe mich entschlossen, das nicht zu tun, weil ich es nicht riskieren will, die geistige Verbindung durch zu langes Sprechen abzubrechen. Ich möchte, daß Chefarzt Prilicla und Pathologin Murchison so schnell wie möglich zu mir kommen. Die FGHJs sind im Moment nicht wichtig, genausowenig wie das Betäubungsmittel oder die Suche nach dem anderen Überlebenden, denn der.“

„Nein!“ schrie Fletcher dazwischen, und seine Stimme klang, als ob ihm jeden Moment übel werden würde. „Diese Dinger sind mit allen Wassern gewaschen. Merken Sie denn nicht, wie hinterhältig die versuchen, Cha Thrat dazu zu bringen, uns erst in Sicherheit zu wiegen, um uns dann zu sich hinüberzulocken? Wenn Sie beide erst mal in deren Gewalt sind, wird es bestimmt noch bessere Gründe geben, daß der Rest von uns zu Ihnen kommt oder Sie darauf bestehen, zurückzukehren, um die gesamte Besatzung der Rhabwar in den gleichen Zustand zu versetzen wie die FGHJs. Nein, es wird keine weiteren Opfer geben.“

Cha Thrat versuchte, diese Einwände zu überhören, da sie in ihrem Kopf zu Gedankengängen führten, die den Neuankömmling beunruhigten und von einer echten Verständigung mit ihr abhielten. Ganz vorsichtig hob sie die hintere Mittelgliedmaße und beugte sie so, daß der große Finger auf die Scheibe deutete, die ihr am Nacken klebte.

„Das hier ist der Überlebende“, behauptete sie, „der einzige Überlebende.“

Auf einmal empfand der Fremde in ihrem Kopf eine ungeheure Befriedigung und Beruhigung, als wäre er überglücklich, endlich seine Notlage erfolgreich verständlich gemacht zu haben. Wie Cha Thrat feststellte, konnte sie jetzt auch sprechen, ohne dabei die Angst zu spüren, daß er sich von ihr lösen, eingehen und vielleicht sterben könnte.

„Er ist schwer krank“, fuhr Cha Thrat fort, „konnte aber, als ich den Raum betreten habe, für einen kurzen Augenblick das Bewußtsein und die Bewegungsfähigkeit wiedererlangen. In diesem Moment entschloß er sich zu einem letzten verzweifelten Versuch, für seine Freunde und die ihrer Verantwortung unterstehenden Wirtswesen Hilfe zu beschaffen. Die ersten, ungeschickten Bemühungen, Kontakt herzustellen, waren der Grund für die unkoordinierten Bewegungen meiner Gliedmaßen. Daß er der einzige Überlebende ist, hat der Alien erst in den vergangenen Minuten bemerkt.“

Niemand, nicht einmal der Captain, sagte jetzt ein Wort. „Deshalb brauche ich Prilicla zur Überwachung der emotionalen Ausstrahlung des Aliens aus nächster Nähe“, fuhr Cha Thrat fort, „und Murchison zur Untersuchung der toten Freunde des Aliens, weil ich hoffe, daß sie die Todesursache feststellt und eine Behandlungsmethode findet, bevor der Alien nicht mehr zu heilen ist.“

„Nein“, widersprach der Captain erneut mit Vehemenz. „Die Geschichte klingt zwar gut und insbesondere für einen Haufen ET-Ärzte faszinierend, aber das könnte dennoch ein Trick sein, um weitere Besatzungsmitglieder der Rhabwar unter geistige Kontrolle zu bekommen. Tut mir leid, Cha Thrat, aber das können wir nicht riskieren.“

„An dem, was Freund Fletcher gesagt hat, ist etwas dran“, räumte Prilicla ein. „Und Sie wissen ja selbst, meine Freundin, daß die Einwände des Captains berechtigt sind, schließlich haben Sie mit eigenen Augen den geistlosen Zustand gesehen, in dem die FGHJs von diesen Kreaturen zurückgelassen worden sind. Nein, meine Freundin, mir tut es ebenfalls leid.“

Nun schwieg wiederum Cha Thrat, während sie eine für alle befriedigende Lösung zu finden versuchte. Irgendwie hatte sie vom Empathen eine derartige Härte nicht erwartet.

