Aus den Tiefen des Luminalschlafs heraus hörte Silvia Bohlen etwas rufen. Jäh zerriß es die Schichten, in denen sie versunken war, und beschädigte den perfekten Zustand des Nichtselbsts.
»Mom«, rief ihr Sohn wieder von draußen.
Sie richtete sich auf und nahm einen Schluck Wasser aus dem Glas neben dem Bett; sie setzte die bloßen Füße auf den Boden und stand mühsam auf. Uhrzeit: Punkt halb zehn. Sie fand ihren Morgenrock und trat ans Fenster.
Ich darf nichts mehr davon nehmen, dachte sie. Es war besser, dem schizophrenen Prozeß nachzugeben und sich dem Rest der Welt anzuschließen. Sie zog die Fensterjalousie hoch; das Sonnenlicht mit der vertrauten trüben Rotfärbung füllte ihren Gesichtskreis aus und machte es ihr unmöglich, zu sehen. Sie hob die Hand und rief: »Was gibt's, David?«
»Mom, der Kanalschiffer ist da!«
Also mußte heute Mittwoch sein. Sie nickte, drehte sich um und ging unsicher aus dem Schlafzimmer in die Küche, wo es ihr gelang, die gute alte robuste Kaffeekanne von der Erde aufzusetzen.
Was muß ich tun? fragte sie sich. Alles ist bereit für ihn. David wird sich schon darum kümmern. Sie drehte das Wasser in der Spüle auf und benetzte ihr Gesicht. Das Wasser, unangenehm und faulig, brachte sie zum Husten. Wir sollten den Tank leerlaufen lassen, dachte sie. Ihn reinigen, den Chlorzufluß neu justieren und feststellen, wie viele Filter verstopft sind; wahrscheinlich alle.
Konnte der Kanalschiffer das nicht machen? Nein, das war nicht Sache der UN.
»Brauchst du mich?« fragte sie und öffnete die Hintertür. Kalt und mit feinem Sand durchsetzt wirbelte ihr die Luft entgegen; sie wandte den Kopf ab und lauschte auf Davids Antwort. Er war darin geübt, nein zu sagen.
»Schätze nicht«, nörgelte der Junge.
Später, als sie im Morgenrock am Küchentisch saß und Kaffee trank, den Teller mit Toast und Apfelmus vor sich, schaute sie hinaus und sah den Kanalschiffer, der nie in Eile war und doch immer pünktlich eintraf, wie er in seinem kleinen Flachboot auf seine förmliche Art den Kanal entlanggetuckert kam. Sie schrieben das Jahr 1994, die zweite Augustwoche. Elf Tage hatten sie gewartet, und nun würden sie ihren Anteil am Wasser aus dem großen Kanal bekommen, der eine Meile weiter im marsianischen Norden an ihrer Häuserreihe vorbeiführte.
Der Kanalschiffer hatte sein Boot jetzt am Schleusentor vertäut und sprang, beladen mit seinem Ringordner - in dem er seine Unterlagen aufbewahrte -und den Werkzeugen für die Torbedienung an Land. Er trug eine schlammbedeckte graue Uniform und Schaftstiefel, die vom trockenen Schlick fast braun waren. Ein Deutscher? Nein, wohl doch nicht; als der Mann den Kopf wandte, sah sie, daß sein Gesicht flach und slawisch war und daß auf seinem Mützenschirm ein roter Stern prangte. Diesmal waren die Russen dran; sie hatte den Überblick verloren.
Und anscheinend war sie nicht die einzige, die den Überblick verloren hatte, in welcher Reihenfolge die UNVerwaltungsbehörden turnusmäßig wechselten. Jetzt sah sie nämlich, daß die Familie aus dem Nachbarhaus, die Steiners, auf ihrer Veranda aufgetaucht war und Anstalten machte, auf den Kanalschiffer zuzugehen: alle sechs, Vater, schwergewichtige Mutter und die vier blonden, rundlichen, krakeelenden Steiner-Gören.
