Fünf

Weshalb machte ihn die Public School nur so nervös? Er warf ihr aus der Höhe einen prüfenden Blick zu und erkannte ein Gebäude, das wie ein Entenei geformt war und sich weiß vor der dunklen, verschwommenen Oberfläche des Planeten abzeichnete, als hätte es jemand in aller Eile dort fallengelassen; es paßte nicht in die Umgebung.

Als er auf dem gepflasterten Platz vor dem Eingang aufsetzte, stellte er fest, daß seine Fingerspitzen blaß und taub geworden waren, ein ihm vertrautes Anzeichen, daß er unter Stress stand. David hingegen, der gemeinsam mit anderen Kindern aus seiner Leistungsgruppe dreimal die Woche hergeflogen und wieder ab geholt wurde, beunruhigte der Ort nicht. Offenbar lag es an seiner persönlichen Veranlagung; vielleicht konnte er, weil er soviel über Maschinen wußte, die Illusion der Schule nicht einfach hinnehmen, das Spiel nicht mitmachen. Für ihn waren die Artefakte der Schule weder leblos noch am Leben; in gewisser Hinsicht waren sie beides.

Bald darauf saß er in einem Wartezimmer, den Werkzeugkasten neben sich.

Er entnahm einem Zeitungsständer ein Exemplar der Motorwelt und hörte mit geübtem Ohr, wie ein Relais klickte. Die Schule hatte seine Anwesenheit zur Kenntnis genommen. Sie zeichnete auf, welche Zeitschrift er auswählte, wie lange er dasaß und las und was er anschließend tat. Sie vermaß ihn.

Eine Tür ging auf, und eine Frau mittleren Alters im Tweedanzug sagte lächelnd zu ihm: »Sie müssen Mr. Yees Mechaniker sein.«

»Ja«, sagte er und erhob sich.

»Ein Glück, daß Sie da sind.« Sie bedeutete ihm, ihr zu folgen. »Es hat schon so viel Wirbel um diesen einen Lehrer gegeben, das Problem ist wohl die Leistungsabgabe.« Sie ging durch einen Flur und hielt ihm eine Tür auf, bis er sie eingeholt hatte. »Der Zornige Hausmeister«, sagte sie und deutete auf den Apparat.

Er erkannte ihn aus den Beschreibungen seines Sohns.

»Er ist ganz plötzlich ausgefallen«, sagte ihm die Dame ins Ohr. »Verstehen Sie? Mitten im Arbeitsgang - er war die Straße hinuntergelaufen und hatte geschrien und wollte gerade mit der Faust drohen.«

»Weiß der Rektorschaltkreis ...?«

»Ich bin der Rektorschaltkreis«, sagte die Frau mittleren Alters und lächelte ihn fröhlich an, wobei die Nickelbrille vom Leuchten ihrer Augen aufblitzte.

»Natürlich«, sagte er ärgerlich.

»Wir meinen, daß es daran liegen könnte«, sagte die Frau - oder vielmehr diese wandelnde Verlängerung der Schule - und hielt ihm ein gefaltetes Stück Papier hin.

Er strich es glatt und erkannte eine graphische Darstellung zahlloser selbsttätiger Rückkopplungsventile.

»Er ist eine Autoritätsperson, nicht wahr?« sagte er. »Bringt den Kindern bei, Eigentum zu achten. Enorm redlicher Typ, soweit es Lehrer angeht.«

»Ja«, sagte die Frau.

Er stellte den Zornigen Hausmeister von Hand neu ein und startete ihn. Eine Weile klickte er, dann drehte er sich mit rotem Gesicht um, hob den Arm und brüllte: »Ihr Jungs habt hier nichts zu suchen, verstanden?« Beim Anblick der bärtigen Wangen, die vor Empörung zitterten, und des auf und zu klappenden Munds konnte Jack Bohlen sich gut vorstellen, welche Wirkung das auf ein Kind haben mußte. Er selbst reagierte mit Abscheu. Wie dem auch sei - diese Konstruktion war der Inbegriff der erfolgreichen Lehrmaschine; sie machte ihre Arbeit gut, zusammen mit zwei Dutzend weiteren Konstruktionen, die wie Buden in einem Vergnügungspark hier und da entlang der Flure aufgestellt waren, aus denen die Schule sich zusammensetzte. Gleich um die Ecke sah er schon die nächste Lehrmaschine; mehrere Kinder standen respektvoll davor, während sie ihre Ansprache hielt.

»... und dann dachte ich«, erzählte sie ihnen locker und zwanglos, »mein Gott - was können wir eigentlich aus so einer Erfahrung lernen? Weiß das einer von euch? Du, Sally.«

Die Stimme eines kleinen Mädchens: »Ehm ... na ja, vielleicht können wir daraus lernen, daß in jedem ein guter Kern steckt, egal, wie schlecht er auch handelt.«

»Was meinst du, Victor?« plauderte die Lehrmaschine weiter. »Laßt uns mal Victor Plank hören.«

Ein Junge stammelte: »Ich bin ungefähr derselben Meinung wie Sally, daß die meisten Leute tief drinnen gut sind, wenn man sich nur die Mühe macht, genau hinzusehen. Richtig, Mr. Whitlock?«

Also lauschte Jack der Whitlock-Lehrmaschine. Sein Sohn hatte oft von ihr gesprochen; sie gehörte zu seinen Lieblingen. Während er sein Werkzeug auspackte, hörte Jack weiter zu. Der Whitlock war ein älterer, weißhaariger Herr mit mundartlichem Akzent, vielleicht aus Kansas ... Er war freundlich und entlockte anderen ihre Meinung; er war eine geduldige Spielart der Lehrmaschine und legte weder die Grobheit noch das autoritäre Gehabe des Zornigen Hausmeisters an den Tag; eigentlich war er eine nahezu perfekte Verbindung aus Sokrates und Dwight D. Eisenhower.

