Neun

Jack legte ein großes grünes Samenkorn in Leo Bohlens Hand. Leo untersuchte es und gab es zurück.

»Was hast du gesehen?« fragte Jack.

»Ich hab gesehen, daß es ein Samenkorn ist.«

»Ist irgendwas passiert?«

Leo überlegte, aber er hatte nicht bemerkt, daß etwas passiert war, also sagte er schließlich: »Nein.«

Vor dem Filmprojektor sitzend, sagte Jack: »Nun paß auf.« Er schaltete das Licht im Zimmer aus, und dann, als der Projektor surrte, erschien ein Bild auf der Leinwand. Es war ein Samenkorn, in Erde eingebettet. Leo sah, wie das Samenkorn aufsprang. Zwei tastende Fühler erschienen; einer richtete sich nach oben, der andere teilte sich in feinste Härchen und tastete über den Boden. Inzwischen drehte sich das Samenkorn im Erdreich. Aus dem aufwärts gerichteten Fühler entfalteten sich gewaltige Triebe, und Leo keuchte auf.

»Wirklich, Jack«, sagte er, »ihr habt schon erstaunliche Samenkörner hier auf dem Mars; sieh nur, wie schnell das geht. Mein Gott, das wächst ja wie verrückt.«

Jack sagte: »Das ist eine ganz gewöhnliche LimaBohne, die gleiche, die ich dir vorhin gegeben habe. Dieser Film läuft im Zeitraffer, fünf Tage in wenigen Sekunden. Wir sehen jetzt, was in einem keimenden Samenkorn vor sich geht; normalerweise verläuft der Prozeß zu langsam, als daß man überhaupt eine Bewegung bemerken kann.«

»Wirklich, Jack«, sagte Leo, »das ist phantastisch. Die Zeitgeschwindigkeit des Kindes ist also die gleiche wie bei diesem Samenkorn. Ich verstehe. Dinge, die wir in Bewegung sehen, würden so rasend schnell um ihn herumsausen, daß sie praktisch unsichtbar wären, und ich wette, er kann langsame Verläufe wie dieses Samenkorn hier wahrnehmen; ich wette, er kann auf den Hof hinausgehen, sich hinsetzen und zuschauen, wie die Pflanzen wachsen, und fünf Tage sind für ihn wie, sagen wir, zehn Minuten für uns.«

Jack sagte: »Das ist jedenfalls die Theorie.« Dann fuhr er damit fort, Leo zu erklären, wie die Kammer funktionierte. Die Erklärung war jedoch mit technischen Details gespickt, die Leo nicht verstand, und er war ein wenig verwirrt, als Jack kein Ende fand. Es war schon elf Uhr, und Jack machte noch immer keine Anstalten, ihn auf den Flug zu den FDR-Bergen mitzunehmen; er schien völlig in seine Aufgabe vertieft zu sein.

»Sehr interessant«, murmelte Leo an einer Stelle.

»Wir nehmen eine Bandaufzeichnung, die mit fünfzehn Inches pro Sekunde aufgezeichnet wurde, und lassen sie für Manfred mit drei Eindrittel Inches pro Sekunde ablaufen. Ein einziges Wort, zum Beispiel >Baum<. Und gleichzeitig werden wir das Bild eines Baums auf die Leinwand werfen und darunter das Wort, ein Standfoto, das wir fünfzehn oder zwanzig Minuten lang beibehalten. Anschließend wird das, was Manfred sagt, bei drei Dreiviertel Inches pro Sekunde aufgezeichnet, und damit wir es hören können, beschleunigen wir es auf das Fünfzehnfache.«

Leo sagte: »Hör mal, Jack, wir müssen uns jetzt für diese Fahrt fertigmachen.«

»Herrje«, sagte Jack, »überlaß das mir.« Er fuchtelte wütend. »Ich dachte, du wolltest ihn treffen - er muß jede Minute hier sein. Sie schickt ihn rüber ...«

Leo unterbrach ihn: »Hör mal, mein Sohn, ich habe Millionen von Meilen zurückgelegt, um mir das Land anzusehen. Fliegen wir jetzt dorthin oder nicht?«

Jack sagte: »Wir warten, bis der Junge da ist, und dann nehmen wir ihn mit.«

»Okay«, sagte Leo. Er wollte es nicht zum Streit kommen lassen; er war bereit nachzugeben, soweit es nur menschenmöglich war.

