FÜNFTER AKT Julian der Eroberer sowie The Life and Adventures of the Great Naturalist Charles Darwin (Weihnachten 2174 bis Weihnachten 2175)

»Ever the Virtues blush to find

The Vices wearing their badge behind,

And Graces and Charities feel the fire

Wherin the sins of the age expire.«

— Whittier[89]

1

Nun komme ich zum letzten Kapitel meiner Geschichte, in dem ich die Regierungszeit von Julian dem Eroberer, Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte und Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, schildern werde, und zwar so, wie ich diese Zeit erlebt habe, mit all ihren Tragödien und versöhnlichen Freuden.

Jene Ereignisse gehen mir immer noch sehr nahe, obwohl seither viel Zeit vergangen ist. Meine Hand zittert angesichts der Aufgabe, sie in Worte zu fassen. Doch der Leser und ich haben bis jetzt durchgehalten, und da will ich doch, koste es, was es wolle, die Sache auch zu Ende bringen.

Da fällt mir ein, dass ein Vorzug der Schreibmaschine als einer der Literatur dienenden Erfindung darin besteht, dass Tränen, die während der Arbeit vergossen werden, nur ganz selten einmal auf das Papier fallen und das Geschriebene verlaufen lassen. Eine gewisse Klarheit ist also sichergestellt und anders nicht zu haben.

2

Als wir im Hafen anlegten, war ganz Manhattan herausgeputzt für das Fest der Geburt Christi. Einen solchen Rausch an Schmuck hatte ich noch nie gesehen, als sei die City ein einziger Weihnachtsbaum voller Kerzen und Flitter; bis Heiligabend waren es noch achtundvierzig Stunden — aber das alles bedeutete mir wenig oder gar nichts, denn ich bangte um das Schicksal von Calyxa.

Julian, ich und die anderen Überlebenden des Goose-Bay-Feldzugs hatten uns drei Wochen lang in dem amerikanischen Hospital in St. John’s, Neufundland, verwöhnen lassen — frische Kost, sauberes Bettzeug und abgekochtes Wasser taten größere Wunder als jede Arznei; und Julians Gesichtsverletzung war trotz und wegen meiner stümperhaften Naht schon fast verheilt. Die Narbe schlug einen Bogen zwischen Kiefergelenk und rechtem Nasenloch und sah aus wie ein zweiter Mund, erstarrt und dauerhaft verschlossen. Aber was war das schon im Vergleich zu anderen Kriegsverletzungen, und besonders eitel war Julian auch nicht.

Seine Gemütsverfassung hatte sich auch gebessert, vielleicht hatte er auch nur seinen Pessimismus niedergerungen. Wie dem auch sei, er hatte seinen anfänglichen Widerstand aufgegeben und fügte sich allem, was die Laurentische Armee für ihn vorgesehen hatte. Er sei willens, hatte er mir gesagt, das Amt des Präsidenten zu übernehmen, eine Zeit lang zumindest, allein schon, um einen Bruchteil der niederträchtigen Gemeinheiten rückgängig zu machen, die sein Onkel veranlasst hatte.

Zu seiner Nominierung hatte er selbst nichts beigetragen. Wie auch? Sie war in seiner Abwesenheit erfolgt — und sie war ein Kompromiss gewesen. Die Veröffentlichung meines Manuskripts über den Goose-Bay-Feldzug mag eine Rolle gespielt haben. Deklan Comstock hätte alles darangesetzt, die Nachricht von Julians Überleben zu unterdrücken, aber das hatten die Redakteure des Spark natürlich nicht wissen können; im Gegenteil, sie hatten geglaubt, ihrem Präsidenten einen Gefallen zu tun, indem sie die Heldentaten und Leiden seines Neffen publizierten.

Diese neuen Kriegsberichte hatten mehrere Neuauflagen erlebt und wurden fleißig nachgedruckt. Die amerikanische Öffentlichkeit, zumindest in der östlichen Hälfte des Landes, war geradezu verliebt in Julian Comstock, ihren jugendlichen Nationalhelden; und genauso golden war sein Ruf bei der Laurentischen Armee. In den höheren Rängen des Militärs hatte der Unmut über Deklans Kriegsführung inzwischen seinen Siedepunkt erreicht. Deklan hatte so viele kühne, aber schlecht geplante Feldzüge scheitern lassen und so viele loyale Generäle mit blütenreiner Weste ins Gefängnis gesteckt, dass die Armee beschlossen hatte, ihn zu stürzen und durch jemanden zu ersetzen, der ihre Ziele besser vertrat. Ja, die Veröffentlichung meiner Berichte hatte dazu beigetragen, die schwelende Glut bis zur Weißglut zu schüren.[90]

Alles, was den Putsch gegen Julians Onkel noch hinauszögerte, war die Wahl eines geeigneten Nachfolgers, immer eine heikle Angelegenheit. Woher einen akzeptablen Kandidaten nehmen? Der Sturz eines Tyrannen durch das Militär lässt keine demokratische Wahl zu, und wichtige, konkurrierende Interessengruppen — die Eupatriden, der Senat, das Dominion of Jesus Christ on Earth und in gewisser Hinsicht auch die breite Öffentlichkeit — müssen angesprochen und beruhigt werden.

Die Laurentische Armee konnte diese Bedingungen nicht erfüllen, noch konnte sie ohne weiteres von der Zustimmung ihres fernen Partners, der Kalifornischen Armee, ausgehen, die eher auf das Dominion hörte als auf die östliche Armee. Andererseits waren sich alle einig, dass Deklan der Eroberer nicht mehr tragbar war. Die Lösung, zu der man sich endlich durchrang, war eine Übergangslösung. Der 52. Zusatzartikel zur Verfassung erlaubte die Nachfolge durch Erbfolge zu regeln[91]; und da Deklan kinderlos war, konnte man den Artikel so auslegen, dass die Autorität auf seinen heldenhaften Neffen Julian überging — der derzeit noch in die Belagerung von Striver verwickelt war und die Angelegenheit weder durch Zustimmung oder Ablehnung komplizieren konnte. So wurde Julian zu einer Art Galionsfigur, fast zu einem Symbol, und als solches durchaus tragbar, bis Soldaten den Tyrannen von seinem Thron gestürzt und in einen Kerker im Keller des Palastes gesperrt hatten.

Jetzt, da Julian die Belagerung überlebt hatte und durch den entschlossenen Einsatz von Admiral Fairfield gerettet war, wurde das Symbol auf einmal leibhaftige Wirklichkeit. Wäre Julian im Kampf getötet worden, hätte man eine andere Regelung getroffen, vielleicht zur größeren Zufriedenheit aller. Aber Julian der Eroberer lebte — und der öffentliche Zuspruch war inzwischen so laut, dass es womöglich zu Krawallen gekommen wäre, hätte man ihn nicht zum Präsidenten ernannt.

Aus diesem Grund war er bereits im Hospital auf Neufundland und auf der Heimreise nach New York City von militärischen Beratern, zivilen Ratgebern, klerikalen Kriechern und tausend anderen Drahtziehern und Postenjägern umgeben gewesen. Ich hatte nur wenig Gelegenheit gehabt, mit ihm unter vier Augen zu sprechen, und als wir in Manhattan ankamen, verschwand er sofort in einem Mob aus Senatoren und Soldaten, die mit Bändern geschmückt waren, in Richtung Präsidentenpalast; wir hatten uns weder verabschieden noch verabreden können.

Doch was mich wirklich beschäftigte, war das Schicksal von Calyxa. Im Hospital in St. John’s hatte ich ihr mehrmals geschrieben und einmal sogar telegraphiert, aber keine Antwort bekommen; ich befürchtete das Schlimmste.


Ich kehrte dem Hafen den Rücken und machte mich auf den Weg zum Anwesen von Mrs. Emily Baines Comstock, jenem herrschaftlichen Haus mit seiner rotbraunen Sandsteinfassade, wo ich Calyxa in der Obhut von Julians Mutter zurückgelassen hatte. Es tat gut, das vertraute Gebäude wiederzusehen — es war anscheinend unverändert, eine Wohnstatt so stabil wie eh und je, die Stirn im glühenden Abendlicht von Manhattan und Laternenschimmer hinter den Vorhängen.

Doch als ich mich der Zufahrt näherte, trat ein Soldat aus dem Halbdunkel. »Kein Zutritt, Sir«, sagte er.

Ich war baff; und dann empört, als ich sicher war, den Mann richtig verstanden zu haben. »Gehen Sie mir aus dem Weg. Das ist ein Befehl«, sagte ich, denn meine Colonel-Streifen waren unversehrt und deutlich sichtbar.

Der Soldat erblasste, machte aber nicht Platz. Er war jung, vermutlich frisch einberufen, ein Pächterjunge — nach dem Akzent zu urteilen, aus irgendeinem südlichen Landgut. »Tut mir leid, Colonel, aber ich habe meine Befehle — klipp und klar — ohne Vollmacht kein Zutritt.«

»In diesem Haus ist meine Frau, oder war, oder müsste sie sein — was zum Kuckuck tun Sie hier?«

»Niemand darf das Haus verlassen oder betreten, Sir.«

»Auf wessen Veranlassung?«

»Ekklesiastische Quarantäne, eine gerichtliche Verfügung.«

»Was für ein Zungenbrecher — und wozu das Ganze?«

»Genaues weiß ich nicht, Sir«, gestand der Soldat. »Ich mache das zum ersten Mal.«

»Gut, wer hat Ihnen den Befehl erteilt?«

»Mein vorgesetzter Offizier, Kommandostelle Fifth Avenue. Unmissverständlich, Sir, keine Ausnahme. Aber ich glaube, es hat mit dem Dominion zu tun. ›Ekklesiastisch‹ bedeutet doch ›Kirche‹, oder?«

»Vermutlich … Wer ist in dem Haus, das Sie so unerbittlich bewachen?«

»Nur zwei Frauen.«

Mein Herz überschlug sich, aber ich zeigte mich reserviert. »Ihre gefährlichen Gefangenen sind Frauen?«

»Ich liefere dann und wann Lebensmittelpakete … Frauen, Sir, ja, Sir, eine junge und eine ältere. Ich habe keine Ahnung, was sie verbrochen haben. Sie sehen nicht gehässig aus oder besonders gefährlich; obwohl sie manchmal ein bisschen aufbrausend sind, besonders die jüngere Frau — sie redet kaum, aber wenn, dann beißt sie.«

»Die sind jetzt im Haus?«

»Ja, Sir; aber, wie gesagt, kein Zutritt.«

Ich konnte mich nicht länger beherrschen. Ich brüllte aus Leibeskräften Calyxas Namen.

Der Soldat zuckte zurück, und ich sah, wie seine Hand an die Pistole griff. »Ich glaube nicht, dass das erlaubt ist, Sir!«

»Verlangen Ihre Befehle, einem Offizier das Brüllen auf offener Straße zu verwehren?«

»Nicht ausdrücklich, aber …«

»Dann tun Sie das, was Ihre Befehle ausdrücklich verlangen, und bewachen Sie meinetwegen die Haustür, aber dichten Sie nichts hinzu und kümmern Sie sich nicht um das, was auf dem Bürgersteig passiert; die Bürgersteige von New York gehören im Augenblick nicht zu Ihrem Einflussbereich.«

»Sir«, sagte der junge Soldat errötend; aber er widersprach mir nicht, und ich brüllte noch mehrere Male Calyxas Namen, bis endlich der Kopf meiner geliebten Frau an einem der oberen Fenster erschien.

Bei ihrem Anblick konnte ich meine Freude kaum noch zügeln. Wie oft hatte ich mir dieses Wiedersehen ausgemalt auf dem langen Goose-Bay-Feldzug! Calyxas Gestalt, wie sie mir im Dämmer zwischen Wachen und Schlafen erschien, war eine Gottheit geworden, zu der ich mich so regelmäßig hingezogen fühlte, wie die Sonne im Meer ertrank. Eingerahmt von einem der oberen Fenster dieses stattlichen Hauses sah sie mindestens so schön aus wie in meinen Träumen — vielleicht ein klein wenig ungeduldiger, was kein Wunder war.

Ich rief noch einmal ihren Namen, nur um ihn in meiner Kehle zu spüren.

»Ja, hier bin ich«, rief sie herunter.

»Ich bin zurück aus dem Krieg!«

»Das sehe ich! Kannst du nicht reinkommen?«

»Hier steht eine Wache!«

»Ja, das ist das Problem!« Calyxa verschwand einen Augenblick, dann erschien sie wieder. »Mrs. Comstock ist auch hier, sie möchte aber nicht aus dem Fenster schreien — ich soll dich von ihr grüßen.«

»Warum habt ihr Hausarrest? Sind das die Scherereien, von denen du mir geschrieben hast?«

»Die Geschichte ist zu kompliziert, um sie hier rauszubrüllen, aber dahinter steckt Diakon Hollingshead.«

»Julian wird da nicht mitspielen!«

»Hoffentlich hört er bald davon.«

Der Soldat hatte mich die ganze Zeit mit unverhohlenem Interesse angestarrt und dabei vergessen, den Mund zu schließen. Mir passte seine Neugier nicht. Ich wollte von Calyxa wissen, was mit unserem Kind war — ich wollte ihr sagen, wie sehr ich sie liebe —, doch der stiere Blick des Rekruten machte mich befangen; außerdem war es möglich, dass wir noch mehr Publikum hatten. »Calyxa!«, rief ich. »Ich muss dir etwas sagen — meine Gefühle für dich sind unverändert …«

»Ich kann dich nicht verstehen!«

»Unverändert! Gefühle! Meine für dich!«

»Bitte vergeude keine Zeit, Adam!«

Sie verließ ihren Platz am Fenster.

Ich wandte mich an den Soldaten, meine Ohren brannten. »Na, wie war die Vorstellung, Soldat?«

Aber er war immun gegen Ironie oder war irgendwo fernab von ihr aufgewachsen. »Ja, Sir«, sagte er. »Danke der Nachfrage. War mal was anderes. Wache schieben ist meist ziemlich öde.«

»Das denke ich auch. Ist Ihnen nicht kalt? Würden Sie nicht lieber irgendwohin gehen, wo es warm ist, und eine warme Mahlzeit zu sich nehmen, so kurz vor Weihnachten?«

»Doch, schon; aber meine Ablösung kommt erst in zwei Stunden.«

»Warum löse ich Sie nicht ab? Ich weiß, ich darf nicht ins Haus — das wäre gegen die Spielregeln —, aber ich finde, ein ranghoher Offizier darf für kurze Zeit die Pflichten eines Rekruten übernehmen, als nette Geste an einem kalten Dezemberabend.«

»Danke, Colonel, aber der Trick funktioniert nicht. Ich kann es mir nicht leisten, essen zu gehen. Mein Sold ist längst überfällig, hier geht nämlich zurzeit alles drunter und drüber.«

»Gleich um die Ecke ist ein Lokal, da gibt es Leberpilzklöße und gegrilltes Schweinefleisch, ofenheiß. Hier«, sagte ich und drückte ihm zwei Comstock-Dollars in die Hand, »nun machen Sie schon, guten Appetit und frohe Weihnachten.«

Der Rekrut riss die Augen auf, dann steckte er die Münzen in die Tasche seines Dufflecoats. »Ich denke, ich kann Ihnen die Bewachung der Ladys überlassen — aber nur für eine Stunde.«

»Ich weiß das zu schätzen, und Sie können sich darauf verlassen, dass ich gut auf die beiden aufpassen werde.«


Mein Taktgefühl verbietet mir, jede Einzelheit unseres Wiedersehens zu erzählen, außer dass es eine herzliche und bisweilen tränenreiche Begegnung mit vielen Zärtlichkeitsbekundungen meinerseits war und ich mit Staunen und schmachtendem Stolz zur Kenntnis nahm, dass Calyxas Figur alles in allem runder und voller geworden war. Mrs. Comstock verfolgte dieses Geturtel mit großherziger Geduld, bis ihr unsere Intimitäten peinlich wurden und sie sagte: »Es gibt ein paar wichtige Dinge zu besprechen, Adam Hazzard, es sei denn, Sie bringen Calyxa unverzüglich ins Hochzeitszimmer.«

Ich hätte nichts lieber getan als genau das, hatte aber den verdeckten Hinweis verstanden und hörte erst einmal auf, meine Frau zu küssen.

»Ich habe die Wache bestochen«, sagte ich. »Wenn Sie wollen, können wir jetzt fliehen.«

»Wenn es mit Bestechung getan wäre«, sagte Mrs. Comstock, »wären wir längst nicht mehr hier — aber wo sollten wir Ihrer Meinung nach hin? Wir sind keine Verbrecher, und ich zumindest möchte mich auch nicht so verhalten.«

»Das bringt mich jetzt durcheinander«, gestand ich. »Es ist keine zwei Stunden her, dass mich das Boot von Neufundland im Hafen abgesetzt hat, und ich habe keine Antwort auf meine Briefe bekommen.«

»Sie sind nicht angekommen oder wurden zurückgeschickt. Und Julian ist auch hier?«

»Deshalb haben in der ganzen Stadt die Glocken geläutet. Man hat Julian in den Regierungspalast gebracht, um ihn zu vereidigen.«

Mrs. Comstock war erleichtert, so sehr, dass sie sich setzen musste, um das Gehörte zu verarbeiten. Sie brauchte eine Weile, bis sie wieder Notiz von mir nahm. »Es tut mir leid, Adam«, sagte sie. »Nehmen Sie sich einen Stuhl und hören Sie mir zu — ich werde Ihnen unsere Situation erklären. Dann können wir die wichtige Frage erörtern, wie wir damit umgehen.«

Ihre Erklärung war weitschweifig, mit vielen Rückblenden und mit hitzigen Einwürfen von Calyxa, und besagte im Kern Folgendes:

Seit letzten Juli hielt sich Diakon Hollingshead in New York City auf, und seitdem ging das Dominion hart zur Sache und säuberte die Stadt von Korruption.

»Korruption« ist ein beliebter Begriff bei den begeisterten Anhängern des Dominions und für gewöhnlich der Auftakt zu Dolch, Prozess oder Galgen. Zurzeit ging es um die wachsende Anzahl von hiesigen Kirchen, die nicht den Zehnten abführten — Kirchen, die nicht nur nicht anerkannt waren vom Dominion, sondern diese Anerkennung sogar verschmähten, denn sie betrachteten das Dominion als eine weltliche Institution, die sich mit erzwungenen Spenden finanzierte und gleichzeitig wahre apostolische Brüderlichkeit und persönliche Erlösung in Christo unterdrückte.

Ich hatte von diesen abtrünnigen Kirchen gehört. Es gab sie in allen großen Städten, aber besonders zahlreich vertreten waren sie in Manhattan, wo etliche von ihnen die Armen und Unzufriedenen und die einfachsten Arbeiter beköstigten, oder die Ägypter und andere frisch eingetroffene Einwanderer. Doch ich sah keinen Zusammenhang zwischen diesen Einrichtungen und dem über Calyxa und Mrs. Comstock verhängten Hausarrest.

»Wir wurden aufgegriffen«, sagte Calyxa rundheraus und unterbrach die etwas nuanciertere Schilderung von Mrs. Comstock.

»Was meinst du mit ›aufgegriffen‹? Wo aufgegriffen?«

»Ein juristischer Begriff«, sagte Mrs. Comstock. »Wir wurden mit einem Dutzend anderer Leute festgenommen, als eine dieser Einrichtungen von Hollingshead und seiner geistlichen Polizei überfallen wurde — ›mitgefangen, mitgehangen‹, so sagt man doch.«

»Ihr wart in einer abtrünnigen Kirche?« Das überraschte mich, denn mir war an Mrs. Comstocks religiösen Gewohnheiten nie etwas Ungewöhnliches aufgefallen; und Calyxa, die in einem katholischen Internat gewesen war, hatte wiederholt erzählt, sie habe aus diesen Kindertagen so viel an Religion »gebunkert«, wie sie für nötig gehalten hatte — und noch ein bisschen mehr.