»Schafe sind lustig«, sagte der Whitlock. »Beobachtet mal, wie sie sich verhalten, wenn man billiges Futter über den Zaun wirft, etwa Getreidehalme. Also, das merken die aus einer Meile Entfernung.« Der Whitlock kicherte. »Sie sind klug, wenn es sie selbst angeht. Und vielleicht hilft uns das, zu sehen, was wahre Klugheit ist; das hat nichts damit zu tun, daß man viele tolle Bücher gelesen hat oder lange Wörter kennt ... es geht darum, daß man erkennt, was für einen von Vorteil ist. Nur wenn etwas nützlich ist, handelt es sich um echte Klugheit.«

Jack kniete sich hin und begann den Rücken des Zornigen Hausmeisters abzuschrauben. Der Rektorschaltkreis der Schule stand daneben und sah zu.

Diese Maschine, wußte er, spulte ihr aufwendiges Programm als Antwort auf ein Unterrichtsband ab, aber ihr Benehmen war jederzeit offen für Änderungen, je nach dem Verhalten des Publikums. Sie war kein geschlossenes System; sie verglich die Antworten der Kinder mit ihrem Band, ordnete zu, gruppierte und reagierte dann. Für eigenwillige Antworten war jedoch kein Platz, weil die Lehrmaschine nur eine begrenzte Anzahl von Kategorien erkannte. Dennoch bot sie die überzeugende Illusion, lebendig und lebensfähig zu sein; sie war ein Triumph des Ingenieurwesens.

Ihr Vorteil gegenüber einem menschlichen Lehrer bestand darin, daß sie sich mit jedem Kind einzeln befassen konnte. Sie erzog, statt lediglich zu unterrichten. Eine Lehrmaschine konnte mit bis zu tausend Schülern gleichzeitig umgehen und würde doch nie den einen mit dem anderen verwechseln; bei jedem Kind änderte sich ihre Reaktion, so daß sie eine etwas andere Person wurde. Mechanisch, ja - aber fast unbegrenzt vielfältig. Die Lehrmaschinen bewiesen etwas, dessen Jack Bohlen sich wohl bewußt war: Das sogenannte »Künstliche« war erstaunlich tiefgründig.

Und doch fand er die Lehrmaschinen abstoßend. Die ganze Public School war nämlich auf ein Ziel ausgerichtet, das ihm gegen den Strich ging: Die Schule diente nicht der Information und Bildung, sondern der Formung, und zwar nach äußerst engen Richtlinien. Sie war das Bindeglied zur ererbten Kultur und ging mit dieser gesamten Kultur bei der Jugend hausieren. Sie bog die Schüler zurecht; das erklärte Ziel war die Weiterführung dieser Kultur, und jeder eigenständige Zug in den Kindern, der sie vielleicht in eine andere Richtung führte, mußte glattgebügelt werden.

Es war eine Schlacht, wurde Jack klar, zwischen der gemischten Psyche der Schule und den individuellen Psychen der Kinder, und die erstere hielt alle Trümpfe in der Hand. Ein Kind, das nicht richtig reagierte, wurde als autistisch angesehen - das heißt, an einem subjektiven Faktor gemessen, der Vorrang vor seinem Sinn für objektive Realität hatte. Und so ein Kind warf man schließlich von der Schule; dann kam es in eine ganz andere Art von Schule, die dazu da war, es zu rehabilitieren: Es kam ins Camp Ben-Gurion. Man konnte ihm nichts beibringen; man konnte es lediglich als einen Kranken behandeln.

Autismus, überlegte Jack, während er weiter den Rücken des Zornigen Hausmeisters abschraubte, war für die Autoritäten, die den Mars regierten, zu einem Begriff geworden, den sie nach Belieben verwendeten. Er war an die Stelle des älteren Begriffs »Psychopath« getreten, der damals den des »moralisch Schwachsinnigen« abgelöst hatte, der früher einmal für »krimineller Wahnsinn« stand. Und in Camp B-G hatte das Kind einen menschlichen Lehrer oder vielmehr einen Therapeuten.

Seit sein eigener Sohn David auf die Public School gekommen war, hatte Jack unablässig auf die Schreckensnachricht gewartet, daß man den Jungen vielleicht an Hand der Leistungskriterien, nach denen die Lehrmaschinen ihre Schüler einstuften, gar nicht beurteilen konnte. Aber David hatte begeistert auf die Lehrmaschinen angesprochen, hatte sogar sehr gut abgeschnitten. Der Junge mochte die meisten seiner Lehrer, und wenn er nach Hause kam, schwärmte er von ihnen; noch mit den strengsten von ihnen kam er blendend aus, und inzwischen war klar, daß er keine Probleme hatte - er war nicht autistisch und würde Camp B-G nie von innen sehen müssen. Doch deshalb fühlte Jack sich nicht besser. Nichts, hatte Silvia betont, hätte bewirken können, daß er sich besser fühlte. Es gab nur zwei Möglichkeiten, die Public School oder Camp B-G, und Jack mißtraute beiden. Und warum? Er wußte es nicht.

Vielleicht, hatte er einmal vermutet, weil es überhaupt so etwas wie Autismus gab. Es war eine Kindheitsform der Schizophrenie, an der viele Menschen litten; Schizophrenie war eine der Hauptkrankheiten, die früher oder später in fast jeder Familie auftrat. Man verstand darunter einfach eine Person, die die Triebe, die ihr von der Gesellschaft eingeimpft worden waren, nicht ausleben konnte. Die Realität, von der der Schizophrene sich abwandte - oder in die er gar nicht erst eingebunden wurde -, war die Realität zwischenmenschlicher Lebensweise, des Lebens in einer bestimmten Kultur mit bestimmten Werten; nicht des biologischen Lebens oder einer Form ererbten Lebens, sondern des erlernten Lebens. Man mußte es Stück für Stück denjenigen um einen herum, den Eltern und Lehrern, den Autoritätspersonen im allgemeinen, abschauen ... jedem, mit dem diese Person in den prägenden Jahren zusammenkam.