»Mein Gott, da stehst du nun zum ersten Mal auf der Oberfläche eines anderen Planeten. Ich hätte gedacht, du würdest gern hier herumlaufen, dir den Kanal ansehen, den Graben.« Jack deutete nach rechts hinüber. »Du hast noch nicht einmal einen Blick darauf geworfen, und die Menschen haben die Kanäle seit Jahrhunderten sehen wollen - und über ihr Vorhandensein gestritten!«

Leo war verärgert und nickte pflichtschuldig. »Dann zeig ihn mir eben.« Er folgte Jack aus der Werkstatt hinaus ins trübe rötliche Sonnenlicht. »Kalt«, stellte Leo fest und sog die Luft ein. »Wirklich, hier fällt einem das Gehen richtig leicht; das habe ich schon gestern abend bemerkt. Ich hatte den Eindruck, ich wöge nur zwanzig oder dreißig Kilo. Liegt wohl daran, daß der Mars so klein ist - stimmt's? Muß gut sein für Leute mit Herzproblemen, nur daß die Luft so dünn ist. Gestern abend dachte ich, es wäre das Cornedbeef, das mich ...«

»Leo«, sagte sein Sohn, »sei still und schau dich um, ja?«

Leo schaute sich um. Er sah eine flache Wüste mit kahlen Bergen in weiter Ferne. Er sah einen tiefen Graben mit trägem braunem Wasser und neben dem Graben moosartige Vegetation, grün. Das war alles, außer Jacks Haus und etwas weiter entfernt dem Haus der Steiners. Er sah den Garten, aber den hatte er schon am Abend zuvor gesehen.

»Und?« sagte Jack.

Höflich sagte Leo: »Sehr eindrucksvoll, Jack. Nett habt ihr's hier; ein netter kleiner moderner Ort. Noch ein paar Pflanzen, eine etwas schönere Landschaft, und ich würde sagen, es ist perfekt.«

Mit schelmischem Grinsen sagte Jack: »Das ist ein Millionen Jahre alter Traum, hier zu stehen und das zu sehen.«

»Ich weiß, mein Sohn, und ich bin außerordentlich stolz auf das, was ihr erreicht habt, du und diese tüchtige Frau.« Leo nickte feierlich. »Also, können wir jetzt starten? Du könntest vielleicht zu dem anderen Haus hinübergehen, wo dieser Junge lebt, und ihn holen, oder ist David schon rübergegangen? Vielleicht holt David ihn ja gerade; ich kann ihn nirgends sehen.«

»David ist in der Schule. Er wurde abgeholt, als du noch geschlafen hast.«

Leo sagte: »Es würde mir nichts ausmachen, hinüberzugehen und diesen Jungen zu holen, Manfred oder wie er heißt, wenn du nichts dagegen hast.«

»Nur zu«, sagte Jack. »Ich komme mit.«

Sie gingen an einem schmalen Wassergraben vorbei, überquerten offenes Sandgelände mit vereinzelten farnähnlichen Pflanzen und erreichten das andere Haus. Leo hörte drinnen die Stimmen kleiner Mädchen. Ohne zu zögern, stieg er die Stufen zur Veranda hinauf und klingelte.

Die Tür öffnete sich, und vor ihm stand eine große, blonde Frau mit müden, schmerzerfüllten Augen. »Guten Morgen«, sagte Leo, »ich bin Jack Bohlens Dad; Sie sind sicher die Dame des Hauses. Sagen Sie, wir möchten Ihren Sohn gern auf einen Ausflug mitnehmen und liefern ihn später auch gesund und munter wieder ab.«

Die große Blonde sah an ihm vorbei zu Jack, der ebenfalls auf die Veranda gekommen war; sie drehte sich schweigend um und ging ins Haus zurück. Als sie zurückkehrte, hatte sie einen kleinen Jungen bei sich.

Das ist also der kleine Schizobursche, dachte Leo. Sieht nett aus, man würde im Leben nicht drauf kommen.

»Wir machen eine Reise, junger Mann«, sagte Leo zu ihm. »Wie klingt das?« Dann fiel ihm wieder ein, was Jack ihm über das Zeitgefühl des Jungen erzählt hatte, und er wiederholte das, was er gesagt hatte, ganz langsam, zog dabei jedes einzelne Wort in die Länge.

Der Junge stürzte an ihm vorbei und schoß die Stufen hinunter, Richtung Kanal; er bewegte sich so schnell, daß man ihn kaum erkennen konnte, und war dann hinter dem Haus der Bohlens verschwunden.