»Nicht aus religiösen Gründen«, sagte Calyxa. »Die Kirche stellte ihre Räumlichkeiten für politische Versammlungen zur Verfügung. Ich hatte Mrs. Comstock von der Idee der Parmentieristen erzählt, sie war interessiert und wir sind hingegangen, damit sie sich ein Urteil bilden konnte.«

»Ist das nicht ein mildernder Umstand?«

»Nicht in den Augen von Diakon Hollingshead«, sagte Mrs. Comstock. »Parmentierismus kann unter dem bestehenden Regime wohl kaum als Alibi gelten. Ich glaube eher, dass der Diakon uns eigens zu dem Zweck verfolgt hat, etwas gegen uns in der Hand zu haben. Vielleicht hatte er mit Deklan etwas ausgeheckt.«

»Aber Deklan ist abgesetzt, und ihr steht immer noch unter Hausarrest.«

»Diakon Hollingshead ist so einflussreich wie eh und je, und eine gerichtliche Anordnung ekklesiastischer Quarantäne lässt sich nicht so leicht aus der Welt schaffen. Einmal erlassen, klebt sie wie Harz. Wir sind nur hier und nicht im Gefängnis bei all den anderen Aufgegriffenen, weil Calyxa schwanger ist und ich eine Comstock bin.«[92]

»Julian bringt das in Ordnung.«

»Davon gehe ich aus«, sagte Mrs. Comstock, »sobald er es erfährt. Er wird nicht leicht zu erreichen sein, jetzt, wo er sich im Regierungspalast verschanzt.«

»Ich werde schon zu ihm durchkommen.«

»Ich glaube, das wird nicht nötig sein. Julian hat es nie versäumt, mir Weihnachten Gesellschaft zu leisten, wenn er in Manhattan war, und ich bin sicher, er wird dieses Jahr nach mir schicken. Und Calyxa wird nicht vor April niederkommen, was bedeutet, dass Hollingshead uns bis dahin in Frieden lässt. Nein, Adam, ich hätte einen anderen Auftrag für Sie, falls Sie so nett wären.«

Ich konnte unmöglich ablehnen, obwohl eine Überraschung die andere jagte und ich nicht wusste, wo mir der Kopf stand.

»Mein Auftrag«, sagte Mrs. Comstock, »betrifft Sam Godwin.«

»Sam! Seit Labrador habe ich Sam nicht mehr gesehen. Er wurde mit einer Verletzung nach Hause geschickt. Wir haben uns im Militärhospital in St. John’s nach ihm erkundigt, aber die hatten ihn längst nach New York überwiesen. Wie geht es ihm denn? Ich würde ihm zu gerne die Hand schütteln.« Die eine, die er noch hat, dachte ich bei mir.

»Ich habe auch Erkundigungen eingeholt«, sagte Mrs. Comstock, »und weiß, dass er heil hier angekommen ist und ein paar Tage im Soldiers’ Rest verbracht hat, aber er wurde entlassen — und ist spurlos verschwunden; zumindest hat er nichts von sich hören lassen. Das sieht ihm gar nicht ähnlich, Adam.«

Da musste ich ihr Recht geben. »Vielleicht kann ich ihn finden und das Geheimnis lüften.«

»Ich habe gehofft, dass Sie das sagen.« Sie strahlte. »Danke, Adam Hazzard.«

»Nichts zu danken. Aber was machen wir mit der Wache? Der Soldat wird bald zurück sein, und ich darf nicht bleiben.«

»Keine Sorge — der Junge ist harmlos, und ein bequemeres Gefängnis kann ich mir gar nicht vorstellen.«

»Einmal draußen, ist es vielleicht nicht wieder so einfach, hier reinzukommen«, sagte ich. Der Gedanke, auf unbestimmte Zeit von meinem Ehebett getrennt zu sein, gefiel mir überhaupt nicht. Das war grausam, wenn nicht unüblich.

»Wohnen Sie im Soldiers’ Rest, wenn es sein muss, und nehmen Sie fürs Erste Abschied von Calyxa. Weihnachten sind wir wieder beisammen, ganz bestimmt.«

»Willkommen daheim, Adam«, fügte Calyxa hinzu und umarmte mich; wir tauschten wieder Zärtlichkeiten aus, bis Mrs. Comstock sich räusperte und die Augen verdrehte. Ich musste gehen — leider.

Der Soldat kehrte gerade zurück, als ich in die feuchte Dezemberluft trat. »Danke, Colonel«, rief er. »Ein gutes Essen, alles was Recht ist, und frohe Weihnachten.«

»Und behalten Sie mir das Haus im Auge«, entgegnete ich auf der letzten Stufe. »Lassen Sie da keine Bösewichter rein.« Ich verbrachte die Nacht im Soldiers’ Rest in der Nähe des Hafens. Mein Rang berechtigte mich zu einer entsprechend besseren Unterbringung und Verpflegung, was auf ein Kabuff mit aufgebockter gelber Matratze und fadenscheiniger Decke hinauslief; die Flöhe tanzten vor Vergnügen und speisten nach Belieben, während ich zu schlafen versuchte. Beim ersten Licht des neuen Tages war ich aus dem Bett und nicht viel später draußen.

Sam Godwin war also in New York, oder vor kurzem gewesen, so viel stand fest. Ich marschierte zum Regimentshauptquartier, und der dortige Verwaltungsbeamte schlug ein großes Buch auf, das sagte, Sam Godwin sei als verwundeter Veteran entlassen worden; es führte eine New Yorker Adresse auf, wohin Post nachgeschickt werden konnte.

Die Wohnung lag in einer verrufenen Gegend in der Nähe des Einwandererviertels. Ich machte mich sofort auf den Weg. Die Häuser dort waren hauptsächlich Fachwerkbauten, Schulter an Schulter, die meisten in kleine Mietwohnungen aufgeteilt, hier und da eine Taverne, ein Haschischlokal oder eine Spielhölle, in der entwurzelte Männer »gleich nebenan« ihrem Laster frönen konnten. Aus jedem Schornstein quoll Rauch, denn der Tag war kalt. Der Gedanke an die vielen Kohlenroste und Holzöfen machte mir Angst, denn diese Häuser waren kaum mehr als Kulissen aus Zunder und Packpapier.

Ich pochte an eine klapprige Tür, und nach einer Weile machte eine ältere, mit Pockennarben gestrafte Frau auf. Als ich nach Sam Godwin fragte, sagte sie: »Kenne ich nicht.« Doch ich bedrängte sie mit einer Beschreibung und erklärte Sam zu meinem Freund, bis sie schließlich nachgab und mir den Weg zu einem Zimmer im Obergeschoss zeigte, das am Ende eines düsteren Flurs lag.

Die Tür stand einen Spaltbreit offen. Sie aufstoßen, eintreten und Sams Namen rufen war eins.

Er schlief auf einem schmalen Bett, das nicht komfortabler war als meine Schlafstatt im Soldiers’ Rest. Er trug ein zerlumptes Hemd und hatte sich mit einem alten Mantel zugedeckt. Selbst im Schlaf war sein Gesicht abgehärmt und voller Kummer. Das Haar war schütterer, als ich es in Erinnerung hatte, der Bart ungekämmt und fast völlig weiß. Der linke Arm lag unter ihm, fest an den Bauch gedrückt, wie um die fehlende Hand warmzuhalten.

Am Boden neben dem Bett stand eine Flasche; auf dem zerschundenen Nachttisch lag eine langstielige Pfeife, daneben stand ein Holzkästchen, darin befanden sich ein paar Krümel getrockneter Hanfblüte.

Ich setzte mich auf die Bettkante. »Sam«, sagte ich. »Sam, wach auf, wenn du mich hören kannst. Ich bin es — Adam Hazzard.«

Nach ein paar Wiederholungen rührte er sich endlich. Er stöhnte und wälzte sich auf den Rücken und seufzte und öffnete vorsichtig ein Auge, als erwarte er schlechte Neuigkeiten. Die Sinnesreize schienen sein Inneres nach und nach zurückzuerobern, bis er sich schließlich unter Ächzen und Mühen aufsetzte. »Adam?«, murmelte er heiser.

»Ja, Sam — ich bin es.«

»Adam — oh! Ich dachte erst, wir wären in Labrador — ist das Artilleriefeuer?«

»Nein, Sam. Das ist New York City, allerdings keine besonders attraktive Gegend. Was du hörst, sind die Fuhrwerke unten auf der Straße.«

Er starrte mich abermals an, während ihm einiges dämmerte. »Adam! Aber du bist doch in Striver geblieben. Du und Julian. Die Basilisk hat mich mitgenommen …«

»Sie hat uns auch mitgenommen, Sam, ein paar Wochen später, nach viel Wirbel und Blutvergießen.«

»Ich dachte …«

»Was?«

»Die Lage war hoffnungslos. Wir sollten abgeschlachtet werden, und Striver schien der Schlachthof zu sein. Ich dachte …«

»Wir wären nicht mehr am Leben?«

»Ihr wärt nicht mehr am Leben, ja, und ich hätte versagt, weil ich Julian im Stich gelassen hatte.«

»Hast du dich deswegen hier verkrochen? Aber wir leben, Sam! — Ich lebe, und Julian lebt. Hast du keine Zeitung gelesen?«

Er schüttelte den Kopf. »Das kann Wochen her sein. Du willst sagen, dass Admiral Fairfield die Divisionen in Striver verstärkt hat?«

»Ich will sagen, dass Deklan Comstock nicht mehr Präsident ist! Hättest du deinen Kopf mal gelüftet, hättest du vielleicht die Laurentische Armee marschieren sehen, die ihn ruckzuck abgesetzt hat!«

So verstört wie Sam war, stand er plötzlich auf, nur um puterrot zu werden, weil er keine Hose anhatte. Er klaubte das zerknüllte Kleidungsstück vom Boden und brachte sich in einen schicklichen Zustand, was mit einer Hand nicht ganz einfach war (zumal sie vor Aufregung zitterte). »Hol mich der Teufel! Deklan Comstock abgesetzt, und ich kriege nichts mit davon! Und? Hat man schon einen neuen Präsidenten vereidigt?«

»Ja, Sam, man hat … aber setz dich besser, bevor ich weiterrede.«


Ich half Sam beim Ankleiden und Kämmen, und als er einigermaßen vorzeigbar war, schleppte ich ihn in die nächstbeste Taverne, wo wir Eier mit Toast bestellten. Es war kein Feinschmeckerlokal — die Butter war madig —, aber die Portion machte satt. Sam gab zu, dass er seit seiner Rückkehr nach Manhattan jeden Kontakt gemieden hatte. Nicht nur aus Gram um den totgeglaubten Julian hatte er sich in dieses Loch verkrochen, sondern auch wegen der eingebüßten Hand — oder wegen des Gefühls von Unvollständigkeit und Untauglichkeit, das ihn seit dem Verlust beherrschte. Er verstand sich darauf, mit der rechten Hand zu essen und zu trinken, und ließ den linken Unterarm untätig auf dem Schoß liegen, peinlich bedacht, dass niemand den Stumpf zu sehen bekam. Er hielt das Kinn gesenkt und vermied jeden Blickkontakt. Ich kam nicht auf seinen Zustand zu sprechen und ließ mir auch nichts anmerken, weil ich dachte, ihn so vielleicht zerstreuen zu können.

Beim Essen erzählte ich ihm von meinen Abenteuern in und um Striver und von Julians unerwartetem Aufstieg zum Präsidenten. Sam zeigte großes Interesse und bedankte sich mehr als einmal für die Erleichterung, die ich ihm beschert hatte (so sagt man doch zu Weihnachten). »Nicht dass die Präsidentschaft so etwas wie ein sicherer Hafen wäre«, meinte Sam, »weiß Gott nicht. Aber ich bin froh, dass du gekommen bist, Adam, und ich bedanke mich für das Frühstück, aber du würdest mich jetzt besser ziehen lassen. Nach Lage der Dinge will ich nicht mehr unter Menschen. Ich bin nicht mehr das, was ich einmal war. Julian braucht mich nicht mehr. Ich wäre nur ein nutzloses Anhängsel.«

»Die Lage der Dinge ist komplizierter, als du denkst, Sam. Diakon Hollingshead hat es auf Calyxa abgesehen. Sie und Julians Mutter stehen unter Hausarrest, ein Verfahren ist anhängig.«

Sams Augen, die bis jetzt nur feucht und glasig gewesen waren, verengten sich. »Emily ist in Gefahr?«

»Möglicherweise, ja — auch Calyxa. Es war Mrs. Comstock, die mich auf die Suche geschickt hat.«

»Emily!«, sagte er gequält. »Ich will nicht, dass sie mich so sieht.«

»Kann ich verstehen; aber wir können dir ein warmes Bad verschaffen und einen Haarschnitt — sobald du fertig bist mit Frühstücken.«

»Das meine ich nicht!«

»Schaden kann es jedenfalls nicht. Was Gerüche betrifft, ist Mrs. Comstock ziemlich eigen.«

»Weswegen ich mich schäme, Adam, das kann man nicht abwaschen.«

Er meinte natürlich seinen Armstumpf. »Das ist Emily Comstock egal, Sam.«

»Mir aber nicht.« Er senkte die Stimme, doch der Schmerz darin war unüberhörbar: »Es gab eine Zeit, nachdem ich Striver verlassen hatte, da habe ich inständig um eine tödliche Infektion gebetet, ich wollte so nicht weiterleben.«

»Solche Gebete kommen nicht gut an im Himmel, kein Wunder, dass sie nicht erhört wurden.«

»Ich bin kein ganzer Mensch mehr.«

»Hast du so auch über den Einbeinigen Willy Bass gedacht, als er uns durch die Wildnis von Athabaska gejagt hat? Ich fand, du hattest ganz ordentlich Respekt vor dem Mann, obwohl er mehr von seinem Bein verloren hatte als du von deinem Arm.«

Der Vergleich schien ihn aufzuscheuchen. »Willy Bass war alles andere als ein Krüppel. Aber meinst du im Ernst, ich wollte eine Karriere in der Reserve machen, Adam?«

»Ich habe überhaupt keine Meinung über irgendeine Karriere, die du machen willst, Sam. Es geht einzig und allein darum, ob du jemandem helfen willst, der deine Hilfe braucht. Und dieser Jemand ist Mrs. Comstock.«

»Aber natürlich will ich ihr helfen! Aber was kann ein betrunkener Krüppel schon ausrichten?«

»Nichts — also mach Schluss mit dem Alkohol und vor allem mit dem Krüppel. Zeig mal her.«

Er sträubte sich und hielt den Arm unterm Tisch; er sagte kein Wort.

»Im Lazarett in Striver habe ich Dr. Linch assistiert«, sagte ich. »Ich habe Amputationen und Schlimmeres erlebt. Du warst immer so etwas wie ein zweiter Vater für mich; wie es aussieht, haben wir die Rollen getauscht. Sei nicht kindisch, Sam. Zeig her.«

Seine Wangen glühten, und er blieb lange steif da sitzen. Hoffentlich bekam ich gleich nicht seine rechte Hand zu spüren, denn weder die Amputation noch seine jüngsten Ausschweifungen hatten etwas daran geändert, dass er ein kräftiger Mann war. Doch er lenkte ein. Er wandte den Blick ab und hob den Arm, bis er knapp über die Tischkante lugte.

»Ach geh, das ist doch gar nichts«, sagte ich, obwohl der Anblick alles andere als beruhigend war — der Stumpf des Unterarms mündete in einem schmuddeligen und rostrot gefleckten Verband.

»Die Wunde nässt von Zeit zu Zeit«, sagte er leise.

»Weinen wir nicht alle schon mal? Na ja, Sam, du musst wissen, was dir mehr wert ist — dein verletzter Stolz oder Emily Baines Comstock. In dem einen Fall gehst du am besten wieder auf deine Bude und säufst dich zu Tode, im anderen kommst du mit zum Friseur, nimmst ein Bad und lässt mich den Verband wechseln; und dann befreien wir unsere Frauen aus der Klemme, in der sie stecken, oder sterben wenigstens bei dem aufrechten Versuch.«

Das war jetzt riskant gewesen. Er hätte aufstehen und gehen können. Aber ich hatte noch nie erlebt, dass Sam einem freimütig vorgetragenen Appell ausgewichen war.

»Ich glaube, ein Bad wird mich nicht umbringen«, murrte er und bedachte mich mit einem bösen und undankbaren Blick.


Frisörsalons und Badehäuser machten schon dicht wegen Heiligabend, aber wir konnten noch je ein Etablissement auftreiben, das uns hereinließ. Später besuchten wir noch einen Herrenausstatter und ersetzten Sams abgerissene Militärkluft durch passable Zivilsachen. Diese Ausgaben hätten beinahe meine Barschaft überschritten, und Sam hatte nur Pennys dabei.

Doch er wollte so nicht zu Emily Comstocks Haus gehen; er wollte sich erst noch von seinen Ausschweifungen erholen. Also verbrachten wir die Nacht im Soldiers’ Rest. Er schlief geräuschvoll, während ich eine Reihe von Scharmützeln mit den Wirbellosen focht, die vor Freude durch mein Bett sprangen.

Weihnachtsmorgen. Beim ersten Schimmer wachten wir auf. Das karitative Frühstück schlugen wir aus. »Wir sollten sofort zu Mrs. Comstocks Haus gehen«, sagte ich. »Bist du bereit?«

»Weit entfernt davon«, meinte er, »aber mit Warten wächst meine Bereitschaft auch nicht.«

Vor dem Haus mit der rotbraunen Sandsteinfassade wartete eine Kutsche. Es war eine schöne, stattliche Kutsche mit drei Pferden davor und goldenen Verzierungen, auf den Türen das Wappen des Präsidentenpalasts. Sie wurde von etlichen Männern der Republikanischen Garde begleitet, die den Wachposten (nicht den Mann, dem ich eine Mahlzeit spendiert hatte) überwältigt hatten und soeben Mrs. Comstock und Calyxa zum Fahrzeug eskortierten.

Die Frauen erblickten uns, als wir näher kamen. Sie winkten uns an Bord. Die Republikanische Garde wollte uns abweisen — ihr Auftrag erwähnte nichts dergleichen —, lenkte aber nach einer Standpauke von Julians Mutter ein. Im Handumdrehen wurden wir zusammen mit den Frauen in die Fahrgastkabine gesperrt.

Sam sah Mrs. Comstock an und sie ihn, und niemand sagte etwas.

»Du hast deine linke Hand verloren«, brach sie endlich das Schweigen.

Ich muss wohl erbleicht sein, Calyxa zuckte, und Sam wurde rot.

»Emily …«, sagte er mit belegter Stimme.

»War es eine Kriegsverletzung oder nur ein Unfall?«

»Ich habe sie im Kampf verloren.«

»Da kann man nichts machen. Dein Bart ist weißer geworden — da kann man wohl auch nichts machen. Und du siehst gebrechlich aus — setz dich gerade!«

Er richtete sich auf. »Emily … es tut gut, dich wiederzusehen. Schade, dass es unter diesen Umständen sein muss.«

»Die Umstände ändern sich gerade, Sam. Wir fahren zum Regierungspalast, auf Julians Veranlassung. Ist das dein bestes Hemd?«

»Mein einziges.«

»Ich glaube nicht, dass der Krieg dir gut bekommen ist, Sam.«

»Ist er sicher nicht, nein.«

»Oder Sie, Adam — ist das ein Floh auf Ihrem Hosenbein?«

»Irgendeine Fussel«, sagte ich, als er fortsprang.

»Hoffentlich sind keine Fotografen im Palast«, sagte Mrs. Comstock anzüglich.


Man eskortierte uns durch die großen, dem Publikumsverkehr geöffneten Räume des Regierungspalasts, durch die vertäfelten Säle, wo man uns während des präsidialen Empfangs zum vorletzten Unabhängigkeitstag bewirtet hatte, zu gemütlicheren Zimmern, in denen auf spiegelblanken Tischplatten Lampen glühten und in Eisenöfen Feuer brannten, und schließlich zu einem großen, fensterlosen Wohnraum, in dem man einen Tannenbaum aufgestellt und mit bunten, ausgefallenen Glaskugeln geschmückt hatte. Hier erwartete uns Julian, der die Garde sofort entließ.

Es war ein rundum bewegender Weihnachtsmorgen, wenn man bedenkt, dass die Hälfte von uns die Hoffnung fast aufgegeben hatte, die andere Hälfte lebendig wiederzusehen. Julian schloss unter Tränen seine Mutter in die Arme; wann immer Sam seine Emily Baines Comstock anstarrte, hellten sich seine abgehärmten Züge wieder auf; und Calyxa und ich saßen eng umschlungen auf dem kleinen Sofa in der Nähe des Kamins.

Jeder hatte etwas zu erzählen, jeder etwas zu erklären. Julian hatte eben erst von dem Hausarrest erfahren, den Diakon Hollingshead über seine Mutter verhängt hatte; er kochte innerlich vor Wut, beherrschte sich aber in Anbetracht des Festes, das wir begingen, und versuchte die Unterhaltung auf erfreulichere Dinge zu lenken.