Die Public School tat also gut daran, ein Kind, das nicht lernte, hinauszuwerfen. Das Kind lernte nämlich nicht bloß Fakten oder die Grundlagen des Geldverdienens oder vielleicht einer nützlichen Karriere. Es ging viel tiefer. Das Kind lernte, daß gewisse Dinge in der umgebenden Kultur es wert waren, um jeden Preis bewahrt zu werden. Seine Werte wurden mit objektiven menschlichen Zielsetzungen verschmolzen. Und so wurde es selbst zu einem Bestandteil der Tradition, die an es weitergereicht worden war; es bewahrte sein Erbe ein Leben lang und baute noch darauf auf. Es bedeutete ihm etwas. Echter Autismus, zu diesem Schluß war Jack gekommen, war im Grunde Apathie gegenüber den Bemühungen der Allgemeinheit; es war eine Privatexistenz, die fortgeführt wurde, als wäre der einzelne der Schöpfer aller Werte statt lediglich das Sammelbecken der ererbten Werte. Und Jack Bohlen konnte die Public School mit ihren Lehrmaschinen beim besten Willen nicht als alleinigen Richter dessen akzeptieren, was wertvoll war und was nicht. Die Werte einer Gesellschaft befanden sich nämlich in dauerndem Wandel, und die Public Scool stellte einen Versuch dar, diese Werte zu stabilisieren, sie an einem bestimmten Punkt zu fixieren - sie einzubalsamieren.

Die Public School, das hatte er schon vor langer Zeit erkannt, war neurotisch. Sie wollte eine Welt, in der sich nichts Neues tat, in der es keine Überraschungen gab. Und das war die Welt des besessenen Zwangsneurotikers; es war alles andere als eine gesunde Welt.

Einmal, vor ein paar Jahren, hatte er seiner Frau von dieser Theorie erzählt. Silvia hatte leidlich aufmerksam zugehört und dann gesagt: »Aber darum geht es gar nicht, Jack. Versuch doch zu verstehen. Es gibt soviel Schlimmeres als Neurosen.« Sie hatte mit leiser und fester Stimme gesprochen, und er war ganz Ohr gewesen. »Wir fangen gerade erst an, etwas darüber zu erfahren. Du kennst dich damit schon aus. Du hast es hinter dir.«

Und er nickte, weil er wußte, was sie meinte. Er hatte selbst einmal eine psychotische Phase durchgemacht, Anfang Zwanzig. Das war nichts Ungewöhnliches. Es war sogar eher natürlich und, wie er zugeben mußte, grauenhaft. Angesichts dessen schien die starre, unbeugsame, zwangsneurotische Public School einen Rahmen zu bieten, der es einem ermöglichte, dankbar seinen Weg zur Menschheit und zur gemeinsamen Realität zurückzufinden. Er hatte begriffen, daß eine Neurose ein gewolltes Kunstprodukt war, vom leidenden Individuum oder einer Gesellschaft, die in der Krise steckte, absichtlich erschaffen. Sie war eine Erfindung, die aus der Notwendigkeit heraus entstand.

»Hack nicht ständig auf den Neurosen herum«, hatte Silvia zu ihm gesagt, und er verstand sie. Neurosen waren ein bewußtes Innehalten, ein Erstarren irgendwo auf dem Lebensweg. Denn jenseits lag ...

Jeder Schizophrene wußte, was dort lag. Und jeder ehemals Schizophrene, dachte Jack, während er sich an seine eigene Episode erinnerte.

*

Die beiden Männer auf der anderen Seite des Zimmers starrten ihn sonderbar an. Was hatte er gesagt? Herbert Hoover war ein viel besserer Leiter des FBI, als Carrington je sein wird. »Ich weiß, daß ich recht habe«, fügte er hinzu. »Jede Wette.« Seine Gedanken wirbelten durcheinander, und er nippte an seinem Bier. Alles war schwer geworden, sein Arm und das Glas; es fiel ihm leichter, nach unten zu schauen als nach oben ... Er studierte das Streichholzbriefchen auf dem Sofatisch.

»Sie meinen nicht Herbert Hoover«, sagte Lou Notting. »Sie meinen J. Edgar ...«

Herrje! dachte Jack entsetzt. Ja, er hatte Herbert Hoover gesagt, und es war ihm erst aufgefallen, als sie ihn darauf hinwiesen. Was ist nur los mit mir? fragte er sich. Ich fühle mich wie im Halbschlaf. Dabei war er am Abend zuvor schon um zehn ins Bett gegangen, hatte fast zwölf Stunden geschlafen. »Entschuldigen Sie«, sagte er. »Natürlich meine ich ...« Er merkte, wie er sich verhaspelte. Sorgfältig sagte er: »J. Edgar Hoover.« Aber seine Stimme klang belegt und schleppend, wie ein Schallplattenteller, der an Schwung verliert. Und nun war es ihm schon fast unmöglich, den Kopf zu heben; er schlief an Ort und Stelle ein, hier in Nottings Wohnzimmer, doch ihm fielen die Augen nicht zu - als er sie schließen wollte, stellte er fest, daß es nicht ging. Seine Aufmerksamkeit war ganz auf das Streichholzbriefchen gerichtet. Vor dem Anzünden zuklappen, las er. Können Sie dieses Pferd zeichnen? Erste Unterrichtsstunde gratis, keine Verpflichtungen. Vordruck für kostenlose Anmeldung siehe Rückseite. Ohne zu blinzeln starrte er weiter, während Lou Notting und Fred Clarke über abstrakte Dinge wie die Beschneidungen der Freiheit und den demokratischen Prozeß diskutierten ... er hörte deutlich jedes Wort und lauschte ihnen gern. Aber er hatte keine Lust, sich an der Diskussion zu beteiligen, obwohl er wußte, daß beide unrecht hatten. Er ließ sie weiterdiskutieren; das war einfacher. Es geschah einfach. Und er ließ es geschehen.