Der Schiffer drehte den Steiners gerade das Wasser ab.
»Bitte, mein Herr«, begann Norbert Steiner auf deutsch, aber dann sah auch er den roten Stern und verstummte.
Silvia schmunzelte in sich hinein. So ein Pech, dachte sie.
David riß die Hintertür auf und kam ins Haus gelaufen. »Weißt du was, Mom? Bei den Steiners hat der Tank gestern abend ein Leck gekriegt, und fast die Hälfte des Wassers ist ausgelaufen! Darum reicht ihr Wasservorrat jetzt nicht mehr für den Garten, und er wird sterben, sagt Mr. Steiner.«
Sie nickte, während sie den letzten Bissen Toast aß. Sie zündete sich eine Zigarette an.
»Ist das nicht furchtbar, Mom?« sagte David.
Silvia sagte: »Und nun wollen die Steiners wohl, daß er das Wasser bei ihnen noch etwas laufen läßt.«
»Wir können doch ihren Garten nicht sterben lassen. Weißt du noch, wieviel Ärger wir mit unseren Rüben hatten? Und dann hat uns Mr. Steiner diese Chemikalie von Zuhause geschenkt, die die Käfer getötet hat, und dafür wollten wir ihnen ein paar von unseren Rüben abgeben, aber wir haben's nie getan; wir haben es glatt vergessen.«
Das stimmte. Sie zuckte schuldbewußt zusammen, als es ihr wieder einfiel; wir hatten es ihnen versprochen ... und sie haben es nie erwähnt, obwohl sie es sicher noch wissen. Und David spielte immer drüben bei ihnen.
»Geh doch bitte raus und sprich mit dem Schiffer«, bettelte David.
Sie sagte: »Ich glaube, wir können ihnen Ende des Monats ein bißchen von unserem Wasser abgeben; wir könnten einen Schlauch zu ihrem Garten hinüberlegen. Aber das mit dem Leck nehme ich ihnen nicht ab - die wollten schon immer mehr haben, als ihnen zusteht.«
»Ich weiß«, sagte David und ließ den Kopf hängen.
»Sie verdienen es nicht, mehr zu bekommen, David. Keiner verdient das.«
»Sie wissen doch nur nicht, wie man seinen Besitz in Ordnung hält«, sagte David. »Mr. Steiner, der kennt sich mit Werkzeugen nicht aus.«
»Dann sind sie selber dran schuld.« Sie spürte, wie gereizt sie war, und der Gedanke durchfuhr sie, daß sie noch nicht ganz wach sein könnte; sie brauchte ein Dexamin, sonst bekäme sie die Augen nie auf, nicht vor dem Abend, wenn wieder Zeit für ein Luminal war. Sie ging zum Medizinschränkchen im Bad, nahm eine Flasche mit kleinen herzförmigen grünen Pillen herunter, öffnete sie und zählte sie ab. Es waren nur noch dreiundzwanzig übrig; sie würde bald wieder an Bord des großen Traktorbusses gehen und die Wüste in Richtung Stadt durchqueren müssen, um sich in der Apotheke neue geben zu lassen.
Über ihrem Kopf ertönte lautes, widerhallendes Gurgeln. Der Tank auf dem Dach, ihr riesiger Blechbehälter für den Wasservorrat, begann sich zu füllen. Der Kanalschiffer hatte das Schleusentor jetzt umgeschaltet; die Bitten der Steiners waren vergebens gewesen.
Mit wachsendem Schuldgefühl schenkte sie sich ein Glas Wasser ein, um ihre Morgentablette zu nehmen. Wenn nur Jack öfter zu Hause wäre, sagte sie sich; hier ist es rundherum so leer. Das ist eine Form der Barbarei, diese Kleinlichkeit, zu der wir gezwungen sind. Was soll dieser ganze Hader und Streit, der unser Leben beherrscht, diese schreckliche Sorge um jeden Tropfen Wasser? Das kann doch nicht alles sein ... man hatte uns soviel versprochen, anfangs.
