Vier

David Bohlen baute gerade hinten im Gemüsegarten seiner Familie unter der heißen Mittagssonne des Mars einen Damm aus nassem Erdreich, als er den Polizeihubschrauber der UN das Haus der Steiners anfliegen und dort landen sah, und sofort wußte er, daß irgendwas los war.

Ein UN-Polizist in blauer Uniform und mit glänzendem Helm stieg aus dem Hubschrauber und ging über den Pfad zur Haustür der Steiners, und als zwei der kleinen Mädchen aufmachten, grüßte der Polizist sie. Danach sprach er mit Mrs. Steiner und verschwand im Innern des Hauses, und die Tür schloß sich hinter ihm.

David rappelte sich auf und eilte aus dem Garten über die Sandfläche zum Graben; er sprang hinüber und lief über das ebene Fleckchen Erde, auf dem Mrs. Steiner vergeblich versucht hatte, Stiefmütterchen zu ziehen, und traf an der Hausecke plötzlich auf eines der SteinerMädchen; sie stand teilnahmslos da und zupfte mit bleicher Miene an einem Wurgrashalm. Sie sah aus, als könnte ihr jeden Moment schlecht werden.

»He, stimmt was nicht?« fragte er sie. »Wieso quatscht der Polizist mit deiner Mutter?«

Das Steiner-Mädchen blickte ihn kurz an und sauste dann davon, ließ ihn einfach stehen.

Ich wette, ich weiß, worum's geht, dachte David. Sie haben Mr. Steiner verhaftet, weil er was Ungesetzliches getan hat. Er war ganz aufgeregt und hüpfte auf und ab. Ich wüßte zu gern, was das gewesen ist. Er machte kehrt und lief den gleichen Weg, den er gekommen war, wieder zurück, sprang über den Wassergraben und riß schließlich die Tür zu seinem eigenen Zuhause auf.

»Mom!« rief er und lief von Zimmer zu Zimmer. »He, weißt du noch, du und Dad, ihr habt doch immer gesagt, daß Mr. Steiner sich nicht ans Gesetz hält, ich meine, bei seiner Arbeit. Und weißt du was?«

Seine Mutter war nirgends zu finden; sie muß fortgegangen sein, um jemanden zu besuchen, wurde ihm klar. Zum Beispiel Mrs. Henessy, die weiter nördlich am Graben wohnte, zu Fuß leicht erreichbar; seine Mom war oft den ganzen Tag weg und besuchte andere Damen, trank mit ihnen Kaffee und tauschte den neuesten Klatsch aus. Also, die verpassen was, dachte David bei sich. Er lief zum Fenster und schaute hinaus, um sicherzugehen, daß ihm auch nichts entging.

Der Polizist und Mrs. Steiner waren jetzt wieder aufgetaucht, und beide gingen langsam zum Hubschrauber. Mrs. Steiner hielt sich ein großes Taschentuch vor das Gesicht, und der Polizist hatte den Arm um ihre Schultern gelegt, als wäre er ein Verwandter oder so. Fasziniert beobachtete David, wie die beiden in den Hubschrauber stiegen. Die Steiner-Mädchen standen in einer kleinen Gruppe zusammen und machten seltsame Gesichter. Der Polizist ging hinüber und sprach mit ihnen, dann kehrte er zum Hubschrauber zurück - und bemerkte David. Er winkte ihn zu sich heraus, und David gehorchte ängstlich; er verließ das Haus, blinzelte im Sonnenlicht und näherte sich Schritt für Schritt dem Polizisten mit dem glänzenden Helm und der Armbinde und der Waffe an der Hüfte.

»Wie heißt du, mein Junge?« fragte der Polizist mit einem Akzent.

»David Bohlen.« Ihm zitterten die Knie.

»Ist deine Mutter oder dein Vater zu Hause, David?«

»Nein«, sagte er, »nur ich.«

»Wenn deine Eltern zurückkommen, sag ihnen, sie sollen auf die Steiner-Mädchen aufpassen, bis Mrs. Steiner wieder da ist.« Der Polizist ließ den Motor des Hubschraubers an, und der Rotor begann sich zu drehen. »Tust du das, David? Hast du mich verstanden?«

»Ja, Sir«, sagte David und bemerkte, daß der Polizist einen blauen Streifen trug, was bedeutete, daß er Schwede war. Der Junge kannte sämtliche Erkennungszeichen, die die verschiedenen UN-Einheiten benutzten. Er fragte sich, wie schnell der Polizeihubschrauber wohl fliegen mochte; allem Anschein nach war er speziell auf Tempo getrimmt, und er wünschte, er könnte dann mitfliegen: Er hatte jetzt keine Angst mehr vor dem Polizisten und hätte gern noch länger mit ihm gesprochen. Doch der Polizist brach auf; der Hubschrauber erhob sich vom Boden, und Wind und Sand wirbelte um David herum auf, so daß er sich abwenden und den Arm vors Gesicht halten mußte.

Die vier Steiner-Mädchen standen noch immer beisammen, und keines machte den Mund auf. Eines, das älteste, weinte; Tränen liefen ihm die Wangen hinunter, doch es gab keinen Laut von sich. Das kleinste, das erst drei war, lächelte David schüchtern an.

»Wollt ihr mir bei meinem Damm helfen?« rief David ihnen zu. »Ihr könnt rüberkommen; der Polizist hat mir gesagt, ihr dürft.«

Nach einer Weile kam das jüngste Steiner-Mädchen auf ihn zu, und dann folgten die anderen.

»Was hat euer Dad angestellt?« fragte David das älteste Mädchen. Es war zwölf, älter als er. »Der Polizist hat gemeint, ihr könnt es ruhig sagen«, fügte er hinzu.