Doch die Veränderungen in Julians Gebaren und Erscheinung, seit wir uns zuletzt in diesem Kreis gesehen hatten, waren unübersehbar. Calyxa und auch Mrs. Comstock bedachten ihn mit besorgten Blicken. Es war nicht bloß die Narbe auf seiner Wange oder dass sein Mund auf dieser Seite steif blieb, obgleich sein Ausdruck dadurch arg verfremdet wurde, nein, er trug eine Unberührtheit zur Schau — eine Bedächtigkeit, die sich wie eine Maske für innere Turbulenzen ausnahm, so wie eine ruhige See die Wanderung der Wale und den Appetit der Haie verbirgt.

Julian erkundigte sich nach dem Hausarrest und den Anschuldigungen, die Diakon Hollingshead gegen seine Mutter und Calyxa erhoben habe. Er war verblüfft zu hören, dass man sie in einer sogenannten »freien« Kirche aufgegriffen habe, und fragte sein Mutter, warum sie ihren Methodismus gegen Weihrauch und Prophezeiungen eintauschen wolle.

»Wir nahmen an einer politischen Veranstaltung der Parmentieristen teil …«

»Noch schlimmer!«

»… aber die Church of the Apostles etc. hat eigentlich nichts damit zu tun. Ich habe mich länger mit dem Pastor unterhalten, einem Mr. Stepney. Er ist ein nachdenklicher junger Mann, überhaupt kein Fanatiker, sehr präsentabel und sehr gut aussehend.«[93]

»Was predigt er? Tod den Aristokraten, wie seine parmentieristischen Freunde?«

»Pastor Stepney ist kein Feuerspucker, Julian. Ich kenne nicht alle Details seiner Doktrin, außer dass sie mit der Evolution zu tun hat und mit einer rückwärts geschriebenen Bibel, oder so ähnlich.«

»Evolution in welchem Sinne?«

»Er redet von einem Gott, der sich entwickelt — ich verstehe das nicht, wenn ich ehrlich bin.«

»Ich glaube, ich würde Pastor Stepney gerne kennenlernen; ein theologischer Diskurs mit ihm wäre ganz nach meinem Geschmack.«

Die Bemerkung war nett, aber nicht wirklich ernst gemeint — aber sie war prophetisch, wie sich herausstellen sollte.

Da Mrs. Comstock und Calyxa nun erst recht damit zu rechnen hatten, von Diakon Hollingshead schikaniert zu werden, kam man zu dem vernünftigen Entschluss, dass sie nicht mehr in Mrs. Comstocks Anwesen zurückdurften. Auf dem Gelände des Regierungspalasts gab es etliche luxuriöse und zurzeit unbewohnte Gästehäuser; und Julian sah eines für seine Mutter und ein anderes für Calyxa und mich vor. Da wären wir sicher aufgehoben, meinte er, bis er den Zwist mit dem Dominion beigelegt habe.

Für den Rest des Tages und bis in den späten Abend hinein wies Julian jeden Höfling, der vorsprechen wollte, ab und widmete sich ganz seinen alten Freunden und seiner Mutter, bis wir uns schließlich, vollgestopft mit leckeren Sachen aus der Palastküche, in unsere neue Bleibe zurückzogen.

Ich fand es herrlich, mich auf ein Bett zu strecken, das weich und kein Tummelplatz für Wirbellose war; und noch herrlicher fand ich es, dass Calyxa und ich uns zum ersten Mal seit vielen Monaten wieder ein Bett teilten. Wir feierten Weihnachten auf unsere Art — mehr will ich dazu nicht sagen.

Was wir nicht wussten, war, dass Julian auch zu tun hatte. Am nächsten Morgen, ich war gerade fertig mit Frühstücken, da ließ er mich rufen, um an einem Gespräch teilzunehmen, das er am späten Abend mit Diakon Hollingshead vereinbart hatte.


Weihnachten war dieses Jahr auf einen Sonntag gefallen, eine Art doppelter Sonntag, was die ungewöhnliche Ruhe im Regierungspalast zumindest teilweise erklärte. Der Montag brachte die übliche Geschäftigkeit zurück. Dienstpersonal und Beamte, wo man auch hinsah, ebenso eine Reihe hochrangiger Militärs. Sie eilten an mir vorbei, als ich auf dem Weg zum Präsidenten war, ignorierten mich oder musterten mich argwöhnisch.

Doch Julian war allein in dem Büro, in dem er mit dem Diakon verabredet war. »Zu Konferenzen zwischen Exekutive und Dominion«, erklärte er, »haben Beamte keinen Zutritt.«

»Und was ist mit mir?«

»Hollingshead bringt einen Sekretär mit, der wahrscheinlich alles aufschreibt, was sich gegen mich verwenden lässt. Ich habe das Gleiche für mich in Anspruch genommen.«

»Ich bin kein guter Sekretär, Julian. Dieses Ränkespiel ist für mich ein Buch mit sieben Siegeln.«

»Schon klar, Adam. Alles, was ich von dir erwarte, ist, dass du still dasitzt mit Block und Bleistift auf dem Schoß. Sobald du das Gefühl hast, Diakon Hollingshead fühlt sich nicht ganz wohl in seiner Haut, schreibst du etwas auf — oder tust wenigstens so, um sein Unbehagen noch zu schüren.«

»Ich weiß nicht, ob ich höflich bleiben kann, wenn er die Sprache auf Calyxa bringt.«

»Du musst nicht höflich sein, Adam, nur still.«

Es dauerte nicht lange, und der Diakon traf ein. Er kam in Begleitung ekklesiastischer Polizisten, die im Vorzimmer warteten. Er trug seine formelle Dominionrobe und betrat mit der Jovialität eines orientalischen Potentaten den Raum. Dann nickte er Julian zu, schüttelte dessen Hand und gratulierte ihm salbungsvoll lächelnd zur Vereidigung. Das war geheuchelt, aber so gut, dass es reif für den Broadway war. Abgesehen von einem einzigen kurzen Blick nahm er weiter keine Notiz von mir. Erkannte er mich wieder? Wusste er, dass ich Calyxas Ehemann war?

Sein Sekretär war ein mickriges Männlein mit stechenden Augen und einem permanent finsteren Gesichtsausdruck. Dieses Kerlchen setzte sich mir gegenüber. Es funkelte mich an, und ich funkelte zurück. Ansonsten schwiegen wir.

Julian und Diakon Hollingshead tauschten noch eine Weile Formalitäten und Nettigkeiten aus. Sie redeten nicht wie Fürsten, sondern eher wie Fürstentümer, jeder sagte »wir«, womit der eine die Exekutive und der andere das Dominion meinte.

Sie kamen nicht sofort auf das heikle Thema zu sprechen, dessentwegen sie sich trafen, sondern wärmten sich mit Allgemeinplätzen auf. Julian redete von einer besseren Kooperation zwischen Marine und Laurentischer Armee in Labrador. Diakon Hollingshead von einer frommen und gottesfürchtigen Außen- und Innenpolitik und von der Rolle des Dominions, dieses Ideal zu fördern. So abgedroschen das alles klang, so waren es doch deutlich formulierte Machtansprüche. Julian prahlte, das Militär zu kontrollieren, und Hollingshead erinnerte daran, dass die Kanzeln des Dominions so etwas wie ein Vetorecht praktizierten. Sie waren wie zwei Kater, die sich aufplusterten, um dem jeweils anderen zu imponieren. Obwohl sie lächelten, knurrten sie; und das Knurren war eine Einladung zum Kampf.

Es war Julian, der die Sprache endlich auf den Hausarrest von Mrs. Comstock brachte. Der Diakon reagierte mit einem konzilianten Lächeln. »Mr. President, Sie reden von dem Vorfall im Einwandererviertel, in der sogenannten Church of the Apostels etc. Wie Sie sicher wissen, konnte die Razzia einen ganzen Schwarm von Parmentieristen und radikalen Apostaten verhaften — dank der guten Zusammenarbeit zwischen Zivilbehörden und ekklesiastischer Polizei. Wir sind stolz auf den Erfolg. Wegen dieser Razzia sind zurzeit Menschen hinter Gittern, die ansonsten das Volk aufgewiegelt hätten — nicht nur gegen das Dominion, sondern auch gegen Senat und Präsidentenamt.«

»Und es gibt andere, die wegen nichts unter Hausarrest stehen«, sagte Julian.

»Lassen Sie mich offen sein, Sir. Ich weiß, dass Ihre Mutter in die Sache verwickelt wurde …«

»Ja, und ich musste die Republikanische Garde schicken, um meine Mutter aus Ihrer Gewalt zu befreien, nur damit wir an Weihnachten zusammen sein konnten.«

»Und dafür bitte ich um Nachsicht. Umso mehr freut es mich, Ihnen mitteilen zu können, dass die Verfügung gegen Ihre Mutter aufgehoben wurde. Sie kann sich völlig frei bewegen.«

Das nahm Julian etwas Wind aus den Segeln, obwohl er wachsam blieb. »Ich denke, ich behalte sie vorerst hier, Diakon Hollingshead. Ich bin mir nicht sicher, ob sie woanders wirklich in Sicherheit ist.«

»Das steht Ihnen natürlich frei.«

»Und ich bedanke mich für die Rücknahme der Verfügung. Aber zusammen mit meiner Mutter stand noch jemand anders unter Hausarrest.«

»Ah — nun, das wirft eine ganz andere und viel unangenehmere Frage auf. Ihre liebenswerte Frau Mutter hätte wohl kaum Teil irgendeiner Verschwörung sein können, habe ich Recht? Weder einer ekklesiastischen noch einer politischen. Das versteht sich von selbst. Jeder andere muss hingegen das übliche Verfahren über sich ergehen lassen, um seine Unschuld zu beweisen.«

»Ich rede von einer Frau, die momentan mein Gast ist.«

Jetzt sah mich Diakon Hollingshead direkt an — das letzte Mal heute. Ich erwartete, in seinem Gesicht offenen Hass oder verhohlene Scham zu sehen, doch seine Züge waren völlig entspannt und unbeteiligt. Es war der Blick, mit dem ein satter Alligator das Kaninchen bedenkt, das von seinem Tümpel trinkt.

Er wandte sich wieder Julian zu, runzelte die Stirn. »Mr. President, damit wir uns nicht missverstehen«, sagte er. »Fehler passieren. Ich weiß das — ich gebe es offen zu. Im Falle Ihrer Mutter begingen wir einen Fehler, und wir haben ihn berichtigt, sobald wir darauf aufmerksam wurden. Aber das Dominion ist wie ein Fels in der Brandung, wenn es um das Prinzip geht.«

»Ich glaube, wir beide wissen es besser, Diakon Hollingshead.«

»Entschuldigen Sie, nein. Wenn Sie und ich einfache Menschen mit einer weltlichen Meinungsverschiedenheit wären, ließe sich bestimmt ein Kompromiss finden. Aber das hier ist vor allem eine ekklesiastische Angelegenheit. Die Bedrohung durch die sogenannten freien Kirchen ist weder trivial noch eine Randerscheinung. Wir nehmen sie sehr ernst, und ich spreche hier für den ganzen Dominion-Rat.«

»Mit anderen Worten, Sie finden zwar eine Möglichkeit, einen angesehenen Eupatriden zu entlasten, nicht aber einen einfachen Menschen.«

Hollingshead schwieg.

»Ich hoffe, Sie bezweifeln nicht meine Loyalität«, sagte er schließlich mit flacher, ausdrucksloser Stimme. »Meine Loyalität zur Nation wird lediglich durch meinen Glauben beschränkt. Zu guter Letzt wird die ganze Erde unter der Regierung des Dominion of Jesus Christ geeint sein, und nach tausend Jahren christlicher Regierung wird der Erlöser selbst zurückkehren, um Sein Reich auf Erden zu errichten.[94] An diese Offenbarung glaube ich so rückhaltlos, wie ein Mensch an seine eigene Existenz glaubt. Ich hoffe, Sie teilen diesen Glauben, Mr. President. Ich weiß, dass Sie in der Vergangenheit Kommentare von sich gegeben haben, die man als skeptisch, ja, sogar als blasphemisch interpretieren könnte …«

»Ich bezweifle, dass Sie Derartiges wissen«, sagte Julian.

»Nun, Sir, ich habe eidliche Erklärungen eines Dominion-Offiziers, eines Major Lampret, der während des Saguenay-Feldzugs Ihrer Einheit zugeteilt war, und er bezeugt dieses Vergehen.«

»Ein Vergehen, ja? Sie sollten Major Lampret wirklich nicht so ernst nehmen. Er war, gelinde gesagt, kein gutes Beispiel für die Männer.«

»Das mag sein; oder er wurde von eifersüchtigen Offizieren diffamiert. Fest steht, Sir, dass Ihr christlicher Leumund in gewissen Kreisen nicht der beste ist, und es wäre eine gute Idee, wenn Sie sich öffentlich zum Dominion bekennen würden.«

»Und wenn ich es täte, wenn ich der Presse ein entsprechendes Statement zukommen ließe, würde das die ekklesiastische Verfügung gegen Mrs. Calyxa Hazzard aus der Welt schaffen?«

»Das bliebe abzuwarten. Ich bin optimistisch.«

»Aber die Verfügung bleibt bestehen, solange ich diese Geste nicht gemacht habe?«

Diakon Hollingshead war klug genug, keine Drohung auszusprechen. »Von uns aus kann Mrs. Hazzard auf dem Palastgelände bleiben, bis sie ihr Kind zur Welt gebracht hat und das Verfahren eröffnet werden kann.«

»Sie bestehen auf einem Prozess!«

»Die Beweise gegen Mrs. Hazzard sind erdrückend — die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf.«

»Ein Prozess, und dann? Haben Sie wirklich vor, sie ins Gefängnis zu bringen?«

»Nach Aktenlage«, sagte Hollingshead, »wäre das nicht der erste Gefängnisaufenthalt dieser Frau.«


Die restliche Unterredung bekam ich nicht mehr mit — ich konnte nur noch an Calyxa denken, und es bedurfte einer gewaltigen Anstrengung, mich davon abzuhalten, dem Diakon an den Hals zu springen. Hollingshead war von kräftiger Statur, und ich hätte es vielleicht nicht geschafft, ihn zu erwürgen; aber allein der Versuch wäre ungemein befriedigend gewesen …

Julian kürzte die Unterredung ab und bat einen Gardisten, Diakon Hollingshead samt Sekretär und ekklesiastischer Polizei vom Palastgelände zu bringen. Dann riet er mir, tief Luft zu holen, da mir sonst das krasse Gegenteil passiere wie dem Kipper, der zu tief getaucht war.

»Er will Calyxa ins Gefängnis bringen!«, sagte ich.

»So sieht es aus. Aber vorerst ist sie in Sicherheit, Adam, und wir haben Zeit genug, um uns eine Strategie zu überlegen.«

»Strategie — das ist mir zu wenig! Es sieht so aus, als würde er sie als Geisel halten.«

»Genau das tut er. Selbst wenn ich kapituliere, wird er sie nicht freigeben — um mich auf die Probe zu stellen.«

»Wozu dann eine Strategie?«

»Nun«, sagte Julian und rupfte an seinem blonden Bart, dass die Narbe nur so tanzte, »die Strategie ist, dass wir auch eine Geisel nehmen.«

Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte, und erklären wollte er es nicht. Er bat mich, die Einzelheiten der Unterredung für mich zu behalten (und vor allem Calyxa nichts zu erzählen), bis er die einzelnen Schritte ausgearbeitet habe. Er sei fest entschlossen, die Verfügung auszuhebeln, und versprach mir, dass Calyxa kein Haar gekrümmt würde.

Ich gab mir alle Mühe, ihm zu glauben.


Am 1. Januar 2175 umzingelte ein Sonderkommando der Republikanischen Garde das antike Gebäude in der Fifth Avenue, das dem Dominion als Archiv für verbotene säkulare Bücher und Dokumente diente. Die Gardisten vertrieben den Kurator und seine Mitarbeiter und besetzten das Gebäude. In einem amtlichen Erlass, der am selben Tag im Spark und anderen New Yorker Tageszeitungen veröffentlicht wurde, verkündete Julian, dass »Sicherheitsbelange« es erforderlich machten, das Dominion-Archiv zu »föderalisieren«. Die Anstrengungen des Dominions, die Öffentlichkeit vor den Fehlern und Irrtümern der Säkularen Alten zu bewahren, indem es die Tore dieser großen Bibliothek verriegelt, ist zwar löblich, inzwischen aber nicht mehr zu verantworten, denn in der heutigen Zeit ist Wissen eine Kriegswaffe, schrieb er. Um Erfolg und Wohlstand der Vereinigten Staaten zu mehren, habe ich die Armee angewiesen, diese Institution sicherzustellen und sie schrittweise für militärische und zivile Forschungen zu öffnen.

Damit hatten wir unsere Geisel genommen! Nur dass es ein Gebäude war und keine Person.

Hollingshead ließ Julian einen feurigen Protest mit dem Briefkopf des Dominions überbringen. Julian las ihn lächelnd, zerknüllte ihn und warf ihn über die Schulter.

3

Die Monate zwischen Weihnachten und Ostern, die ich zum größten Teil auf dem Gelände des Regierungspalasts und unter zermürbenden Umständen verbrachte, waren trotzdem in vielerlei Hinsicht eine glückliche Zeit.

Vor allem natürlich, weil ich mit Calyxa zusammen war. Sie stand nach wie vor unter ekklesiastischem Hausarrest und durfte das wehrhaft umfriedete Palastgelände nicht verlassen (wobei ihr Aktionsradius, wie man sich denken kann, ohnehin eingeschränkt war); immerhin hatten wir Julians Zusicherung, sie vor den Häschern des Diakons zu schützen und ihr die beste medizinische Versorgung zukommen zu lassen, die eupatridische Ärzte zu bieten hatten.

Ich schrieb unterdessen an dem Roman, den ich Mr. John Hungerford, dem Verleger des Spark, versprochen hatte. Ich schwankte zwischen den Titeln A Western Boy at Sea oder Lost and Found in the Pacific. Bis zu einem gewissen Grad befolgte ich den Rat, den mir Theodore Dornwood nach der Schlacht von Mascouche gegeben hatte: Schreibe, was du weißt. Der Held war ein junger Mann wie ich, wenn auch ein bisschen einfältiger und vertrauensseliger. Eine große Rolle spielten die pazifischen Inseln und Piraten und Seeabenteuer im Allgemeinen. Diese Passagen lebten von meinen Erfahrungen an Bord der Basilisk und ein paar freimütigen Anleihen bei Charles Curtis Easton, aus dessen Geschichten ich all mein Wissen über asiatische Piraterie schöpfte.

Dieses Buch zu schreiben machte mir einfach Spaß, und ich fand es originell und gut zugleich, obwohl das, was originell war, nicht immer gut war, und umgekehrt. Mr. Hungerford gefielen die Kapitel, die ich ihm zeigte, und er meinte, das fertige Produkt würde sich angesichts des Zeitgeschmacks wahrscheinlich wie geschnitten Brot verkaufen.

An den meisten Tagen schrieb ich bis mittags und aß dann mit Calyxa eine warme Mahlzeit. Am Nachmittag ging ich zur Ertüchtigung spazieren, manchmal in den Straßen von Manhattan und immer öfter, als das Wetter besser wurde, im Palastgelände. Der »Park«, wie einige Platzwarte das Gelände immer noch nannten, war voller Seltsamkeiten, die jeden streunenden Müßiggänger in ihren Bann zogen. Hier gab es zum Beispiel eine ältere männliche Giraffe — letzter Spross einer Familie dieser unwahrscheinlichen Geschöpfe, die Schenkung eines afrikanischen Premierministers aus den Zeiten der Pius-Präsidenten —, die frei herumlaufen durfte und Blätter von den Bäumen fraß oder Heu aus den Dachluken der Pferdeställe. Man tat gut daran, auf Abstand zu bleiben, denn sie war ziemlich launig und jagte jeden in die Flucht, über den sie sich ärgerte. Doch sie war wunderschön, solange man sie aus sicherer Entfernung betrachtete, wo ihr schäbiger Charakter nicht zur Geltung kam. Sie hielt sich gerne auf der Statuary Lawn auf, und es war faszinierend zuzusehen, wie die Giraffe den Schatten von Cleopatra’s Needle aufsuchte oder an der kupfernen Fackel des Colossus of Liberty stand, als erwarte sie jeden Moment, dass daraus grüne und essbare Triebe sprossen, was natürlich nie geschah.