»Jack ist heute nicht bei der Sache«, sagte Clarke. Erschreckt fuhr Jack Bohlen hoch, als ihm klar wurde, daß sie ihn aufmerksam ansahen; er mußte jetzt etwas tun oder sagen.

»Doch, bin ich«, sagte er, und es kostete ihn enorme Kraft; es war, als mußte er sich erst an die Meeresoberfläche kämpfen. »Nur zu, ich bin ganz Ohr.«

»Mein Gott, du siehst aus wie eine Attrappe«, sagte Notting. »Geh nach Hause und leg dich schlafen, um alles in der Welt.«

Lous Frau Phyllis betrat das Wohnzimmer und sagte: »In dem Zustand, in dem du jetzt bist, wirst du es nie bis auf den Mars schaffen, Jack.« Sie drehte die Hi-Fi-Anlage lauter; es war eine progressive Jazzband, Vibraphon und Kontrabaß, vielleicht auch ein elektronisches Instrument. Die kesse blonde Phyllis setzte sich neben ihn aufs Sofa und musterte ihn eingehend.

»Jack, bist du sauer auf uns? Ich meine, du bist so abwesend.«

»Das ist nur eine von seinen Launen«, sagte Notting. »Als wir gedient haben, war er auch immer so, besonders am Samstagabend. Mürrisch und schweigsam, ein Grübler. Worüber grübelst du jetzt gerade nach, Jack?«

Die Frage erschien ihm seltsam; er grübelte gar nicht, sein Kopf war leer. Das Streichholzbriefchen füllte noch immer sein ganzes Wahrnehmungsfeld aus. Dennoch war es unumgänglich, ihnen Rechenschaft darüber abzulegen, was ihn so sehr beschäftigte; sie alle erwarteten das, also dachte er sich folgsam ein Thema aus. »Die Luft«, sagte er. »Auf dem Mars. Wie lange werde ich wohl brauchen, um mich anzupassen? Das wechselt, je nach Person.« Ein Gähnen, das nie nach draußen fand, hatte sich in seiner Brust eingenistet und breitete sich langsam durch Lunge und Luftröhre aus. Sein Mund stand halb offen; mühsam schaffte er es, die Kiefer wieder zu schließen. »Ich hau jetzt besser ab«, sagte er. »An der Matratze horchen.« Unter Aufbietung aller Kräfte gelang es ihm aufzustehen.

»Um neun Uhr schon?« rief Fred Clarke.

Später, als er durch die kühlen dunklen Straßen von Oakland zu seinem Apartment schlenderte, fühlte er sich prima. Er fragte sich, was bei den Nottings losgewesen war. Vielleicht schlechte Luft oder die Klimaanlage.

Aber etwas stimmte nicht.

Der Mars, dachte er. Er hatte die Fesseln abgestreift, seinen Job aufgegeben, seinen Plymouth verkauft und dem Funktionär, der sein Vermieter war, Bescheid gegeben. Dabei hatte er ein Jahr gebraucht, um das Apartment überhaupt zu bekommen; das Gebäude war Eigentum der gemeinnützigen West-Coast-Genossen-schaft, ein gewaltiger, teilweise unterirdischer Bau mit Tausenden von Einheiten, einem Supermarkt, Wäschereien, Kindertagesstätte, Krankenhaus, sogar einem eigenen Psychiater in den Ladengalerien tief unter der Straßenebene. Im obersten Stockwerk befand sich eine FM-Rundfunkstation, die von den Bewohnern selbst ausgewählte klassische Musik sendete, und auf halber Höhe des Gebäudes gab es ein Theater und einen Versammlungsraum. Es war das neueste der riesigen Apartmenthäuser der Genossenschaft - und das hatte er alles aufgegeben, Knall auf Fall. Eines Tages hatte er im Buchladen des Gebäudes gestanden und in der Schlange gewartet, weil er ein Buch kaufen wollte, und da war ihm der Gedanke gekommen.

Nachdem er seinen Antrag gestellt hatte, war er durch die Flure der genossenschaftlichen Galerie gewandert. Als er zur Anschlagtafel mit den angehefteten Zetteln kam, war er unwillkürlich stehengeblieben, um sie zu lesen. Kinder waren an ihm vorbeigeflitzt, unterwegs zum Spielplatz hinter dem Gebäude. Ein Zettel mit großen Druckbuchstaben hatte seine Aufmerksamkeit erregt: Helfen Sie, die genossenschaftliche Bewegung in neu

KOLONISIERTE GEGENDEN ZU TRAGEN. ALS ANTWORT AUF DIE AUSBEUTUNG MINERALREICHER GEBIETE AUF DEM MARS DURCH DIE GROSS VERBÄNDE FÜR HANDEL UND ARBEIT BIETET DIE GENOSSENSCHAFTSLEITUNG IN SACRAMENTO GELEGENHEIT ZUR AUSWANDERUNG. MELDEN SIE SICH JETZT!

Das las sich fast so wie alle genossenschaftlichen Mitteilungen, und doch - warum nicht? Viele junge Menschen meldeten sich. Und was hatte er auf der Erde noch zu suchen? Er hatte zwar sein Apartment aufgegeben, war aber nach wie vor Mitglied der Genossenschaft; er hatte immer noch seine Anteilsscheine und seine Nummer.

