Der Hubschrauber der Kanalarbeitergilde mit dem Obersten Gildebruder Arnie Kott an Bord hatte sich kaum in die Luft erhoben, als der Lautsprecher ansprach.
»Katastrophenmeldung. Bei Kompaßpunkt 4.65003 ist draußen in der offenen Wüste eine kleine Gruppe Bleicher durch Wetterbedingungen und Wassermangel vom Tode bedroht. Nördlich von Lewistown befindliche Schiffe werden gebeten, sofort mit größtmöglicher Geschwindigkeit diesen Punkt anzufliegen und Hilfe zu leisten. Das Gesetz der Vereinten Nationen verlangt von allen Handels- und Privatschiffen, daß sie der Aufforderung Folge leisten.«
Die Meldung wurde im knappen Tonfall des UNSprechers wiederholt, der von einem UN-Sender an Bord des künstlichen Satelliten irgendwo über ihnen sprach.
Als Arnie merkte, daß der Hubschrauber seinen Kurs änderte, sagte er: »He, nicht doch, mein Junge.« Das war der letzte Strohhalm gewesen. Jetzt würden sie es nie mehr bis zu den FDR-Bergen schaffen, ganz zu schweigen vom Grundbuchamt in Pax Grove.
»Ich muß mich dran halten, Sir«, sagte der Pilot. »Gesetz ist Gesetz.«
Jetzt befanden sie sich über der Wüste und strebten in beachtlichem Tempo dem Kompaßpunkt zu, den der UNSprecher genannt hatte. Bleiche Nigger, dachte Arnie. Wir müssen alles stehen und liegen lassen, um ihnen aus der Patsche zu helfen, diesen verdammten Narren - und das Schlimmste daran ist, daß ich nun doch Jack Bohlen begegne. Es läßt sich nicht mehr vermeiden. Das hatte ich glatt vergessen: Jetzt ist es dafür zu spät.
Er schlug leicht auf seine Manteltasche und stellte fest, daß die Pistole noch da war. Das hob seine Laune ein bißchen; er behielt die Hand dort, als der Hubschrauber zur Landung ansetzte. Hoffentlich kommen wir ihm hier zuvor, dachte er. Aber zu seiner Bestürzung sah er, daß der Hubschrauber der Yee Company schon vor ihm gelandet und Jack Bohlen eifrig dabei war, die fünf Bleichmänner mit Wasser zu versorgen. Verdammt, dachte er.
»Brauchen Sie mich noch?« rief Arnies Pilot zu Jack Bohlen hinüber. »Wenn nicht, fliege ich weiter.«
Als Antwort rief Jack Bohlen zurück: »Ich hab nicht genug Wasser für sie.« Er wischte sich mit dem Taschentuch über das Gesicht, so sehr schwitzte er in der brütenden Hitze.
»Okay«, sagte der Pilot und stellte den Rotor ab.
Arnie sagte zu seinem Piloten: »Sagen Sie ihm, er soll herkommen.«
Der Pilot sprang mit einem Fünf-Gallonen-Kanister nach draußen, stapfte zu Jack hinüber, und nach einer Weile hörte Jack auf, sich um die Bleichmänner zu kümmern und kam zu Arnie Kott herüber.
»Sie wollten mich sprechen?« sagte Jack, stand da und sah zu Arnie hoch.
»Ja«, sagte Arnie. »Ich werde Sie umbringen.« Er zog seine Pistole heraus und zielte damit auf Jack Bohlen.
Die Bleichmänner hatten gerade ihre Paka-Eierschalen mit Wasser gefüllt; jetzt hielten sie inne. Ein junger Mann, dunkelhäutig und mager, fast nackt unter der roten Marssonne, griff nach hinten in seinen Köcher mit vergifteten Pfeilen; er zog einen Pfeil heraus, legte ihn an den Bogen und schoß den Pfeil in einer einzigen Bewegung ab. Arnie Kott sah nichts; er spürte lediglich einen stechenden Schmerz, und als er an sich hinabschaute, stellte er fest, daß ihm der Pfeil aus dem Oberkörper ragte, dicht unterhalb des Brustbeins.
Sie können Gedanken lesen, dachte Arnie. Absichten.
Er versuchte den Pfeil rauszuziehen, aber er rührte sich nicht. Und dann dämmerte ihm, daß er schon im Begriff war, zu sterben. Er war vergiftet, und er spürte, wie das Gift in seine Glieder eindrang, seinen Kreislauf abstellte, nach oben stieg, Gehirn und Geist erfüllte.
Jack Bohlen, der unten stand, sagte: »Warum sollten Sie mich umbringen wollen? Sie kennen mich ja nicht einmal.«
»Und ob ich Sie kenne«, konnte Arnie gerade noch stöhnen. »Sie werden meinen Chiffrierer reparieren und mir Doreen ausspannen, und Ihr Vater wird mir mein ganzes Hab und Gut wegnehmen, alles, was mir wichtig ist, die FDR-Berge und was sich dort abspielen wird.« Er schloß die Augen und ruhte sich aus.
»Sie müssen verrückt sein«, sagte Jack Bohlen.
»Nee«, sagte Arnie. »Ich kenne die Zukunft.«
»Ich bringe Sie zu einem Arzt«, sagte Jack Bohlen, kletterte in den Hubschrauber und schob den verblüfften jungen Piloten beiseite, um sich den herausragenden Pfeil genauer anzusehen. »Man kann Ihnen ein Gegenmittel geben, wenn Sie rechtzeitig hinkommen.« Er stellte den Motor an; die Rotoren des Hubschraubers begannen sich erst langsam und dann schneller zu drehen.