Schließlich sagte sie: „Körperlich ist der Alien völlig entkräftet, und ich könnte ihn ganz leicht abnehmen, um Ihnen zu zeigen, daß er keine Gewalt über meinen Körper hat, aber durch solch eine Maßnahme wird er womöglich sterben. Wenn ich jedoch beweisen würde, daß ich mich normal bewegen kann, indem ich diesen Raum verlasse und mich vier Decks nach unten begebe, wo wir nicht von der emotionalen Ausstrahlung der FGHJs gestört werden, und den Alien eindringlich bitten würde, bis dahin bei Bewußtsein zu bleiben, könnte dann der Cinrussker mit seinen empathischen Fähigkeiten feststellen, ob die emotionale Ausstrahlung des Aliens die eines hochintelligenten und zivilisierten Lebewesens oder die eines Raubtiers ist, das einem die Vernunft stiehlt und Sie da drüben anscheinend in Angst und Schrecken versetzt?“

„Vier Decks weiter unten heißt, daß sie dann nur noch ein Deck über dem Bordtunnel ist und von dort aus.“, begann der Captain, doch Prilicla schnitt ihm das Wort ab.

„Wenn ich der betreffenden Lebensform nahe genug wäre, könnte ich solch einen Unterschied durchaus wahrnehmen, Freundin Cha Thrat. Wir treffen uns dort gleich direkt vor Ort.“

Aus Cha Thrats Translator kam erneut ein Heulen. Als es langsam nachließ, sagte Prilicla gerade: „Freund Fletcher, als ranghöchster medizinischer Offizier an Bord habe ich die Pflicht, mich davon zu überzeugen, ob es sich bei der Lebensform, die sich an Cha Thrat geheftet hat, um den Patienten oder um die Krankheit handelt! Da jedoch gerade meine Spezies in der Föderation für ihre Ängstlichkeit und Feigheit bekannt ist, werde ich alle nur erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. Freundin Cha Thrat, stellen Sie die Kamera so ein, daß wir sehen können, ob irgendeins dieser Lebewesen versucht, den Raum zu verlassen und Ihnen zu folgen. Falls das auch nur ein Wesen tut, werde ich sofort zur Rhabwar zurückkehren und den Bordtunnel schließen. Haben Sie das verstanden?“

„Ja, Doktor“, bestätigte Cha Thrat.

„Sollte irgend etwas Verdächtiges vorgehen, während ich bei Ihnen bin“, fuhr er fort, „wird Freund Fletcher, selbst wenn ich einem Überfall entgehen kann und noch ich selbst zu sein scheine, den Tunnel abriegeln und sofort die Quarantänebestimmungen in Kraft setzen.

Zu dieser Lebensform brauchen wir so viele Informationen, wie Sie uns geben können“, schloß er. „Bitte fahren Sie mit Ihrem Bericht fort, meine Freundin, wir zeichnen alles auf. Ich mache mich jetzt auf den Weg.“

„Und ich begleite Sie“, entschied sich Murchison in bestimmtem Ton. „Falls das der einzige Überlebende auf dem Schiff ist und zu einer neuentdeckten intelligenten Spezies gehört, die später vielleicht der Föderation beitritt, wird mir Thorny mit allen sechs Beinen aufs Dach steigen, wenn ich ihn sterben lasse. Danalta und Naydrad können ja hierbleiben, um das Bild von der Kamera zu verfolgen und uns bei Bedarf Spezialausrüstung zu schicken. Und für den Fall, daß der kleine Alien nicht so freundlich ist, wie Cha Thrat behauptet, werde ich zusätzlich zu meinen Instrumenten noch einen Hochleistungsschneidbrenner mitnehmen, um Ihnen den Rücken zu decken, Doktor.“

„Danke, meine Freundin, aber das lassen Sie mal lieber“, wehrte Prilicla ab.

„Ich denke gar nicht daran, Doktor“, beharrte die Pathologin auf ihrem Vorhaben. „Bei allem Respekt, Sie haben zwar den Rang, aber bestimmt nicht die Muskeln, um mich daran zu hindern.“

„Wenn Sie noch irgendeine bewußte emotionale Ausstrahlung entdecken wollen, dann beeilen Sie sich bitte“, warf Cha Thrat ungeduldig ein. „Der Patient muß dringend behandelt werden.“

Sofort erhob Fletcher Einspruch gegen den ungerechtfertigten Gebrauch der Bezeichnung „Patient“. Cha Thrat überhörte ihn und fuhr damit fort, einen Überblick über die Krankengeschichte des Überlebenden und die Entwicklungsgeschichte seiner Spezies zu geben, indem sie so gut wie sie konnte die Gedanken und Vorstellungen beschrieb, die der Alien ihr mit so großer Mühe einflößte.