Später, als er sich verpflichtet hatte und das Prozedere von Untersuchungen und Impfungen durchlief, war er mit der Reihenfolge durcheinandergeraten; seiner Erinnerung nach war der Entschluß, zum Mars zu gehen, zuerst dagewesen, und er hatte anschließend seinen Job und das Apartment aufgegeben. So herum erschien es ihm einleuchtender, und diese Geschichte erzählte er auch seinen Freunden. Aber es war einfach nicht wahr. Was war wahr? Fast zwei Monate lang war er verwirrt und verzweifelt umhergelaufen, sich über nichts im klaren außer der einen Sache, daß am 14. November seine Gruppe, zweihundert Mitglieder der Genossenschaft, zum Mars aufbrächen und sich dann alles änderte; die Verwirrung würde sich legen, und er könnte wieder klarsehen, wie es irgendwann in grauer Vorzeit einmal der Fall war. Soviel wußte er: Früher war es ihm möglich gewesen, die Ordnung der Dinge in Raum und Zeit zu gewährleisten; heute hatten sich Raum und Zeit aus für ihn unerfindlichen Gründen verschoben, so daß er sich zu keinem von beiden mehr ins Verhältnis setzen konnte.

Sein Leben war ohne Ziel. Vierzehn Monate lang hatte er nur auf eines hingearbeitet: im riesigen neuen Genossenschaftsgebäude ein Apartment zu bekommen, und dann, als er eines hatte, war da nichts mehr. Die Zukunft hatte aufgehört zu existieren. Er hörte sich die Bach-Suiten an, die er sich gewünscht hatte; er kaufte Lebensmittel im Supermarkt und stöberte im Buchladen des Gebäudes herum ... doch wozu? fragte er sich. Wer bin ich? Und im Beruf ließen seine Fähigkeiten nach. Das war das erste Anzeichen gewesen, und in gewisser Hinsicht das unheilvollste von allen; das hatte ihn am meisten erschreckt.

Es begann mit einem eigenartigen Vorfall, den er sich niemals ganz hatte erklären können. Offenbar war ein Teil davon reine Halluzination gewesen. Aber welcher Teil? Es war wie ein Traum gewesen, und einen Augenblick lang hatte er überwältigende Panik empfunden, das Verlangen wegzulaufen, um jeden Preis zu entrinnen.

Er hatte einen Job bei einer Elektronikfirma in Redwood City gehabt, im Süden von San Francisco; er bediente eine Maschine, die die Qualitätskontrolle am Montageband überwachte. Er war dafür verantwortlich, daß seine Maschine bei keinem einzigen Bauteil von ihrer Einstellung für die annehmbaren Toleranzen abwich: eine Flüssigheliumbatterie, nicht größer als ein Streichholzkopf. Eines Tages war er unerwartet ins Büro des Personalchefs gerufen worden; er hatte nicht gewußt, was sie von ihm wollten, und als er den Lift nach oben genommen hatte, war er ganz schön nervös gewesen. Später fiel es ihm wieder ein; er war ungewöhnlich nervös gewesen.

»Treten Sie ein, Mr. Bohlen.« Der Personalchef, ein gutaussehender Mann mit lockigem grauem Haar -vielleicht eine modische Perücke - hieß ihn in seinem Büro willkommen. »Es dauert nur einen Moment.« Er musterte Jack kritisch. »Mr. Bohlen, warum lösen Sie eigentlich Ihre Gehaltsschecks nicht ein?«

Schweigen folgte.

»Tue ich das nicht?« sagte Jack. Sein Herz wummerte so heftig, daß sein Körper bebte. Er fühlte sich unsicher und müde. Ich dachte, ich täte es, sagte er sich.

»Sie könnten einen neuen Anzug vertragen«, sagte der Personalchef, »und Sie sollten sich einmal die Haare schneiden lassen. Natürlich ist das Ihre Sache.«

Jack legte die Hand auf seinen Kopf und tastete verblüfft umher; mußte er sich die Haare schneiden lassen? War er nicht erst vorige Woche beim Friseur gewesen? Vielleicht war es auch schon länger her. Er sagte: »Danke.« Er nickte. »Okay, mach ich. Wie Sie meinen.«

Und dann kam es zu der Halluzination, wenn es denn eine war. Er sah den Personalchef in einem neuen Licht. Der Mann war tot.

Er sah durch die Haut des Mannes hindurch sein Skelett. Es wurde von Drähten zusammengehalten, die Knochen waren mit feinem Kupferdraht verbunden. Die verdorrten Organe hatte man durch künstliche Bauteile ersetzt, Niere, Herz, Lunge - alles bestand aus Plastik und rostfreiem Stahl, alles arbeitete im Einklang miteinander, aber ohne jedes echte Leben. Die Stimme des Mannes ertönte vom Band, durch Verstärker und Lautsprechersysteme.

Möglicherweise war der Mann früher einmal echt und am Leben gewesen, aber das war vorbei, und heimlich war es zum Austausch gekommen, Zentimeter für Zentimeter, schleichend von einem Organ zum nächsten fortschreitend, und das gesamte Gebilde diente dazu, andere hinters Licht zu führen. Das hieß, ihn hinters Licht zu führen, Jack Bohlen. Er war allein in diesem Büro; es gab keinen Personalchef. Niemand sprach mit ihm, und wenn er selber sprach, so hörte es keiner; er stand in einem leblosen, mechanischen Zimmer.

Er war sich nicht sicher, was er tun sollte; er versuchte, das menschenähnliche Gebilde vor ihm nicht zu eindringlich anzustarren. Er versuchte ruhig zu reden, ungezwungen, über seinen Job und sogar über seine persönlichen Probleme. Das Gebilde sondierte; es wollte etwas aus ihm herausholen. Natürlich erzählte er ihm so wenig wie möglich. Und die ganze Zeit sah er, während er auf den Teppich starrte, die Röhren und Klappen und anderen mechanischen Teile arbeiten; sie zogen immer wieder seinen Blick auf sich.