Es kam keine Antwort; das Mädchen starrte ihn nur an.

»Wenn du es mir sagst«, meinte David, »erzähle ich's auch keinem weiter. Ich verspreche, daß ich es für mich behalte.«

*

Silvia Bohlen sonnte sich auf June Henessys umzäuntem, mit Wein überwachsenem Patio, trank Eistee und unterhielt sich schläfrig, als sie hörte, wie das Radio im Henessy-Haus die ersten Abendnachrichten brachte.

June richtete sich auf und sagte: »Sag mal, ist das nicht der Mann, der neben euch wohnt?«

»Sssch«, sagte Silvia und lauschte gespannt dem Nachrichtensprecher. Aber mehr kam nicht, nur die kurze Meldung: Norbert Steiner, Naturkosthändler, hatte auf einer Straße im Geschäftsviertel von Neu-Israel Selbstmord begangen, indem er sich vor einen Bus warf. Es war der Steiner, klare Sache; es war ihr Nachbar, sie wußte es sofort.

»Wie entsetzlich«, sagte June, setzte sich ganz auf und band ihr gepunktetes Bikini-Oberteil fest. »Ich hab ihn nur ein paarmal gesehen, aber ...«

»Er war ein schrecklicher Kleingeist«, sagte Silvia. »Überrascht mich nicht, daß er das getan hat.« Und trotzdem war sie fassungslos. Sie konnte es nicht glauben.

Sie stand auf und sagte: »Mit vier Kindern - er hat sie mit der Sorge um vier Kinder allein gelassen! Ist das nicht furchtbar? Was soll jetzt aus ihnen werden? Sie waren auch so schon völlig hilflos.«

»Ich hab gehört«, sagte June, »daß er Schwarzmarktgeschäfte getätigt hat. Wußtest du das? Womöglich sind sie ihm auf die Schliche gekommen.«

Silvia sagte: »Ich gehe lieber gleich heim und schau, ob ich etwas für Mrs. Steiner tun kann. Vielleicht kann ich die Kinder eine Weile zu uns nehmen.« Könnte es meine Schuld gewesen sein? fragte sie sich. Hat er es womöglich getan, weil ich ihnen heute morgen das Wasser verweigerte? Durchaus denkbar, denn er war zu Hause; er war noch nicht zur Arbeit gegangen.

Es könnte also wirklich unsere Schuld sein, dachte sie. Die Art, wie wir sie behandelt haben - wer von uns ist denn jemals richtig nett zu ihnen gewesen und hat sie respektiert? Aber es sind so entsetzlich weinerliche Leute, bitten einen dauernd um Hilfe, betteln und leihen ... wer könnte so jemanden schon respektieren?

Sie ging ins Haus und zog sich im Schlafzimmer ihre langen Hosen und das T-Shirt an. June Henessy wich ihr nicht von der Seite.

»Ja«, sagte June, »du hast recht - wir sollten alle in die Bresche springen und helfen, wo wir nur können. Ich frage mich, ob sie wohl bleiben oder zur Erde zurückkehren wird. Ich ginge heim - bin ja selber schon drauf und dran, heimzugehen, so trostlos ist es hier.«

Silvia schnappte sich Portemonnaie und Zigaretten, verabschiedete sich von June und machte sich den Graben entlang auf den Rückweg nach Hause. Atemlos traf sie gerade noch rechtzeitig ein, um zu sehen, wie der Polizeihubschrauber am Himmel verschwand. Die haben ihr Bescheid gegeben, stellte sie fest. Im Hinterhof fand sie David mit den vier Steiner-Mädchen; sie waren eifrig am Spielen.

»Haben sie Mrs. Steiner mitgenommen?« rief sie David zu.

Der Junge sprang sofort auf und kam aufgeregt zu ihr. »Mom, sie ist mit ihm geflogen. Ich pass auf die Mädchen auf.«

Das habe ich befürchtet, dachte Silvia. Die vier Mädchen blieben am Damm sitzen und spielten Zeitlupenhaft und apathisch ein Spiel mit Schlamm und Wasser, ohne daß eines von ihnen aufsah oder sie begrüßte; sie wirkten teilnahmslos, zweifellos durch den Schock, den die Nachricht vom Tod des Vaters bei ihnen ausgelöst hatte. Nur die kleinste ließ erkennen, daß allmählich wieder Leben in sie kam, aber sie hatte die Nachricht wahrscheinlich von vornherein nicht richtig begriffen. Schon, dachte Silvia, hat der Tod dieses Kleingeistes seine Folgen und Auswirkungen auf andere, und Kälte breitete sich aus. Sie spürte den eisigen Hauch auch in ihrem Herzen. Und ich konnte ihn noch nicht einmal leiden, dachte sie.

Beim Anblick der vier Steiner-Mädchen erbebte sie. Muß ich mich jetzt mit diesen schwabbeligen, plumpen, geistlosen Unterschichtkindern herumschlagen? fragte sie sich. Die Antwort drängte sich ihr auf und schob jeden anderen Gedanken beiseite: Ich will nicht! Sie empfand Panik, weil deutlich war, daß ihr nichts anderes übrigblieb; sie spielten ja schon auf ihrem Land, in ihrem Garten - sie hatte sie längst am Hals.

Hoffnungsvoll fragte das kleinste Mädchen: »Miz Bohlen, könnten wir noch etwas Wasser für unseren Damm haben?«

Wasser, ständig wollen sie Wasser, dachte Silvia. Ständig schröpfen sie uns, als wäre es ein ihnen angeborener Wesenszug. Sie ignorierte das Kind und sagte statt dessen zu ihrem Sohn: »Komm rein - ich muß mit dir reden.«

Sie gingen zusammen ins Haus, wo die Mädchen nichts mitkriegen konnten.