In einem nahegelegenen Haus plärrte plötzlich Radiolärm los; Tanzmusik, dann warb ein Sprecher für irgendeine landwirtschaftliche Maschine.
»... Tiefe und Winkel der Furche«, erklärte die Stimme und hallte in der kalten, klaren Morgenluft wider, »sind einstellbar und selbstregulierend, so daß noch der ungeschickteste Benutzer - fast auf Anhieb ... -«
Dann wieder Tanzmusik; die Leute hatten einen anderen Sender eingestellt.
Kindergezänk erhob sich. Geht das jetzt den ganzen Tag so weiter? fragte sie sich und überlegte, ob sie das wohl ertragen würde. Und Jack war bis zum Wochenende arbeiten - fast schien es ihr, als wäre sie nicht verheiratet, als hätte sie gar keinen Mann. Bin ich dafür von der Erde ausgewandert? Sie preßte die Hände gegen die Ohren, wollte den Lärm des Radios und der Kinder ausblenden.
Ich sollte wieder ins Bett gehen; dort gehöre ich hin, dachte sie und zog sich schließlich weiter für den vor ihr liegenden Tag an.
*
Im Geschäftsviertel von Bunchewood Park sprach Jack Bohlen vom Büro seines Arbeitgebers aus per Funktelefon mit seinem Vater in New York City. Die Verbindung, durch ein Satellitensystem über Millionen Meilen Weltraum hinweg hergestellt, war nicht sonderlich gut, wie üblich; aber Leo Bohlen bezahlte ja für das Gespräch.
»Was soll das heißen, die Franklin D. Roosevelt Mountains?« sagte Jack laut. »Du mußt dich irren, Dad, da gibt es nichts - die Gegend ist eine einzige Einöde. Das wird dir jeder im Maklergewerbe bestätigen.«
Die schwache Stimme seines Vaters erklang. »Nein, Jack, ich glaube, das ist eine todsichere Sache. Ich will hin, es mir ansehen und alles mit dir durchsprechen. Wie geht's Silvia und dem Jungen?«
»Gut«, sagte Jack. »Hör zu - mach bloß nichts fest, es ist nämlich allgemein bekannt, daß bis auf den funktionierenden Teil des Kanalnetzes - und vergiß nicht, daß höchstens ein Zehntel davon funktioniert - jeder Grundbesitz auf dem Mars glatt an Betrug grenzt.« Ihm wollte nicht in den Kopf, wie sein Vater mit seiner jahrelangen Berufserfahrung, gerade was Investitionen in noch nicht kultiviertes Land anging, auf so einen Schwindel hereinfallen konnte. Das erschreckte ihn. Vielleicht war sein Dad in all den Jahren, die er ihn nicht gesehen hatte, alt geworden. Briefe besagten nicht viel; sein Dad diktierte sie einer Firmenstenographin.
Oder vielleicht verging die Zeit auf der Erde ja auch anders als auf dem Mars; in einer Zeitschrift für Psychologie hatte er einmal einen Artikel gelesen, der das nahelegte. Sein Vater würde als weißhaariger alter Tattergreis hier ankommen. Gab es einen Weg, sich vor dem Besuch zu drücken? David würde seinen Großvater gern wiedersehen, und Silvia mochte ihn ebenfalls. Die schwache, ferne Stimme erzählte Neuigkeiten aus New York City, nichts von Belang. Für Jack hatte das etwas Unwirkliches. Vor einem Jahrzehnt hatte er gewaltige Anstrengungen unternommen, um sich von seinem Umfeld auf der Erde zu lösen, und es war ihm gelungen; er wollte nichts mehr davon hören.