Er wollte nur noch so schnell wie möglich weg. Er begann zu schwitzen; er troff von Schweiß und zitterte, und sein Herz schlug lauter und lauter.

»Bohlen«, sagte das Gebilde, »sind Sie krank?«

»Ja«, sagte er. »Kann ich jetzt wieder hinunter an meinen Arbeitsplatz?« Er drehte sich um und wollte gerade zur Tür gehen.

»Augenblick«, sagte das Gebilde hinter ihm.

Da überkam ihn Panik, und er lief davon; er riß die Tür auf und rannte auf den Flur hinaus.

Ungefähr eine Stunde später stellte er fest, daß er eine ihm unbekannte Straße in Burlingame entlangwanderte. Er wußte nicht, was zwischenzeitlich geschehen war, und hatte keinen Schimmer, wie er dort hingekommen war. Die Beine taten ihm weh. Anscheinend war er zu Fuß gegangen, Meile für Meile.

Sein Kopf war jetzt viel klarer. Ich bin schizophren, sagte er sich. Ich weiß es. Jeder kennt die Symptome: eine katatonische Reizung mit paranoidem Anstrich. Die Seelenklempner hämmern es uns ein, sogar den Schulkindern. Auch ich bin einer von denen. Das war es, was der Personalchef herausfinden wollte.

Ich brauche ärztlichen Beistand.

*

Als Jack die Energieversorgung des Zornigen Hausmeisters entfernte und auf den Boden legte, sagte der Rektorschaltkreis der Schule: »Sie sind sehr geschickt.«

Jack sah zu der Frauengestalt mittleren Alters hoch und dachte bei sich: Kein Wunder, daß dieser Ort mich nervt. Es ist wie bei meinem Psychoseerlebnis vor Jahren. Habe ich damals in die Zukunft gesehen?

Solche Schulen hatte es seinerzeit nicht gegeben. Oder wenn es sie gegeben hatte, war ihm das entgangen, und er hatte nichts von ihnen gewußt.

»Danke«, sagte er.

Seit dem psychotischen Erlebnis mit dem Personalchef bei Corona Corporation hatte ein Gedanke ihn ständig verfolgt: Angenommen, es war keine Halluzination gewesen? Angenommen, der sogenannte Personalchef war genau das, was er in ihm gesehen hatte, ein künstliches Gebilde, eine Maschine wie diese Lehrmaschinen?

Wenn das zutraf, dann gab es gar keine Psychose.

Statt um eine Psychose, ging es ihm immer wieder durch den Kopf, hatte es sich eher um eine Art Vision gehandelt, ein kurzes Aufglimmen totaler Realität, der man die Maske vom Gesicht gerissen hatte. Und das war ein so vernichtender, ein so radikaler Gedanke, daß er nicht mit seinen sonstigen Auffassungen zusammenpaßte. Und daraus war die Geistesverwirrung entstanden.

Jack griff in die bloßliegenden Kabel des Zornigen Hausmeisters und tastete fachmännisch mit seinen langen Fingern umher, bis er schließlich etwas berührte, das, wie er wußte, sich dort befinden mußte: eine beschädigte Leitung. Gott sei Dank, dachte er, sind das nicht diese altmodischen gedruckten Leiterplatten; in dem Fall hätte er die Einheit austauschen müssen. Eine Reparatur wäre nicht möglich gewesen.

»Meines Wissens«, sagte der Rektorschaltkreis, »ist bei der Entwicklung der Lehrer viel Mühe darauf verwendet worden, daß sie leicht zu reparieren sind. Bisher hatten wir Glück; es ist noch zu keiner längeren Unterbrechung der Dienstleistung gekommen. Ich glaube aber, daß in höchstem Maß vorbeugende Wartung angesagt ist; deshalb möchte ich Sie bitten, einen weiteren Lehrer zu inspizieren, der bisher noch keine Anzeichen für einen Zusammenbruch zeigt. Er ist besonders wichtig für das einwandfreie Funktionieren der Schule.« Der Rektorschaltkreis hielt höflich inne, als Jack sich bemühte, die lange Spitze des Lötkolbens an den Kabelsträngen vorbeizuführen. »Ich möchte, daß Sie den Gütigen Dad inspizieren.«

Jack sagte: »Gütiger Dad.« Und er dachte bitter: Ob es hier auch irgendwo eine Tante Mom gibt? Tante Moms tolle und köstliche selbstgebackene Geschichten zur Anleitung für die lieben Kleinen. Ihm wurde übel.

»Ist der Lehrer Ihnen bekannt?«

Er war es nicht; David hatte ihn nie erwähnt.

Weiter hinten im Flur diskutierten die Kinder immer noch mit dem Whitlock über das Leben; er hörte es, ihre Stimmen drangen zu ihm, während er auf dem Rücken lag und die Spitze der Lötpistole kopfüber in das Kabelgewirr des Zornigen Hausmeisters hielt.

»Ja«, sagte der Whitlock mit seiner ruhigen, nicht aus der Fassung zu bringenden Stimme, »der Waschbär ist schon ein erstaunlicher Geselle, unser alter Jimmy Racoon. Ich habe ihn oft gesehen. Er ist übrigens ein ziemlich großer Bursche mit kräftigen, langen Armen, die ungeheuer beweglich sind.«

»Ich habe auch mal einen Waschbär gesehen«, piepste ein Kind aufgeregt. »Mr. Whitlock, ich hab einen gesehen, und er war so nah bei mir!«

Jack dachte: Du hast auf dem Mars einen Waschbär gesehen?