An regnerischen Tagen suchte sie Schutz im Götterbaumhain in der Nähe des Weihers. Es gab eigens Zäune, um sie vom Jagdrevier fernzuhalten, damit sie nicht versehentlich getroffen wurde. Sie heiße Otis, verrieten mir die Platzwarte. Dieser Otis war ein nobler Junggeselle, und er hatte meine Bewunderung.


Es gab Tage in diesem Winter, da Julian, müde vom Gezerre des Präsidentenamtes, bei uns hereinschaute und fragte, ob ich nicht Lust hätte, mit ihm durchs Revier zu laufen. Wir streiften mehrere sonnig kalte Nachmittage durch den Wildpark, ließen aber die Gewehre geschultert und durchlebten noch einmal die einfachen Freuden, die wir in Williams Ford geteilt hatten. Julian redete über Philosophie und das Schicksal des Universums und dergleichen — Interessen, die neue Nahrung bekamen durch seine Streifzüge im Dominion-Archiv und vertieft waren durch seine Kriegserlebnisse. Er klang melancholisch, fast elegisch, was ich von ihm nicht kannte und auf den Goose-Bay-Feldzug zurückführte, der ihm so hart zugesetzt hatte wie nichts zuvor.

Er besuchte oft das inzwischen zugängliche Archiv. An einem Samstag im März lud er mich zu einem Besuch des umstrittenen Gebäudes ein. Die Marmorfassade war eines der ältesten aufrechten Bauwerke der Stadt und wurde nach wie vor von bewaffneten Gardisten umringt, um jeden Versuch einer Wiederbesetzung durch die ekklesiastische Polizei im Keim zu ersticken. Die Republikanische Garde eskortierte uns den ganzen Weg vom Palast bis zur Tür, doch einmal drinnen konnten wir ohne Begleitung durch die, wie Julian sie nannte, »Regalflure« wandern — Raum um Raum mit engen, parallelen Fluren zwischen langen Standregalen, die dicht bepackt waren mit Büchern der Säkularen Alten.

»Ein Glück, dass die Alten so viel Lesestoff produziert haben«, meinte Julian, wobei seine Stimme zwischen den staubigen Fluren hallte. »Beim Niedergang der Städte dienten Bücher nicht selten als Brennstoff. Millionen Exemplare müssen so verlorengegangen sein — und weitere Millionen durch Vernachlässigung, Schimmel, Überschwemmungen und so weiter. Aber, wie du siehst, wurden sie in so hohen Auflagen gedruckt, dass viele überdauert haben. Das Dominion hat uns einen unschätzbaren Dienst erwiesen, indem es sie aufbewahrt hat — und ein abscheuliches Verbrechen begangen, sie den Menschen vorzuenthalten.«

Die Archivare des Dominions hatten die Bücher verwahrlosen lassen, die Titel gehorchten keiner erkennbaren Ordnung; immerhin wurden sie jetzt dank Julian einzeln erfasst und katalogisiert. »Hier«, sagte Julian und lenkte meine Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Regal, das seine Truppe von Gelehrten und Assistenten zu ordnen begonnen hatte; es war mit SCIENTIFIC SUBJECTS beschriftet. Da standen gleich drei Exemplare von History of Mankind in Space, alle gut erhalten, Einband und Bindung intakt.

Er nahm eines heraus und gab es mir. »Behalte es, Adam — dein altes muss inzwischen auseinanderfallen, und hier stehen immer noch welche. Keiner wird es vermissen.«

Dieses Exemplar besaß, anders als das von der Halde in Williams Ford, einen bunten Schutzumschlag mit einem Bild, das die »Marsebenen« zeigte, wie ich aufgrund der Lektüre erkannte — staubig unter einem rosaroten Himmel. Das gedruckte Bild war so scharf und klar, dass ich fröstelte, als ob mir daraus der ätherische Wind dieses fernen Planeten entgegenbliese. »Aber das muss sehr wertvoll sein«, sagte ich.

»In diesem Gebäude gibt es Dinge, die viel, viel wertvoller sind. Autoren und Texte aus der Blütezeit des Öls und älter. Denk nur an die vom Dominion gebilligte Literatur, mit der wir groß wurden, Adam, die ganze Frömmelei des 19. Jahrhunderts, die der Klerus so bewundert — Susan Warner und Mrs. Eckerson und Elijah Kellog und wie sie alle heißen —, aber die Lesehefte des Dominions kennen keinen Hawthorne aus dieser Epoche oder einen Melville oder Southworth, nur um ein paar zu nennen. Und was das 20. Jahrhundert angeht, da gibt es eine ganze Welt, die man uns verwehrt hat — wissenschaftliche und technische Dokumente, die Arbeiten unvoreingenommener Historiker, Romane, in denen die Menschen in Flugzeugen fliegen und wie Seeleute fluchen … Weißt du, was wir im Keller gefunden haben, Adam?«

»Nein, keine Ahnung.«

»Filme!« Er grinste. »Mindestens ein Dutzend — Filme auf Zelluloid in Blechdosen, aus der Zeit der Säkularen Alten!«

»Ich dachte, kein einziger hätte überdauert.«

»Dachte ich auch, bis wir die Dosen aufgemacht haben.«

»Hast du schon einen laufen lassen?«

»Noch nicht. Sie sind brüchig, und sie laufen nicht auf den einfachen Projektoren, die wir heute benutzen. Aber ich habe eine Gruppe von Technikern darauf angesetzt, sie für die Nachwelt zu kopieren oder sie wenigstens in eine Form zu bringen, dass man sie leichter abspielen kann.«

Alles hier war herrlich und einschüchternd. Ich nahm Bücher aus den Regalen und drehte und wendete und öffnete sie ehrfürchtig, wobei ich mir völlig im Klaren war, dass sie mit Wohlwollen, wenn überhaupt, dann zuletzt vor dem Niedergang der Städte betrachtet worden waren … Später sollte Julian mir noch ein anderes Buch überlassen, das er mir aus den Dubletten des Archivs herausgesucht hatte, und zwar den Kurzroman The Time Machine von Mr. H. G. Wells über ein fantastisches, aber offensichtlich unmögliches Gefährt, das einen Menschen in die Zukunft tragen kann — und das faszinierte mich —, dabei war das Archiv selbst eine Zeitmaschine, in jeder Hinsicht, nur nicht dem Namen nach. Hier lagen Stimmen wie gepresste Blumen zwischen verfärbtem Papier konserviert und flüsterten einem neuen Jahrhundert lauter Ketzereien ins Ohr.

Es war dunkel, als wir das Archiv verließen, und ich war benommen von dem, was ich gesehen hatte. Wir schwiegen eine Zeit lang, während uns die Kutsche und ihre bewaffnete Eskorte über den Broadway zurück aufs Palastgelände brachte. Ich hatte darüber nachgedacht, was Julian über die Filme gesagt hatte, und mir fiel wieder das Projekt ein, von dem er mit so viel Leidenschaft reden konnte: The Life and Adventures of the Great Naturalist Charles Darwin. »Wie sieht es mit deinem Film aus, Julian?«, fragte ich. »Hast du ein bisschen Boden gewonnen?« Er hatte viel um die Ohren als Präsident, doch in seiner Freizeit, hatte er mir gestanden, denke er viel über sein Projekt nach, das nun, da ihm alle Türen offen stünden, in greifbare Nähe gerückt sei. Er habe angefangen, das Drehbuch zu schreiben.

Doch diesmal machte er Ausflüchte. »Bestimmte Dinge sind sperrig und lassen sich nicht so leicht ausarbeiten. Details der Handlung und dergleichen. Das Drehbuch ist wie ein Pferd mit einem Nagel im Huf — es ist nicht tot, aber es kommt nicht vom Fleck.«

»Was genau sind deine Probleme?«

»Ich mache Darwin zur Hauptperson, und wir erleben, wie er als Kind von Käfern fasziniert ist, und wie er davon redet, dass alles, was lebt, miteinander verwandt ist, und dann besteigt er ein Schiff und fährt los, um sich Finken anzusehen …«

»Finken?«

»Wie die Schnäbel geformt sind und solche Sachen, was ihn zu gewissen Erkenntnissen über Vererbung und Umgebung kommen lässt. Das ist alles wichtig und richtig, aber es fehlt …«

»Das Dramatische«, schlug ich vor.

»Das Dramatische, gut möglich.«

»Das Schiff ist schon mal gut. Ein Schiff ist immer gut.«

»Ich kann das Herz nicht finden, die pochende Mitte. Was ich zu Papier bringe, lebt nicht.«

»Vielleicht kann ich dir ja helfen.«

»Danke, Adam, nein. Wenn es irgend geht, möchte ich das alleine durchziehen.«


Wenn es auch dem cineastischen Projekt des Präsidenten an Dramatik mangelte, sein Alltag litt nicht unter dieser Mangelerscheinung — Julians Beziehungen zum Dominion im Allgemeinen und zu Diakon Hollingshead im Besonderen wurden von Tag zu Tag feindseliger.

Sam meinte, Julian breche einen Krieg vom Zaun, den er so nicht gewinnen könne. Das Dominion habe eine undurchsichtige Vergangenheit und eine dicke Brieftasche, und Julian sei gut beraten, sich beim Senat einzuschmeicheln und sich der gesamten Armee zu versichern, bevor er mit Colorado Springs in den Ring steige.

Das waren langfristige Sorgen; was uns mehr auf den Nägeln brannte, war die bedrohliche Lage von Calyxa. Die Beschlagnahmung des Dominion-Archivs hatte nicht dazu geführt, dass Calyxas Hausarrest aufgehoben wurde, und auch Julian schien nicht mehr gewillt, sein Pfand aus der Hand zu geben, nicht einmal, wenn ein solcher Handel spruchreif gewesen wäre. Doch er wurde nicht müde zu versichern, dass Calyxa in Sicherheit sei; und etwas anderes konnte ich mir auch nicht vorstellen, denn es hätte einer Volkserhebung bedurft, bevor das Dominion auf das Gelände des Regierungspalasts eindringen konnte, um Calyxa in Gewahrsam zu nehmen. Aller Wahrscheinlichkeit nach, meinte Julian, würde Diakon Hollingshead nicht einmal eine gerichtliche Vorladung erwirken; und wenn doch, wollte Julian das Verfahren niederschlagen lassen.

Julian zeigte mit einem Mal größeres Interesse an den Vorkommnissen, die zur Verhängung der ekklesiastischen Quarantäne geführt hatten. »Die Kirche, in der du aufgegriffen wurdest«, fragte er Calyxa, »ist sie noch geöffnet, oder hat Hollingshead sie geschlossen?«

Die hiesigen Parmentieristen, mit denen Calyxa sich angefreundet hatte, hielten sie nach wie vor auf dem Laufenden. Sie saß auf dem Sofa im Gästehaus (das war an einem stürmischen Abend, spät im März), das Umstandskleid, das Mrs. Comstock ihr besorgt hatte, spannte sich über dem vorgewölbten Bauch. Ich fand, sie sah glückselig aus mit ihrem Heiligenschein aus lauter Löckchen; immer wenn ich sie so ansah, musste ich still lächeln.[95]

»Die Liegenschaft wurde beschlagnahmt und zur Versteigerung angeboten«, sagte sie. »Aber Pastor Stepney konnte sich seiner Verhaftung entziehen. Die Church of the Apostles etc. versammelt sich jetzt an anderer Stelle … es sind andere Mitglieder, da die erste Gemeinschaft noch hinter Gittern ist.«

»Diese Kirche macht mich neugierig. Vielleicht wäre es ratsam, sich näher damit zu befassen, weil das ein Licht darauf werfen könnte, was Hollingshead noch vorhat.«

»Stepney scheint ein guter Mensch zu sein«, bemerkte Mrs. Comstock, »obwohl ich ihn nur aus der Entfernung gesehen habe. Ich war beeindruckt von ihm, trotz seiner radikalen Ideen.«

(Sie sagte das, obwohl sie wusste, dass ihre Worte jemand anderen, der auch bei uns zu Besuch war, verletzen mussten. Sie musterte Sam ein paarmal von der Seite, um seine Reaktion zu prüfen. Ich glaube, sie fand es amüsant.)

»Ich könnte euch hinbringen«, sagte Calyxa, »wenn ich mich frei in der Stadt bewegen könnte.«

Sie stand viel zu kurz vor der Entbindung, als dass so etwas noch infrage gekommen wäre, und Julian lehnte rasch ab. Dann sagte Mrs. Comstock: »Nun, ich zum Beispiel würde mich freuen, diesen Pastor näher kennenzulernen. Vielleicht kann ich mitkommen, Julian, wenn Calyxa so nett ist und uns die Adresse gibt.«

»Das fehlt uns noch«, knurrte Sam, »dass sie dich zum zweiten Mal aufgreifen. Meinen Segen hast du nicht.«

»Ich habe dich nicht um deinen Segen gebeten«, sagte Mrs. Comstock steif.

Julian winkte ab. »Ich bin der Neugierige«, sagte er. »Und ich bin der Letzte, den Diakon Hollingshead verhaften würde. Vielleicht können Adam und ich die Kirche aufsuchen — mit so viel Gardisten, dass wir rechtzeitig gewarnt werden, falls das Dominion irgendwelche Tricks versucht.«

»Das ist trotzdem riskant«, sagte Sam.

»Hast du Angst vor Hollingshead, Sam, oder vor dem charismatischen Mr. Stepney?«

Sam reagierte nicht auf Julians Unverschämtheit, er verfiel in brütendes Schweigen.

»Der Ausflug könnte spannend sein«, meinte Julian. »Kommst du mit, Adam? Sagen wir, morgen?«

Ich war einverstanden. Im Grunde interessierte mich Pastor Stepneys Freikirche nicht besonders. Aber mich interessierte, warum Julian sich dafür interessierte.


»Stepney ist genau der Typ, der Julian neugierig macht«, sagte Calyxa, als ich zu ihr ins Bett kletterte. Märzböen rüttelten an den großen Schlafzimmerfenstern, und es tat gut, sich unters dicke Federbett zu kuscheln, den Arm um Calyxa gelegt. »Bestimmt genauso ein Betrüger wie die meisten von diesen selbst ernannten Pastoren, und seine Ideen interessieren mich nicht. Aber er war großzügig zu den Parmentieristen, die sich in seiner Kirche trafen, und er textete sie zu, was immer ich zufällig mitbekam. Nicht der übliche kleinkarierte Fanatismus. Viel über Zeit und Evolution und solche Sachen, von denen auch Julian so gerne faselt — der Mann ist so eloquent wie ein Aristokrat.«

»Für Julian ist das eher Philosophie als Gefasel«, sagte ich.

»Mag sein. Egal, es ist dünne Schleimsuppe für eine Frau, die schuften muss, oder einen Mechaniker, der einen Missstand zu beseitigen hat. Komm, nimm mich in die Arme, Adam — mir ist kalt.«

Ich tat, worum sie mich bat, und wir wärmten einander. Nachdem seine Kirche im Einwandererviertel beschlagnahmt und verkauft worden war, hatte Pastor Stepney sein Unternehmen ins Dachgeschoss eines heruntergekommenen Lagerhauses an einem Kanal von Süd-Manhattan verlegt. Als gewöhnliche Arbeiter verkleidet, stiegen Julian und ich allein die Holztreppe zum Dachboden hinauf, während sich draußen Gardisten in Zivil aufhielten, die uns warnen würden, sobald ein Dominionverdächtiger auftauchte.

Die Tür trug ein Schild, darauf stand in Zierschrift:

CHURCH OF THE APOSTLES ETC.

God is Conscience — Have No Other — Love Your Neighbor as Your Brother[96]

»Noble Gesinnung«, sagte ich.

»Will ich meinen. Aber berühmt durch Missachtung. Wir werden sehen.« Julian klopfte an die Tür.

Eine Frau im engen roten Kostüm mit schwerem Schultertuch öffnete. In ihrer äußeren Erscheinung ähnelte sie den weniger tugendhaften Frauen, die man in dieser Gegend sehen konnte, vielleicht schon ein paar Jahre über den Zenit ihrer Begehrtheit hinaus; aber ich will ihr kein Unrecht tun, ich will nur eine Beschreibung anbieten. »Ja?«, sagte sie.

»Wir möchten gerne Pastor Stepney sprechen«, sagte Julian.

»Momentan wird kein Dienst angeboten.«

»Das macht nichts. Wir brauchen keinen.«

»Nun, dann treten Sie ein.« Die Frau führte uns in ein kleines, dürftig möbliertes Zimmer. »Ich werde ihm sagen, dass Sie hier sind. Wer sind Sie, bitte?«

»Pilger auf der Suche nach Erleuchtung«, sagte Julian lächelnd.

»Wir haben davon fünf oder sechs pro Tag«, sagte die Frau. »Hier gibt es mehr Pilger als Flöhe. Nehmen Sie Platz. Ich werde sehen, ob er Zeit für Sie hat.«

Sie verschwand hinter einer Tür. Wir setzten uns auf eine kleine Bank, eine andere Sitzgelegenheit gab es hier nicht. Vor uns stand ein rauer Kiefernholztisch, auf dem ein paar Druckschriften lagen. The Evolving God hieß die eine. »Er interessiert sich für die Evolution«, sagte ich. »Das hat man selten bei Geistlichen.«

»Ob er überhaupt weiß, wovon er redet? Das wissen die wenigsten Hochstapler.«

»Und wenn er nun aufrichtig ist?«

»Das wär ja noch schlimmer«, sagte Julian.

Dann öffnete sich die benachbarte Tür, und Pastor Stepney trat ins Zimmer.

Der Mann sah gut aus. Da musste ich Mrs. Comstock und Calyxa Recht geben. Stepney war groß, schlank und jung — er sah nicht älter aus als Julian —, dunkle, schimmernde Haut und drahtiges Haar. Doch das Fesselndste an ihm waren die Augen, durchdringend, üppig und erdbraun. Er schenkte uns ein wohlwollendes Lächeln und sagte mit sanfter Stimme: »Was kann ich für euch tun, Jungs? Auf der Suche nach spiritueller Einsicht, ja? Ich bin euch zu Diensten, solange ihr die Spendenbüchse nicht vergesst — sie steht am Ausgang.«

Julian war schon auf den Beinen. Er war wie ausgewechselt. Seine Augen wurden größer und größer. »Mein Gott!«, rief er aus. »Bei allen Stepneys in New York City — bist du es, Magnus?«

»Magnus Stepney, ja.« Der Pastor wich argwöhnisch zurück.

»Erkennst du mich nicht, Magnus? Auch wenn wir inzwischen um Jahre älter sind?«

Der junge Pastor runzelte die Stirn; dann weiteten sich seine Augen. »Julian!«, schrie er, und ein Grinsen eroberte sein Gesicht. »Julian Comstock, von Gottes Gnaden! Bist du jetzt nicht Präsident?«


Es brauchte seine Zeit, bis ich mich auf das gänzlich Unerwartete eingestellt hatte, aber ich will den Leser nicht nötigen, meine Verwirrtheit zu teilen. Es lag auf der Hand, dass Julian und Stepney alte Bekannte waren, und in ihrer Unterhaltung gab es ein paar — wie sagt man gleich? — Knackpunkte, die ich mir gemerkt habe.

Stepney lud uns in sein »Gotteshaus« ein, das den größten Teil des Dachbodens einnahm, ausgestattet mit Bänken und einem provisorischen Altar — hier ließ es sich ungleich bequemer reden. Ich hielt mich allerdings zurück, so dass die Unterhaltung eigentlich nur zwischen Julian und dem Pastor stattfand. Die beiden hatten sich bereits auf eine Reihe von Anekdoten eingelassen, als Julian einfiel, mich mit Stepney bekanntzumachen.

»Das ist Magnus Stepney, ein alter Bekannter«, sagte er. »Magnus, das ist Adam Hazzard, auch ein Freund von mir.«

Pastor Stepney schüttelte mir die Hand, er packte kräftig und herzlich zu. »Freut mich, Sie kennenzulernen. Sind Sie auch ein hoher Funktionär im Tarnanzug?«

»Nein, bloß Schriftsteller«, sagte ich.

Julian erklärte, er sei mit Magnus zur Schule gegangen, bevor man ihn, Julian, nach Williams Ford gebracht habe, um ihn vor Deklan Comstock zu schützen. Die Schule, die sie besucht hatten, war ein eupatridisches Institut, in dem aufgeweckte Aristokratenkinder im Rahmen des Schicklichen in Arithmetik und Literatur unterrichtet wurden. Ich hörte heraus, dass die beiden unzertrennliche Freunde gewesen waren und ein Schrecken ohne Ende für das Aufsichtspersonal. Beide waren ihrem Alter an Intelligenz voraus und gegenüber Autoritäten unverschämt gewesen. Sie waren vorzeitig getrennt worden durch Julians vorsorgliche Verbannung nach Athabaska und hatten sich völlig aus den Augen verloren. »Wie um alles in der Welt bist du auf die Idee gekommen, Pastor einer illegalen Kirche zu werden?«, wollte Julian wissen.