Und doch bestand noch die Verbindung zu seinem Vater, und der erste Ausflug seines Vaters von der Erde würde sie bald wieder aufleben lassen; er hatte schon immer einen anderen Planeten besuchen wollen, ehe es zu spät war - also vor seinem Tod. Leo war fest dazu entschlossen. Aber trotz Verbesserungen auf den großen Interplanetarschiffen war das Reisen ein Wagnis. Es störte ihn nicht. Nichts konnte ihn beirren; er hatte sogar schon gebucht.
»Meine Güte, Dad«, sagte Jack, »es ist wirklich großartig, daß du meinst, so eine anstrengende Reise unternehmen zu können. Ich hoffe nur, du bist ihr auch gewachsen.« Er ergab sich in sein Schicksal.
Ihm gegenüber saß sein Arbeitgeber, Mr. Yee, der ihn ansah und einen gelben Zettel hochhielt, auf dem ein Kundendienstauftrag notiert war. Der große, spindeldürre Mr. Yee in seinem Einreiher mit Fliege ... die chinesische Art, sich zu kleiden, hatte sich hier auf fremdem Boden bis ins Detail durchgesetzt, so authentisch, als betriebe Mr. Yee seine Firma im Geschäftsviertel von Kanton.
Mr. Yee zeigte auf den Zettel und stellte dann mit ernster Miene dar, worum es ging: Er fröstelte, goß etwas von der linken Hand in die rechte, fuhr sich anschließend über die Stirn und zupfte an seinem Kragen. Dann sah er auf die Armbanduhr an seinem knochigen Handgelenk. Auf einer Milchfarm war eine Kühleinheit ausgefallen, begriff Jack Bohlen, und es war dringend; die Milch würde verderben, wenn es im Laufe des Tages wärmer wurde.
»Okay, Dad«, sagte er, »wir erwarten also dein Telegramm.« Er verabschiedete sich und legte auf. »Tut mir leid, daß ich so lange telefoniert habe«, sagte er zu Mr. Yee. Er griff nach dem Zettel.
»Ein älterer Mensch sollte nicht hierher reisen«, sagte Mr. Yee mit seiner ruhigen, unbeugsamen Stimme.
»Er hat sich eben in den Kopf gesetzt, bei uns nach dem Rechten zu sehen«, sagte Jack.
»Und wenn Sie nicht so gut dastehen, wie er das gern hätte, kann er Ihnen dann helfen?« Mr. Yee lächelte verächtlich. »Erwartet er, daß Sie einen Treffer gelandet haben? Sagen Sie ihm, es gibt keine Diamanten mehr. Die UN hat alle. Und was den Auftrag angeht, den ich Ihnen gegeben habe: Den Unterlagen nach haben wir vor zwei Monaten schon mal wegen der gleichen Beschwerde an der Kühleinheit gearbeitet. Es liegt an der Stromquelle oder am Schaltkreis. Der Motor wird ständig langsamer, bis die Sicherung rausfliegt und verhindert, daß er durchbrennt.«
»Ich seh mir mal an, was so alles am Generator dranhängt«, sagte Jack.