Der Whitlock kicherte. »Nein, Don, ich fürchte, das kann nicht sein. Hier gibt es keine Waschbären. Man muß den ganzen weiten Weg nach Hause zur alten Mutter Erde gehen, wenn man einen dieser erstaunlichen Burschen zu Gesicht bekommen will. Aber ich möchte auf was anderes hinaus, Jungs und Mädels. Wißt ihr noch, wie der alte Jimmy Racoon sein Futter nimmt und es klammheimlich rüber zum Wasser trägt und dort wäscht? Was haben wir nicht über den alten Jimmy gelacht, als das Stück Zucker sich auflöste und sein Essen weg war. Tja, Jungs und Mädels, wißt ihr, daß wir hier Jimmy Racoons haben, hier in dieser ...«

»Jetzt bin ich fertig«, sagte Jack und zog seinen Lötkolben zurück. »Helfen Sie mir, den Rücken wieder richtig anzubringen?«

Der Rektorschaltkreis sagte: »Haben Sie's eilig?«

»Ich mag nicht, was dieses Ding da drin brabbelt«, sagte Jack. Es machte ihn nervös und zittrig, so daß er kaum seine Arbeit tun konnte.

Eine Trenntür glitt zu, weit hinten im Flur; die Stimme des Whitlocks war nicht mehr zu hören. »Ist es so besser?« fragte der Rektorschaltkreis.

»Danke«, sagte Jack. Aber seine Hände zitterten noch immer. Dem Rektorstromkreis entging das nicht; Jack war sich bewußt, daß er ihn mit prüfendem Blick ansah. Er fragte sich, wie er das wohl deuten mochte.

*

Die Kammer, in der Gütiger Dad saß, enthielt im hinteren Bereich ein Wohnzimmer mit Kamin, Sofa, Beistelltisch und aufgemaltem Fenster, vor dem ein Vorhang hing; Gütiger Dad saß in einem bequemen Sessel, eine aufgeschlagene Zeitung auf dem Schoß. Mehrere Kinder lümmelten andächtig auf dem Sofa, als Jack Bohlen und der Rektorschaltkreis eintraten; sie lauschten den Vorhaltungen der Lehrmaschine und schienen nicht gemerkt zu haben, daß jemand hereingekommen war. Der Rektorschaltkreis schickte die Kinder fort und wollte dann ebenfalls gehen.

»Ich weiß nicht genau, was ich hier eigentlich soll«, sagte Jack.

»Lassen Sie das Programm ablaufen. Mir scheint, daß er Teile des Programms wiederholt oder steckenbleibt; jedenfalls benötigt er zuviel Zeit. Er müßte nach ungefähr drei Stunden wieder am Anfang ankommen.« Eine Tür öffnete sich, und der Rektorschaltkreis war verschwunden; Jack war allein mit Gütiger Dad, und er war nicht glücklich darüber.

»Tag, Gütiger Dad«, sagte er ohne große Begeisterung. Er setzte seinen Werkzeugkasten ab und begann die Rückseite des Lehrers abzuschrauben.

Gütiger Dad sagte mit warmer, sympathischer Stimme: »Wie heißt du, junger Freund?«

»Ich heiße«, sagte Jack, während er die Platte abnahm und neben sich legte, »Jack Bohlen, und ich bin auch ein gütiger Dad, genau wie du, Gütiger Dad. Mein Sohn ist schon zehn, Gütiger Dad. Also nenn mich nicht junger Freund, okay?« Er zitterte wieder heftig und schwitzte.

»Ohh«, sagte Gütiger Dad. »Verstehe!«

»Was verstehst du?« sagte Jack und merkte, daß er fast schrie. »Hör mal«, sagte er. »Laß dein gottverdammtes Programm ablaufen, ja? Wenn's dir leichter fällt, tu von mir aus weiter so, als wäre ich ein kleiner Junge.« Ich will das nur hinter mich bringen und dann nichts wie raus hier, sagte er sich, und zwar mit so wenig Scherereien wie möglich. Er spürte, wie verworrene Gefühle in ihm aufstiegen. Drei Stunden! dachte er düster.

Gütiger Dad sagte: »Klein-Jackie, mir scheint, daß du heute eine mächtig schwere Bürde mit dir herumträgst. Habe ich recht?«

»Heute und immerdar.« Jack stellte seine Prüflampe an und leuchtete in das Innere des Lehrers. Der Mechanismus schien das Programm soweit richtig abzuspulen.

»Vielleicht kann ich dir helfen«, sagte Gütiger Dad. »Oft hilft es, wenn eine ältere, erfahrenere Person sich sozusagen die Sorgen anhört, sie gewissermaßen mit einem teilt und erträglicher macht.«

»In Ordnung«, willigte Jack ein und setzte sich auf den Hosenboden. »Ich spiel mit; ich hänge hier ja sowieso drei Stunden fest. Willst du, daß ich ganz vorn anfange? Bei dem Erlebnis zu Hause auf der Erde, als ich noch für die Corona Corporation arbeitete und den Anfall hatte?«

»Fang an, wo du willst«, sagte Gütiger Dad huldvoll.

»Weißt du, was Schizophrenie ist, Gütiger Dad?«

»Ich glaube, ich habe eine recht klare Vorstellung davon, Jackie«, sagte Gütiger Dad.

»Also, Gütiger Dad, das ist die rätselhafteste Krankheit, die es in der Medizin überhaupt gibt, nicht mehr und nicht weniger. Und sie tritt bei jedem sechsten Menschen auf, was ziemlich viel ist.«

»Ja, das ist wohl wahr«, sagte Gütiger Dad.

»Es gab einmal eine Zeit«, sagte Jack, während er zusah, wie die Maschinerie lief, »da hatte ich etwas, das man situationsbedingte polymorphe schizophrenia simplex nennt. Und das war hart, Gütiger Dad.«

»Jede Wette«, sagte Gütiger Dad.