Die scheibenförmige Lebensform stammte von einem Planeten, den selbst der sommaradvanische, gogleskanische und terrestrische Teil von Cha Thrats Gehirn für schön hielt. Dort gab es eine derart üppige Fauna und Flora, daß selbst die größeren Tierarten nicht ums Überleben kämpfen mußten und deshalb auch keine Intelligenz entwickelt hatten. Doch schon seit frühester Zeit, als alles Leben noch in den Meeren war, entwickelte sich eine Spezies, die sich an viele verschiedene einheimische Tiere heften konnte. Zusammen bildeten sie eine symbiotische Gemeinschaft: Das Wirtstier wurde zu den besten Nahrungsquellen dirigiert, während der schwache und relativ kleine Parasit den Schutz seines Wirts genoß und sich zudem durch dessen Beweglichkeit seine eigene, weniger leicht zu findende Nahrung suchen konnte. Mit der Zeit verließen die Wirtstiere das Wasser und entwickelten sich zu großen Landtieren ohne Intelligenz. Die Gemeinschaft zu beiderseitigem Nutzen setzte sich fort, wobei die Parasiten immer mehr Intelligenz entwickelten.

Die früheste Geschichtsüberlieferung berichtete von vergeblichen Versuchen, vielen verschiedenen Wirtstierarten Intelligenz anzuerziehen. Schließlich wurde allen anderen Gattungen die einheimische, sechsbeinige FGHJ-Lebensform vorgezogen, die die Fähigkeit besaß, mit den unterschiedlichsten Materialien zu arbeiten, wenn ihre Gliedmaßen von einem Parasiten gesteuert wurden.

Doch die Parasiten sehnten sich immer mehr nach Gehirnpartnern, nach Wesen, die widersprechen, diskutieren, neue Ideen und Standpunkte einbringen konnten und die keine Ähnlichkeit mit Kreaturen hatten, die nur wenig mehr als sich selbst versorgende, organische Universalwerkzeuge waren, deren einzige Fähigkeiten darin bestanden, auf Befehl zu sehen, zu hören und Handgriffe zu verrichten.

Mit diesen lebendigen Werkzeugen erbauten sie große Städte, Fabrikanlagen und Schiffe, die erst den Planeten umfuhren, dann durch die Atmosphäre flogen und schließlich durch die erschreckende und zugleich überwältigende Leere zwischen den Sternen kreuzten. Doch die Städte waren wie die Raumschiffe funktionell und häßlich, weil sie von Wesen zum eigenen Komfort und Gebrauch gebaut worden waren, die keinen Sinn für Schönheit hatten und deren tierische Bedürfnisse durch Nahrung, Wärme und die regelmäßige Befriedigung des Fortpflanzungstriebs gestillt waren. Die FGHJs mußten wie teure Werkzeuge gepflegt werden, und viele von ihnen wurden mit jener Zuneigung geliebt, wie sie ein zivilisiertes Lebewesen einem treuen, aber nicht intelligentem Haustier nur entgegenbringen kann.

Die Parasiten hatten jedoch ihre ganz eigenen Bedürfnisse, die in keiner Weise denen ihrer Wirte ähnelten, von deren tierischen Gewohnheiten und unwillkürlichen Verhaltensweisen sie sich sehr abgestoßen fühlten. Für ihr stetiges seelisches Wohlergehen war es lebensnotwendig, sich regelmäßig von den Wirten zu lösen, um ein eigenes Leben zu führen. Das taten sie für gewöhnlich in den Stunden der Dunkelheit, wenn die Werkzeuge nicht mehr in Gebrauch waren und man sie dort unterzubringen vermochte, wo sie sich nichts antun konnten. Sie gingen ihrem Leben an den kleinen, stillen, privaten Plätzen nach, auf den winzigen Inseln der Zivilisation, Kultur und Schönheit im Herzen der städtischen Häßlichkeit, wo ihre Familien nisteten und man von den Wirtstieren durch alles mit Ausnahme von der Entfernung getrennt war.