Für Mr. Yee zu arbeiten war nicht leicht, dachte er, als er die Treppe zum Dach, auf dem die Firmenhubschrauber parkten, hinaufstieg. Alles wurde auf streng rationaler Grundlage entschieden. Mr. Yee sah aus und handelte wie etwas, das zum Rechnen erschaffen war. Vor sechs Jahren, mit zweiundzwanzig, hatte er sich ausgerechnet, daß er auf dem Mars ein profitableres Unternehmen aufziehen könnte als auf der Erde. Da die Kosten für das Verschiffen neuer Anlagen von der Erde so hoch waren, herrschte auf dem Mars brennende Nachfrage nach Kundendienst für alle Arten von Maschinen, für alles, was bewegliche Teile hatte. Ein alter Toaster, den man auf der Erde achtlos verschrottet hätte, mußte auf dem Mars funktionsfähig erhalten werden. Mr. Yee gefiel der Gedanke, Altmaterial zu verwerten. Da er in der einfachen, puritanischen Atmosphäre der Volksrepublik China aufgewachsen war, billigte er keine Verschwendung. Und als Elektroingenieur aus der Provinz Honan verfügte er über eine gute Ausbildung. Also war er auf seine ruhige und gewissenhafte Art zu einem Entschluß gekommen, der für die meisten Menschen eine verheerende emotionale Zerreißprobe dargestellt hätte; er bereitete sich darauf vor, von der Erde auszuwandern, so wie er sich auf einen Besuch beim Zahnarzt vorbereitet hätte, um sich ein neues Gebiß aus rostfreiem Stahl anpassen zu lassen. Als er seinen Laden auf dem Mars einmal aufgemacht hatte, wußte er bis auf den letzten UN-Dollar genau, wie niedrig er seine laufenden Geschäftskosten halten konnte. Das Unternehmen warf zwar wenig Gewinn ab, wurde aber äußerst professionell geführt. In den sechs Jahren seit 1988 war er unablässig expandiert, bis man in Notfällen jetzt seinen Technikern den Vorzug gab - und was war in einer Kolonie, der es immer noch schwerfiel, ihre eigenen Radieschen zu ziehen und den eigenen kleinen Milchertrag zu kühlen, kein Notfall?
Jack Bohlen zog die Tür des Hubschraubers zu, ließ den Motor an, und schon stieg er zu seinem ersten Kundenauftrag des Tages über die Bauten von Bunchewood Park in den leicht diesigen Vormittagshimmel auf.
Weit entfernt zu seiner Rechten war gerade ein riesiges Schiff von der Erde eingetroffen und ging auf dem Basaltkreis nieder, bei dem es sich um den Landeplatz für lebende Fracht handelte. Andere Frachten mußten einhundert Meilen weiter östlich abgeliefert werden. Das hier war ein Frachter erster Klasse, und schon bald würde er Besuch von ferngesteuerten Apparaten bekommen, die die Passagiere aller Viren, Bakterien, Insekten und Unkrautkeime, die ihnen noch anhaften mochten, beraubten; sie würden so nackt wie am Tag ihrer Geburt daraus hervorgehen, chemische Bäder durchlaufen und während der achtstündigen Tests ihrer Empörung Ausdruck verleihen - um dann schließlich entlassen zu werden, damit sie sich, nachdem das Überleben der Kolonie gesichert war, um ihr persönliches Überleben kümmerten. Manche würde man vielleicht sogar zur Erde zurückschicken; diejenigen, deren Zustand auf genetische Defekte schließen ließ, die erst der Reisestress an den Tag gebracht hatte. Jack stellte sich seinen Vater vor, wie er sich geduldig den Einwanderungprozeduren unterzog. Muß sein, mein Junge, würde sein Vater sagen.
Unvermeidlich. Der Alte, wie er Zigarre rauchte und nachdachte ... ein Philosoph, dessen ganze offizielle Ausbildung aus sieben Jahren öffentliches Schulsystem von New York bestand, und das zur schlimmsten Zeit. Seltsam, dachte er, wie doch immer wieder der Charakter durchbricht. Der Alte stand mit einer Ebene des Wissens in Verbindung, die ihm sagte, wie er sich zu verhalten hatte, nicht in gesellschaftlicher Hinsicht, sondern auf tiefere, nachhaltige Weise. Er wird sich dieser Welt hier anpassen, wurde Jack klar. Bei seinem kurzen Besuch wird er besser mit ihr zurechtkommen als Silvia und ich. Ungefähr so, wie David zurechtgekommen ist ...