»Es ging um ein Grundstück am Hafen«, sagte Stepney. »Mein Vater wollte keinen Kniefall vor dem Senat machen und hatte das Nachsehen. Er sah sich gezwungen, ins mediterrane Frankreich zu fliehen. Meine Mutter und ich wollten später nachkommen, aber sein Schiff blieb auf See. Ich hatte nur noch meine Mutter, und sie wurde’72 ein Opfer der Pocken. Ich musste jede Arbeit annehmen oder selbst etwas auf die Beine stellen.«

»Und das ist das Resultat?«, fragte Julian. »Die Church of the Apostles etc.

»Nach vielen Irrungen und Wirrungen, ja«, sagte Stepney.

Er gab Julian einen knappen Abriss dieser schwierigen Jahre, während ich nur mit halbem Ohr zuhörte. Für mich war Pastor Stepney nach alledem ein Schwindler und seine Kirche nichts anderes als ein Magnet, um leichtgläubigen Schäfchen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Aber Stepney redete ganz vernünftig und freimütig über seine religiösen Überzeugungen und wie sie ihn motiviert hätten, diese unabhängige Religionsgemeinschaft zu gründen, der er jetzt vorstand.

Daran entzündete sich nun eine lebhafte Diskussion über Theologie, die Existenz Gottes, die Evolution durch natürliche Auslese und lauter solche Sachen, über die sie sich wohl schon als Kinder die Köpfe heißgeredet hatten. Ich blieb zwangsläufig außen vor bei solchen Themen und verbrachte die Zeit damit, in den primitiven Drucksachen zu blättern, die überall herumlagen.

Zwischen Drucksachen und Unterhaltung begann sich mir ein Umriss von Magnus Stepneys ungewöhnlicher Lehre abzuzeichnen. Er war ein überzeugter Apostat, insofern er die Legitimität des Dominion of Jesus Christ als einer weltlichen Macht leugnete und sein Gottesbild von Grund auf unorthodox war. Gott, so behauptete er, wohne in keinem Buch der Welt, sei aber eine Stimme, die jeder Mensch hören könne (und die von den meisten ignoriert werde). Der übliche Name für diese Stimme sei Gewissen. Und das Gewissen habe alle Eigenschaften eines Gottes. Wie anders wolle man eine unsichtbare Entität nennen, die dasselbe zu allen Menschen sage, ohne Rücksicht auf Klasse, Land, Sprache oder Hautfarbe? Weil diese Stimme nicht im Individuum wohne, sondern unentwegt von allen geistig gesunden Menschen erfahren werde, müsse sie mehr als nur menschlich sein, müsse sie Gott selbst sein!

Götter, versicherten die Druckschriften, seien keine übernatürlichen, sondern feinstoffliche Lebewesen, wie ätherische Pflanzen, die sich zusammen mit der menschlichen Rasse entwickelten. Wir seien lediglich ihr Medium — unser Hirn und Fleisch der Boden, in dem sie sprießen und wachsen könnten. Es gebe andere Götter neben dem Gewissen; doch allein das Gewissen sei anbetungswürdig, denn seine Gebote weltweit zu befolgen hieße, das wahre Eden zu schaffen, ein Eden gegenseitigen Vertrauens und allumfassender Nächstenliebe.

(Ich gebe diese Ideen hier nicht zum Besten, weil ich sie billige, sondern um Magnus Stepney und seine Lehre ins richtige Licht zu rücken. Auf den ersten Blick fand ich seine Ideen allerdings exzentrisch und beunruhigend.)

Um nichts anderes drehte sich die Diskussion der beiden, sie tat es nur ausführlicher. Julian hatte offenbar seine helle Freude an den luftigen Abstraktionen und daran, den Pastor mit logischen Einwänden zu bedrängen, die Stepney seinerseits mit der gleichen Freude zu parieren suchte.

»Aber du bist ein Philosoph!«, rief Julian einmal. »Das ist Philosophie, nicht Religion, denn du lehnst übernatürliche Wesen ab — nun tu doch nicht so.«

»Meinetwegen ist es Philosophie, man kann es so oder so sehen«, lenkte Stepney ein. »Aber Philosophie ist eine brotlose Kunst, Julian. Religion ist lukrativer.«

»Ja, bis man dir die Kirche wegnimmt. Weißt du, dass man bei der Razzia meine Mutter und Adams Frau festgenommen hat?«

»Nein! Ihnen ist doch nichts geschehen?«, fragte Stepney — die Besorgnis, mit der er es tat, schien echt zu sein.

»Jedenfalls musste ich sie unter meine Fittiche nehmen.«

»Worauf ist Verlass, wenn nicht auf die Fittiche des Präsidenten!«

»Sie sind nicht so robust, wie man glauben möchte. Hast du gar keine Angst vor dem Dominion, Magnus? Du wärst im Gefängnis, wenn du ihnen nicht entwischt wärst.«

Pastor Stepney zuckte die breiten Schultern. »Ich repräsentiere nicht die einzige freie Kirche in der Stadt. Die Sache wird erst gefährlich, wenn das Dominion in gereizter Stimmung ist — die Diakone rufen nur ein-, zweimal in zehn Jahren zum Kreuzzug auf. Lass ein paar Wochen oder Monate ins Land gehen, dann erklären sie die Stadt für gesäubert, und die freien Kirchen schießen wieder wie Pilze aus dem Boden.«

Der Versammlungsraum der Church of the Apostles etc. besaß ein einziges, hoch gelegenes Rundfenster, das mir verriet, dass der Tag zur Neige ging. Ich zeigte nach draußen und erinnerte Julian, dass ich Calyxa versprochen hatte, bis Einbruch der Dunkelheit wieder bei ihr zu sein (woran ihr in diesen letzten nervösen Wochen der Schwangerschaft gelegen war).

Julian schien nur ungern aufzubrechen — er genoss die Gesellschaft des Pastors und saß so dicht bei ihm, dass sich ihre Knie berührten —, doch er blickte zum Fenster hinauf, nickte und stand auf. Die beiden umarmten sich wie alte Freunde.

»Du solltest mich im Palast besuchen«, sagte Julian. »Meine Mutter würde sich riesig freuen.«

»Hältst du das für klug?«

»Für hinreißend«, sagte Julian. »Ich schicke dir eine Einladung, diskret.«


Pastor Magnus Stepney kam tatsächlich in den Regierungspalast, mehr als einmal in den folgenden Monaten und blieb nicht selten über Nacht. Und Julians erneuerte Bekanntschaft mit seinem alten Freund zeitigte zwei unmittelbare und unvorhergesehene Resultate.

Zum einen hatte Julian plötzlich ein weiteres Motiv, sich in die Beziehungen zwischen Zivilbehörden und Dominion einzumischen. Er ließ Juristen kommen, studierte ekklesiastisches Recht und kam zu bestimmten Schlüssen. Das Dominion habe, so Julian, de facto keine wirkliche Gerichtsbarkeit über die nicht angeschlossenen Kirchen, außer dass es ihnen den Beitritt verweigern könne. Die Macht der Diakone erwachse aus den legalen Konsequenzen dieser Verweigerung. Eine freie Kirche (so wie sie sich selbst nannten) war a priori keine registrierte karitative Einrichtung, und ihre Spendengelder und Besitztümer waren steuerpflichtig. Tatsächlich wurden sie sogar extrem hoch besteuert, wodurch die Gesetzeskonformen in den Bankrott und die anderen in die Illegalität getrieben wurden. Diese Bestimmungen seien von einem willfährigen Senat verabschiedet worden und wurden von Zivilbehörden durchgesetzt, nicht vom Dominion.

Julian erhob Einspruch gegen derartige Bestimmungen, weil sie dem Dominion unangemessen große Befugnisse einräumten. Um diese Ungerechtigkeit zu beseitigen, bereitete er ein Gesetz vor, die Besteuerung dieser Kirchen dem allgemein gültigen Niveau anzupassen und die Beweislast für »Ketzerei« dem beschwerdeführenden Diakon aufzuerlegen. Julian spürte, dass seine Popularität reichte, diese Vorlage durch den Senat zu boxen, selbst gegen den erbitterten Widerstand des Dominions. Immerhin war dieses Gesetz ein Angriff auf das überkommene geistliche Monopol des Dominions. Sam billigte diesen Schachzug nicht — er sei nur angetan, einen neuen Streit vom Zaun zu brechen —, doch Julian stellte sich taub und beauftragte seine Untergebenen, den Entwurf so bald wie möglich vor den Senat zu bringen.

Das zweite sichtbare Resultat der Besuche von Pastor Magnus Stepney war ein Wandel in Sams Beziehung zu Emily Baines Comstock. Mrs. Comstock machte Magnus Stepney ihre Aufwartung, wann immer er zu Besuch war (obwohl er ihr Enkel hätte sein können), machte ihm in Hörweite anderer Komplimente und sagte, sie wundere sich nicht, dass er aus eupatridischem Hause sei, und verstreute lauter solche Schmeicheleien. Dieser Überschwang wirkte auf Sam wie ein Sägeblatt auf ein rohes Stück Holz. Er hatte keine Lust, Mrs. Comstock so offenkundig von einem anderen, jüngeren Mann entzückt zu sehen. Sie sollte eigentlich wissen, wem ihre Gefühle galten. Deshalb nahm er nach reiflicher Überlegung all seinen Mut zusammen, überwand seine Schüchternheit und platzte bei uns herein, als sie mit Calyxa und mir zu Abend aß.

Er stand zitternd und schweißnass da. Mrs. Comstock starrte ihn an, als sei er ein Gespenst, und fragte, was los sei.

»Die Umstände«, begann er und zögerte und schüttelte den Kopf, als sei er über seine Unverfrorenheit entsetzt.

»Umstände?«, half Mrs. Comstock nach. »Welche Umstände, und was ist mit ihnen?«

»Die Umstände haben sich geändert …«

»Etwas genauer, wenn es in deiner Macht steht.«

»Als Julian noch nicht Präsident war, da konnte ich unmöglich … das heißt, es hätte mir nicht angestanden … obwohl ich dich immer verehrt habe, Emily … du weißt, dass ich dich verehrt habe … unser Platz in der Gesellschaft war … aber wem erzähle ich das … ich als Soldat und du hochgeboren … aber bei den jüngsten Veränderungen in unserem Leben … nicht bloß in deinem und meinem … kann ich nur hoffen, dass meine Gefühle erwidert werden … nicht dass ich mir anmaße, für dich zu sprechen, Emily … ich möchte dich … voller Hoffnung … ganz bescheiden …«

»Was möchtest du mich? Nun mach schon, Sam, oder gib es auf. Du redest wirres Zeug, und wir wollten gerade zum Dessert übergehen.«

»Um deine Hand bitten«, sagte er lammfromm und vergaß zu atmen (wie es überhaupt nicht zu Sam passte).

»Meine Hand!«

»Deine Hand, Emily.«

»Guter Gott!«, sagte Mrs. Comstock, wobei sie von ihrem Stuhl aufstand.

»Willst du, Emily?«

»Was für ein unbeholfener Antrag!«

»Bekomme ich deine Hand?«

Sie hielt ihm stirnrunzelnd die Hand hin. »Wie sollte ich Nein sagen, wo dir schon eine abhandengekommen ist.«


Sam und Emily wollten Mitte Mai heiraten. Es sollte eine stille Hochzeit werden, da sie Witwe und er ungewisser Abstammung war (wie man unter Eupatriden sagte). Ich würde diese Feier als das unwiderrufliche Ende der kurzen »goldenen Ära« in der Regierungszeit von Julian dem Eroberer bezeichnen — zuvor allerdings traten noch ein paar (aus meiner Sicht) relevantere Ereignisse ein. Am Dienstag, dem 11. April, zwei Tage nach Ostern, beendete ich A Western Boy at Sea oder Lost and Found in the Pacific. Ich suchte Mr. Hungerford, meinen Verleger, auf und übergab ihm das maschinengeschriebene Manuskript. Er bedankte sich und wollte es möglichst rasch in Druck geben, um den Erfolg von The Adventures of Captain Commongold auszunutzen. Mitte Sommer, meinte er, würde es ausgeliefert.

Noch wichtiger war, dass am Nachmittag des 21. April Calyxas Wehen einsetzten — dieser Freitag war so heiter wie alle Tage dieser Jahreszeit, mit einem hohen blauen Himmel und einer lauwarmen Brise.


Der Arzt, der sich um Calyxa kümmerte, hieß Cassius Polk. Dr. Polk war ein hoch angesehener, schlohweißer, alter Herr, der eine unglaubliche Würde ausstrahlte und weder rauchte noch Alkohol trank. Je näher der Termin rückte, umso mehr Zeit verbrachte er bei uns, gelegentlich blieb er sogar über Nacht. Julian hatte ihn auserkoren, sich ausschließlich um Calyxa zu kümmern, und bezahlte ihn fürstlich für die aufgewendete Zeit.

An jenem Freitagnachmittag saß er mit mir am Küchentisch. Calyxa war nach oben gegangen und hatte sich hingelegt, was sie nachmittags meistens tat. Wir wussten, es war bald so weit. Ihr Bauch war stramm wie eine Trommel, und wenn ich sie nachts im Arm hatte, konnte ich fühlen, wie das Kind sich erstaunlich lebhaft und entschlossen drehte und austrat. Es schien ein klein wenig Verspätung zu haben.

Dr. Polk nippte an dem Glas Wasser, das ich ihm gegeben hatte. Er redete gerne, vor allem über seine Arbeit. Er hatte sich auf Geburtshilfe und weibliche Probleme spezialisiert und praktizierte in einem begehrten Sektor von Manhattan, wenn er nicht gerade bei der Entbindung angesehener Eupatridinnen half. Viele seiner Patientinnen, erzählte er, seien junge, wohlhabende Frauen, »die auf Teufel komm raus diese Impfläden frequentieren. Ich kläre sie gründlich auf, aber sie hören natürlich nicht.«

Ich sagte ihm, ich verstünde zu wenig davon.

»Oh, Impfen ist prinzipiell eine gute Sache. Geimpft wurde schon vor der Blütezeit des Öls, eine vorbeugende Maßnahme gegen bestimmte Krankheiten. Aber es muss medizinisch einwandfrei durchgeführt werden. Sich impfen zu lassen ist inzwischen Mode, und da liegt das Problem. Eine Narbe auf dem Oberarm macht eine Frau angeblich attraktiver für ihre Verehrer und signalisiert obendrein Reichtum, denn die Läden verlangen absurde Summen für ihre Dienste.«

»Trotzdem, wenn es doch vor Krankheiten schützt …«

»Manchmal schützt es — viel öfter ist Betrug im Spiel. Eine Spritze voll Süßwasser und eine angespitzte Stricknadel. Profitabler Betrug an jeder Ecke, der eher krank macht, als vor Krankheiten schützt. Erst diesen Monat sind wieder Pocken ausgebrochen, ein neuer Stamm, besonders virulent unter den Hochgeborenen, wahrscheinlich ein Resultat dieser unhygienischen Praktiken.«

»Kann der Senat kein Gesetz erlassen?«

»Gegen die Impfläden? Könnte er schon; aber die Senatoren sind mit der Idee des Freien Handels verheiratet und mit der ›unsichtbaren Hand‹ des Marktes und lauter solchen Chimären. Natürlich bekommen auch sie die Folgen zu spüren — spätestens wenn ihre Töchter erkranken. Fünfzehn Fälle allein in dieser Woche. Letzte Woche zehn. Kein Pockenstamm, den wir kennen. Nach Aussehen und Symptomen zwischen Hundepocken und Denver Pocken.«

»Und der Verlauf?«

»Weniger als die Hälfte meiner Patientinnen haben überlebt.«

Das war alarmierend. »Rechnen Sie denn mit einer Epidemie?«

»Im Laufe meines Berufslebens ist diese Stadt mindestens sechsmal heimgesucht worden. Und es ist kein Tag vergangen, an dem ich keine Angst vor einem neuen Ausbruch hatte, Mr. Hazzard. Wir wissen nicht, wie es zu einer Epidemie kommt, und wir wissen nicht, wie man sie aufhalten kann. Wenn es nach mir ginge …«

Ich sollte nie erfahren, was hätte getan werden müssen, wenn es nach ihm ginge, denn Calyxa rief plötzlich um Hilfe. Ihre Presswehen hatten eingesetzt, und Polk stürzte zur Treppe, um ihr beizustehen.

Ich blieb unten. Er hatte mir geraten, mich fernzuhalten, und ich hatte ihm nicht widersprochen. Alles, was ich über den Vorgang der Geburt wusste, war das, was ich als Stalljunge in Williams Ford gelernt hatte. Theoretisch verstand ich, dass Calyxa nun dieselben Strapazen durchmachen würde wie die fohlenden Zuchtstuten der Duncans und Crowleys, aber meine Erinnerungen wollten nicht zu meinen intimen Kenntnissen über Calyxa passen — ein Vergleich war nur ekelhaft.

Oben aus dem Schlafzimmer kamen Calyxas Schreie in immer kürzeren Abständen. Dr. Polk hatte sofort, als die Wehen einsetzten, nach einer Geburtshelferin geschickt (wie die Eupatriden ihre Hebammen nannten), und als die Frau eintraf und meine hilflose Angst sah, träufelte sie etwas Hanföl und Opium in ein Glas Wasser und verlangte, dass ich die Arznei in einem Zug austrank.

Ich war solche Tinkturen nicht gewöhnt. Die Wirkung trat noch in derselben Stunde ein und war alles andere als beruhigend. Meine Gedanken machten sich selbstständig; nicht lange, und meine ganze Aufmerksamkeit galt den Türen unserer Küchenschränke. Das geölte Eichenholz wurde zu einer Art Kinoleinwand, und die Maserung verwandelte sich in Tiere, Dampfmaschinen, tropische Wälder, Kriegsszenen und allerlei andere Dinge. Diese Eindrücke gingen ineinander über wie das sprudelnde und gurgelnde Wasser eines steinigen Wildbachs. Ich lachte über einige Visionen und prallte vor anderen zurück — ein Beobachter hätte meinen können, ich sei schwachsinnig…

Dr. Polk und die Hebamme geisterten um mich herum, ließen Wasser in Gefäße laufen, wuschen Handtücher aus. Stunden vergingen, die ebenso gut Minuten oder Monate hätten sein können. Erst ein gewaltiger Schrei aus dem Schlafzimmer riss mich vollends aus meinen Tagträumen — ein tiefer Schrei aus einer männlichen Kehle, Dr. Polk.

Ich erhob mich schwankend. Nicht dass ich den Rat des Doktors vergessen hätte, ihm nicht im Weg zu sein. Doch jetzt herrschte eine Art Ausnahmezustand. Hatte Dr. Polk wirklich geschrien, oder hörte ich Gespenster? Ungewissheit verzögerte meine Schritte. Dann tat es noch einen Schrei, er stammte weder von Calyxa noch von Polk — er kam aus einer weiblichen Kehle, die Hebamme! Eine kalte Hand griff mir ans Herz, und ich stürzte die Treppe hinauf.

Lauter grässliche Bilder umschwirrten mich. Monströse Miss- und Fehlgeburten waren an der Tagesordnung gewesen, damals, während der Plage der Kinderlosigkeit, und sie kamen auch heute noch vor, selbst in der zweiten Hälfte des 22. Jahrhunderts. Ich verjagte den Gedanken, Calyxa könne ein Geschöpf zur Welt gebracht haben, das selbst einen abgehärteten Arzt vor Entsetzen aufschreien ließ. Die Treppe war unmöglich steil, und ich rang nach Atem, als ich den Absatz erreichte. Die Schlafzimmertür war angelehnt. Ich tat einen unsicheren Satz …

Die Ursache der Aufregung sprang sofort ins Auge, obwohl ich erst meinen Augen nicht traute.

Dr. Polk und die Schwester standen mit dem Rücken zur Wand, die Gesichter schreckverzerrt. Sie starrten auf das riesige Doppelfenster des Schlafzimmers. Heute Morgen hatte Dr. Polk die Fensterläden aufgestoßen, was er häufig tat, weil er frische Luft für die beste Medizin hielt. Und in ebendiesem Fenster stand ein gigantischer, übelriechender, tierischer Kopf.