»Mrs. Steiner«, sagte Jack, »ich möchte Ihnen meinen Vater vorstellen.«

Die große Blonde streckte wie geistesabwesend die Hand aus; sie schien nicht ganz bei sich zu sein, fand Leo. Aber er begrüßte sie mit Handschlag. »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte er höflich. »Ich bin sehr betrübt über die Nachricht vom Tod Ihres Mannes; das ist wirklich schrecklich, und so plötzlich, ohne daß jemand etwas ahnte. Ich kannte mal jemanden drüben in Detroit, ein guter Freund von mir, der hat das gleiche getan, an einem Wochenende; verließ das Geschäft und sagte auf Wiedersehen, und dann hat keiner mehr was von ihm gesehen.«

Mrs. Steiner sagte: »Wie geht es Ihnen, Mr. Bohlen.«

»Wir wollen Manfred abholen«, sagte Jack zu ihr. »Wahrscheinlich kommen wir erst am späten Nachmittag wieder.«

Als Leo und sein Sohn zurückgingen, blieb die Frau auf der Veranda stehen und blickte ihnen nach.

»Die ist ja wirklich merkwürdig«, murmelte Leo. Jack sagte nichts.

Sie trieben den Jungen auf, der befangen in Davids überflutetem Garten stand, und kurz darauf saßen alle drei im Hubschrauber der Yee Company und flogen über der Wüste zur nördlich gelegenen Bergkette. Leo entfaltete eine große Landkarte, die er mitgebracht hatte und trug Markierungen ein.

»Ich nehme an, wir können frei reden«, sagte er zu Jack und nickte in Richtung des Jungen. »Er wird schon nicht ...« Er zögerte. »Du weißt.«

»Wenn er überhaupt etwas versteht«, sagte Jack nüchtern, »wird er wohl kaum ...«

»Okay, okay«, sagte Leo, »ich wollte nur sichergehen.« Aus Vorsicht unterließ er es, auf der Karte den Ort einzutragen, an dem seines Wissens das UNGelände entstehen sollte. Aber er markierte ihre Route und benutzte dazu die Angaben auf dem Kreiselkompaß im Armaturenbrett des Hubschraubers. »Welche Gerüchte hast du denn gehört?« fragte er. »Über das Interesse der UN an den FDR-Bergen?«

Jack sagte: »Etwas über einen Park oder ein Kraftwerk.«

»Willst du es genau wissen?«

»Klar.«

Leo griff in die Manteltasche und zog einen Briefumschlag hervor. Er entnahm ihm ein Foto, das er Jack reichte. »Erinnert dich das an was?«

Mit einem flüchtigen Blick sah Jack, daß es die Aufnahme eines langen, schmalen Gebäudes war. Er starrte es eine ganze Weile an.

»Die UN«, sagte Leo, »wollen das bauen. Vielzweckwohnungen. Ganze Blocks davon, Meile für Meile, komplett mit Einkaufszentren - Supermärkten, Eisenwarenhandlungen, Apotheken, Wäschereien, Eissalons. Alles durch Fremdarbeit, mit diesen Bauautomaten, die sich selbst Anweisungen geben.«

Schließlich sagte Jack: »Das sieht wie das Wohnhaus der Genossenschaft aus, in dem ich vor Jahren gelebt habe, als ich meinen Zusammenbruch hatte.«

»Genau. Die Genossenschaftsbewegung will in dieser Sache mit der UN zusammenarbeiten. Wie man weiß, waren die FDR-Berge einmal sehr fruchtbar; es gab hier reichlich Wasser. Die Wasserbauer der UN glauben, daß sie enorme Mengen aus der darunterliegenden Schicht an die Oberfläche pumpen können. Der Grundwasserspiegel ist hier in den Bergen näher an der Oberfläche als sonst irgendwo auf dem Mars; er bildete die ursprüngliche Wasserquelle für das Kanalnetz, meinen die UNIngenieure.«

»Die Genossenschaft«, sagte Jack mit sonderbarer Stimme, »hier auf dem Mars.«

»Das werden schöne moderne Bauten«, versicherte Leo. »Ein ganz schön ehrgeiziges Projekt. Die UN wollen die Leute gratis hierherbefördern, für die Überfahrt bis vor die Tür der neuen Wohnung sorgen, und es wird wenig kosten, sich so eine Einheit zu kaufen. Ein großes Stück dieser Berge wird dabei draufgehen, wie du dir denken kannst, und soweit ich gehört habe, setzt man zehn bis fünfzehn Jahre bis zur Beendigung des Projekts an.«

Jack schwieg.

»Massenauswanderung«, sagte Leo. »Damit ist die Sache sichergestellt.«

»Vermutlich«, sagte Jack.