»David«, sagte sie, »ihr Vater ist tot, es kam gerade im Radio. Darum war auch die Polizei hier und hat ihre Mutter geholt. Wir müssen eine Weile aushelfen.« Sie versuchte zu lächeln, aber es war nicht möglich. »So wenig wir die Steiners leiden können ...«

David platzte heraus: »Ich hab nichts gegen sie, Mom. Wie kommt's, daß er gestorben ist? Hatte er einen Herzanfall? Haben ihn wilde Bleichmänner angegriffen, war es das?«

»Ist doch egal, wie er gestorben ist; wir müssen uns jetzt überlegen, was wir für die Mädchen tun können.« Ihr Kopf war leer; sie konnte nicht mehr klar denken. Sie wußte nur, daß sie die Mädchen nicht in ihrer Nähe haben wollte. »Was können wir tun?« fragte sie David.

»Vielleicht, ihnen was zu essen machen. Sie haben mir erzählt, daß sie noch nichts gegessen haben; ihre Mutter wollte ihnen gerade was machen.«

Silvia verließ das Haus und ging den Pfad hinunter. »Ich mache euch was zu essen, Mädels, jeder von euch, die möchte. Drüben in eurem Haus.« Sie wartete einen Moment lang und machte sich dann auf den Weg zum Steiner-Haus. Als sie sich umdrehte, sah sie, daß ihr nur das kleinste Kind folgte.

Das älteste Mädchen schluchzte mit tränenerstickter Stimme: »Nein danke.«

»Du solltest aber was essen«, sagte Silvia, obwohl sie erleichtert war. »Komm mit«, sagte sie zu dem kleinen Mädchen. »Wie heißt du denn?«

»Betty«, sagte das kleine Mädchen schüchtern. »Könnte ich wohl ein Brot mit Ei haben? Und Kakao?«

»Wir werden sehen, was da ist«, sagte Silvia.

Später, als das Kind sein Eibrot aß und den Kakao trank, nutzte Silvia die Gelegenheit, um das Steiner-Haus zu erkunden. Im Schlafzimmer fand sie etwas, das sie interessierte: das Bild eines kleinen Jungen mit großen, dunklen, leuchtenden Augen und lockigem Haar; er sah, dachte Silvia, wie eine verzweifelte Kreatur aus einer anderen Welt aus, einer herrlichen und doch grauenhaften Welt jenseits ihrer eigenen.

Sie trug das Bild in die Küche und fragte Klein-Betty, wer der Junge sei.

»Das ist mein Bruder Manfred«, antwortete Betty, den Mund voll Ei und Brot. Dann begann sie zu kichern. Zwischendurch kamen zögernd ein paar Worte hervor, und Silvia merkte, daß die Mädchen ihren Bruder niemandem gegenüber erwähnen sollten.

»Warum lebt er denn nicht bei euch?« fragte Silvia neugierig.

»Er ist doch im Camp«, sagte Betty. »Weil er nicht sprechen kann.«

»Was für eine Schande«, sagte Silvia und dachte: In diesem Camp in Neu-Israel, ganz klar. Kein Wunder, daß die Mädchen ihn nicht erwähnen sollen; er ist eines von diesen abnormen Kindern, von denen man hört, die man aber nie sieht. Der Gedanke machte sie traurig. Heimliche Tragödie im Steiner-Haushalt; das hätte sie nie vermutet. Und Mr. Steiner hatte sich in Neu-Israel das Leben genommen. Sicher hatte er seinen Sohn besucht.

Dann hat es also nichts mit uns zu tun, entschied sie, als sie das Bild wieder an seinen Platz im Schlafzimmer stellte. Mr. Steiners Entschluß beruhte auf einer persönlichen Angelegenheit. Sie fühlte sich dadurch erleichtert.

Seltsam, dachte sie, wie man sofort mit Schuldgefühlen und Verantwortungsbewußtsein reagiert, wenn man von Selbstmord hört. Wenn ich nur dies nicht getan hätte oder das ... ich hätte es verhindern können. Ich bin schuld. Und in diesem Fall war es gar nicht so; sie war für die Steiners ein völliger Außenseiter und hatte an ihrem eigentlichen Leben gar nicht teilgenommen, sich das in einem Anflug neurotischer Schuldgefühle nur eingebildet.

»Siehst du deinen Bruder manchmal?« fragte sie Betty.

»Ich glaub, letztes Jahr hab ich ihn gesehen«, sagte Betty zögernd. »Er hat Fangen gespielt, und es waren noch viele andere Jungs da, größer als ich.«

Nun betraten die drei älteren Steiner-Mädchen im Gänsemarsch die Küche und stellten sich am Tisch auf. Schließlich brach es aus der ältesten heraus: »Wir haben es uns überlegt, wir hätten doch gern was zu essen.«

»In Ordnung«, sagte Silvia. »Ihr könnt mir helfen, die Eier zu pellen. Warum geht ihr nicht David holen, und ich gebe ihm auch gleich was? Würde euch das nicht Spaß machen, alle zusammen zu essen?«

Sie nickten stumm.

Arnie Kott kam gerade die Hauptstraße von Neu-Israel hoch, als er vor sich eine Menschenmenge und Autos sah, die am Straßenrand stehenblieben, und er hielt einen Moment inne, ehe er sich in Richtung von Anne Esterhazys Geschenkartikelladen für zeitgenössische Kunst wandte. Da geht doch irgendwas vor, sagte er sich. Ein Raubüberfall? Krawall auf offener Straße?

Aber er hatte keine Zeit, der Sache weiter nachzugehen. Er setzte seinen Weg fort und erreichte schließlich den kleinen modernen Laden, den seine einstige Gattin führte; die Hände in den Hosentaschen schlenderte er hinein.