»Fliegen Sie mich zum Henry Wallace«, murmelte Arnie. »Damit ich mein Gelände abstecken kann.«
Jack Bohlen sah ihn forschend an. »Sie sind Arnie Kott, stimmt's?« Er drängte den Piloten fort und setzte sich vor die Kontrollen, und sofort stieg der Hubschrauber auf. »Ich fliege Sie nach Lewistown; das liegt am nächsten, und dort kennt man Sie.«
Schweigend saß Arnie zurückgelehnt da, die Augen noch immer geschlossen. Es war alles schiefgegangen. Er hatte sein Gelände nicht abgesteckt, und er hatte Jack Bohlen nichts getan. Und jetzt war es aus.
Diese Bleichmänner, dachte Arnie, während er spürte, daß Bohlen ihn aus dem Hubschrauber hob. Das hier war Lewistown; durch schmerzgetrübte Augen sah er Gebäude und Menschen. Diese Bleichmänner sind schuld, waren es von Anfang an; ohne sie wäre ich Jack Bohlen nicht begegnet. Das habe ich alles nur denen zu verdanken.
Wieso war er noch nicht tot? wunderte er sich, als Bohlen ihn über den Dachlandeplatz der Klinik zur Notrampe trug. Es war viel Zeit vergangen; das Gift mußte ihn schon ganz durchdrungen haben. Und doch konnte er noch fühlen, denken, verstehen ... Vielleicht kann ich hier in der Vergangenheit ja gar nicht sterben, sagte er sich; vielleicht muß ich hier dahinvegetieren, unfähig zu sterben und unfähig, in meine eigene Zeit zurückzukehren.
Wie hatte der junge Bleichmann bloß so schnell reagieren können? Normalerweise setzen sie ihre Pfeile nicht gegen Erdenmenschen ein; so etwas gilt als Schwerverbrechen. Es bedeutet für sie das Ende.
Vielleicht, dachte er, haben sie mich erwartet. Sie haben sich miteinander verschworen, um Bohlen zu retten, weil er ihnen Lebensmittel und Wasser gebracht hat. Arnie dachte: Ich wette, es waren dieselben, die ihm die Wasserhexe geschenkt haben. Natürlich. Und sie wußten es schon, als sie sie ihm schenkten. Sie wußten alles hierüber, schon damals, als das Ganze anfing.
Ich bin wehrlos in dieser schrecklichen, verdammten schizophrenen Vergangenheit Manfred Steiners. Laß mich in meine eigene Welt zurück, in meine eigene Zeit; ich will hier einfach nur raus, mir liegt nichts mehr an dem Gelände, und ich will auch niemandem ein Haar krümmen. Ich will nur wieder am Schmutzigen Knorren sein, in der Höhle bei diesem gottverdammten Jungen. Wo ich vorher war. Bitte, dachte Arnie. Manfred!
Sie - irgendwer - schoben ihn auf einer Art Trage einen dunklen Flur entlang. Stimmen. Eine aufschwingende Tür, glänzendes Metall: chirurgische Instrumente. Er sah maskierte Gesichter, spürte, daß sie ihn auf einen Tisch legten ... hilf mir, Manfred, schrie er tief drin in seinem Innern. Sie bringen mich um! Du mußt mich zurückholen. Entweder jetzt oder nie, weil ...
Eine Maske der Leere und totalen Finsternis erschien über ihm und senkte sich herab. Nein, schrie Arnie auf. Es ist noch nicht vorbei; das kann nicht mein Ende sein. Manfred, um Himmels willen, sonst geht es weiter und alles ist zu spät, zu spät.
Ich muß noch einmal die helle, normale Wirklichkeit sehen, wo es das hier nicht gibt, dieses schizophrene Töten und die Entfremdung, die bestialische Lust und den Tod.
Hilf mir, dem Tod zu entgehen, dahin zurückzukehren, wo ich hingehöre.
Hilf mir, Manfred.
Hilf.
*
Eine Stimme sagte: »Stehen Sie auf, Herr, Ihre Zeit ist um.«
Er schlug die Augen auf.
»Mehr Zigaretten, Herr.« Der schmutzige, greisenhafte Bleichmann-Priester in seinem grauen, spinnwebartigen Gewand beugte sich über ihn, griffelte ihn ab und greinte ihm wieder und wieder seine Litanei ins Ohr. »Wenn Sie noch bleiben wollen, Herr, müssen Sie mich bezahlen.« Er scharrte suchend an Arnies Mantel herum.
Arnie setzte sich aufrecht hin und sah sich nach Manfred um. Der Junge war verschwunden.
»Geh weg«, sagte Arnie und stand auf; er preßte die Hände an die Brust, und da war nichts, kein Pfeil.
Er wankte zum Höhleneingang und zwängte sich durch den Spalt, hinaus ins kalte Vormittagslicht des Mars.
»Manfred!« brüllte er. Keine Spur von dem Jungen. Ach, was soll's, dachte er, wenigstens bin ich wieder in der realen Welt. Das ist das Wichtigste.