»Die Zuschüsse dafür sind phantastisch«, sagte Leo. »Allein die Genossenschaft bringt fast eine Billion Dollar auf. Sie verfügt über riesige Bargeldreserven, weißt du; sie ist eine der größten Unternehmensgruppen auf der Erde - ihr Vermögen ist größer als das der Versicherungsgruppe oder der großen Bankenkonsortien. Wenn die mitmachen, ist es ausgeschlossen, daß die Sache schiefgeht.« Er fügte hinzu: »Die UN haben in dieser Angelegenheit sechs Jahre mit ihnen verhandelt.«

Schließlich sagte Jack: »Und was bringt das dem Mars? Die FDR-Berge werden urbar gemacht - mehr nicht.«

»Und dicht besiedelt«, erinnerte Leo ihn.

»Das glaube ich kaum«, sagte Jack.

»Ja, ich weiß, Junge, aber das steht außer Frage; in ein paar Wochen ist es allgemein bekannt. Ich hab es vor einem Monat erfahren. Ich habe Investoren, die ich kenne, veranlaßt, Risikokapital aufzubringen ... ich vertrete sie, Jack. Allein habe ich einfach nicht das Geld dafür.«

Jack sagte: »Dein Plan läuft also darauf hinaus, hier gewesen zu sein, bevor die UN das Land in Besitz nehmen. Du kaufst es zum Spottpreis auf und verscherbelst es hinterher viel teurer wieder an die UN.«

»Wir wollen große Flächen erwerben«, sagte Leo, »und sie dann splitten. Sie in Areale von, sagen wir, hundert mal achtzig Fuß aufteilen. Ein großer Kreis von Einzelpersonen wird Anspruch haben: Ehefrauen, Cousins, Arbeitnehmer, Freunde von Angehörigen meiner Gruppe.«

»Deines Syndikats«, sagte Jack.

»Ja, darum handelt es sich«, sagte Leo erfreut. »Um ein Syndikat.«

Nach einer Weile sagte Jack heiser: »Und du hast nicht das Gefühl, daß daran etwas nicht stimmt?«

»Was soll da nicht stimmen? Ich verstehe nicht, mein Sohn.«

»Himmel«, sagte Jack. »Das liegt doch auf der Hand.«

»Nicht für mich. Erklär's mir.«

»Du betrügst die ganze Erdbevölkerung - sie ist es, die das viele Geld aufzubringen hat. Du treibst die Kosten für dieses Projekt in die Höhe, nur um einen beispiellosen Reibach zu machen.«

»Aber Jack, darum geht es nun mal bei der Grundstücksspekulation.« Leo war verdutzt. »Was ist Grundstücksspekulation denn deiner Ansicht nach? So läuft es doch schon seit Jahrhunderten; man kauft billig Land, wenn niemand es haben will, weil man aus diesem oder jenem Grund glaubt, daß es eines Tages viel mehr wert sein wird. Und dabei verläßt man sich auf Insidertips. Mehr steckt letzten Endes nicht dahinter. Jeder Grundstücksspekulant auf der Welt wird versuchen aufzukaufen, wenn sich das herumspricht; übrigens tun sie das schon. Ich bin ihnen nur einige Tage voraus. Diese Verfügung, nach der man sich wirklich auf dem Mars aufhalten muß, bricht ihnen das Genick; sie sind nicht darauf vorbereitet, Knall auf Fall herzukommen. Also -haben sie das Nachsehen. Ich gehe nämlich davon aus, daß ich die Anzahlung für das Land, das wir haben wollen, schon vor Einbruch der Nacht leisten werde.« Er zeigte nach vorn. »Es ist da drüben. Ich habe alle möglichen Landkarten dabei; es dürfte kein Problem sein, es zu finden. Das Gelände befindet sich in einem großen Canyongebiet namens Henry Wallace. Nach dem Gesetz muß ich meinen Fuß auf das Stück Land setzen, das ich zu kaufen beabsichtige, und an leicht erkennbarer Stelle eine genau identifizierbare, dauerhafte Markierung anbringen. So eine Markierung habe ich bei mir, einen vorschriftsmäßigen Stahlpflock, der meinen Namen trägt. Wir landen im Henry Wallace, und dann hilfst du mir, den Pflock einzuschlagen. Reine Formsache; dauert nur ein paar Minuten.« Er lächelte seinem Sohn zu.

Jack blickte seinen Vater an und dachte: Er ist wahnsinnig. Aber Leo lächelte ihm in aller Gemütsruhe weiter zu, und Jack wurde klar, daß sein Vater nicht wahnsinnig war, daß es genauso war, wie er sagte: Grundstücksspekulanten machten das so, das war ihr Geschäftsgebaren, und die UN-Genossenschaft nahm wirklich ein derartiges Mammut-Unternehmen in Angriff. Ein so gerissener und erfahrener Geschäftsmann wie sein Vater konnte sich nicht irren. Leo Bohlen und seine Mitstreiter handelten nicht auf Grund von Gerüchten. Sie hatten die allerbesten Verbindungen. Etwas war durchgesickert, bei der Genossenschaft oder der UN oder bei beiden, und Leo hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um seinen Vorteil daraus zu ziehen.