»Jemand zu Hause?« rief er jovial.

Keiner da. Sicher ist sie kurz fortgegangen, um nach dem Tumult zu sehen, sagte sich Arnie. Schöner Geschäftssinn; hatte nicht mal den Laden abgeschlossen.

Gleich darauf kam Anne atemlos in den Laden zurückgerannt. »Arnie«, sagte sie bei seinem Anblick erstaunt. »O mein Gott, weißt du, was passiert ist? Gerade habe ich noch mit ihm geredet, einfach nur geredet, vor höchstens einer Stunde. Und jetzt ist er tot.« Tränen traten ihr in die Augen. Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen, kramte nach einem Kleenex und schneuzte sich. »Es ist einfach schrecklich«, sagte sie mit gedämpfter Stimme. »Und es war kein Unfall; er hat es absichtlich getan.«

»Ach, das war's also«, sagte Arnie und wünschte jetzt, er wäre vorhin weitergegangen und hätte einen Blick riskiert. »Wen meinst du denn?«

»Du kennst ihn ja doch nicht. Er hat ein Kind im Camp; daher kennen wir uns.« Sie wischte sich die Augen und saß eine Weile still da, während Arnie ziellos durch den Laden wanderte. »Also«, sagte sie schließlich, »was kann ich für dich tun? Freut mich, dich zu sehen.«

»Mein gottverdammter Chiffrierer ist kaputt«, sagte Arnie. »Du weißt doch, wie schwer es ist, einen anständigen Kundendienst zu kriegen. Was blieb mir anderes übrig, als vorbeizukommen? Wie wär's, wenn wir zusammen zu Mittag essen? Mach den Laden für eine Weile dicht.«

»Natürlich«, sagte sie zerstreut. »Ich will mir nur noch rasch das Gesicht waschen. Kommt mir vor, als wäre ich's gewesen. Ich hab ihn gesehen, Arnie. Der Bus ist glatt über ihn weggerollt; die sind so schwer, die können nicht einfach anhalten. Essengehen wäre nicht schlecht - ich muß hier raus.« Sie lief in den Waschraum - und schloß die Tür.

Etwas später gingen die beiden gemeinsam den Gehsteig entlang.

»Warum nimmt sich ein Mensch das Leben?« fragte Anne. »Ich muß ständig daran denken, daß ich's hätte verhindern können. Ich habe ihm eine Flöte für seinen Jungen verkauft. Er hatte die Flöte noch; ich hab sie bei seinem Gepäck am Straßenrand gesehen - er hat sie seinem Sohn gar nicht gegeben. Ist das der Grund, hängt es mit der Flöte zusammen? Ich schwankte zwischen der Flöte und ...«

»Laß das«, sagte Arnie. »Dich trifft keine Schuld. Paß auf, wenn ein Mensch sich das Leben nehmen will, dann kann ihn nichts davon abhalten. Und man bringt auch niemanden dazu, so was zu tun; es liegt ihm im Blut, es ist seine Bestimmung. Sie arbeiten schon Jahre im voraus darauf hin, und dann ist es wie eine plötzliche Eingebung; mit einem Mal - rumms. Sie tun's einfach, verstehst du?« Er legte den Arm um sie und tätschelte ihre Schulter.

Sie nickte.

»Schau, ich meine, wir haben doch auch ein Kind in Camp B-G, und uns kriegt das nicht unter«, fuhr Arnie fort. »Es ist nicht das Ende der Welt, stimmt's? Wir machen einfach weiter. Wo willst du essen? Wie wär's mit diesem Lokal gegenüber, dem Red Fox? Ist das okay? Ich hätte gern gebratene Garnelen, aber zum Teufel, seit fast einem Jahr habe ich keine mehr gesehen. Dieses Transportproblem muß irgendwie gelöst werden, sonst wandert keiner mehr aus.«

»Nicht das Red Fox«, sagte Anne. »Ich kann den Geschäftsführer nicht leiden. Probieren wir doch das Lokal an der Ecke aus; das ist neu, ich hab dort noch nie gegessen. Wie ich höre, soll es sehr gut sein.«

Als sie im Restaurant an einem Tisch saßen und auf ihr Essen warteten, sprach Arnie weiter und legte seinen Standpunkt dar. »Eines mußt du dir merken: Wenn du von einem Selbstmord hörst, kannst du sicher sein, daß der Kerl eines weiß: daß er kein nützliches Mitglied der Gesellschaft ist. Das ist die eigentliche Wahrheit über sich, der er ins Auge blickt, und daher kommt das alles, von dem Wissen, daß er keinem etwas bedeutet. Wenn ich mir jemals einer Sache sicher war, dann dieser. So geht es zu in der Natur - das Überflüssige wird beseitigt, und sei es von eigener Hand. Deshalb raubt es mir auch nicht den Schlaf, wenn ich von einem Selbstmord höre; du würdest staunen, wie viele sogenannte natürliche Tode auf dem Mars in Wahrheit Selbstmorde sind; ich meine, das ist eben eine rauhe Umwelt. Hier scheiden sich die Fähigen von den Unfähigen.«

Anne Esterhazy nickte, aber es schien sie nicht gerade aufzuheitern.

»Was nun diesen Kerl angeht ...« fuhr Arnie fort.

»Steiner«, sagte Anne.

»Steiner?« Er starrte sie an. »Norbert Steiner, der Schwarzmarkthändler?« Seine Stimme wurde lauter.

»Er hat Naturkost verkauft.«

»Das ist der Kerl!« Er war total perplex. »O nein, nicht Steiner.« Großer Gott, er bezog seinen ganzen Vorrat an Leckereien von Steiner; er war ganz und gar abhängig von diesem Mann.