Und er hatte kein Verlangen mehr, es Jack Bohlen heimzuzahlen. Er hatte auch kein Verlangen mehr, sich in die Landerschließung dieser Berge einzukaufen. Und von mir aus kann er auch Doreen Anderton haben, sagte sich Arnie, als er auf den steilen Pfad zuging, den sie heraufgekommen waren. Aber Manfred gegenüber werde ich mein Wort halten; ich schicke ihn bei der erstbesten Gelegenheit zur Erde, und vielleicht heilt ihn die Veränderung, oder vielleicht haben sie drüben auf der Erde jetzt auch bessere Psychiater. Jedenfalls wird er nicht in diesem AM-WEB landen.
Als er den Pfad hinabging, noch immer auf der Suche nach Manfred, sah er einen Hubschrauber, der niedrig über ihm kreiste. Vielleicht haben die gesehen, wohin der Junge gelaufen ist, sagte er sich. Jack und Doreen müssen doch die ganze Zeit Ausschau gehalten haben. Er blieb stehen, winkte dem Hubschrauber mit beiden Armen und gab Zeichen, daß er landen sollte.
Der Hubschrauber sank vorsichtig tiefer, bis er vor ihm auf dem Pfad aufsetzte; auf dem weiten Platz vor dem Eingang zum Schmutzigen Knorren. Die Tür glitt auf, und ein Mann stieg aus.
»Ich suche das Kind«, begann Arnie. Und dann sah er, daß es gar nicht Jack Bohlen war. Es war ein Mann, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Gutaussehend, dunkelhaarig, mit wilden, leidenschaftlichen Augen, ein Mann, der auf ihn zugestürzt kam und dabei mit etwas fuchtelte, was in der Sonne glitzerte.
»Sie sind Arnie Kott«, rief der Mann ihm mit schriller Stimme entgegen.
»Ja und?« sagte Arnie.
»Sie haben meinen Landeplatz zerstört«, brüllte ihn der Mann an, hob die Pistole und schoß.
Die erste Kugel verfehlte Arnie. Wer bist du und warum schießt du auf mich? fragte sich Arnie Kott, während er im Mantel nach seiner Pistole tastete. Er fand sie, zog sie hervor und schoß seinerseits auf den Heranstürmenden. Dann dämmerte ihm, um wen es sich handelte; das war der schwachsinnige kleine Schwarzmarkthändler, der versucht hatte, sich einzumischen. Der, dem wir den Denkzettel verpaßt haben, sagte sich Arnie.
Der Mann schlug einen Haken, fiel hin, machte eine Rolle seitwärts und schoß im Liegen. Arnies Schuß hatte ihn ebenfalls verfehlt. Diesmal pfiff die Kugel so dicht an Arme vorbei, daß er einen Moment lang glaubte, getroffen zu sein; instinktiv legte er seine Hand auf die Brust. Nein, wurde ihm klar, du hast mich nicht erwischt, du Mistkerl.
Arnie hob die Pistole, zielte und wollte gerade noch einmal auf die Gestalt schießen ...
Die Welt um ihn herum zerbarst. Die Sonne stürzte vom Himmel; sie fiel in Finsternis und riß Arnie Kott mit sich.
Nach langer Zeit regte sich die am Boden liegende Gestalt. Der Mann mit den wilden Augen stand vorsichtig auf, musterte Arnie eingehend und ging dann auf ihn zu.
Beim Gehen hielt er seine Pistole mit beiden Händen im Anschlag.
Er hörte ein Schwirren über sich und schaute hoch. Ein Schatten war auf ihn gefallen, und jetzt setzte ein zweiter Hubschrauber hart zwischen ihm und Arnie auf. Der Hubschrauber trennte die Männer voneinander, und Arnie Kott konnte den miesen kleinen Schwarzmarkthändler nicht mehr sehen. Jack Bohlen sprang aus dem Hubschrauber. Er rannte auf Arnie zu und beugte sich über ihn.
»Schnappen Sie sich den Kerl«, flüsterte Arnie.
»Geht nicht«, sagte Jack und deutete. Der Schwarzmarkthändler war schon gestartet; sein Hubschrauber stieg am Schmutzigen Knorren auf, taumelte, machte einen Satz vorwärts, ließ den Gipfel hinter sich und war verschwunden. »Vergessen Sie ihn. Es hat sie schwer erwischt - denken Sie lieber an sich.«
Arnie flüsterte: »Machen Sie sich darüber keine Sorgen, Jack. Hören Sie zu.« Er griff nach Jacks Hemd und zog ihn zu sich herab, so daß Jacks Ohr ganz nahe war. »Ich verrate Ihnen ein Geheimnis«, sagte Arnie. »Eines, das ich entdeckt habe. Das hier ist auch nur eine dieser schizophrenen Welten. Dieser ganze gottverdammte schizophrene Haß, diese Lust und dieser Tod, das habe ich alles schon einmal erlebt, und es hat mich nicht umgebracht. Beim ersten Mal war es ein vergifteter Pfeil in der Brust; jetzt das hier. Ich mach mir keine Sorgen.« Er schloß die Augen und versuchte krampfhaft, bei Bewußtsein zu bleiben. »Treiben Sie nur das Kind auf, es muß hier irgendwo sein. Fragen Sie es, und es wird Ihnen antworten.«
»Sie täuschen sich, Arnie«, sagte Jack und beugte sich tiefer über ihn.