»Sensationell«, sagte Jack, »die tollsten Nachrichten seit der Erschließung des Mars.« Er konnte es immer noch nicht glauben.

»Längst überfällig«, sagte Leo. »Hätte von Anfang an so laufen sollen. Aber sie gingen davon aus, daß Privatkapitel aufgebracht würde; sie hatten darauf gesetzt, daß die anderen es tun.«

»Das wird das Leben aller verändern, die auf dem Mars leben«, sagte Jack. Es würde das Machtgleichgewicht verändern, eine völlig neue Herrschaftsklasse etablieren: Arnie Kott, Bosley Touvim

- die Gildesiedlungen und die nationalen Siedlungen -, das wären kleine Fische, wenn erst die Genossenschaft und die UN hier Einzug hielten.

Armer Arnie, dachte er. Das überlebt er nicht. Zeit, Fortschritt und Zivilisation, alles wird über ihn hinwegbranden, Arnie und seine Dampfbäder, in denen er Wasser vergeudet, sein kleines Luxussymbol.

»Jetzt paß mal auf, Jack«, sagte sein Vater, »verbreite diese Information nicht überall, sie ist vertraulich. Worauf wir ein Auge haben müssen, sind die Mauscheleien im Grundbuchamt - der Laden, wo der Anspruch eingetragen wird. Ich meine, wir leisten unsere Anzahlung, und dann bekommen die anderen Spekulanten, vor allem die von hier, Wind davon und machen fein-fein mit dem Grundbuchamt, und ehe man sich versieht ...«

»Verstehe«, sagte Jack. Das Grundbuchamt datierte die Anzahlung eines hiesigen Spekulanten zurück und gab ihm einen scheinbaren Vorrang gegenüber Leo. In diesem Spiel gibt es sicher noch viele Tricks, sagte sich Jack; kein Wunder, daß Leo vorsichtig vorgeht.

»Wir haben Nachforschungen über das Grundbuchamt hier angestellt, und es scheint ehrlich zu sein. Aber wenn soviel auf dem Spiel steht, weiß man ja nie.«

Plötzlich grunzte Manfred Steiner heiser.

Jack und Leo blickten erschrocken auf. Sie hatten ihn ganz vergessen; er saß hinten in der Kabine des Hubschraubers, das Gesicht ans Glas gepreßt, und starrte in die Tiefe. Er deutete aufgeregt.

Weit unten sah Jack eine Gruppe Bleichmänner, die einen Bergpfad entlangzog. »Stimmt«, sagte Jack zu dem Jungen, »da unten sind Menschen, sicher auf der Jagd.« Ihm fiel ein, daß Manfred wahrscheinlich noch nie einen Bleichmann gesehen hatte. Ich wüßte doch zu gern, wie er reagiert, überlegte Jack, wenn er ihnen auf einmal gegenübersteht. Das ließ sich leicht einrichten; er brauchte nur mit dem Hubschrauber genau vor dieser Gruppe zu landen.

»Was sind das für Leute?« fragte Leo, der auch hinunterschaute. »Marsianer?«

»Genau das«, sagte Jack.

»Ich werd verrückt.« Leo lachte auf. »Das sind also Marsianer ... die sehen eher wie schwarze Aborigines aus, wie afrikanische Buschmänner.«

»Sie sind eng mit ihnen verwandt«, sagte Jack.

Manfred war ganz aufgeregt; seine Augen leuchteten, und er lief hin und her, von einem Fenster zum andern, sah hinunter und murmelte vor sich hin.

Was wohl passieren würde, wenn Manfred eine Zeitlang in einer Bleichmannfamilie lebte? überlegte Jack. Sie bewegen sich langsamer als wir; ihr Leben ist nicht so kompliziert und hektisch. Möglicherweise ist ihr Zeitgefühl seinem näher ... für die Bleichmänner waren die Erdenmenschen vielleicht hypermanische Typen, die mit unglaublicher Geschwindigkeit herumsausen und für nichts und wieder nichts riesige Energiemengen vergeuden.

Aber ihn zu den Bleichmännern zu geben, würde Manfred auch nicht helfen, sich in seiner eigenen Gesellschaft zurechtzufinden. Tatsächlich, wurde ihm klar, entfernte ihn das vielleicht noch weiter von uns, so daß es uns nie mehr gelänge, Kontakt mit ihm aufzunehmen.