Ich war nicht mehr so berauscht, dass ich nicht kapierte, was passiert war. Der Kopf gehörte Otis. Otis, die verwaiste Giraffe, war durch die nicht alltäglichen Geräusche und Gerüche einer Niederkunft angelockt worden. Ans Haus herangewandert, hatte der Junggeselle den Kopf in das offene Fenster gesteckt, eine natürliche und unbefangene Weise, seine Neugier zu befriedigen. Nur dass weder Dr. Polk noch die Hebamme von einer Giraffe wussten, die hier frei herumstreunen durfte.

Calyxa kannte Otis gut genug, um bei seinem Anblick nicht gleich in Panik zu geraten, aber sein Auftritt fiel unglücklicherweise mit den vorletzten Presswehen zusammen. Ihr Gesicht war puterrot und voller Schweißperlen, und sie schrie wild und verzweifelt: »Virez-moi cette girafe d’ici!«

Ich ging respektvoll zum Angriff über und schrie solange »Otis, weg!« und »Otis, geh!« (oder erst den Imperativ und dann den Namen), wobei ich wild mit den Armen fuchtelte, bis es Otis zu bunt wurde und er den Kopf zurückzog. Im Handumdrehen hatte ich die Läden geschlossen und verriegelt. Otis stieß noch ein-, zweimal mit der Nase gegen die Barriere, dann stellte er seine Nachforschungen angewidert ein.

»Nur eine Giraffe«, sagte ich zu Dr. Polk. »Tut mir wirklich leid.« Dabei konnte ich doch nichts dafür.

»Halten Sie die Tiere bitte zurück«, sagte er und straffte sich.

»Es gibt nur die eine hier. Sie heißt Otis, beziehungsweise ›er‹. Er wird Sie nicht mehr belästigen, Dr. Polk. Halten Sie einfach die Läden geschlossen.«

»Man sollte vielleicht ein Schild aufstellen — Vorsicht, Giraffen!«, brummte er. Dann hatte er sich wieder im Griff und erklärte mir, ich sei Vater eines Mädchens geworden.

4

Jene Leser, die auf eine chronologische Darstellung von Julians präsidialer Politik hoffen, mit allen Details und Mosaiksteinchen seiner Gesetzgebung, werden vom Fortgang meiner Erzählung enttäuscht sein.[97] In den Wochen zwischen Ostern und dem Unabhängigkeitstag von 2174 — so wichtig sie für die weitere Entwicklung der Exekutive auch waren — hatte ich als frischgebackener Vater viel um die Ohren und alle Hände voll zu tun.

Autoren, die sich mit Julians Amtszeit auseinandersetzen, schildern ihn meist als arroganten und unversöhnlichen Feind der Religion oder als toleranten und nachsichtigen Freund der Freiheit, je nachdem, welcher Überzeugung sie sind. Vielleicht haben beide Fraktionen bis zu einem gewissen Grade Recht, denn Julian — insbesondere als Präsident der Vereinigten Staaten — war beides.

Es stimmt, dass in seiner Amtszeit die Feindseligkeiten zwischen ihm und dem Dominion ihren Siedepunkt erreichten, mit Konsequenzen, die Historikern nicht fremd sind. Es stimmt auch, dass seine Beziehungen zu den sogenannten Freikirchen herzlich und großzügig war, untypisch für jemanden, der sich nicht gegen die Bezeichnung Agnostiker oder Atheist wehrte. Das war weniger ein politischer Widerspruch als ein charakterlicher. Julian verabscheute Macht, konnte aber nicht widerstehen, sie zu gebrauchen, wenn es um die — seiner Meinung nach — gute Sache ging. Er hatte das Zepter verachtet, aber nun hielt er es in Händen und gebrauchte es wie ein Werkzeug. Seine Vision dehnte sich aus, sein Blickfeld verengte sich.

Ich sah ihn oft in diesen Monaten, allerdings nicht in seiner Funktion als Präsident. Er schaute oft bei uns herein und war jedes Mal entzückt, wenn er Flaxie halten durfte.[98] Flaxie, ein gutmütiges Baby, mochte seine Zuwendung, und ich freute mich, wenn sie zusammen waren. Er war aufmerksam Calyxa gegenüber und vergewisserte sich, dass sie alles an Komfort und Zuwendung bekam, was sie brauchte, um sich von der Strapaze zu erholen. »Das Einzige, was er mir noch schuldig ist«, meinte Calyxa einmal, »ist meine Bewegungsfreiheit.« — Julian hätte die Verfügung längst aufheben lassen, wenn es in seiner Macht gestanden hätte; und er ließ nicht nach, mit Diakon Hollingshead um diese und andere schwerwiegende Dinge zu fechten.

Sam war seit seiner Hochzeit mit Emily Baines Comstock (jetzt Godwin) gleichermaßen mit häuslichen Pflichten eingedeckt, so dass ich mir schon Sorgen machte, Julian könne ohne unsere greifbare Nähe vereinsamen. Deshalb war ich ganz froh, dass sich seine Freundschaft mit Pastor Magnus Stepney so gut anließ. Die beiden waren inzwischen unzertrennlich geworden, und ihre sportlichen Debatten über Gott und Schicksal und derlei Dinge waren für Julian eine willkommene Abwechslung und auch Ablenkung von der Bürde des Präsidentenamtes.

Im militärischen Bereich erntete Julian Lob, weil er die wenigen Erfolge seines Onkels sichern konnte und weitere Bodenoffensiven zurückstellte, bis die Laurentische Armee das Debakel in Labrador »an Leib und Seele« verkraftet hatte, und weil er den Krieg gegen die Deutschen mehr auf See verlagert hatte. Admiral Fairfield gelangen in dieser Zeit mehrere erfolgreiche Seemanöver, und die strategisch wichtige Bekohlungsstation in Iqualuit wurde so lange unter Beschuss genommen, bis die mitteleuropäische Garnison die weiße Flagge hisste. Wenn das auch nicht »der endgültige Vernichtungsschlag gegen die europäischen Aggressoren« war, den sich so viele von Julian dem Eroberer versprochen hatten, um die patriotischen Gefühle zu befriedigen, reichte es allemal.

Frühling und Sommer verstrichen, ohne dass ich mir viele Gedanken um die Zukunft machte, abgesehen von den Nächten, in denen Flaxie friedlich in ihrem Kinderbettchen schlief und Calyxa und ich zusammen im Bett lagen und redeten.

»Wir müssen hier ausziehen«, sagte Calyxa in einer solchen Nacht im Juni. Ein warmer Windzug kam durchs Schlafzimmerfenster, das wir (der Insekten und Giraffen wegen) mit robusten Fliegendrahtläden versehen hatten. »Wir können hier nicht wohnen bleiben.«

»Ich weiß«, sagte ich. »Aber schön hatten wir es hier.« Ich würde den Wildpark vermissen, die Statuary Lawn, diese umfriedete Stille mitten in der lärmenden Stadt; aber wir konnten nicht alle Zeit auf dem Palastgelände bleiben. »Wir suchen eine Wohnung in der Stadt, sobald Julian diese Verfügung aus der Welt geschafft hat.«

Sie schüttelte den Kopf. »Das Dominion wird die Verfügung nicht zurücknehmen. Es wird Zeit, dass wir der Wahrheit ins Auge sehen. Für den Diakon ist diese Verfügung eine Sache des Prinzips. Er wird nicht davon ablassen, bis er im Sarg liegt, und er hat das ganze Ansehen des Dominions hinter sich. Institutionen wie das Dominion of Jesus Christ on Earth weichen keinen Schritt zurück, wenn sie nicht müssen.«

»Du siehst zu schwarz. Solange die Verfügung in Kraft ist, müssen wir noch warten.«

Calyxa blickte nachdenklich beiseite, das Mondlicht setzte winzige Lichter in ihre Augen. »Wie lange, glaubst du, wird Julian im Amt bleiben, wenn er dauernd Streit mit Senatoren und Diakonen sucht?«

»Er ist gerade erst Präsident geworden.«

»Was heißt das schon? Es gab Präsidenten, die kürzer im Amt waren.«

Ja, es hatte Präsidenten gegeben, die nach kurzer Amtszeit abgesetzt oder umgebracht worden waren, aber nur unter ganz ungewöhnlichen Umständen. Am bekanntesten ist der junge Varnum Bayard, der das Amt 2106 geerbt hatte und es binnen einer Woche wieder los gewesen war; aber das hatte daran gelegen, dass er erst zwölf Jahre alt und zu unerfahren gewesen war, um sich gegen einen Staatsstreich zu wehren. Bis jetzt sitze Julian fest im Sattel, versicherte ich Calyxa.

»Das ist eine Illusion. Früher oder später müssen wir hier weg, Adam, aus dem gleichen Grund, weshalb wir hierhergezogen sind. Sechs Monate noch — ein Jahr vielleicht — auf keinen Fall mehr.«

»Und wo ziehen wir hin? In die Stadt? — Ich bin doch bekannt wie ein bunter Hund. Außerdem grassieren wieder die Pocken.«

»Wenn es hart auf hart kommt, Adam, verlassen wir die Stadt. Vielleicht sogar das Land.«

»Das Land?«

»Damit Flaxie nichts zustößt — wäre das nicht Grund genug?«

»Natürlich, wenn das die einzige Möglichkeit wäre, sie zu beschützen, was ich nicht glauben kann — noch nicht!«

»Noch nicht«, gab Calyxa zu, wobei die geschürzten Lippen Bedenken signalisierten; sie blickte durch die Wände ins Unendliche. »Nein, noch nicht; aber die Zeit bleibt nicht stehen, Adam. Die Dinge ändern sich. Julian macht eine Gratwanderung — das ist ihm hoch anzurechnen —, aber ich will nicht, dass Flaxie etwas zustößt, welche Politik auch immer er verfolgt.«

»Natürlich lassen wir nicht zu, dass Flaxie etwas zustößt.«

»Sag das noch mal, Adam, bitte, dann kann ich vielleicht schlafen.«

»Flaxie wird nichts zustoßen«, versprach ich ihr.

»Danke«, sagte sie und seufzte.

Und dann schlief sie tatsächlich ein. Und ich lag wach; dasselbe Gespräch, das ihre Ängste beschwichtigt hatte, hatte die meinen geschürt. Nachdem ich mich eine gute Stunde von einer Seite auf die andere gewälzt hatte, zog ich mir etwas über und setzte mich auf die Veranda. Die Wiesen und Wälder, die den Palast umgaben, lagen finster unter einem klaren, mondlosen Himmel. Die festen Stunden für die Illumination von Manhattan waren vorbei, und die Stadt schien erblindet. Die sommerlichen Sternbilder wanderten über meinen Kopf hinweg, und mir kam in den Sinn, dass diese Sterne genauso gleichgültig auf diese Insel herabgeblinzelt hatten, als sie noch von säkularen Geschäftsleuten bewohnt war, oder lange davor von heidnischen Ureinwohnern und davor von Mammuts und Riesenfaultieren (falls man Julians Geschichten glauben durfte). Und weil drinnen meine Frau und mein Kind schliefen und sie keiner unmittelbaren Gefahr ausgesetzt waren, sandte ich das Gebet gen Himmel, dieser besondere Moment möge doch nie zu Ende gehen und sich an seinem Zustand nie etwas ändern.

Doch die Welt würde sich verändern — nichts würde sie davon abhalten. Das hatte Julian mir vor langer Zeit in Williams Ford gepredigt; und die Ereignisse hatten ihm Recht gegeben.

Die Sterne gingen unter, die Sterne gingen auf. Ich ging wieder ins Haus und legte mich schlafen.


Mr. Hungerford hatte A Western Boy at Sea bis spätestens 4. Juli herausbringen wollen, in dem Glauben, die patriotischen Gefühle dieses Universellen Feiertages könnten den Absatz steigern. Seine Setzer waren rechtzeitig fertig: Das Buch wurde gedruckt und kam am Ersten des Monats in den Verkauf. Anlässlich des Erscheinens fand in den Räumen des Spark eine kleine Feier statt.

Abgesehen von Mr. Hungerford kannte ich so gut wie niemanden in dem Büro. Manche waren Autoren von anderen Büchern in Hungerfords Programm — alles in allem ein schäbiges Häuflein (was nicht heißen muss, dass ihre Bücher nichts taugen), den meisten stand der selbstzerstörerische Lebenswandel ins Gesicht geschrieben. Unter den Anwesenden waren auch Groß- und Einzelhändler aus Manhattan, eine Gaunerbande für sich, nur nicht so hoffnungslos verkommen wie die schreibende Zunft und ehrlicher in ihrer Begeisterung für meine Arbeit. Ich war zu allen höflich und nahm mir vor zu lächeln, wann immer ich eine witzige Bemerkung witterte.

Auf einem Tisch türmte sich ein Stapel von A Western Boy at Sea — die ersten Exemplare, die ich zu Gesicht bekam. Ich erinnere mich deutlich an das nervöse Vergnügen, eines dieser Bücher in die Hand zu nehmen und mir die zweifarbige blindgeprägte Illustration auf dem Buchdeckel zu Gemüte zu führen. Sie zeigte meinen Protagonisten, den blutjungen Isaiah Compass aus dem tiefen Westen, wie er — in der Rechten ein Schwert und in der Linken eine Pistole — unter einer angedeuteten Palme gegen einen Piraten kämpft, derweil ihnen ein bedrohlicher Krake zuschaut (der sich unerklärlicherweise nicht in seinem natürlichen Element befand). Nun hatte ich nirgends in meiner Geschichte einen Kraken erwähnt und konnte nur hoffen, dass der Leser, dessen Neugier durch die Illustration geweckt wurde, nicht enttäuscht sein würde, wenn das Tier zwischen den Buchdeckeln gar nicht vorkam. Mr. Hungerford winkte ab, als ich ihm meine Befürchtung mitteilte. In meinem Roman gebe es bessere Sachen als einen Kraken. Der sei nur da, die Aufmerksamkeit potenzieller Kunden zu erregen, und spiele insofern eine durchaus hilfreiche Rolle. Dennoch fragte ich mich, ob ich meinen nächsten Roman nicht mit einem Kraken oder sonst einer bedrohlichen Lebensform aus dem Meer bereichern sollte, um jene Leser zu entschädigen, die sich diesmal betrogen fühlten.

Ein New Yorker Schriftsteller, der bei dieser Feier nicht anwesend war (schließlich war Hungerford nicht sein Verleger), hieß Charles Curtis Easton. Ich fragte Mr. Hungerford, ob er diesem berühmten Autor jemals begegnet sei.

»Charles Easton? Im Vorbeigehen, ein- oder zweimal. Er ist ein sehr netter alter Herr, überhaupt nicht eingebildet. Er wohnt irgendwo an der 82 sten

»Ich habe ihn immer bewundert.«

»Warum besuchen Sie ihn nicht, wenn Sie neugierig sind? Er soll es gerne haben, wenn ihn Kollegen besuchen — wenn sie seine Zeit nicht allzu sehr in Anspruch nehmen.«

Der Vorschlag faszinierte und bestürzte mich gleichermaßen. »Ich bin ihm doch völlig fremd …«

Hungerford quittierte meinen Einwand mit einem wegwerfenden Kopfschütteln, nahm eine Visitenkarte heraus und schrieb etwas auf die Rückseite (ein paar Worte über mich und meine Arbeit, wie ich nachher las). »Nehmen Sie das mit, wenn Sie ihn besuchen — das weckt seine Neugier.«

»Ich will ihn lieber nicht stören.«

»Das liegt ganz bei Ihnen«, sagte John Hungerford. »Tun Sie, was Sie für richtig halten.«

Selbstverständlich wollte ich Charles Curtis Easton begegnen. Aber ich hatte Angst, mich zu blamieren — ihn mit Schmeicheleien zu überhäufen oder meine Unreife sonst wie zu verraten. Nein, ich würde ihn auf keinen Fall besuchen, jedenfalls nicht als Debütant mit einer gekritzelten Empfehlung.

Julian sollte meinem dürftigen Vorspann etwas Entscheidendes hinzufügen.

Er war zu Besuch bei Calyxa, als ich zum Gästehaus zurückkam. Flaxie saß auf seinem Schoß und strich mit ihrem Händchen durch seinen Bart. Wem hing schon so eine interessante Strähne vom Kinn! Und jedes Mal, wenn sie ein Fäustchen machte und etwas davon zu fassen bekam, zog sie so heftig, als wäre sie Kapitän und Julian die Dampfpfeife, und lachte über die unvermeidlichen Schreie des Bartträgers. Ein Spiel, das beide genossen und Julian derart, dass ihm die Augen tränten.

Ich gab mit meinem neuen Buch an, Julian und Calyxa bekamen je ein Belegexemplar. Sie bewunderten und lobten den Roman, obwohl die Illustration auf dem Buchdeckel unbequeme Fragen aufwarf. Schließlich wurde Flaxie unruhig, und Calyxa ging mit ihr in ein anderes Zimmer, um sie zu stillen.

Julian nutzte die Zeit, um mir anzuvertrauen, dass die Arbeit an The Life and Adventures of the Great Naturalist Charles Darwin auf der Stelle trat. »Immer habe ich diesen Film machen wollen«, sagte er. »Jetzt, da mir alle Mittel zur Verfügung stehen — wer weiß, wie lange noch? —, stirbt mir das Drehbuch unter den Händen. Mir liegt sehr viel daran, Adam. Aber ich muss zugeben, ich schaffe es nicht allein. Und weil du schon einen Roman geschrieben hast und etwas vom Metier verstehst, bitte ich dich um deine Hilfe.«

Er hatte das Manuskript dabei. Es war ein dünner Packen, abgegriffen und mit Eselsohren, weil er jedes Blatt immer wieder in die Hand genommen hatte. Er schien sich zu schämen, als er mir die Seiten aushändigte.

»Wirfst du mal einen Blick rein?«, fragte er bescheiden. »Und gib mir jeden Rat, der dir einfällt.«

»Ich bin nur ein Anfänger«, sagte ich. »Ich weiß nicht, ob ich dir helfen kann.«

Aber ich wusste jemanden, der es womöglich konnte.


Ich wartete bis Montag, den 3. Juli, ehe ich mich zur 82sten fahren ließ, um das Haus von Mr. Charles Curtis Easton zu suchen. Die Sonne schien, und die Hausnummer war gut zu erkennen; doch ich ging vorbei und wieder vorbei und noch einmal vorbei, ehe ich den Mut aufbrachte, zaghaft anzuklopfen.

Eine Frau öffnete, ein kleines zerrendes Kind am Rock. Ich zeigte ihr Hungerfords Visitenkarte mit der Empfehlung. Sie las und lächelte. »Mein Vater hält immer ein Schläfchen zwischen drei und fünf. Aber ich sehe mal nach, ob er ansprechbar ist. Treten Sie doch bitte ein, Mr. Hazzard.«

Also betrat ich das Easton-Anwesen, den Tempel des Erzählens mit seinem fröhlichen Spektakel und einer von Küche und Kindern geschwängerten Luft. Nach einem kurzen Schwebezustand, in dem mich drei dieser Kinder mit unnachgiebigem Interesse anstarrten, kam Mr. Eastons Tochter, fahrbaren Spielsachen und anderen Hindernissen ausweichend, halbwegs die Treppe herunter und lud mich nach oben in das Arbeitszimmer ihres Vaters ein. »Er freut sich, Sie kennenzulernen. Kommen Sie nur, Mr. Hazzard«, sagte sie und zeigte auf die offene Tür. »Nur keine Scheu!«

Drinnen war Charles Curtis Easton. Er sah wirklich so aus wie das Porträt, das man oben auf seine Buchrücken prägte. Er saß an einem überquellenden Schreibtisch unter einem hellen Fenster, das vom Schattenspiel eines Götterbaums gesprenkelt war, der Inbegriff eines arbeitenden Schriftstellers. Sein Haar war schneeweiß, der Ansatz weit zurückgewichen und bildete hinten eine Art Verteidigungswall. Er trug einen Vollbart, auch weiß; und seine Augen, eingebettet in ein liebenswertes Geflecht aus Fältchen, blickten unter elfenbeinfarbenen Brauen hervor. Er war nicht wirklich dick, aber er hatte die Statur eines Mannes, der im Sitzen arbeitet und gerne isst.

»Treten Sie ein, Mr. Hazzard«, sagte er auf die Karte schielend, die ihm seine Tochter gegeben hatte. »Ich freue mich immer, einen jungen Kollegen kennenzulernen. Die Abenteuer des Captain Commongold: von Ihnen, nicht wahr?«

»Ja«, sagte ich und war stolz, dass er davon gehört hatte.