»Wie, täuschen?« Er konnte Bohlen jetzt kaum noch erkennen; die Szenerie war in ein Dämmerlicht getaucht, und Jacks Umriß war verschwommen und geisterhaft.
Du kannst mir nichts einreden, dachte Arnie. Ich weiß, daß ich noch in Manfreds Kopf bin; bald werde ich aufwachen, und ich werde nicht angeschossen sein, ich werde wieder ganz in Ordnung sein und von selbst in meine eigene Welt zurückfinden, wo so was wie das hier nicht passiert. Stimmt's? Er versuchte zu sprechen, aber es gelang ihm nicht.
Neben Jack tauchte Doreen Anderton auf und sagte: »Er wird sterben, nicht wahr?«
Jack sagte nichts. Er versuchte, Arnie auf die Schulter zu wuchten, damit er ihn zum Hubschrauber tragen konnte.
Auch nur wieder eine dieser Kwatsch-Kwatsch-Welten, sagte sich Arnie, als er spürte, daß Jack ihn hochhob. Das wird mir bestimmt eine Lehre sein. So was Verrücktes mache ich nicht noch mal. Er wollte es erklären, als Jack ihn zum Hubschrauber trug. Das haben Sie doch eben erst getan, wollte er sagen. Mich zur Klinik nach Lewistown geflogen, damit mir der Pfeil entfernt wird. Wissen Sie das denn nicht mehr?
»Sinnlos«, sagte Jack zu Doreen, als er Arnie in den Hubschrauber legte, »er ist nicht mehr zu retten.« Keuchend vor Anstrengung setzte er sich hinter die Kontrollen.
Klar bin ich noch zu retten, dachte Arnie empört. Was ist los mit dir, willst du's nicht wenigstens versuchen? Versuch's doch erst mal, du verdammter Trottel! Er bemühte sich zu sprechen, Jack das zu sagen, aber es gelang ihm nicht; er brachte kein Wort heraus.
Der Hubschrauber erhob sich langsam vom Boden, was ihm bei der Last dreier Personen sichtlich schwer fiel.
*
Auf dem Rückflug nach Lewistown starb Arnie Kott.
Jack Bohlen hatte Doreen die Kontrollen überlassen und saß jetzt neben dem Toten, dachte bei sich, daß Arnie in dem Glauben gestorben war, er hätte sich in den dunklen Strömungen im Kopf des Steiner-Jungen verirrt.
Vielleicht ist es ja so am besten, dachte Jack. Vielleicht ist es ihm auf die Weise zuletzt leichter geworden.
Die Gewißheit, daß Arnie Kott tot war, erfüllte ihn zu seinem Erstaunen mit Trauer. Das kommt mir nicht richtig vor, sagte er sich, als er neben dem Toten saß; es ist zu hart. Das hatte Arnie nicht verdient - er hatte schlimme Dinge getan, aber so schlimme nun auch wieder nicht.
»Was hat er noch zu dir gesagt?« fragte Doreen. Sie wirkte gefaßt und schien mit Arnies Tod gut fertig zu werden; sie steuerte den Hubschrauber mit sachkundigem Geschick.
Jack sagte: »Er bildete sich ein, das wäre alles nicht real. Er würde nur durch schizophrene Phantasiegebilde stolpern.«
»Armer Arnie«, sagte sie.
»Weißt du, wer das war, der ihn erschossen hat?«
»Jemand, den er sich irgendwann zum Feind gemacht hat.«
Sie schwiegen beide eine Zeitlang.
»Wir sollten nach Manfred suchen«, sagte Doreen.
»Ja«, sagte Jack. Aber ich weiß ja, wo der Junge gerade steckt, sagte er sich. Er hat dort in den Bergen ein paar wilde Bleichmänner gefunden, und bei denen ist er jetzt; das liegt auf der Hand und ist ganz einleuchtend, früher oder später wäre es auf jeden Fall passiert. Er machte sich keine Sorgen um Manfred - der war ihm gleich. Vielleicht war der Junge zum ersten Mal in seinem Leben in einer Situation, der er sich anpassen konnte; bei den wilden Bleichmännern konnte er vielleicht eine Lebensart finden, die ihm entsprach und nicht nur ein blasser, verkorkster Abklatsch des Lebens um ihn herum war, das von Wesen geführt wurde, die grundverschieden von ihm waren und denen er nie ähneln würde, so sehr er sich auch bemühte.
Doreen sagte: »Könnte es sein, daß Arnie recht hatte?«
Einen Augenblick lang wußte er nicht, was sie meinte. Und dann, als er verstand, schüttelte er den Kopf. »Nein.«
»Wieso war er sich seiner Sache dann so sicher?«
Jack sagte: »Ich weiß nicht.« Aber es hatte mit Manfred zu tun; das hatte Arnie selber gesagt, kurz bevor er starb.
»In mancher Hinsicht«, sagte Doreen, »war Arnie gerissen. Wenn er so etwas gedacht hat, muß er einen Grund dafür gehabt haben.«
»Er war gerissen«, hob Jack hervor, »aber er hat immer nur das geglaubt, was er glauben wollte.« Und auch immer nur das getan, was er tun wollte, wurde ihm klar. Und so schließlich seinen eigenen Tod herbeigeführt, weil er irgendwo auf seinem Lebensweg die Weichen falsch gestellt hatte.