Bei diesem Gedanken beschloß er, nicht mit dem Hubschrauber zu landen.

»Arbeiten diese Leute überhaupt?« fragte Leo. »Diese Marsianer?«

»Einige hat man gezähmt«, sagte Jack, »wie es so schön heißt. Aber die meisten von ihnen leben noch so, wie sie es immer getan haben, als Jäger und Sammler. Das Stadium des Ackerbaus haben sie noch nicht erreicht.«

*

Als sie den Henry Wallace erreichten, setzte Jack mit dem Hubschrauber auf, und er betrat mit seinem Vater und Manfred den ausgedörrten, felsigen Boden. Manfred bekam Papier und Buntstifte, um sich zu beschäftigen, und dann machten die beiden Männer sich auf die Suche nach einer geeigneten Stelle, um den Pflock einzuschlagen.

Die Stelle, ein niedriges Plateau, wurde gefunden, und das Gelände abgesteckt, in erster Linie durch Jack; sein Vater wanderte umher und begutachtete mit sichtlich verwirrtem und ungeduldigem Stirnrunzeln Felsformationen und Pflanzen. Es schien ihm in dieser menschenleeren Gegend nicht sonderlich zu gefallen - aber er sagte nichts; höflich nahm er den Abdruck eines Fossils zur Kenntnis, auf den Jack ihn aufmerksam machte.

Sie fotografierten den Pflock und die Umgebung und kehrten nach getaner Arbeit zum Hubschrauber zurück. Manfred saß immer noch auf dem Boden und zeichnete eifrig mit seinen Buntstiften. Die Trostlosigkeit der Gegend schien ihn nicht sehr zu stören, fand Jack. Völlig von seiner Innenwelt eingenommen, zeichnete der Junge weiter und beachtete sie gar nicht; ab und zu blickte er auf, aber nicht zu den beiden Männern. Seine Augen waren ausdruckslos.

Was zeichnet er da? fragte sich Jack und näherte sich dem Jungen von hinten, um nachzuschauen.

Manfred, der gelegentlich mit leerem Blick in die Landschaft sah, hatte große, flache Apartmenthäuser gezeichnet.

»Sieh dir das an, Dad«, sagte Jack, und es gelang ihm, seine Stimme ruhig und gelassen klingen zu lassen.

Die beiden standen hinter dem Jungen und sahen zu, wie er zeichnete, sahen zu, wie die Gebäude auf dem Papier immer genauer wurden.

Also, jetzt gibt es keinen Zweifel mehr, dachte Jack. Der Junge zeichnet die Häuser, die eines Tages hier stehen werden. Er zeichnet die Landschaft der Zukunft, nicht jene Landschaft, die wir mit den Augen wahrnehmen.

»Ob er das Foto gesehen hat, das ich dir gezeigt habe?« sagte Leo. »Das mit den Modellen?«

»Kann schon sein«, sagte Jack. Das wäre zumindest eine Erklärung; der Junge hatte ihr Gespräch mitbekommen, die Skizzen gesehen und sich davon inspirieren lassen. Aber das Foto hatte die Gebäude von oben gezeigt; das hier war eine andere Perspektive. Der Junge hatte die Gebäude so gezeichnet, wie sie dem Betrachter von unten erscheinen würden. Wie sie jemandem erscheinen würden, wurde Jack klar, der an der Stelle stand, wo sie jetzt standen.

»Es würde mich nicht überraschen, wenn an der Zeittheorie etwas Wahres wäre«, sagte Leo. Er schaute auf seine Armbanduhr. »Ach, und da wir gerade von Zeit sprechen, ich finde, wir ...«

»Ja«, willigte Jack nachdenklich ein, »wir sollten zurückfliegen.«

Noch etwas war ihm an der Zeichnung des Kindes aufgefallen. Er fragte sich, ob sein Vater es auch bemerkt hatte. Die Gebäude, die weiträumigen Genossenschaftswohnungen, die der Junge skizziert hatte, veränderten sich vor ihren Augen auf verhängnisvolle Weise. Beim Betrachten entdeckte er einige letzte Details, die Leos Blick erstarren ließen; er schnaufte und sah seinen Sohn an.

Die Gebäude waren alt, sackten schon durch. Ihre Fundamente wiesen große Risse auf, die nach oben ausstrahlten. Fenster waren zerbrochen. Und auf dem Land um sie herum wuchs etwas, das wie hohe Unkrautbüsche aussah. Es war ein Bild des Verfalls und der Verzweiflung und einer schweren, zeitlosen Bürde.