»Ich weiß genau, wozu du da bist«, sagte Jack, »ich kenne deinen Zweck, Gütiger Dad. Wir sind weit weg von zu Hause. Millionen Meilen entfernt. Unsere Verbindung zur Zivilisation drüben ist dürftig. Und viele Menschen haben große Angst, Gütiger Dad, weil der Kontakt mit jedem Jahr, das verstreicht, schwächer wird. Also hat man diese Public School eingerichtet, um den Kindern, die hier geboren werden, ein festes Milieu zu bieten, eine erdähnliche Umgebung. Dieser Kamin zum Beispiel. Es gibt hier auf dem Mars keine Kamine; wir heizen mit kleinen Atomöfen. Dieses aufgemalte Fenster mit all dem Glas - die Sandstürme würden es matt werden lassen. Im Grunde gibt es an dir nichts, was aus unserer jetzigen Welt hier stammt. Weißt du, was ein Bleichmann ist, Gütiger Dad?«

»Könnte ich nicht gerade behaupten, Klein-Jackie. Was ist ein Bleichmann?«

»Das ist ein Ureinwohner des Mars. Du weißt doch, daß du dich auf dem Mars befindest, oder?«

Gütiger Dad nickte.

»Schizophrenie«, sagte Jack, »ist eines der drückendsten Probleme, dem sich die menschliche Zivilisation je gegenüber gesehen hat. Ehrlich gesagt, Gütiger Dad, bin ich auf den Mars ausgewandert, weil ich mit zweiundzwanzig, als ich für die Corona Corporation tätig war, mein schizophrenes Erlebnis hatte. Ich bin zusammengebrochen. Ich mußte aus einer verworrenen Stadtumgebung in eine einfachere umziehen, in ein primitives Grenzland mit mehr Freiheit. Der Druck war zu groß für mich; es hieß, wandere aus oder dreh durch. Dieses Genossenschaftsgebäude; kannst du dir etwas vorstellen, was Stockwerk für Stockwerk in die Tiefe reicht und dabei so hoch ist wie ein Wolkenkratzer, mit genug Leuten darin, daß sie sogar einen eigenen Supermarkt haben? Ich wurde verrückt, als ich in der Schlange vor dem Buchladen stand. Alle anderen, Gütiger Dad, jede einzelne Person in diesem Buchladen und in diesem Supermarkt - sie alle wohnten im selben Gebäude wie ich. Es war eine Gesellschaft für sich, Gütiger Dad, dieses eine Gebäude. Und heute ist es im Vergleich mit einigen, die seither gebaut worden sind, klein. Was sagst du dazu?«

»Allerhand, wirklich«, sagte Gütiger Dad und schüttelte den Kopf.

»Jetzt will ich dir mal sagen, was ich denke«, sagte Jack. »Ich denke, diese Public School und ihr Lehrmaschinen werdet eine weitere Generation von Schizophrenen heranzüchten, Abkömmlinge von Leuten wie mir, die sich prächtig an diesen neuen Planeten anpassen. Ihr werdet die Psychen dieser Kinder spalten, weil ihr ihnen beibringt, eine Umgebung zu erwarten, die es für sie nicht gibt. Es gibt sie ja nicht einmal mehr auf der Erde; sie ist überholt. Frag diesen Whitlock-Lehrer, ob Intelligenz nicht praktisch anwendbar sein muß, um wahre Intelligenz zu sein. Ich habe gehört, wie er das sagte, daß sie ein Werkzeug für die Anpassung sein muß. Stimmt's, Gütiger Dad?«

»Ja, Klein-Jackie, so muß es sein.«

»Ihr solltet lehren«, sagte Jack, »wie wir ...«

»Ja, Klein-Jackie«, unterbrach ihn Gütiger Dad, »so muß es sein.« Und als er das sagte, glitt ein Zahnrad in den Strahl von Jacks Prüflampe, und ein Abschnitt des Programms wiederholte sich.

»Du steckst fest«, sagte Jack. »Gütiger Dad, eines deiner Zahnräder ist abgenutzt.«

»Ja, Klein-Jackie«, sagte Gütiger Dad, »so muß es sein.«

»Du hast recht«, sagte Jack. »So muß es sein. Alles nutzt sich irgendwann ab; nichts ist von Dauer. Das einzig Beständige im Leben ist der Wandel. Stimmt's, Gütiger Dad?«

»Ja, Klein-Jackie«, sagte Gütiger Dad, »so muß es sein.«

Jack stellte die Energieversorgung der Lehrmaschine ab und begann ihr Getriebe auseinanderzunehmen, um das verschlissene Zahnrad entfernen zu können.

»Sie haben den Fehler also gefunden«, sagte der Rektorschaltkreis, als Jack eine halbe Stunde später wieder zum Vorschein kam und sich das Gesicht mit dem Ärmel abwischte.

»Ja«, sagte er. Er war erschöpft. Seine Armbanduhr verriet ihm, daß es erst vier war; er hatte noch eine Stunde Arbeit vor sich.

Der Rektorschaltkreis begleitete ihn zum Parkplatz. »Ich bin angenehm berührt, daß Sie sich so prompt um unsere Nöte gekümmert haben«, sagte er. »Ich werde Mr. Yee anrufen und mich bei ihm bedanken.«

Jack nickte und kletterte in den Hubschrauber, sogar für ein Abschiedswort zu ausgelaugt. Bald darauf stieg er auf; das Entenei der von der UN geleiteten Public School wurde unter ihm kleiner und verschwand. Ihre erdrückende Gegenwart wich, und er konnte wieder atmen.

Er schnipste den Sender an und sagte: »Mr. Yee. Hier Jack; ich bin fertig mit der Schule. Was jetzt?«

Nach einer Weile antwortete Mr. Yees pragmatische Stimme. »Jack, Mr. Arnie Kott aus Lewistown hat bei uns angerufen. Er bittet uns, sein Chiffrierdiktaphon nachzusehen, das ihm furchtbar wichtig ist. Alle anderen aus dem Team sind verhindert, also schicke ich Sie hin.«

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