»Was wird jetzt aus uns?« sagte Doreen. »Ohne ihn? Ich kann es mir nur schwer vorstellen ohne Arnie ... verstehst du, was ich meine? Ich glaube schon. Ich wünschte, wir hätten geahnt, was sich abspielen würde, als wir diesen Hubschrauber landen sahen; wären wir nur ein paar Minuten früher gelandet ...« Sie stockte. »Zwecklos, das jetzt zu sagen.«
»Völlig zwecklos«, sagte Jack knapp.
»Weißt du, was meiner Meinung nach jetzt mit uns geschieht?« sagte Doreen. »Wir werden uns auseinanderleben, du und ich. Vielleicht nicht gleich, vielleicht auch nicht in Monaten oder sogar Jahren. Aber früher oder später werden wir es, ohne ihn.«
Er sagte nichts; er versuchte gar nicht erst, Einwände zu erheben. Vielleicht war es so. Er hatte es satt, sich dauernd den Kopf darüber zu zerbrechen, was ihnen allen bevorstand.
»Liebst du mich noch?« fragte Doreen. »Nach allem, was geschehen ist?« Sie wandte sich ihm zu, um sein Gesicht zu sehen, wenn er antwortete.
»Ja, natürlich tue ich das«, sagte er.
»Ich dich auch«, sagte sie leise und schwach. »Aber ich glaube, das reicht nicht. Du hast deine Frau und deinen Sohn - das ist so viel, auf lange Sicht. Trotzdem, es war die Sache wert; für mich jedenfalls. Ich werde es nie bereuen. Wir sind nicht verantwortlich für Arnies Tod; wir müssen uns nicht schuldig fühlen. Das hat er sich selbst zuzuschreiben, wegen dem, was er zuletzt vorhatte. Und wir werden nie genau wissen, was das eigentlich war. Aber ich weiß, daß es etwas war, das uns schaden sollte.«
Er nickte.
Schweigend flogen sie mit Arnie Kotts Leiche an Bord weiter nach Lewistown zurück, brachten Arnie in seine Siedlung zurück, wo er Oberster Gildebruder seiner Kanalarbeitergilde, Filiale Vierter Planet, war - und wahrscheinlich immer bleiben würde.
*
Manfred Steiner stieg in den kargen Felsen der FDR-Berge einen schlecht befestigten Pfad hinauf und sah, als er kurz innehielt, eine Gruppe aus sechs dunklen, schattenhaften Gestalten vor sich. Sie trugen mit Wasser gefüllte Paka-Eier bei sich, Köcher mit vergifteten Pfeilen, und die Frauen hatten ihre Hackbretter dabei. Alle rauchten Zigaretten, während sie sich im Gänsemarsch auf dem Pfad voranschleppten.
Bei seinem Anblick blieben sie stehen.
Einer von ihnen, ein hagerer junger Mann, sagte höflich: »Der Regen, der durch Eure wundersame Gegenwart auf uns fällt, schenkt uns Kraft und Stärke, Herr.«
Manfred verstand nicht, was er sagte, erfaßte aber ihre Gedanken: vorsichtig und freundlich, ohne jeden Beiklang von Haß. Er spürte darin kein Verlangen, ihm wehzutun, und das war angenehm; er vergaß seine Furcht vor ihnen und wandte seine Aufmerksamkeit den Tierhäuten zu, die sie trugen. Was für eine Art Tier ist das? überlegte er.
Auch die Bleichmänner waren neugierig auf ihn. Sie traten näher, bis sie ihn ganz umringten.
»Es gibt Monsterschiffe«, dachte einer von ihnen an ihn gewandt, »die in diesen Bergen landen, ohne daß jemand an Bord ist. Sie haben Staunen und Mutmaßungen hervorgerufen, weil sie offenbar ein Omen sind. Sie haben sich schon auf dem Land zu sammeln begonnen, um Veränderungen herbeizuführen. Kommst du vielleicht von ihnen?«
»Nein«, antwortete Manfred in Gedanken, damit sie ihn auch hören und verstehen konnten.
Die Bleichmänner deuteten nach vorn, und er sah unmittelbar über der Bergkette eine Flotte von UNZubringerraketen in der Luft schweben. Sie waren von der Erde aus eingetroffen, wurde ihm klar. Sie waren hier, um Grund auszuheben; der Bau der Wohnanlage hatte begonnen, und bald würden das AM-WEB und die übrigen Gebäude auf dem Antlitz des vierten Planeten auftauchen.
»Deshalb verlassen wir die Berge«, dachte einer der männlichen Bleichen zu Manfred. »Jetzt, wo es angefangen hat, ist es uns nicht mehr möglich, hier zu leben. Durch unseren Felsen haben wir das schon lange vorhergesehen, doch jetzt ist es soweit.«
Innerlich sagte Manfred: »Kann ich mit euch kommen?«
Erstaunt zogen sich die Bleichmänner zurück, um über seinen Wunsch zu beraten. Sie wurden nicht schlau aus ihm und seinen Absichten; so etwas hatten sie bei einem Einwanderer noch nicht erlebt.
»Wir ziehen in die Wüste hinaus«, sagte ihm der junge Mann schließlich. »Es ist ungewiß, ob wir dort überleben werden; wir können es nur versuchen. Bist du sicher, daß das für dich das Richtige ist?«
»Ja«, sagte Manfred.
»Dann komm mit«, entschieden die Bleichmänner.