Lange galt unter ihnen als allgemein anerkannte Tatsache, daß keine Lebensform oder Kultur der Stagnation entgeht, wenn sie sich nicht aus der eigenen Familie oder Sippe und schließlich aus der eigenen Welt hinausbegibt. Auf ihrer ständigen Suche nach anderen, ihnen ähnlichen oder auch vollkommen unähnlichen intelligenten Wesen hatten sie zwar viele Planeten außerhalb des eigenen Sonnensystems entdeckt und auf ihnen kleine Kolonien gegründet, aber keine der dort einheimischen Lebensformen verfügte über Intelligenz, so daß sie alle auch wieder nur als Werkzeuge zu gebrauchen waren.

Aufgrund der heftigen Abneigung der Parasiten, sich durch die ferngesteuerten Hände einer nichtintelligenten Lebensform berühren zu lassen, befaßte sich ihre Heilkunde ausschließlich mit den Bedürfnissen der Wirte. Deshalb war eine Krankheit, die sich ein FGHJ zuzog und die bei ihm selbst womöglich nur zu einer leichten Entkräftung führte, für den empfindlichen Organismus des Parasiten oft tödlich.

Cha Thrat legte eine kurze Verschnaufpause ein und hob eine ihrer oberen Hände, um den Parasiten abzustützen. Im Nacken hatte sie wieder Gefühl, und sie spürte, daß sich die Ranken des Aliens lösten und herauszogen. Ein Deck weiter unten konnte sie jetzt Prilicla und Murchison hören.

„Auf ihrem Schiff hat sich nun folgendes zugetragen“, fuhr Cha Thrat fort. „Die FGHJ-Wirte bekamen eine Krankheit, die zu leichtem, periodisch steigendem und fallendem Fieber führte, und wurden wieder gesund. Die Parasiten hingegen starben daran, bis auf diese eine Ausnahme. Doch bevor sie sich zum Sterben in das eigene Quartier zurückgezogen haben, brachten sie ihre Wirte, die nun keine Führer mehr hatten, an Orte, wo Nahrung vorhanden war und wo sie sich nicht selbst verletzen konnten. Die Parasiten hofften nämlich, daß für ihre Wirte rechtzeitig Hilfe eintreffen würde. Der Überlebende, der anscheinend eine besondere Widerstandskraft gegen die Krankheit hatte, sicherte das Schiff und machte es für Retter leicht zugänglich, setzte dann die Notsignalbake aus und kehrte in den Nistraum des Schiffs zurück, um seinen sterbenden Freunden Beistand zu leisten.

Doch die Anstrengung dieser Arbeit war für seinen Wirt, einen alternden FGHJ, den er besonders gern hatte, zu viel“, fuhr Cha Thrat direkt an Prilicla und Murchison gewandt fort, die jetzt die Rampe herauf auf sie zukamen, „denn das Wesen bekam plötzlich einen Kreislaufkollaps und starb im Nistraum.

Das Notsignal wurde nicht von einem ihrer eigenen Schiffe beantwortet, sondern von der Rhabwar, und den Rest kennen wir ja.“

Prilicla sagte nichts. Murchison ging seitlich von ihm und richtete dabei ständig das spitze Mundstück des Schneidbrenners auf Cha Thrats Nacken. „Ich müßte das natürlich mit meinem Scanner überprüfen, aber ich würde sagen, der Alien gehört zur physiologischen Klassifikation DTRC“, sagte sie, wobei ihr die Aufregung anzusehen war. „Er hat große Ähnlichkeit mit den DTSB-Symbionten, die einige FGLIs zur chirurgischen Feinarbeit bei sich haben. In dem Fall stellen allerdings die DTSBs die Finger und die Tralthaner das Gehirn, obwohl es einige OP-Schwestern gibt, die das bestreiten würden.“

Sie verstummte, als Cha Thrat sagte: „Ich habe versucht, dem Alien die Kontrolle über mein Sprachzentrum zu übergeben, damit er durch mich direkt mit Ihnen sprechen kann, aber er ist viel zu schwach und kaum noch bei Bewußtsein, deshalb muß ich als sein Sprachrohr fungieren. Durch meine Gedanken weiß er bereits, wer Sie sind, und bei ihm selbst handelt es sich um Crelyarrel aus dem dritten Bezirk von Trennchi im einhundertundsiebten Bezirk von Yau im vierhundertundachten Unterbezirk des großen Yilla der Rhiim. Ich kann seine Gefühle zwar nicht angemessen mit Worten beschreiben, aber Crelyarrel freut sich über die Erkenntnis, daß die Rhiim nicht die einzige intelligente Spezies in der Galaxis sind, bedauert allerdings zutiefst, daß dieses Wissen mit ihm sterben wird, und entschuldigt sich für die Angst, die er uns gemacht hat, indem er.“