»Ein schönes Buch, auch wenn die Zeichensetzung ein wenig exzentrisch ist. Und Sie haben ein neues geschrieben?«

Ich hielt es in der Hand. Ich hatte es mit einer persönlichen Widmung versehen. Meine Absicht hervorstammelnd, überreichte ich ihm das Geschenk.

»A Western Boy at Sea«, las er und betrachtete den Einband. »Und es kommt ein Krake darin vor!«

»Nein, nein … den Kraken hat sich der Illustrator einfallen lassen.«

»Ach … schade. Aber das Schwert und die Pistole?«

»Die kommen öfters vor.« Meine Verlegenheit tat schon fast weh. Warum hatte ich auch keinen Kraken eingebaut? Es wäre so einfach gewesen. Ich hätte schon vorher daran denken sollen.

»Das ist ja schön«, sagte Mr. Charles Curtis Easton; falls er enttäuscht war, ließ er sich nichts anmerken. Er legte das Buch beiseite. »Setzen Sie sich. Sie haben meine Tochter kennengelernt? Und meine Enkel?«

Ich machte es mir in einem Sessel bequem. »Um ehrlich zu sein, wir haben uns kaum gesprochen, aber Ihre Familie ist wirklich sehr nett.«

Er strahlte bei diesem bescheidenen Kompliment. »Erzählen Sie von sich, Mr. Hazzard. Sie scheinen mir keiner von den Hochgeborenen zu sein — bitte verstehen Sie mich nicht falsch —, und trotzdem pflegen Sie engen Umgang mit dem jetzigen Präsidenten, habe ich Recht?«

Ich schlug so knapp wie möglich einen Bogen aus dem tiefen Nordwesten, wo ich herkam, bis zu unserer momentanen Bleibe auf dem Palastgelände. Erzählte von der Hingabe des lesehungrigen Pächterjungen an sein, Eastons, Werk und dass ich ihm heute noch treu war und seine Bücher nicht selten weiterempfahl. Er nahm mein Lob mit reserviertem Dank zur Kenntnis und stellte Fragen über den Krieg und über Labrador und dergleichen. Er schien ernsthaft interessiert an meinen Antworten, und nach einer guten halben Stunde waren wir »alte Freunde«.

Doch ich hatte nicht vor, ihm lediglich zu schmeicheln, so sehr es ihm zugestanden hätte. Also dauerte es nicht lange, und ich brachte Julian Comstocks Interesse am Theater zur Sprache und seine Absicht, ein Drehbuch zu schreiben; und dass es bei dem Film um etwas gehe, das Julian sehr am Herzen liege.

»Für einen Präsidenten ein ungewöhnlicher Ehrgeiz«, bemerkte Mr. Easton.

»So ist es, Sir, aber Julian ist auch ein ungewöhnlicher Präsident. Seine Liebe zum Kino ist keine Tändelei, sie ist tief in ihm verwurzelt. Aber er ist auf Grund gelaufen, er hat sich festgefahren, und seine schriftstellerische Begabung reicht nicht, um die Geschichte wieder flottzumachen.« Ich ging dazu über, Leben und Abenteuer des großen Naturforschers Charles Darwin zu umreißen …

»Es dürfte nicht leicht sein, aus Charles Darwin und seiner biologischen Evolution einen spannenden Film zu machen«, sagte Mr. Easton. »Und was ist, wenn der Film am Ende nicht die Zustimmung des Dominions findet? Sehr religiöse Menschen sind nicht begeistert von Mr. Charles Darwin, wenn ich an meine Bibelstunden denke.«

»Sie haben ganz Recht. Allerdings hält Julian nichts von der weltlichen Macht des Dominions. Ich denke, in diesem Fall wird er die Einwände zurückweisen.«

»Kann er das?«

»Er sagt Ja. Nun ist das eigentliche Problem das Drehbuch. Es will kein Leben entfalten. Er hat mich um Rat gefragt, aber ich bin nur ein Anfänger. Und da dachte ich — nicht, dass ich Ihre Großmut strapazieren möchte …«

»Um das Drehbuch eines Neulings würde ich mich normalerweise nicht kümmern. Der Auftrag eines amtierenden Präsidenten der Vereinigten Staaten ist natürlich etwas anderes. In der Vergangenheit habe ich an filmischen Adaptionen eigener Geschichten gearbeitet. Ja, wenn es erwünscht ist, würde ich mir sein Material ansehen und ihm mit Rat und Tat zur Seite stehen.«

»Und ob es erwünscht ist, Sir, und ich bin überzeugt, Julian wird dankbar sein für alles, was Sie ihm zu sagen haben. Ich auch, Sir.«

»Haben Sie das Material dabei?«

»Ja«, sagte ich und zog die gerollten Seiten aus meiner Westentasche. »Handgeschrieben, fürchte ich«, denn ich sah, dass Mr. Easton eine Schreibmaschine besaß, die noch eleganter aussah als meine, die ich von Mr. Dornwood bekommen hatte, »aber Julian schreibt ziemlich leserlich.«

»Ich würde es gerne lesen. Würden Sie bitte unten warten, bis ich so weit bin?«

»Sie wollen es sofort lesen, Sir?«

»Wenn Sie so freundlich wären.«

»Natürlich, Sir.« Ich ging nach unten und unterhielt mich eine Weile mit seiner Tochter. Mrs. Robson teilte sich das Haus mit ihrem Vater, wohingegen ihr Mann oben in Quebec City ein Regiment kommandierte. Ihre vier Kinder (wenn ich richtig zählte) sprangen, während wir redeten, in unregelmäßigen Abständen durchs Zimmer, schrien nach Aufmerksamkeit und wischten sich den Schnodder vom Mund. Wann immer sie vorbeikamen, bedachte ich sie mit einem Lächeln und erntete meist nur Grimassen oder respektlose Geräusche.

Dann kam Mr. Easton die Treppe heruntergehumpelt, einen Krückstock in der einen Hand und Charles Darwin in der anderen. Das Alter machte ihn ein wenig unsicher, und Mrs. Robson sprang ihm zur Seite und schimpfte, weil er die Treppe ohne Hilfe herunterkam.

»Nur keine Aufregung«, sagte er zu seiner Tochter. »Ich arbeite für den Präsidenten. Mr. Hazzard, Sie haben die Arbeit Ihres Freundes ganz richtig beurteilt. Sie ist offensichtlich ernsthaft und gut recherchiert, lässt aber bestimmte Elemente vermissen, die unerlässlich sind für jede erfolgversprechende Filmproduktion.«

»Und welche Elemente sind das?«, fragte ich.

»Lieder«, sagte er entschieden. »Und ein Schurke. Und, wenn irgend möglich, Piraten.«


Ich wollte Julian so schnell wie möglich wissen lassen, dass der berühmte Schriftsteller Mr. Charles Curtis Easton eingewilligt hatte, ihm bei der Ausarbeitung des Drehbuchs zu helfen — doch im Gästehaus bei Calyxa und Flaxie wartete ein Telegramm auf mich.

Ich hatte noch nie ein Telegramm bekommen. Ich erschrak, als ich es sah, und ahnte nichts Gutes.

Meine Ahnung wurde zur Gewissheit. Das Telegramm kam von Williams Ford. Meine Mutter hatte es geschickt.

Lieber Adam, Vater schwer krank. Schlangenbiss. Komm, wenn Du kannst.

Ich packte sofort und besorgte mir ein Ticket für den Schnellzug; doch er starb, noch ehe ich Athabaska erreichte.

5

Der Zug schien durch halb Amerika zu rollen an diesem Vierten Juli — vorbei an blühenden Städtchen und vielen, die verwaist waren, an weiten Landgütern, auf denen halbnackte Abhängige arbeiteten, vorbei an unzähligen Halden, Kippen und Ruinen in einen Sonnenuntergang hinein, der wie ein ersterbendes Kohlefeuer glühte, und weiter in die Prärienacht hinaus. Es wurde kein Feuerwerk abgebrannt, im Speisewagen kam es zu einer improvisierten Feier, an der ich nicht teilnahm. Ich schlief, bis der Mond aufging. Spät am nächsten Tag passierte der Zug die Staatsgrenze von Athabaska, die Landschaft war durchsetzt von gigantischen Gruben, wo die Säkularen Alten die teerige Erde abgebaut und aufgeschwemmt hatten, um das Öl abzuschöpfen. Ich sah eine uralte Maschine von der Größe einer Kathedrale, das verrostete Fahrwerk eingebettet in verschorften und verkalkten Schlamm. Wo immer wir offenes Gewässer passierten, stoben scharenweise Gänse und Krähen auf, um uns zu begrüßen.

Julian hatte das Duncan-und-Crowley-Landgut telegrafisch über mein Kommen informiert. Was für die Aristokraten dort ein gesellschaftliches Problem war. Einerseits war ich ein unbedeutender Pächterjunge, der Reißaus genommen hatte und nun nach Hause kam, um das Grab seines analphabetischen Vaters zu besuchen; andererseits war ich Sekretär und Vertrauter des neuen Präsidenten, so etwas wie ein Emissär der Regierung, den Williams Ford gebührlich zu empfangen hatte. Die Duncans und Crowleys, deren Vermögen in Ohio-Farmland und Nevada-Minen steckte und die nur eine lose Verbindung zu New York hatten, lösten das Dilemma, indem sie Ben Kreel schickten, um mich in Connaught abzuholen. Er kam mit dem besten Zweispänner des Landsitzes, die Pferde waren edle Traber.

Der Morgen dämmerte, als der Zug einlief. Ich hatte nicht gut geschlafen; doch Ben Kreel war ein passionierter Frühaufsteher und schüttelte mir die Hand so herzlich, wie die Situation es zuließ. »Adam Hazzard! Oder sollte ich Colonel Hazzard sagen?«

Er hatte sich kaum verändert, obwohl ich ihn mit neuen Augen zu sehen schien. Er war immer noch derb, stämmig, rotbackig und äußerst selbstbeherrscht. »Ich bin nicht mehr in der Armee — einfach Adam, das reicht.«

»Einfach Adam? Der Adam, der uns vor Jahren verlassen hat? Wir alle dachten, du und Julian, ihr wolltet euch dem Dienst an der Waffe entziehen. Aber ihr habt euch im Kampf bewährt — und nicht bloß im Kampf —, hab ich Recht?«

»Wovor man davonläuft und wohinter man herläuft, ist nicht immer so verschieden, wie man hofft.«

»Und du bist jetzt ein Autor und sprichst wie ein Autor.«

»Ich will mich nicht aufspielen, Sir. Nichts liegt mir ferner.«

»Berechtigter Stolz ist nie unangebracht. Das mit deinem Vater tut mir leid.«

»Danke, Sir.«

»Der Arzt vom Landsitz hat getan, was in seiner Macht stand; aber es war ein böser Biss, und dein Vater war nicht mehr der Jüngste.«

Wir ließen Durcheinander und Lärm des Kopfbahnhofs hinter uns und trabten — vorbei an den Wirtshäusern in Fachwerkbauweise, den vielen Bars und Haschischlokalen, die meine Mutter immer den »Fluch von Connaught« genannt hatte — auf der einzigen und ungepflasterten Ausfallstraße nach Norden. Es war ein warmer und windstiller Morgen, und die aufgehende Sonne entzündete die Gipfel der fernen Berge. Am Straßenrand wuchsen farbenfrohe Dickichte aus Habichtskraut, und das spärlich bewaldete Land verströmte seine altvertrauten Sommerdüfte.

»Die Duncans und Crowleys«, sagte Ben Kreel, »sind gerüstet, dich in der Stadt willkommen zu heißen und hätten ohne Zweifel einen öffentlichen Empfang organisiert, wenn die Umstände weniger traurig gewesen wären. So wie die Dinge liegen, haben sie dir ein Zimmer in einem der großen Häuser herrichten lassen.«

»Das ist sehr freundlich; aber ich habe mich immer wohlgefühlt im Haus meiner Mutter, und sie will mich sicher um sich haben, also bleibe ich bei ihr.«

»Das ist wohl auch das Klügste«, sagte Ben Kreel wie jemand, der einen Seufzer der Erleichterung unterdrückt.

Wir trabten durch die Felder, auf denen die Abhängigen arbeiteten, und durch das hügelige Land am River Pine — und als wir endlich die Ausläufer von Williams Ford erreichten, meinte ich, das Feuerwerk zum Unabhängigkeitstag müsse diesmal verschwenderisch gewesen sein.

»Das will ich meinen«, sagte Ben Kreel. »Ein Hausierer brachte chinesische Feuerwerkskörper aus Seattle in die Stadt. Blaue Feuerräder und ein paar farbenprächtige Salamander … aber woher weißt du das?«

»Die Luft riecht jetzt noch nach Schwarzpulver«, sagte ich. Das war eine Sensibilität, die ich mir im Krieg zugezogen hatte.


Ich will nicht auf die Details meines Kummers eingehen. Der Leser kennt diese schmerzlichen Gefühle.[99]

Ich ließ mich kurz auf dem Landsitz blicken; die Duncans und Crowleys empfingen mich ausgesucht höflich, doch mir war es wichtiger, bei meiner Mutter zu sein. Auf dem Weg vom Landsitz zum Pachtland kam ich an den Stallungen vorbei, und ich hatte nicht übel Lust herauszufinden, ob meine alten Peiniger noch hier arbeiteten, und, wenn ja, ob ihnen mein neuer Rang den gehörigen Respekt abnötigte; aber das war mir dann doch zu kleinkariert.

Unser Cottage stand noch da, wo ich es verlassen hatte. Der Bach dahinter war immer noch von Licht und Schatten gesprenkelt und gluckste immer noch so fröhlich, als freue er sich auf den River Pine; und auch das Grab meiner Schwester Flaxie war noch da, wo ich es zuletzt gesehen hatte. Aber daneben befand sich jetzt ein frisches Grab mit einem blassen Holzkreuz, auf dem kohlschwarz der Name meines Vaters stand. Auch wenn er ein Analphabet gewesen war, so hatte er doch seinen Namen erkennen und eine plausible Unterschrift leisten können und hätte eben jetzt als Geist seinen in Holz gebrannten Namen lesen können, wenn er sich nur aufgesetzt und den Hals danach verrenkt hätte.

Gräber besucht man am besten, wenn die Sonne scheint. Das warme Juliwetter war wohltuend, und das Vogelgezwitscher und das leise Glucksen des Bachs machten die Vorstellung vom Tod erträglicher. Ich hasste es, an den Schnee vom nächsten Jahr zu denken, der sich schwer auf die frisch umgeworfene Grasnarbe legen würde, oder die Januarstürme, die darüber hinwegfegen würden. Immerhin lag mein Vater jetzt neben Flaxie, so dass sie nicht mehr allein war; und dass Tote sehr unter Kälte litten, glaubte ich nicht. Die Toten sind immun gegen die Unbilden des Wetters — so viel Himmel ist schon mal gewiss.

Meine Mutter sah mich am Grab stehen und kam aus der Hintertür des Cottage. Sie nahm mich wortlos beim Arm. Dann gingen wir nach drinnen, um zusammen zu weinen.

Ich blieb fünf Tage. Meine Mutter wirkte zerbrechlich, aus Gram und wegen ihres Alters. Sie sah nicht mehr gut und konnte nicht mehr für die Aristokraten nähen; aber weil sie zur Pächterklasse gehörte und ihr Leben lang treue Dienste geleistet hatte, erhielt sie weiterhin Belege, für die sie im Pächterladen Lebensmittel bekam, und durfte im Cottage wohnen bleiben.

So gut waren ihre Augen aber noch, dass sie darauf brannte, sich das Exemplar von A Western Boy at Sea anzusehen, das ich ihr selbstredend mitgebracht hatte. Sie behandelte es mit übertriebener Sorgfalt, ein kleines Lächeln in den Mundwinkeln; dann stellte sie es auf ein hohes Bücherbord neben The Adventures of Captain Commongold, das ich ihr geschickt hatte. Sie würde es lesen, sagte sie, Kapitel um Kapitel, nachmittags, wenn das Licht am besten sei, auch das der Augen.

Ich ließ sie noch einmal wissen, dass ich keines der Bücher hätte schreiben können, wenn sie nicht so viel Kraft darin gesetzt hätte, mir das Lesen beizubringen — vor allem die Liebe zum Lesen, also nicht bloß die Technik des Lesens, wie sie die meisten Pächterkinder in der Sonntagsschule lernten.

»Ich habe das Lesen von meiner Mutter gelernt«, sagte sie. »Und sie hat es von ihrer Mutter gelernt und so weiter bis zu den Säkularen Alten. Nach der Familienchronik gab es vor langer Zeit einmal eine Lehrerin in unserer Familie. Vielleicht auch einen Schriftsteller — wer weiß? Dass er nicht lesen und schreiben konnte, empfand dein Vater als große Schande, auch wenn er es nicht zeigte.«

»Du hättest ihm helfen können.«

»Ich hätte es gerne getan. Er wollte nicht. Zu alt und zu festgefahren, sagte er immer. Ich glaube, er hatte Angst, es nicht zu schaffen.«

»Als ich neu in der Armee war, da habe ich einem Kameraden das Lesen beigebracht«, sagte ich und sah wieder dieses Lächeln in ihren Mundwinkeln.

Sie wollte buchstäblich alles über Calyxa und das Baby wissen. Durch einen glücklichen Zufall war es Julian gelungen, kurz vor dem Unabhängigkeitstag ein Foto von uns machen zu lassen, und ich zeigte es ihr. Calyxa saß in einem Sessel, ihre tausend Löckchen glänzten. Auf ihrem Schoß saß Flaxie, ein bisschen schief, die Babysachen etwas verzogen, und stierte in die Kamera. Ich stand hinter dem Sessel und hatte eine Hand auf Calyxas Schulter gelegt.

»Sie sieht energisch aus, deine Calyxa«, bemerkte meine Mutter. »Gute, kräftige Beine. Das Baby ist hübsch. Meine Augen sind nicht mehr das, was sie einmal waren, aber ich sehe ein hübsches Baby, ja, bestimmt.«

»Deine Enkelin«, sagte ich.

»Ja, und wenn sie so weit ist, wird sie auch lesen lernen, nicht wahr?«

»Aber hallo«, sagte ich.

Schließlich redeten wir über Vaters Tod — nicht nur über die Tatsache, sondern auch über die Umstände, die dazu geführt hatten. Ich wollte wissen, ob er bei einem Gottesdienst seiner Church of Signs gebissen worden war.

»Solche Gottesdienste gibt es nicht mehr, Adam. Die Church of Signs hatte nie großen Zulauf außer bei den Abhängigen; und nicht lange, nachdem du fort warst, entschieden die Duncans und Crowleys, es handle sich um einen ›Kult‹ und der gehöre unterdrückt. Ben Kreel fing an, gegen die Sekte zu predigen, und die unbelehrbarsten Mitglieder der Gemeinde wurden zu Schleuderpreisen verkauft oder fortgeschickt. Dein Vater war der einzige Pächter unter ihnen, also blieb er; aber es gab keine Gemeinde mehr, zu der er predigen konnte.«

»Aber die Schlangen behielt er.« Ich hatte das abstoßende Geschlängel draußen in den Käfigen gesehen.

»Für ihn waren sie Haustiere. Er hätte es nicht über sich gebracht, sie verhungern zu lassen oder auf andere Weise zu vernichten; und sie einfach freizulassen war ihm auch zu gefährlich. Ich glaube, töten könnte ich sie auch nicht. Obwohl ich sie abscheulich finde.« Sie sagte das Wort »abscheulich« so heftig, dass ich erschrak. »Ich kann gar nicht sagen, wie abscheulich ich sie finde. Ich fand sie immer abscheulich. Deinen Vater habe ich geliebt, Adam. Aber diese Schlangen nicht. Sie haben nichts mehr zu fressen bekommen, seit er gestorben ist. Was soll aus den Tieren werden?«

Ich ließ die Sache auf sich beruhen. Zum Abendessen gab es einen bescheidenen Eintopf und Klöße. Nachdem meine Mutter zu Bett gegangen war und ich davon ausgehen konnte, dass sie schlief, ging ich leise hinaus zu den Käfigen.