Sie setzten ihren Treck fort. Sie waren müde, schritten aber trotzdem gleich wieder kräftig aus. Manfred dachte anfangs, man würde ihn zurücklassen, doch die Bleichmänner verlangsamten für ihn, so daß er aufholen konnte.
Vor ihnen lag die Wüste, vor den Bleichen und vor ihm. Aber keiner bereute etwas; der Rückweg war ihnen ohnehin verwehrt, weil sie unter den neuen Bedingungen nicht leben konnten.
Ich werde nicht im Am-Web leben müssen, sagte sich Manfred, während er neben den Bleichmännern herlief. Mit Hilfe dieser dunklen Schatten werde ich fliehen.
Er fühlte sich großartig, besser, als er sich seiner Erinnerung nach jemals im Leben gefühlt hatte.
Eine der Bleichmannfrauen bot ihm schüchtern von den Zigaretten an, die sie bei sich trug. Er nahm eine und bedankte sich. Sie gingen weiter.
Und während sie so dahingingen, spürte Manfred Steiner, daß etwas Merkwürdiges in seinem Innern geschah. Er veränderte sich.
*
Bei Einbruch der Dunkelheit sah Silvia Bohlen, als sie gerade für sich, David und ihren Schwiegervater das Abendessen zubereitete, eine Gestalt zu Fuß, eine Gestalt, die am Rand des Kanals entlangging. Ein Mann, sagte sie sich; erschrocken lief sie zur Haustür, öffnete und spähte hinaus, um zu sehen, wer das war. Gott sei Dank, es war nicht dieser sogenannte Naturkosthändler, dieser Otto wie-hieß-er-noch-gleich ...
»Ich bin's, Silvia«, sagte Jack Bohlen.
David stürmte aus dem Haus auf seinen Vater zu und rief aufgeregt: »He, wie kommt's, daß du den Hubschrauber nicht mitbringst? Hast du den Traktorbus genommen? Jede Wette. Was ist mit dem Hubschrauber passiert, Dad? Ist er abgeschmiert, und du bist in der Wüste gestrandet?«
»Der Hubschrauber ist hinüber«, sagte Jack. Er sah müde aus.
»Ich hab's im Radio gehört«, sagte Silvia.
»Das mit Arnie Kott?« Er nickte. »Ja, es ist wahr.« Er betrat das Haus und legte den Mantel ab; Silvia hängte ihn für ihn in den Wandschrank.
»Das geht dir sehr nahe, was?« sagte sie.
Jack sagte: »Kein Job mehr. Arnie hatte Mr. Yee meinen Vertrag abgekauft.« Er sah sich um. »Wo ist Leo?«
»Macht ein Nickerchen. Er war fast den ganzen Tag geschäftlich unterwegs. Ich bin froh, daß du zu Hause sein wirst, wenn er abfliegt; er bricht morgen zur Erde auf, hat er gesagt. Weißt du schon, daß die UN damit begonnen hat, sich Land in den FDR-Bergen zu sichern? Habe ich auch im Radio gehört.«
»Das wußte ich nicht«, sagte Jack, ging in die Küche und setzte sich an den Tisch. »Wie wär's mit einem Eistee?«
Als sie ihm den Eistee machte, sagte sie: »Ich frage dich besser nicht, wie ernst die Sache mit deinem Job ist.«
Jack sagte: »Ich kann mit fast jedem Reparaturgerät umgehen. Mr. Yee würde mich sicher wieder einstellen. Ich bin überzeugt, daß er sich eigentlich gar nicht von meinem Vertrag trennen wollte.«
»Warum bist du dann so niedergeschlagen?« sagte sie, und da fiel ihr Arnie wieder ein.
»Der Traktorbus hat mich anderthalb Meilen von hier abgesetzt«, sagte er. »Ich bin einfach müde.«
»Ich habe dich nicht zurückerwartet.« Sie fühlte, daß sie nervös wurde, und es fiel ihr schwer, sich wieder ans Abendessen zu machen. »Es gibt heute Leber, Schinken und Karottenbrei mit synthetischer Butter und einem Salat. Und Leo meinte, er möchte gern einen Kuchen zum Nachtisch; den wollten David und ich ihm nachher als kleine Leckerei backen, weil er doch abfliegt, und vielleicht sehen wir ihn nie wieder; darüber muß man sich im klaren sein.«
»Das mit dem Kuchen finde ich nett«, murmelte Jack.