„Ich weiß, was er empfindet“, unterbrach Prilicla sie freundlich, und plötzlich schlug ihnen allen eine große, nicht greifbare Woge der Zuneigung, Freundschaft und Beruhigung entgegen. „Wir freuen uns, Sie kennenzulernen und von ihren Artgenossen zu erfahren, Freund Crelyarrel, und wir werden Sie keinesfalls sterben lassen. Lösen Sie sich jetzt von Cha Thrat, mein kleiner Freund, und entspannen Sie sich. Sie sind in guten Händen.“

Während er weiterhin beruhigende und angenehme Emotionen ausstrahlte, fuhr er lebhaft fort: „Legen Sie den Schneidbrenner weg, Freundin Murchison, und begeben Sie sich mit dem Patienten und Cha Thrat zu dem Quartier der Rhiim. Dort wird er sich viel wohler fühlen, und Sie selbst haben eine Menge Arbeit mit seinen toten Freunden vor sich. Freund Fletcher, im Orbit Hospital wird man Vorbereitungen für die Aufnahme dieser neuen Lebensform treffen müssen. Bereiten Sie sich darauf vor, einen ausführlichen Hyperraumfunkspruch an Thornnastor zu senden, sobald wir ein klareres Bild von der Krankheit haben. Freundin Naydrad, halten sie sich mit der Trage bereit, falls wir hier Spezialgeräte benötigen oder die Leichen der DTRCs zur Untersuchung auf die Rhabwar schaffen müssen.“

„Nein!“ protestierte der Captain.

Murchison richtete ein paar Worte an ihn, die eine terrestrische Frau normalerweise nicht in den Mund nimmt, und fuhr dann fort: „Captain Fletcher! Wir haben hier einen Patienten, dessen Gesundheitszustand sehr ernst ist und der der einzige Überlebende auf einem von Krankheit befallenen Schiff ist. Sie wissen ebensogut wie ich, daß Sie unter diesen Umständen genau das zu tun haben, was Prilicla Ihnen sagt!“

„Nein!“ wiederholte Fletcher. Mit leiserer, aber genauso bestimmter Stimme fuhr er fort: „Ich verstehe Ihre Gefühle, Murchison. Aber sind es auch wirklich Ihre eigenen? Sie haben mich noch nicht davon überzeugt, daß dieses Ding ungefährlich ist. Außerdem kann ich mich noch gut an die Besatzungsmitglieder des Alienschiffs erinnern und außerdem. na ja, das Ding da tut vielleicht nur so, als ob es krank wäre. Es könnte sein, daß es längst die Gedanken von Ihnen allen kontrolliert oder zumindest beeinflußt. Die Quarantänebestimmungen bleiben in Kraft. Bis der leitende Diagnostiker der Pathologie oder, was wahrscheinlicher ist, der Entgiftungstrupp das Schiff gesäubert hat, geht nichts und niemand von Bord.“

Cha Thrat trug Crelyarrel in dreien ihrer kleinen oberen Hände. Jetzt, wo sie ihn als das kannte, was er war, empfand sie weder beim Ansehen noch beim Anfassen des Körpers irgendwelche Ekelgefühle. Die Ranken, mit denen er die Kontrolle über seinen Wirt übernahm, hingen schlaff zwischen ihren Fingern nach unten, und seine Hautfarbe wurde heller und ähnelte allmählich der seiner toten Freunde im Quartier der Rhiim. Mußte Crelyarrel jetzt ebenfalls sterben, fragte sich Cha Thrat traurig, nur weil zwei verschiedene Leute entgegengesetzte Standpunkte vertraten? Schlimm daran war, daß beide auf ihre Art recht hatten.

Der Nachweis, daß einer von ihnen unrecht hatte, würde schwere persönliche Auswirkungen haben, insbesondere wenn es sich bei dem Betreffenden um einen gewissen Herrscher namens Fletcher handelte, und Cha Thrat fragte sich zum erstenmal ernsthaft, ob sie selbst immer so im Recht gewesen war, wie sie es geglaubt hatte. Vielleicht wäre ihr bisheriges Leben glücklicher verlaufen, wenn sie auf Sommaradva und später im Orbit Hospital ihre Überzeugungen stärker in Frage gestellt hätte.