»Jack, er zeichnet einen Slum!« rief Leo aus.

Das war es: ein verfallender Slum. Gebäude, die Jahre, vielleicht schon Jahrzehnte gestanden hatten, deren Blütezeit vorbei war und die man dem Verfall preisgegeben hatte, altersschwach und teilweise verlassen.

Manfred zeigte auf einen klaffenden Riß, den er gerade gezeichnet hatte, und sagte: »Kwatsch.« Seine Hand fuhr über das Unkraut, die zerbrochenen Fenster. Wieder sagte er: »Kwatsch.« Er warf ihnen einen Blick zu und lächelte ein wenig ängstlich.

»Was bedeutet das, Manfred?« fragte Jack.

Er bekam keine Antwort. Der Junge zeichnete weiter. Und während er zeichnete, wurden die Gebäude vor ihren Augen älter und älter, zerfielen mit jedem verstreichenden Moment immer mehr zu Ruinen.

»Gehen wir«, sagte Leo heiser.

Jack nahm das Papier und die Buntstifte des Jungen an sich und zog ihn auf die Füße. Alle drei stiegen wieder in den Hubschrauber.

»Sieh mal, Jack«, sagte Leo. Er musterte die Zeichnung des Jungen eingehend. »Was er da über den Eingang des Gebäudes geschrieben hat.«

In verschlungenen, zittrigen Buchstaben hatte Manfred geschrieben:

Am-Web

»Muß wohl der Name des Gebäudes sein«, sagte Leo.

»Ist es auch«, sagte Jack, als er das Wort entzifferte; es war die Zusammenziehung eines genossenschaftlichen Slogans. »>Alle Menschen werden Brüderc[1]«, flüsterte er. »Das taucht bei der Genossenschaft immer wieder auf.« Er erinnerte sich noch gut.

Jetzt griff Manfred erneut nach den Buntstiften und nahm sein Werk wieder auf. Unter den Augen der beiden Männer zeichnete er etwas an den oberen Rand des Bildes. Dunkle Vögel, wurde Jack klar. Riesige, düstere, geierartige Vögel.

Hinter eines der zerbrochenen Gebäudefenster zeichnete er ein rundes Gesicht mit Augen, Nase und einem heruntergezogenen, verzweifelten Mund. Jemand im Innern des Gebäudes, der stumm und hoffnungslos hinausstarrte, als wäre er darin gefangen.

»Aha«, sagte Leo. »Interessant.« Sein Gesichtsausdruck zeigte grimmige Wut. »Aber warum zeichnet er so etwas? Das kommt mir nicht gerade wie gesundes oder positives Verhalten vor; warum kann er es nicht so zeichnen, wie es einmal sein wird, neu und ohne jeden Makel, mit spielenden Kindern und Haustieren und zufriedenen Menschen?«

Jack sagte: »Möglicherweise zeichnet er eben das, was er sieht.«

»Also, wenn er das da sieht, ist er krank«, sagte Leo. »Es gibt soviel Herrliches und Wunderbares, was er statt dessen sehen könnte; warum sollte er so was sehen?«

»Vielleicht hat er keine andere Wahl«, sagte Jack. Kwatsch, dachte er. Ich frage mich: könnte Kwatsch Zeit bedeuten? Die Kraft, die für den Jungen Verfall, Verschleiß, Vernichtung und letztlich Tod bedeutete? Eine Kraft, die überall am Werk ist, allerorts im Universum.

Und sieht er nur das?

Wenn ja, dachte Jack, wundert es mich nicht, daß er autistisch ist; kein Wunder, daß er nicht mit uns kommunizieren kann. Eine so einseitige Sicht des Universums - sie bietet nicht einmal ein vollständiges Bild der Zeit. Zeit bringt nämlich auch Neues hervor; sie bringt auch Reife und Wachstum mit sich. Und offensichtlich nimmt Manfred diesen Aspekt der Zeit gar nicht wahr.

Ist er krank, weil er es so sieht? Oder sieht er es so, weil er krank ist? Vielleicht eine sinnlose Frage, jedenfalls eine, auf die es keine Antwort gibt. Das hier ist Manfreds Bild von der Realität, und nach unseren Maßstäben ist er schwer krank; er nimmt nicht wie wir auch die übrige Realität wahr. Und es ist ein grausiger Ausschnitt, den er sieht: die abstoßendste Seite der Realität.