Sie würden sich gut verstehen, sein Vater und sein Junge. Beide waren schlau und praktisch veranlagt und doch hoffnungslos romantisch, wie die plötzliche Eingebung seines Vaters zeigte, irgendwo in den FDR-Bergen Land zu kaufen. Das war ein letztes Aufbegehren der Hoffnung, die den alten Mann nie verlassen hatte; hier gab es Land, das man für einen Spottpreis erwerben konnte, ohne Abnehmer, das einzig wahre Grenzland, was man von den bewohnbaren Gebieten des Mars nachweislich nicht sagen konnte. Unter sich bemerkte Jack den Senator-Taft-Kanal, und er richtete seine Flugroute danach aus; der Kanal würde ihn zur McAuliff-Milchfarm mit ihren Tausenden Morgen verdorrten Grases und ihrer Herde ehemals preisgekrönter JerseyKühe geleiten, die sich nun durch die unangemessene Umgebung in etwas verwandelt hatten, was wieder ihren Vorfahren ähnelte. Das war der bewohnbare Mars, dieses halbwegs fruchtbare Spinnengeflecht aus Linien, die ausstrahlten, kreuz und quer verliefen und mit knapper Not fähig waren, Leben zu erhalten, mehr nicht. Der Senator-Taft-Kanal, jetzt direkt unter ihm, wies ein träges, abstoßendes Grün auf; es handelte sich um gestautes und gefiltertes Wasser im letzten Stadium, und hier zeigte es die Spuren der Zeit, Grundschlamm, Sand und Verunreinigungen, die es alles andere als trinkbar machten. Der Himmel wußte, welche Alkaloide die Bevölkerung inzwischen schon aufgenommen und in ihre Knochen eingebaut hatte. Trotzdem - sie lebten noch. Das Wasser hatte sie nicht umgebracht, wenn es auch gelbbraun und voller Ablagerungen war. Und drüben im Westen - die Weiten, die nur darauf warteten, sich der menschlichen Wissenschaft zu erschließen und ihr Geheimnis preiszugeben.
Die archäologischen Teams, die Anfang der Siebziger auf dem Mars gelandet waren, hatten eifrig die Rückzugsstadien der alten Zivilisation aufgezeichnet, an deren Stelle nun allmählich der Mensch trat. In der Wüste war sie zu keiner Zeit richtig heimisch geworden. Offenbar hatte sie sich, wie die Zivilisation an Euphrat und Tigris auf der Erde, an das gehalten, was sie künstlich bewässern konnte. Auf ihrem Höhepunkt hatte die alte Marskultur ein Fünftel der Planetenoberfläche eingenommen und den Rest so belassen, wie sie ihn vorgefunden hatte. Jack Bohlens Haus zum Beispiel, unweit der Stelle, an der der William-Butler-Yeats-Kanal in den Herodot mündete; es befand sich am äußersten Rand des Netzwerks, durch das man in den letzten fünftausend Jahren für Fruchtbarkeit gesorgt hatte. Die Bohlens waren Nachzügler, obwohl vor elf Jahren noch niemand gewußt hatte, daß die Auswanderungswelle so alarmierend nachlassen würde.
Aus dem Funkgerät im Hubschrauber drang Statik, dann sagte eine Blechversion von Mr. Yees Stimme: »Jack, ich habe noch einen Kundendienstauftrag für Sie. Die UN-Behörde meint, die Public School weist
Fehlfunktionen auf, und ihr eigener Mann ist nicht verfügbar.«
Jack ergriff das Mikrofon und sprach hinein: »Tut mir leid, Mr. Yee - ich glaube, ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich für solche Schuleinheiten nicht ausgebildet bin. Lassen Sie das besser Bob oder Pete machen.« Ich habe es Ihnen ganz sicher schon gesagt, dachte er.
Auf seine logische Art sagte Mr. Yee: »Diese Reparatur ist lebenswichtig, und darum können wir sie nicht ablehnen, Jack. Wir haben noch nie eine Reparatur abgelehnt. Ihr Verhalten ist nicht positiv. Ich werde wohl darauf bestehen müssen, daß Sie den Auftrag übernehmen. Sobald wie möglich schicke ich noch einen Mechaniker zur Schule raus, der zu Ihnen stößt. Danke, Jack.« Mr. Yee legte auf.