»Das ist ja furchtbar«, sagte Arnie, »ich meine, wirklich furchtbar. Was soll ich denn jetzt tun?« Jede Party, die er schmiß, jedesmal, wenn er ein lauschiges Essen zu zweit für sich und irgendein Mädchen arrangiert hatte, zum Beispiel Marty oder neuerdings vor allem Doreen ... Das war verdammt noch mal einfach zuviel für einen Tag, das und sein Chiffrierer, beides auf einmal.

»Meinst du nicht«, sagte Anne, »es könnte damit zu tun haben, daß er Deutscher ist? Die Deutschen hatten soviel Leid zu ertragen seit dieser Medikamentenplage, diese Kinder, die mit Schwimmflossen geboren wurden. Ich habe mit einigen gesprochen, die rundheraus erklärten, daß es ihrer Meinung nach Gottes Strafe dafür sei, was sie während der Nazizeit getan haben. Und das waren keine geistlichen Herren, es waren Geschäftsleute, einer hier auf dem Mars, der andere zu Hause.«

»Dieser bescheuerte Idiot Steiner«, sagte Arnie. »Dieser Dummkopf.«

»Iß, Arnie.« Sie entfaltete ihre Serviette. »Die Suppe sieht gut aus.«

»Ich kann nicht essen«, sagte er. »Ich mag dieses Spülwasser nicht.« Er schob die Suppenschüssel von sich.

»Du bist immer noch das gleiche große Baby«, sagte Anne. »Kriegst immer noch deinen Koller.« Ihre Stimme war sanft und mitfühlend.

»Zum Teufel«, sagte er, »manchmal habe ich das Gefühl, als hätte ich das ganze Gewicht der Welt zu tragen, und du nennst mich ein Baby!« Er funkelte sie in fassungsloser Wut an.

»Ich wußte gar nicht, daß Steiner mit Schwarzmarktgeschäften zu tun hatte«, sagte Anne.

»Natürlich wußtest du es nicht, du und deine Damenkomitees. Was wißt ihr schon von der Welt um euch herum? Darum bin ich ja hier - ich habe deine neueste Anzeige in der Times gelesen, und sie stinkt. Du mußt endlich aufhören, diesen Unfug zu verbreiten; intelligente Menschen widert so was an - das ist nur etwas für solche Spinner, wie du einer bist.«

»Bitte«, sagte Anne. »Iß. Beruhige dich.«

»Ich werde einen Mann von meiner Gilde beauftragen, dein Material durchzugehen, ehe du es in Umlauf bringst. Einen Profi.«

»Wirst du das?« fragte sie sanft.

»Wir haben ein echtes Problem - wir können keine Leute vom Fach mehr dazu bringen, von der Erde überzusiedeln, die Leute, die wir brauchen. Wir verrotten hier - jeder weiß das. Wir fallen auseinander.«

Lächelnd sagte Anne: »Irgendwer wird Mr. Steiners Platz schon einnehmen; es muß schließlich noch andere Schwarzmarkthändler geben.«

Arnie sagte: »Du verstehst mich bewußt falsch, damit ich habgierig und klein aussehe, wo ich doch in Wahrheit eines der Mitglieder des ganzen Kolonisierungsversuchs hier auf dem Mars mit der größten Verantwortung bin, und darum ist auch unsere Ehe gescheitert, weil du mich aus Eifersucht und Rivalität ständig herabsetzt. Ich weiß gar nicht, warum ich heute überhaupt hergekommen bin -es ist dir unmöglich, irgend etwas auf rationaler Grundlage zu entwickeln, ständig mußt du deinen Senf zu allem abgeben.«

»Wußtest du, daß der UN ein Gesetzentwurf zur Schließung von Camp B-G vorliegt?« sagte Anne ruhig.

»Nein«, sagte Arnie.

»Beunruhigt dich der Gedanke denn nicht, daß das B-G geschlossen wird?«

»Zum Teufel, wir werden Sam in private Obhut geben.«

»Was ist mit den anderen Kindern dort?«

»Du hast das Thema gewechselt«, sagte Arnie. »Hör zu, Anne, du wirst dich dem unterwerfen, was du männliche Vorherrschaft nennst, und meine Leute durchsehen lassen, was du schreibst. Bei Gott, es richtet mehr Schaden an, als es nützt - ich hasse es, dir das ins Gesicht zu sagen, aber es ist die Wahrheit. So wie du die Dinge anpackst, hätte ich dich lieber zum Feind als zum Freund. Du bist ein Dilettant! Wie die meisten Frauen. Du bist - verantwortungslos.« Er schnaubte vor Wut. Ihr Gesicht zeigte keine Reaktion; seine Worte hatten keine Wirkung auf sie.

»Kannst du irgendwelchen Druck ausüben, damit Camp B-G nicht geschlossen wird?« fragte sie. »Vielleicht können wir ein Abkommen treffen. Ich will nicht, daß es geschlossen wird.«

»Ein hehres Ziel«, sagte Arnie grimmig.

»Ja.«

»Willst du meine ehrliche Antwort?«

Sie nickte und musterte ihn kühl.