Silvia platzte heraus: »Vielleicht sagst du mir endlich, was los ist - so habe ich dich ja noch nie erlebt. Du bist nicht nur müde; das hat mit dem Tod dieses Mannes zu tun.«
Darauf sagte er: »Mir geht im Kopf herum, was Arnie vor seinem Tod sagte. Ich war bei ihm. Arnie sagte, er befände sich nicht in der realen Welt; er wäre im Phantasiegebilde eines Schizophrenen gefangen, und daran muß ich ständig denken. Mir ist nie zuvor der Gedanke gekommen, wie sehr unsere Welt der von Manfred gleicht - ich hab sie für grundverschieden gehalten. Jetzt sehe ich, daß es eher eine quantitative Frage ist.«
»Du willst mir nicht zufällig erzählen, wie Mr. Kott gestorben ist, oder? Im Radio hieß es nur, er sei bei einem Hubschrauberunfall im unwegsamen Gelände der FDR-Berge ums Leben gekommen.«
»Es war kein Unfall. Arnie wurde von jemandem ermordet, der zweifellos hinter ihm her war, weil Arnie ihm übel mitgespielt hatte und der ein Recht darauf hatte, sauer auf ihn zu sein. Die Polizei sucht ihn jetzt natürlich. Arnie starb in der Überzeugung, daß er das Opfer von sinnlosem, psychotischem Haß geworden sei, aber eigentlich war es ganz rationaler Haß, der nicht die geringsten Merkmale einer Pychose aufwies.«
Schuldgefühle überwältigten Silvia, und sie dachte: Dieselbe Art von Haß, die du mir entgegenbringen würdest, wenn du wüßtest, was für eine Abscheulichkeit ich heute begangen habe. »Jack ...« sagte sie unbeholfen, nicht sicher, wie sie es ausdrücken sollte, aber mit dem deutlichen Gefühl, die Frage stellen zu müssen. »Glaubst du, daß es mit unserer Ehe vorbei ist?«
Er starrte sie lange an. »Warum sagst du das?«
»Ich will nur von dir hören, daß es nicht so ist.«
»Es ist nicht so«, sagte er und starrte sie weiter an; sie fühlte sich ihm ausgeliefert, als könnte er ihre Gedanken lesen, als wüßte er irgendwie ganz genau, was sie getan hatte. »Besteht Grund zu der Annahme, daß es so ist? Weshalb glaubst du wohl, bin ich nach Hause gekommen? Wenn es mit unserer Ehe vorbei wäre, wäre ich dann heute hier aufgetaucht, nachdem ...« Da verstummte er. »Ich möchte gern meinen Eistee«, murmelte er.
»Nachdem was?« fragte sie.
Er sagte: »Nach Arnies Tod.«
»Wohin solltest du sonst gehen?«
»Es gibt immer zwei Orte, zwischen denen man wählen kann. Das Zuhause und der Rest der Welt mit all den anderen Menschen darin.«
Silvia sagte: »Wie ist sie so?«
»Wer?«
»Das Mädchen. Du hättest es eben fast ausgesprochen.«
Seine Antwort ließ so lange auf sich warten, daß sie schon nicht mehr daran glaubte. Und dann sagte er: »Sie hat rotes Haar. Ich wäre fast bei ihr geblieben. Aber ich bin's nicht. Reicht es nicht, das zu wissen?«
»Ich habe auch eine Wahl«, sagte Silvia.
»Das wußte ich nicht«, sagte er hölzern. »Das war mir nicht klar.« Er zuckte die Achseln. »Jedenfalls gut, daß es mir klar geworden ist; so was ist ernüchternd. Du redest doch jetzt nicht theoretisch, oder? Du sprichst von der konkreten Realität.«
»Allerdings«, sagte Silvia.
David kam in die Küche gelaufen. »Großvater Leo ist wach«, rief er. »Ich hab ihm gesagt, du bist wieder zu Hause, Dad, und er ist mächtig froh darüber, und er will wissen, wie die Dinge denn so stehen.«
»Sie stehen großartig«, sagte Jack.
Silvia sagte zu ihm: »Jack, ich möchte, daß wir zusammenbleiben. Wenn du es auch willst.«
»Sicher«, sagte er. »Das weißt du doch, ich bin wieder zurück.« Er lächelte sie so unglücklich an, daß es ihr fast das Herz brach. »Ich habe einen langen Weg hinter mich gebracht, erst mit diesem gottverdammten Traktorbus, den ich so sehr hasse, und dann zu Fuß.«
»Es wird jetzt keine andere - Wahl mehr geben«, sagte Silvia. »Nicht wahr, Jack? Das darf einfach nicht sein.«
»Nie wieder«, sagte er und nickte nachdrücklich.
Da kam sie zu ihm an den Tisch, beugte sich vor und küßte ihn auf die Stirn.
»Danke«, sagte er und faßte sie am Handgelenk. »Das tut gut.« Sie spürte, wie erschöpft er war; es ging von ihm auf sie über.
»Du mußt erst mal ordentlich was essen«, sagte sie. »Ich habe dich noch nie so - ausgelaugt gesehen.« Ihr kam der Gedanke, daß er vielleicht wieder einen Anfall von Geisteskrankheit, von Schizophrenie, gehabt hatte, wie früher; das würde manches erklären. Aber sie wollte ihn mit diesem Thema nicht behelligen; statt dessen sagte sie: »Wir gehen heute abend früh zu Bett, ja?«
Er nickte unbestimmt und nippte an seinem Eistee.
»Bist du jetzt froh?« wollte sie wissen. »Daß du zurück bist?« Oder hast du es dir schon wieder anders überlegt? dachte sie.
»Ich bin froh«, sagte er, und sein Ton war fest und bestimmt. Offenbar meinte er es auch so.
»Du mußt noch zu Großvater Leo gehen, ehe er abfliegt ...« begann sie.
Ein Schrei ließ sie hochfahren, sie sah Jack an.
Er war aufgesprungen. »Nebenan. Das Haus der Steiners.« Er drückte sich an ihr vorbei; sie rannten beide nach draußen.
An der Haustür der Steiners trafen sie auf eines der Steiner-Mädchen. »Mein Bruder ...«
Sie und Jack drängten sich an dem Kind vorbei ins Haus. Silvia begriff nicht, was sie sah, Jack schon; er faßte sie an der Hand und hielt sie zurück.