Jack dachte: Und da behaupten die Leute, Geisteskrankheit sei eine Flucht! Ihn schauderte. Es war keine Flucht; es war eine Art Leben, das immer enger wurde und zusammenschnurrte, und schließlich in das feuchte, modrige Grab führte, an einen Ort, wo nichts mehr hinkam oder ging; an den Ort des unwiderruflichen Todes.

Das arme, unselige Kind, dachte er. Wie kann es überhaupt von einem Tag zum anderen leben, wenn es sich einer solchen Realität gegenübersieht?

Düster machte sich Jack wieder daran, den Hubschrauber zu fliegen. Leo sah aus dem Fenster, versunken in die Wüste unter sich. Manfred zeichnete mit starrer, erschreckter Miene weiter.

*

Sie kwatschten und kwatschten. Er hielt sich die Ohren zu, aber das Ergebnis stieg ihm in die Nase. Dann sah er den Ort. Dort verließen ihn die Kräfte. Sie warfen ihn einfach weg, und die Kwatschhaufen reichten ihm bis zur Taille; Kwatsch erfüllte die Luft.

»Wie heißt du?«

»Steiner, Manfred.«

»Alter.«

»Dreiundachtzig.«

»Gegen Pocken geimpft?«

»Ja.«

»Irgendwelche Geschlechtskrankheiten?«

»Na ja, einen kleinen Tripper, sonst nichts.«

»In die Klinik für Geschlechtskrankheiten mit dem Mann.«

»Sir, meine Zähne. Sie sind noch in der Tüte, zusammen mit meinen Augen.«

»Ihre Augen, ach ja. Geben Sie dem Mann seine Zähne und seine Augen, bevor Sie ihn in die Klinik bringen. Wie steht es mit Ihren Ohren, Steiner?«

»Die sind noch dran, Sir. Danke, Sir.«

Sie banden ihm die Hände mit Mullbinden an den Bettseiten fest, weil er immer wieder versuchte, den Katheter herauszuziehen. Er lag mit dem Gesicht zum Fenster und blickte durch die staubigen, zerbrochenen Scheiben.

Draußen durchstöberte ein Käfer auf langen Beinen die Haufen. Er fraß, und dann zerquetschte ihn etwas und ging weiter, ließ ihn zerquetscht zurück, die toten Zähne in das verbissen, was er gerade fressen wollte. Schließlich rafften die toten Zähne sich auf und krochen aus dem Mund in verschiedene Richtungen davon.

Er lag dort einhundertdreiundzwanzig Jahre, dann versagte seine künstliche Leber, und er wurde bewußtlos und starb. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie ihm schon seine Arme und die Beine bis hinauf zum Becken abgenommen, weil diese Teile bereits verwest waren.

Er brauchte sie sowieso nicht mehr. Und ohne Arme versuchte er auch nicht, den Katheter herauszuziehen, und das gefiel ihnen.

Ich bin schon lange im Am-Web, sagte er. Vielleicht können Sie mir ein Transistorradio besorgen, damit ich es auf Friendly Fred's Breakfast Club einstellen kann; ich mag die Stücke so sehr, sie spielen viele Oldies.

Von etwas da draußen bekomme ich Heuschnupfen. Wird wohl dieses gelbblühende Unkraut sein, warum läßt man es so hoch aufschießen?

Einmal habe ich ein Ballspiel gesehen.

Zwei Tage lang hatte er auf dem Boden gelegen, in einer großen Pfütze, und dann hatte ihn die Vermieterin gefunden und den Truck bestellt, damit er ihn herbrachte: Er schnarchte den ganzen Weg, das weckte ihn auf. Als sie ihm Grapefruit-Saft geben wollten, konnte er nur einen Arm bewegen, der andere sollte nie mehr funktionieren.

Er wünschte sich, er könnte noch diese Ledergürtel machen, das machte Spaß und brauchte lange Zeit. Manchmal verkaufte er sie an Leute, die am Wochenende vorbeikamen.

»Weißt du, wer ich bin, Manfred?«

»Nein.«

»Ich bin Arnie Kott. Warum lachst oder lächelst du nicht manchmal, Manfred? Magst du nicht gern herumlaufen und spielen?«

Beim Sprechen kwatschte es Mr. Kott aus beiden Augen.

»Anscheinend nicht, Arnie, aber darum geht es uns hier auch nicht.«

»Was siehst du, Manfred? Weihe uns in das ein, was du siehst. All diese Leute, werden sie dort wohnen, ist es das? Stimmt es, Manfred? Kannst du sehen, ob große Menschenmengen dort wohnen werden?«

Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen, und das Kwatschen hörte auf.

»Ich begreife nicht, warum dieses Kind nie lacht.«

Kwatsch, kwatsch.

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