»Dieses Camp ist mir schon ein Greuel, seit die Juden es aufgemacht haben.«

Anne sagte: »Sei gesegnet, ehrlicher, aufrechter Arnie Kott, Freund der Menschheit.«

»Es verrät der ganzen Welt, daß wir hier auf dem Mars Verrückte haben, daß man, wenn man den Weltraum durchquert, um hierher zu gelangen, wahrscheinlich an den Geschlechtsorganen Schaden nimmt und ein Monster zur Welt bringt, gegen das diese deutschen Flossenwesen wie der freundliche Nachbar von nebenan erscheinen.«

»Dir und dem Gentleman, der das Red Fox leitet.«

»Ich bin einfach nur beinharter Realist. Wir kämpfen um unser Leben; wir müssen die Leute dazu bringen, hierher auszuwandern, sonst sind wir verratzt, Anne. Das weißt du. Wenn es Camp B-G nicht gäbe, dann könnten wir damit werben, daß es fernab der Wasserstoffbombentests und der vergifteten Atmosphäre auf der Erde keine abnormen Geburten gibt. Ich hatte gehofft, das durchsetzen zu können, aber das B-G verhindert es.«

»Nicht das B-G. Die Geburten selbst.«

»Niemand wäre in der Lage, das nachzuprüfen und auf unsere abnormen Geburten hinzuweisen«, sagte Arnie, »wenn es B-G nicht gäbe.«

»Das würdest du sagen, obwohl du weißt, daß es nicht stimmt, wenn du nur damit durchkämst? Denen zu Hause erzählen, daß sie hier sicherer sind?«

»Klar.« Er nickte.

»Das ist - unmoralisch.«

»Nein. Hör zu. Du bist unmoralisch, du und diese anderen Damen. Daß ihr Camp B-G geöffnet haltet, führt doch nur dazu ...«

»Streiten wir nicht, wir einigen uns ja doch nie. Laß uns essen, und dann fliegst du nach Lewistown zurück. Ich ertrag's nicht mehr.«

Schweigend aßen sie.

*

Dr. Milton Glaub, Mitglied des Psychiaterpools von Camp B-G, von der Gildesiedlung der Interplanetaren Trucker freigestellt, saß nach Erledigung seines heutigen Tagespensums im B-G wieder allein in seinem Sprechzimmer. Er hielt eine Rechnung für Dachreparaturen in Händen, die er im vorigen Monat an seinem Haus hatte durchführen lassen. Er hatte die Arbeiten vor sich hergeschoben - sie erforderten einen Planierpflug, der verhinderte, daß der Sand sich auftürmte -, aber schließlich hatte ihm der Gebäudeinspektor der Siedlung einen Zwangsenteignungsbescheid zugestellt, der ihm noch dreißig Tage ließ. Also hatte er sich mit der Dachdeckergilde in Verbindung gesetzt, wohl wissend, daß er nicht bezahlen konnte; aber er hatte keinen anderen Ausweg mehr gesehen. Er war pleite. Das war für ihn bisher der schlimmste Monat gewesen.

Wenn nur seine Frau Jean weniger Geld ausgäbe. Aber auch das wäre keine Lösung gewesen; die einzige Lösung bestand darin, mehr Patienten zu bekommen. Die GIT bezahlte ihm ein monatliches Gehalt, aber für jeden Patienten erhielt er noch einen Extrabonus von fünfzig Dollar: Leistungsanreiz nannten sie das. In Wirklichkeit bedeutete es den Unterschied zwischen Verschuldung und Zahlungsfähigkeit. Niemand, der Frau und Kind hatte, konnte von dem Gehalt leben, das Psychiater bezogen, und die GIT, das wußte jeder, war besonders knauserig.

Trotzdem blieb Dr. Glaub weiterhin in der GIT-Siedlung; es handelte sich um eine geordnete Gemeinschaft, in vieler Hinsicht jener auf der Erde ähnlich. Neu-Israel hatte, wie die anderen staatlichen Siedlungen auch, eher eine geladene, explosive Atmosphäre.

Übrigens hatte Dr. Glaub schon einmal in einer staatlichen Siedlung gelebt, der Vereinigten Arabischen Republik, einer besonders feudalen Gegend, in der es gelungen war, viele von zu Hause importierte Pflanzen ansässig zu machen. Aber die ständigen Feindseligkeiten der Siedlung gegenüber den Nachbarkolonien hatten ihn zunächst irritiert und dann entsetzt. Die Männer grübelten bei ihrer täglichen Arbeit über begangenes Unrecht nach. Die liebeswürdigste Person konnte, auf bestimmte Themen angesprochen, explodieren. Und nachts nahmen die Feindseligkeiten konkrete Formen an; die staatlichen Kolonien lebten für die Nacht. Dann wurden die Forschungslabors, die tagsüber Schauplatz wissenschaftlicher Versuche und Entwicklungen waren, für die Öffentlichkeit geöffnet, und man schleppte Höllenmaschinen heraus - das alles geschah mit großer Aufregung und heller Freude, und natürlich aus Nationalstolz.

Zum Teufel mit ihnen, dachte Dr. Glaub. Sie vergeudeten ihr Leben; sie hatten einfach die alten Streitereien von der Erde mit herübergebracht - und den Zweck der Kolonisierung vergessen. Erst heute morgen hatte er zum Beispiel in der UN-Zeitung von einem Aufruhr in den Straßen der Elektriker-Siedlung gelesen; der Zeitungsbericht ließ durchblicken, daß die nahegelegene italienische Siedlung dafür verantwortlich sei, weil einige Unruhestifter diesen langen pomadisierten Schnurrbart getragen hatten, der in der italienischen Kolonie so beliebt war ...

Ein Klopfen an der Sprechzimmertür riß ihn aus seinen Gedanken. »Ja«, sagte er und schob die Rechnung über die Dachreparatur in eine Schublade.

»Bist du für Gildebruder Purdy zu sprechen?« fragte seine Frau, als sie die Tür berufsmäßig öffnete, so wie er es ihr beigebracht hatte.

»Schick Gildebruder Purdy herein«, sagte Dr. Glaub. »Wart aber ein paar Minuten damit, ich muß erst noch seine Fallgeschichte überfliegen.«

»Hast du schon zu Mittag gegessen?« fragte Jean.