„Freund Fletcher“, sagte Prilicla ruhig. „Als Empath werde ich durch die Emotionen aller Lebewesen in meiner Umgebung beeinflußt. Ich lasse ja gelten, daß es Wesen gibt, die durch Worte, Taten oder Schweigen Gefühle zum Ausdruck bringen können, die sie gar nicht haben. Doch vorgetäuschte Emotionen auszustrahlen, mit den Gedanken zu lügen ist für ein intelligentes Wesen absolut unmöglich. Wären Sie ein Empath, wüßten Sie, daß das so ist, aber als Nichtempath müssen Sie mir das einfach glauben. Der Überlebende kann und wird niemandem etwas zuleide tun.“

Der Captain schwieg einen Moment lang und sagte dann: „Tut mir leid, Doktor. Ich bin trotzdem nicht restlos davon überzeugt, daß nicht der Alien durch Sie spricht und Ihre Gedanken kontrolliert, und ich kann es nicht riskieren, ihn aufs Schiff zu lassen.“

Unter diesen Umständen gab es keinen Zweifel, wer recht hatte oder was sie unternehmen mußte, dachte Cha Thrat, da ein sanftes kleines Wesen wie Prilicla womöglich nicht fähig sein würde, zur Tat zu schreiten.

„Doktor Danalta, würden Sie bitte schnell zum Bordtunnel gehen, sich dort aufstellen und eine Gestalt annehmen, die jeden Offizier des Monitorkorps davon abschreckt, ihn zuzumachen, abzubauen oder auf andere Weise für den Verkehr in beiden Richtungen zu schließen?“ fragte sie. „Selbstverständlich sollten Sie sich bemühen, einen solchen Offizier nicht zu verletzen. Daß man tödliche Waffen gegen sie einsetzen wird, bezweifle ich, wenn auch nur deshalb, weil alles, was stark genug wäre, um Sie zu verwunden, auch dem Schiffsrumpf ernsthafte Schäden zufügen würde, aber falls.“

„Cha Thrat!“

Obwohl sich der Captain auf dem Kommandodeck der Rhabwar und für Priliclas empathische Fähigkeiten in äußerster Entfernung befand, brachte das Gefühl höchster Entrüstung, das den Ausruf begleitete, den kleinen Cinrussker an allen Gliedern zum Zittern. Als Fletcher schließlich seinen Zorn zügelte, kam der Empath allmählich wieder zur Ruhe.

„Na schön, Doktor“, gab sich der Captain in frostigem Ton geschlagen. „Gegen meinen ausdrücklichen Wunsch und auf Ihre eigene Verantwortung hin bleibt der Bordtunnel offen. Sie dürfen sich frei zwischen dem fremden Schiff und dem Unfalldeck bewegen, aber der Zutritt zum übrigen Schiff wird Ihnen und diesem. diesem Ding da, das Ihrer Behauptung nach ein Überlebender sein soll, verwehrt. Mit Cha Thrats grober Gehorsamsverweigerung werde ich mich später befassen, und eine Anklage wegen Anstiftung zur Meuterei liegt durchaus im Bereich des Möglichen.“

„Danke schön, Freund Fletcher“, sagte Prilicla. Dann schaltete er das Mikrofon ab und fuhr fort: „Auch Ihnen, Freundin Cha Thrat. Sie waren nicht einfach nur ungehorsam, sondern haben auch großen Einfallsreichtum bewiesen. Aber leider sind die Gefühle, die Ihnen der Captain im Moment entgegenbringt, von jener Art, die meiner Erfahrung nach nicht nur feindselig ist, sondern auch ausgesprochen lange anhält, selbst wenn bewiesen worden ist, daß Sie sich korrekt verhalten haben.“

Murchison schwieg, bis sie sich im Raum der Rhiim befanden, wo sie die Untersuchung Crelyarrels mit dem Scanner unterbrach und die Sommaradvanerin musterte. Wie Cha Thrat dank des terrestrischen Teils ihres Gehirns wußte, drückten die Art der Formulierung und der Tonfall der Pathologin Verblüffung und Mitgefühl aus, als diese sie fragte: „Wie kann ein einzelnes Wesen sich in so kurzer Zeit derart viele Probleme aufhalsen? Was ist bloß in Sie gefahren, Cha Thrat?“

Prilicla zitterte zwar leicht, sagte aber nichts.

Загрузка...