Danke gleichfalls, dachte Jack Bohlen bitter.
Unter sich sah er nun die Ausläufer einer zweiten Siedlung; das war Lewistown, das Haupthabitat der Kolonie der Klempnergilde, die sich als eine der ersten auf dem Planeten organisiert hatte und selbst Mechaniker in den Reihen der Gildemitglieder hatte; sie unterstützten Mr. Yee nicht gerade. Wenn ihm sein Job zu unangenehm wurde, konnte Jack Bohlen immer noch seine Sachen packen und nach Lewistown übersiedeln, der Gilde beitreten und zu einem vermutlich besseren Gehalt arbeiten. Aber die jüngsten politischen Vorfälle in der Kolonie der Klempnergilde waren nicht unbedingt nach seinem Geschmack. Arnie Kott, Vorsitzender der Örtlichen Kanalarbeiter, war erst nach einem äußerst dubiosen Wahlkampf und überdurchschnittlich vielen Unregelmäßigkeiten bei der geheimen Abstimmung gewählt worden. Jack war nicht versessen darauf, sein Leben unter dessen Regime zu verbringen; nach allem, was er bisher mitbekommen hatte, wies die Herrschaft des alten Mannes alle Elemente einer Tyrannei der Frührenaissance auf, vermengt mit einem Hauch Nepotismus. Und doch schien die Kolonie wirtschaftlich zu gedeihen. Es gab ein fortschrittliches Arbeitsbeschaffungsprogramm, und ihre Finanzpolitik hatte enorme Bargeldreserven hervorgebracht. Die Kolonie war nicht nur effizient und erfolgreich, sie verstand es auch, allen ihren Bewohnern anständige Jobs zu bieten. Mit Ausnahme der israelischen Siedlung im Norden war die Gildekolonie die lebensfähigste auf dem Planeten. Und die israelische Siedlung hatte den Vorteil, daß ihr knallharte zionistische Stoßtrupps angehörten, die ihr Lager direkt in der Wüste hatten und mit Landgewinnungsprojekten aller Art beschäftigt waren, vom Orangenanbau bis zur Raffinerie chemischer Düngemittel. Neu-Israel hatte allein ein Drittel des gesamten Wüstengebietes, das jetzt kultiviert wurde, für sich beansprucht. Es war im übrigen die einzige Siedlung auf dem Mars, die ihre Erzeugnisse in nennenswerter Zahl nach Hause zur Erde exportierte.
Die Hauptstadt der Kanalarbeitergilde, Lewistown, glitt vorbei und anschließend das Denkmal von Alger Hiss, dem ersten UN-Märtyrer; dann folgte die offene Wüste. Jack lehnte sich zurück und zündete sich eine Zigarette an. Unter Mr. Yees drängenden Blicken war er aufgebrochen, ohne daran zu denken, seine Thermoskanne mit Kaffee mitzunehmen, und jetzt fehlte sie ihm. Er fühlte sich schläfrig. Sie kriegen mich nicht dazu, an der Public School zu arbeiten, sagte er sich, aber eher wütend als überzeugt. Ich kündige. Doch er wußte, daß er nicht kündigen würde. Er würde zur Schule fliegen, eine Stunde oder so dort herumbasteln und den Eindruck vermitteln, schwer mit der Reparatur beschäftigt zu sein, dann würde Bob oder Pete auftauchen und den Job zu Ende bringen; der Ruf des Unternehmens wäre gewahrt, und sie könnten zur Firma zurückkehren. Alle wären zufrieden, einschließlich Mr. Yee.