»Natürlich. Jeder ißt zu Mittag.«

»Du siehst blaß aus«, sagte sie.

Das ist schlecht, dachte Dr. Glaub. Er ging vom Sprechzimmer ins Bad, wo er sorgfältig sein Gesicht mit dem karamelfarbenen Puder, der gerade in Mode war, dunkler tönte. Es verbesserte sein Aussehen, aber nicht seine geistige Verfassung. Die Theorie hinter dem Puder war die, daß die herrschenden Kreise in der GIT spanischer und puertoricanischer Herkunft waren und es sie einschüchtern könnte, wenn ein Lohnarbeiter hellere Haut hatte als sie selbst. Die Werbung drückte es natürlich anders aus; die Werbung wies die Lohnarbeiter in der Siedlung lediglich darauf hin, daß »das Marsklima dazu neigt, den natürlichen Hautton zu einem unansehnlichen Weiß auszubleichen«.

Jetzt wurde es Zeit, sich seinem Patienten zu widmen.

»Guten Tag, Gildebruder Purdy.«

»Tag, Doc.«

»Ich sehe in Ihrer Akte, daß Sie Bäcker sind.«

»Ja, stimmt.«

Pause. »Weshalb wünschen Sie meinen Rat?«

Gildebruder Purdy starrte zu Boden und nestelte an seiner Mütze herum, während er sagte: »Ich bin noch nie bei einem Psychiater gewesen.«

»Nein, ich kann hieraus entnehmen, daß das stimmt.«

»Da ist diese Party, die mein Schwager gibt ... mir liegt nichts daran, auf Parties zu gehen.«

»Müssen Sie denn hingehen?« Dr. Glaub hatte unauffällig die Uhr auf dem Schreibtisch gestellt; sie tickte die halbe Stunde herunter, die dem Gildebruder zustand.

»Die geben sie eigentlich für mich. Sie ... äh ... wollen, daß ich meinen Neffen als Lehrling nehme, damit er dann später in der Gilde ist.«

Purdy sprach leiernd weiter: »... und ich habe nachts wach gelegen und überlegt, wie ich da wieder rauskomme

- ich meine, es sind meine Verwandten, und ich kann wohl schlecht ankommen und nein sagen. Aber ich kann einfach nicht hingehen, dazu fühle ich mich nicht gut genug. Und darum bin ich jetzt hier.«

»Verstehe«, sagte Dr. Glaub. »Also, dann erzählen Sie mir mal Näheres über die Party, wann und wo sie stattfinden soll, die Namen der beteiligten Personen, damit ich alles perfekt erledigen kann, wenn ich dort bin.«

Erleichtert kramte Purdy in seiner Manteltasche und brachte ein sauber getipptes Dokument zum Vorschein. »Ich weiß es wirklich zu schätzen, daß Sie an meiner Stelle gehen wollen, Doc. Ihr Psychiater nehmt einem eine ungeheure Last ab; ich scherze nicht, wenn ich sage, daß ich deswegen schon schlaflose Nächte hatte.« Er staunte den Mann vor ihm in dankbarer Ehrfurcht an, diesen Mann, der sich auf sozialen Umgang verstand, der fähig war, auf dem schmalen, gefährlichen Grat der vielfältigen zwischenmenschlichen Beziehungen zu wandeln, auf dem im Laufe der Jahre so viele Gildemitglieder gescheitert waren.

»Zerbrechen Sie sich darüber nicht weiter den Kopf«, sagte Dr. Glaub. Schließlich, dachte er, was ist schon eine kleine Schizophrenie? Das ist es nämlich, was dir fehlt, weißt du? Ich befreie dich von deinem gesellschaftlichen Druck, und du kannst weiter in deinem chronischen Zustand unzureichender Anpassung verharren, wenigstens ein paar Monate lang. Bis die Gesellschaft wieder mit einer dramatischen Forderung an dich herantritt, die deine begrenzten Fähigkeiten übersteigt ...

Als Gildebruder Purdy das Sprechzimmer verließ, sann Dr. Glaub darüber nach, daß diese Form der Psychotherapie, die sich hier auf dem Mars entwickelt hatte, ganz zweifellos praktisch war. Statt den Patienten von seinen Phobien zu heilen, wurde man nach Art eines Anwalts zu seinem tatsächlichen Fürsprecher bei ...

Jean rief ins Sprechzimmer: »Milt, da ist ein Anruf für dich aus Neu-Israel. Bosley Touvim.«

O Gott, dachte Dr. Glaub. Touvim war der Präsident von Neu-Israel; etwas stimmte nicht. Hastig nahm er den Hörer ab. »Hier Dr. Glaub.«

»Doktor«, ertönte die dunkle, ernste, kraftvolle Stimme, »hier spricht Touvim. Wir haben einen Todesfall, einer Ihrer Patienten, wie ich höre. Wären Sie wohl so freundlich, noch einmal hierher zu fliegen und sich darum zu kümmern? Gestatten Sie, daß ich Ihnen ein paar Einzelheiten gebe ... Norbert Steiner, Deutscher ...«

»Er ist nicht Patient bei mir, Sir«, unterbrach Dr. Glaub. »Aber sein Sohn - ein kleines autistisches Kind in Camp B-G. Wie meinen Sie das, Steiner ist tot? Um Himmels willen, ich hab doch heute morgen noch mit ihm gesprochen - sind Sie sicher, daß es derselbe Steiner ist? In dem Fall habe ich eine Akte über ihn, über die ganze Familie, wegen der Art der Erkrankung seines Sohns. Bei autistischen Kindern muß man unserer Auffassung nach erst die familiäre Situation begreifen, ehe man mit der Therapie beginnen kann. Ja, ich komme sofort.«

Touvim sagte: »Anscheinend war es Selbstmord.«

»Das kann ich nicht glauben«, sagte Dr. Glaub.