Das Wohnzimmer war voller Bleichmänner. Und in ihrer Mitte erblickte sie den Teil eines Lebewesens, einen alten Mann, nur von der Brust an aufwärts; der Rest bestand aus einem Wirrwarr von Pumpen, Schläuchen und Skalen, eine Maschinerie, die unaufhörlich klickte und am Machen und Tun war. Sie erhielt den alten Mann am Leben; das wurde ihr sofort klar. Die Maschinerie hatte seine fehlende Hälfte ersetzt. O Gott, dachte sie. Wer oder was war das, was da mit einem Lächeln auf dem verwitterten Gesicht hockte? Jetzt sprach es sie auch noch an.
»Jack Bohlen«, schnarrte es, und seine Stimme drang aus einem mechanischen Lautsprecher, aus der Maschinerie: nicht aus seinem Mund. »Ich bin hier, um meiner Mutter Lebewohl zu sagen.« Es hielt inne, und sie hörte, wie die Maschinerie schneller lief, als plagte sie sich. »Jetzt kann ich dir danken«, sagte der alte Mann.
Jack, der neben ihr stand und ihre Hand hielt, sagte: »Wofür? Ich habe nichts für dich getan.«
»Doch, ich finde schon.« Das Ding, das da hockte, nickte den Bleichmännern zu, und sie schoben es mit seiner Maschinerie näher an Jack heran und richteten es so aus, daß es ihm direkt ins Gesicht sah. »Meiner Meinung nach ...« Es verstummte und setzte dann erneut an, diesmal lauter. »Du hast vor vielen Jahren versucht, mit mir Verbindung aufzunehmen. Dafür bin ich dir dankbar.«
»Es ist nicht so lange her«, sagte Jack. »Hast du es vergessen? Du bist zu uns zurückgekehrt; es war erst heute. Das hier ist deine ferne Vergangenheit, als du noch ein Junge warst.«
Sie sagte zu ihrem Mann: »Wer ist das?«
»Manfred.«
Sie schlug die Hände vors Gesicht und bedeckte ihre Augen; sie konnte den Anblick nicht länger ertragen.
»Bist du dem AM-WEB entronnen?« fragte Jack ihn.
»Jaaa«, zischte er mit einem freudigen Vibrieren in der Stimme. »Ich bin bei meinen Freunden.« Er deutete auf die Bleichmänner, die ihn umgaben.
»Jack«, sagte Silvia, »bring mich hier raus - bitte, ich halte das nicht mehr aus.« Sie klammerte sich an ihn, und so führte er sie aus dem Haus der Steiners wieder in die Dunkelheit des Abends hinaus.
Leo und David kamen ihnen entgegen, aufgeregt und erschrocken. »Sag mal, mein Sohn«, meinte Leo, »was ist denn passiert? Wieso hat diese Frau so geschrien?«
Jack sagte: »Es ist vorbei. Alles in Ordnung.« Zu Silvia sagte er: »Sie muß nach draußen gerannt sein. Sie hat es anfangs gar nicht begriffen.«
Schaudernd sagte Silvia: »Ich begreifs auch nicht und will es überhaupt nicht begreifen; versuch nicht, es mir zu erklären.« Sie kehrte an den Herd zurück, drehte die Flammen kleiner und schaute in die Töpfe hinein, um festzustellen, ob etwas angebrannt war.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Jack und tätschelte ihre Schulter.
Sie versuchte zu lächeln.
»Es wird wahrscheinlich nie wieder geschehen«, sagte Jack. »Und selbst wenn ...«
»Danke«, sagte sie. »Auf den ersten Blick habe ich ihn für seinen Vater gehalten, Norbert Steiner; darum habe ich auch so einen Schreck bekommen.«
»Wir müssen eine Taschenlampe holen und Erna Steiner suchen«, sagte Jack. »Wir müssen uns vergewissern, daß ihr nichts zugestoßen ist.«
»Ja«, sagte sie. »Geht nur, du und Leo, während ich das hier fertigmache; ich muß am Herd bleiben, sonst brennt das Essen an.«
Die beiden Männer nahmen eine Taschenlampe und verließen das Haus. David blieb bei ihr und half, den Tisch zu decken. Wo wirst du dich aufhalten? fragte sie sich, als sie ihrem Sohn zusah. Wenn du erst einmal so alt bist, alles abgehackt ist und durch eine Maschinerie ersetzt wurde ... Wirst du genauso sein?
Wir sind besser dran, wenn wir die Zukunft nicht vorhersagen können, sagte sie sich. Gott sei Dank wissen wir nichts darüber.
»Ich wäre so gern mitgegangen«, beklagte sich David. »Wieso sagst du mir nicht, warum Mrs. Steiner so furchtbar geschrien hat?«
Silvia sagte: »Eines Tages vielleicht.«
Aber nicht jetzt, sagte sie sich. Es ist noch zu früh, für uns alle.
Das Abendessen war jetzt fertig, und unwillkürlich ging sie auf die Veranda, um Jack und Leo zu rufen, obwohl sie schon wußte, daß sie nicht kommen würden; sie waren viel zu beschäftigt, sie hatten zuviel zu tun. Aber sie rief sie trotzdem, weil das ihre Aufgabe war.
In der Dunkelheit der Marsnacht suchten ihr Mann und ihr Schwiegervater nach Erna Steiner; hier und da blitzte die Lampe auf, und man konnte die Stimmen hören, sachlich, fachmännisch und geduldig.