Er hatte die Public School schon öfter mit seinem Sohn zusammen besucht. Aber das war etwas anderes. David gehörte zu den Besten in seiner Klasse und ließ sich von den modernsten Lehrmaschinen unterrichten. Er blieb immer lange und holte das Optimum aus dem Einzelunterricht heraus, auf den die UN so stolz war. Ein Blick auf seine Armbanduhr zeigte Jack, daß es zehn war. In diesem Moment, wußte er von seinen Besuchen und den Schilderungen seines Sohns, war David bei Aristoteles und lernte die Anfangsgründe der Wissenschaft, Philosophie, Logik, Grammatik, Poetik und archaischen Physik. Unter allen Lehrmaschinen schien David am meisten von Aristoteles zu profitieren, was ein Glück war; viele der Kinder zogen die angesagteren Lehrer an der Schule vor: Sir Francis Drake (englische Geschichte, Grundregeln männlichen Anstands) oder Abraham Lincoln (Geschichte der Vereinigten Staaten, Grundlagen der modernen Kriegführung und des modernen Staatswesens) oder so düstere Persönlichkeiten wie Julius Cäsar und Winston Churchill. Er selbst war zu früh zur Welt gekommen, um den Vorteil des Einzelunterrichts genießen zu können; er war als Junge noch in Klassen gegangen, die er sich mit sechzig anderen Kindern teilen mußte, und später auf der High-School hatte er zusammen mit tausend anderen in einer Klasse einem Lehrer zugehört und zugesehen, der via Kabelfernsehen zu ihnen sprach. Hätte man ihn jedoch in die neue Schule aufgenommen, hätte er sofort seinen Favoriten nennen können: Bei einem Besuch mit David, auf seinem ersten Elternabend, hatte er die Thomas-Edison-Lehrmaschine kennengelernt, und da war es um ihn geschehen gewesen. David hatte fast eine Stunde gebraucht, um seinen Vater loszueisen.
Unter dem Hubschrauber ging die Wüste allmählich in karges, prärieähnliches Weideland über. Ein Stacheldrahtzaun markierte den Beginn der McAuliff-Farm und damit das vom Staat Texas verwaltete Gebiet. McAuliffs Vater war texanischer Ölmillionär gewesen und hatte seine Schiffe für die Auswanderung zum Mars selbst finanziert; er hatte sogar die Leute von der Klempnergilde geschlagen. Jack drückte seine Zigarette aus und steuerte den Hubschrauber nach unten, wobei er versuchte, gegen das grelle Sonnenlicht die Gebäude der Farm auszumachen.
Eine kleine Kuhherde geriet in Panik und floh im Galopp vor dem Hubschrauberlärm; er beobachtete, wie die Tiere sich verteilten, und hoffte, daß McAuliff, ein gedrungener Ire mit mürrischer Miene und zwanghafter Auffassung vom Leben, es nicht bemerkt hatte. McAuliff hatte aus guten Gründen eine hypochondrische Einstellung gegenüber seinen Kühen; er argwöhnte, daß alle möglichen marsianischen Dinge hinter ihnen her waren, was sie abmagern, erkranken und nur noch unregelmäßig Milch geben ließ.
Jack schaltete sein Funkgerät an und sagte ins Mikrofon: »Hier spricht ein Reparaturschiff der Yee Company. Sie haben uns gerufen. Jack Bohlen bittet um Landeerlaubnis auf der McAuliff-Landebahn.«
Er wartete, dann kam die Antwort von der riesigen Farm. »Okay, Bohlen, alles klar. Zwecklos zu fragen, warum Sie so lange gebraucht haben.« McAuliffs resignierte, verdrossene Stimme.
»Bin schon so gut wie bei Ihnen«, sagte Jack mit einer Grimasse.
Sogleich erkannte er vor sich die Gebäude, weiß vor sandigem Grund.
»Wir haben hier fünfzehntausend Gallonen Milch.« McAuliffs Stimme drang aus dem Lautsprecher des Funkgeräts. »Und alles wird verderben, wenn Sie diese verdammte Kühlanlage nicht bald wieder in Gang kriegen.«
»Ich eile«, sagte Jack. Er steckte sich die Daumen in die Ohren und schnitt eine häßliche Fratze in Richtung Funkgerät.