»Ich habe die vergangene halbe Stunde mit den Mitarbeitern von Camp B-G darüber diskutiert; sie sagten, sie hätten noch ein langes Gespräch mit Steiner geführt, kurz bevor er das Camp verließ. Bei der gerichtlichen Untersuchung wird die Polizei wissen wollen, ob Steiner Anzeichen für eine depressive oder krankhaft introspektive Gemütsverfassung zeigte und welcher Art sie unter Umständen waren, ob etwas von dem, was er sagte, Ihnen vielleicht Gelegenheit gegeben hätte, ihn von seinem Vorhaben abzubringen oder, wenn das nicht im Rahmen der Möglichkeiten gelegen hat, ihn zu veranlassen, sich einer Therapie zu unterziehen. Ich nehme an, daß der Mann nichts gesagt hat, was Sie vor seinen Absichten gewarnt haben könnte.«

»Absolut nichts«, sagte Dr. Glaub.

»Dann würde ich mir an Ihrer Stelle keine Sorgen machen«, sagte Touvim. »Bereiten Sie sich lediglich darauf vor, die Krankengeschichte des Mannes darlegen zu müssen ... mögliche Motive, die dazu geführt haben könnten, daß er sich das Leben nahm. Sie wissen schon.«

»Danke, Mr. Touvim«, sagte Dr. Glaub schwach. »Es ist durchaus möglich, daß er wegen seines Sohns deprimiert war. Ich habe ihm in groben Zügen eine neue Therapie unterbreitet; wir setzen große Hoffnungen darauf. Sicher, er wirkte zynisch und verschlossen; er reagierte nicht so darauf, wie ich erwartet hatte. Aber Selbstmord?«

Was wird, wenn ich den B-G-Auftrag verliere? fragte sich Dr. Glaub. Das darf nicht sein. Die Arbeit dort einmal die Woche brachte ihm gerade genug zusätzliches Einkommen, daß finanzielle Sicherheit zumindest in Aussicht stand - wenn sie auch noch nicht erreicht war. Der B-G-Scheck ließ das Ziel wenigstens näherrücken.

Hatte dieser Idiot Steiner denn nicht daran gedacht, welche Auswirkungen sein Tod vielleicht auf andere hatte? Doch, er muß daran gedacht haben; er hat es getan, um sich an uns zu rächen. Um es uns heimzuzahlen

- aber warum? Weil wir versuchen, sein Kind zu heilen?

Das ist eine ernste Sache, wurde ihm klar. Ein Selbstmord, so kurz nach einem Gespräch zwischen Arzt und Patient. Gott sei Dank hatte Mr. Touvim ihn gewarnt.

Trotzdem, die Zeitungen werden es aufgreifen, und all jene, die Camp B-G gern geschlossen sähen, werden Nutzen daraus ziehen.

*

Als er die Kühlanlage auf McAuliffs Milchfarm repariert hatte, kehrte Jack Bohlen zu seinem Hubschrauber zurück, verstaute seinen Werkzeugkasten hinter dem Sitz und nahm mit seinem Arbeitgeber Mr. Yee Verbindung auf.

»Die Schule«, sagte Mr. Yee. »Sie müssen hin, Jack; ich habe immer noch keinen, der Ihnen den Auftrag abnehmen könnte.«

»Okay, Mr. Yee.« Er ließ den Hubschraubermotor an und fand sich damit ab.

»Eine Nachricht von Ihrer Frau, Jack.«

»Ach?« Er war erstaunt; sein Arbeitgeber mißbilligte es, wenn die Ehefrauen seiner Angestellten anriefen, und Silvia wußte das. Vielleicht war David etwas zugestoßen. »Können Sie mir sagen, worum's geht?« fragte er.

Mr. Yee sagte: »Mrs. Bohlen hat unsere Telefonistin gebeten, Ihnen mitzuteilen, daß einer Ihrer Nachbarn, ein Mr. Steiner, sich das Leben genommen hat. Mrs. Bohlen wollte Sie wissen lassen, daß sie sich um die SteinerKinder kümmert. Außerdem fragte sie, ob es Ihnen möglich wäre, heute abend nach Hause zu kommen, aber ich sagte ihr, daß wir Sie bedauerlicherweise nicht entbehren könnten. Sie müssen uns noch bis Ende der Woche zur Verfügung stehen, Jack.«

Steiner tot, sagte sich Jack. Der arme schwache Streber. Na ja, vielleicht ist es so besser für ihn.

»Danke, Mr. Yee«, sagte er ins Mikrofon.

Als der Hubschrauber vom kargen Gras des Weidelands abhob, dachte Jack: Das wirkt sich noch auf uns alle aus, und zwar kräftig. Es war ein starkes und brennendes Gefühl, eine Eingebung. Ich glaube nicht, daß ich jemals mehr als ein Dutzend Worte am Stück mit Steiner gewechselt habe, und doch - der Tod hat etwas Ungeheuerliches an sich. Der Tod besitzt gewaltige Autorität. Eine Verwandlung, so ehrfurchtgebietend wie das Leben selbst, und um soviel schwerer für uns zu verstehen.

Er schwenkte den Hubschrauber in Richtung des UNHauptquartiers auf dem Mars und machte sich auf den Weg zum großen automatischen Gebilde des Lebens, dem einzigartigen künstlichen Organismus, der ihre Public School war, ein Ort, den er nach allen Erfahrungen, die er fern der Heimat bisher gemacht hatte, mehr fürchtete als jeden anderen.

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