Ein heller Mond hing über den fernen Bergen. Er warf sein unbeteiligtes, bleiches Licht auf Vaters Massassauga-Klapperschlangen. Sie waren hungrig und in gereizter Stimmung, peitschten vor Ungeduld. Sie mussten lange nicht mehr gemolken worden sein. (Das hatte Vater immer heimlich gemacht, vor dem Gottesdienst, besonders wenn es sein konnte, dass Kinder an den Ritualen teilnahmen. Er spannte ein Stück dünnes Leder über die Öffnung eines alten Marmeladenglases und ließ die Schlangen hineinbeißen. Eine Zeit lang waren sie dann giftfrei. Das war seine ureigene kleine Apostasie — eine Art Versicherungspolice gegen kleine Unachtsamkeiten seitens höherer Mächte.) Die Schlangen nahmen mich wahr. Unentwegt wanden und ringelten sie sich, und ich bildete mir ein, in ihren toten, blutleeren Augen eine kalte Wut zu spüren.

Ein Mensch, der sich rückhaltlos Gott unterwirft, kann sie anfassen, ohne dass ihm etwas passiert: Das war der Glaube, zu dem mein Vater sich bekannt hatte. Er hatte Gott vertraut, ganz bestimmt hatte er das, und hatte geglaubt, Gott trete in den verdrehten Augen und dem unverständlichen Lallen (dem sogenannten Zungenreden) der übrigen Gemeinde in Erscheinung. Vertraue, und du wirst erlöst, war seine Philosophie. Und nun hatten sie ihn getötet, seine Schlangen. Ich fragte mich, was in seinem Fall versagt hatte — der menschliche Glaube oder die göttliche Langmut.

Ich war kein frommer Mensch. Ich war kein Anhänger der Church of Signs und hatte zu keiner Zeit mit ihren Glaubenssätzen geliebäugelt. Trotzdem hob ich den Riegel und öffnete die Tür des Käfigs, der mir am nächsten stand. Ich trug keine Handschuhe oder sonst einen Schutz. Mit bloßen Händen und Armen langte ich in den Käfig.

Ich hatte ein stummes Reich von Kummer und Zorn betreten. Was ich tat, entbehrte jeder Logik. Ich erinnerte mich nur an den Rat meines Vaters, vor Jahren, als ich ihm zugesehen hatte, wie er lebende Mäuse an die Schlangen verfütterte und dabei ihren Schlägen und Angriffen auswich. Wenn man wisse, was man tue, hatte er gesagt, sei es normalerweise nicht nötig, eine Schlange zu töten. Aber es gebe unvorhergesehene Zwischenfälle: Vielleicht wird ein unschuldiger Mensch oder ein Tier von einer streunenden Viper bedroht. Dann musst du dich entscheiden, und zwar schnell. Hab keine Angst vor der Schlange, Adam. Packe sie da, wo bei anderen Tieren der Hals ist, nämlich hinter dem Kopf; kümmere dich nicht um den Rest der Schlange, egal wie sehr er um sich schlägt; und schlage auf ihren Schädel ein, so oft und so lange wie nötig, um sie zu bezwingen.

Und genau das tat ich — immer wieder, mechanisch —, bis ein Dutzend erstarrende Schlangenleichen vor meinen Füßen lagen.

Dann kehrte ich ins Haus zurück und legte mich auf das Bett, das mich ein gut Teil meines Lebens begleitet hatte, und schlief stundenlang, ohne zu träumen.

In der Früh glitzerten die Drahtkäfige vor lauter Tautropfen, und die Kadaver waren verschwunden — vermutlich von hungrigen Tieren davongeschleppt.

An meinem vorletzten Tag in Williams Ford fragte ich meine Mutter, ob sie an Gott glaube, und das Himmelreich und die Engel und dergleichen.

Das war eine gewagte Frage, mit der ich Mutter sichtlich überrumpelte. »Es gehört sich nicht, solche Fragen zu stellen«, meinte sie, »jedenfalls nicht außerhalb der Kirche.«

»Vielleicht nicht; aber solche Fragen stellt Julian Comstock bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Er macht sich einen Spaß daraus.«

»Und handelt sich damit viel Ärger ein.«

»Kann man so sagen.«

»Das soll dir eine Lehre sein. Und außerdem kennst du die Antwort. Habe ich dir nicht aus den Dominion-Schriften vorgelesen und dir die biblischen Geschichten erzählt?«

»Da war ich ein Kind, Mutter. Jetzt sollten wir wie zwei erwachsene Menschen reden.«

»Man bleibt immer das Kind seiner Eltern, Adam. Egal wie alt oder klug man wird, du wirst sehen.«

»Du hast bestimmt Recht. Und? Glaubst du an Gott?«

Sie blickte mich an, als wolle sie prüfen, wie ernst ich es meinte. »Ich glaube an alles Mögliche«, sagte sie dann, »auch wenn ich das, woran ich glaube, nicht immer verstehe. Ich glaube an den Mond und an die Sterne, obwohl ich nicht weiß, woraus sie bestehen oder wie sie entstanden sind. Ich denke, dazu gehört auch Gott — so wirklich, dass man ihn ab und zu fühlt, aber geheimnisvoll in seiner Beschaffenheit und oft so, dass man nicht klug aus ihm wird.«

»Das ist eine raffinierte Antwort.«

»Ich wünschte, ich hätte eine bessere.«

»Und wie steht es mit dem Himmel? Glaubst du, wir kommen in den Himmel, wenn wir sterben?«

»Für den Himmel, so glaubt man, gibt es strikte Zugangsbeschränkungen, obwohl keine zwei Kirchen in den Einzelheiten übereinstimmen. Ich weiß es nicht. Es wird sich wohl so wie mit China verhalten — alle glauben, dass es China gibt, aber nur wenige werden es jemals besuchen.«

»In New York City gibt es Chinesen«, gab ich zum Besten. »Und ganz viele Ägypter.«

»Aber kaum Engel, glaube ich.«

»So gut wie keine.«

Genug Theologie, gab sie mir wortlos zu verstehen, und wir verplauderten unseren letzten Tag mit fröhlicheren Dingen; am nächsten Morgen sagte ich ihr Lebewohl und kehrte Williams Ford zum zweiten und letzten Mal den Rücken.


»Auf den vielen Reisen, die du unternommen hast«, sagte Ben Kreel, als wir auf der Wire Road nach Connaught trabten, »bist du da jemals bis Colorado Springs gekommen?«

»Nein, Sir«, sagte ich. Es war wieder ein sonniger Tag. Eine warme Brise ließ die Telegrafendrähte summen. Der Zug, der mich aus der Heimat meiner Kindheit und all ihren Andenken zurück zu meiner jungen Familie bringen würde, fuhr in drei Stunden von Connaught ab. »Herumgekommen bin ich hauptsächlich in Labrador, ziemlich weit nördlich und östlich von Colorado.«

»Ich war fünfmal in Colorado Springs«, sagte Ben Kreel, »zur ekklesiastischen Schulung. Da sieht es überhaupt nicht so aus wie auf den Bildern in den Dominion-Heften. Du weißt, was ich meine — da zeigen sie nur die Dominion-Akademie mit ihren weißen Säulen und diesen großen Gemälden vom Niedergang der Städte

»Die Akademie ist imposant, sie macht was daher.«

»Sicher, aber Colorado Springs ist mehr als nur die Akademie — dasselbe gilt für das Dominion.«

»Sie haben sicher Recht, Sir.«

»Colorado Springs ist eine Stadt voller frommer, wohlhabender Männer und Frauen, die treu zu Nation und Glauben stehen; und das Dominion ist nicht in erster Linie ein Gebäude oder eine Organisation — das Dominion ist in erster Linie eine Idee. Eine sehr kühne und ehrgeizige Idee — die Idee, die geschundene und unvollkommene Welt, in der wir leben, zu erobern und zu heilen und zu erneuern — ein himmlisches Königreich daraus zu machen, so geläutert, dass selbst Engel nicht zögern würden, es zu betreten.«

Kein Wunder, dass sie Manhattan mieden, dachte ich bei mir. »Das scheint mir noch ein langer Weg zu sein, Sir. Wir haben noch nicht einmal Labrador erobert, geschweige denn die Welt.«

»Dazu braucht es mehr als eine Generation. Aber wir können erst direkt mit dem Himmel kommunizieren, wenn wir die Welt vervollkommnet haben — und wir können die Welt erst vervollkommnen, wenn wir uns selbst vervollkommnet haben. Das ist die Aufgabe des Dominions, Adam: uns zu vervollkommnen. Es ist keine leichte Aufgabe, aber sie ergibt sich aus dem allgegenwärtigen Trieb, seinen Nächsten zu lieben und guten Willens zu sein. Die sich daran reiben, sind in der Regel irgendeiner Unvollkommenheit verhaftet, der sie mit sündiger Sturheit frönen.«

»Ja, Sir, das haben Sie uns damals an den Feiertagen gepredigt.«

»Schön, dass du dich erinnerst. Unser Feind ist jeder, der gegen Gott rebelliert — erinnerst du dich noch an diesen Aphorismus?«

»Ja, Sir.«

»Was glaubst du, in welcher Gestalt diese Rebellion für gewöhnlich auftritt?«

»In Gestalt der Sünde?«

»Sünde, ja, sicher, Sünden gibt es in Hülle und Fülle. Aber die meisten schaden nur dem Sünder. Manche Sünden sind heimtückischer und zielen direkt darauf ab, das Dominion in seinem Werk zu behindern.«

»Worauf wollen Sie hinaus, Sir?« Mir schwante nichts Gutes.

»Als du bei der Armee warst, gab es da in deinem Regiment einen Dominion-Offizier?«

»Ja.«

»Und erfreute er sich allgemeiner Beliebtheit?«

»Nicht unbedingt, nein.«

»Wie sollte er auch? Schließlich war es seine Aufgabe, die Tugend zu fördern und falsches Handeln zu geißeln. Diebe lieben keine Gefängnisse und Sünder keine Kirchen. Was ich damit sagen will, ist Folgendes: Das Verhältnis zwischen dem Dominion und den Vereinigten Staaten ist dasselbe wie zwischen diesem Seelsorger und der Truppe. Er hatte nicht die Absicht, sich beliebt zu machen, er wollte eine verirrte Herde durch Überredung und sanfte Gewalt in das Gehege der göttlichen Liebe führen.«

Aus einem unerfindlichen Grund fiel mir Lymon Pugh ein und seine Beschreibung der Abpackindustrie für Rindfleisch.

»Das Dominion hat großes Interesse am Schicksal dieser Nation — und jeder anderen Nation«, sagte Ben Kreel. »Verglichen mit diesem institutionellen Interesse sind die Launen von Präsidenten flüchtige Erscheinungen.«

»Sie sprechen in Rätseln, Sir«, beklagte ich mich. »Wenn es um Julian geht, dann sagen Sie es doch gleich.«

»Wer bin ich, um über den Präsidenten zu richten? Ich bin nur ein kleiner Pastor vom Lande. Doch das Dominion beobachtet, das Dominion richtet; und das Dominion ist älter als Julian Comstock, und letzten Endes auch mächtiger.«

»Julian hat nichts gegen das Dominion, gestritten wird nur um Details.«

»Ich hoffe, du behältst Recht, Adam; doch selbst wenn — warum versucht er dann, die uralte und heilsame Verbindung zwischen dem Dominion und den Armeen aufzulösen?«

»Tut er das?«

Ben Kreel lächelte unangenehm. Über viele Jahre hinweg war mir dieser Mann wie ein kleiner Gott vorgekommen, über jeden Tadel erhaben: Er hatte eine liebenswürdige Art, er war ein guter Lehrer und ein entschlossener Friedensstifter. Wenn ich mir Ben Kreel jetzt ansah, entdeckte ich etwas Säuerliches und Triumphierendes in seinen Zügen, als freue er sich, einem Parvenü wie mir die Schau zu stehlen. »Tja, genau das macht er, Adam; weißt du das nicht? Ich bekam heute früh ein Telegramm aus Colorado Springs. Julian der Eroberer, wie man ihn nennt, hat das Dominion angewiesen, seine Vertreter aus den Armeen zurückzuziehen und nicht mehr an militärischen Beratungen teilzunehmen.«

»Das ist ein gewagter Schritt«, sagte ich erschrocken.

»Das ist mehr als ein gewagter Schritt, Adam. Das ist fast eine Kriegserklärung.« Er lehnte sich zu mir herüber und sagte in einem öligen und zutraulichen Ton: »Und diesen Krieg kann er unmöglich gewinnen. Wenn ihm das nicht klar ist, solltest du ihn vielleicht aufklären.«

»Ich werde ihm von unserem Gespräch berichten, Sir, verlassen Sie sich darauf.«

»Ja, danke«, sagte Ben Kreel. »Julian Comstock hat einen guten Freund in dir.«

»Ich gebe mir Mühe.«

»Aber man sollte auch seinem besten Freund nicht folgen, wenn er auf dem Weg in die Hölle ist, Adam Hazzard.«

Ich hätte ihm am liebsten erklärt, dass mein Glaube an die Hölle inzwischen noch angeschlagener war als mein Vertrauen ins Paradies. Vielleicht hätte ich erzählen sollen, dass ich in New York einem Mann begegnet war, der behauptete, Gott sei das Gewissen (- Höre nur auf dein Gewissen! -); wenn das stimmte, war das gesamte Dominion eine einzige Ketzerei, wenn nicht Schlimmeres; aber ich wollte keine neue Diskussion vom Zaun brechen und saß für den Rest des Weges still und verdrossen da.

Der Zug nach Manhattan war ungleich komfortabler als der mit dem Karibugeweih, in dem ich Williams Ford zum ersten Mal verlassen hatte. Aber ich hatte genauso viel Angst wie damals.

6

Nachdem ich das Wiedersehen mit Calyxa und Flaxie gefeiert, mir den Schmutz der Reise vom Leib gebadet und eine Nacht geschlafen hatte, suchte ich den Palast auf, um mit Julian zu reden.

Im Regierungspalast herrschte eine mysteriöse Stille. Das gewaltige Bauwerk war ein fein ausgetüfteltes Labyrinth aus Büros, Wohnräumen, Wirtschaftsräumen, Salons und Sälen. Es beherbergte Dienstpersonal, Beamte und die Republikanische Garde und den Präsidenten natürlich. Es hatte zwei Geschosse über dem Parterre und darunter ein ausgedehntes Tiefgeschoss und Kellerräume. Ich kannte kein Gebäude mit so viel Vertäfelungen, Vorhängen, Schärpen, Teppichen und Rüschen; und ich habe mich nie darin wohlgefühlt. Die kleineren Beamten, an denen ich vorbeikam, betrachteten mich mit einem Hochmut, der an Verachtung grenzte, und die Republikanischen Gardisten runzelten bei meinem Anblick die Stirn und tasteten nach ihren Pistolen.

Julian »bewohnte« natürlich nicht den ganzen Palast — das hätte ein Einzelner gar nicht geschafft —, sondern verbrachte die meiste Zeit in der Bibliothek. Dieser Trakt enthielt nicht bloß die umfangreiche Präsidentenbibliothek (die zum größten Teil dominiongeprüft war, obgleich Julian inzwischen viele Schriften aus dem befreiten Archiv hinzugefügt hatte), sondern auch einen Lesesaal mit hohen, sonnigen Fenstern und einem mächtigen Eichenschreibtisch. Diesen Saal hatte Julian zu seinem Aufenthaltsraum erkoren, und hier fand ich ihn auch.

Magnus Stepney, der schlitzohrige Pastor der Church of the Apostles etc., hatte es sich in einem Plüschsessel bequem gemacht und las in einem Buch, während Julian am Schreibtisch saß und schrieb (zumindest hatte er den Federhalter in der Hand und vor ihm lag Papier). Pastor Stepney war jetzt schon seit vielen Wochen Julians ständiger Begleiter, und beide lächelten, als ich eintrat. Sie stellten mir Fragen über Williams Ford, über meinen Vater und meine Mutter, und ich ließ sie ein wenig an dieser traurigen Angelegenheit teilhaben; es dauerte aber nicht lange, und Julian kam wieder auf sein Drehbuch zu sprechen.

Ich ließ ihn wissen, ich hätte das Manuskript mit Charles Curtis Easton besprochen. Ich hatte Angst, er könne sich ärgern, weil ich diese »Familienangelegenheit« einem Fremden angetragen hatte, und er schien tatsächlich ein wenig verstört; aber Magnus Stepney — der genauso ein Ästhet und Anhänger der Schauspielkunst war wie Julian[100] — klatschte und meinte, ich hätte genau das Richtige getan: »Das ist es, was wir brauchen, Julian, eine professionelle Meinung.«

»Kann schon sein. Hat sich Mr. Easton denn schon geäußert?«, fragte Julian.

»Ja, in der Tat.«

»Wärst du auch so freundlich, mir zu sagen, was er gesagt hat?«

»Er meinte auch, dass der Geschichte ein paar unentbehrliche Zutaten fehlten.«

»Als da wären?«

Ich räusperte mich. »Drei Akte — einprägsame Lieder — schöne Frauen — Piraten — ein Kampf auf offener See — ein mieser Schurke — ein Duell …«

»Aber nichts von alledem hat mit Mr. Darwin zu tun.«

»Siehst du, und das ist der springende Punkt. Willst du die Wahrheit erzählen oder eine Geschichte? Der Trick ist«, sagte ich in Erinnerung an Theodore Dornwoods Kommentar zu meinen Texten, »einen Kurs zwischen Skylla und Charybdis zu steuern …«

»Hübsch gesagt für einen Pächterjungen«, meinte Magnus Stepney lachend.

»… wobei Skylla die Wahrheit ist und Charybdis das Drama. Oder war es umgekehrt?«

Julian seufzte und verdrehte die Augen; doch Stepney tat einen kleinen Jauchzer und schrie: »Was hab ich dir gesagt, Julian! Ich, Adam Hazzard und Mr. Charles Curtis Easton sind einhellig derselben Meinung!«

Julian schwieg sich an diesem Tag aus. Natürlich war er zuerst mal skeptisch. Doch lange konnte er nicht widerstehen, zumal die Idee an seinen Sinn fürs Theatralische appellierte; und noch ehe die Woche zu Ende war, hatte er sie als seine eigene adoptiert.


Der restliche Juli war der Arbeit an einem endgültigen Drehbuch gewidmet. Manche Gelehrte unterstellen Julian, an seinem Film »herumgebastelt« zu haben, während seine Präsidentschaft zerbröckelt sei. Doch im Sommer 2175 schien die Welt noch in Ordnung. Ich denke, Julian suchte in der Kunst eine Art Erlösung von den Schrecken des Krieges, obschon er als Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte von Amts wegen mit Krieg befasst war. Und ich denke, es gab noch einen tieferen Grund, warum Julian Protokoll und Verflechtungen seines politischen Amtes in den Wind schlug. Ich glaube, er hatte fest damit gerechnet, in Labrador zu sterben, hatte sich mit seinem Schicksal abgefunden, nachdem das Manöver mit den schwarzen Drachen nicht den gewünschten Erfolg gehabt hatte — und war schockiert, überlebt zu haben, nachdem er so viele Menschen in den Tod geführt hatte.

Seine Anweisung, alle formellen Verbindungen zwischen Dominion und Militär aufzulösen, hatte Schockwellen durch beide Armeen geschickt. Colorado Springs war praktisch im Zustand der Rebellion, und Diakon Hollingshead hatte seine Besuche im Regierungspalast eingestellt und versagte Julian jedweden Respekt. Das Dominion hatte seine anerkannten Kirchen fest im Griff, und alle Kanzeln des Landes stellten »Julian den Atheisten« an den Pranger und machten es den Eupatriden und Senatoren immer schwerer, ihn zu unterstützen.

Dass uns Diakon Hollingshead keine unliebsamen Besuche mehr abstattete, schaffte Platz für die willkommenen Besuche von Mr. Charles Curtis Easton, den Julian in den Palast einlud, um die Änderungen am Darwin-Manuskript zu besprechen. Julian war angetan von Mr. Easton (»So könntest du einmal aussehen, Adam, wenn du ins hohe Alter kommst und dir einen Bart stehen lässt.«) und beauftragte ihn, mit mir ein Drehbuch-Komitee zu bilden. Das Komitee traf sich nach einem festen Terminplan, und Julian oder Magnus Stepney gesellten sich nicht selten dazu; binnen Wochen hatten wir ein völlig neues Konzept von The Life and Adventures of the Great Naturalist Charles Darwin entworfen, das ich hier kurz schildern möchte.

Der erste Akt hieß Homology und handelte von Darwins Jugend. In diesem Akt begegnet der junge Darwin dem Mädchen, in das er sich unsterblich verliebt — seine wunderschöne Kusine Emma Wedgwood — und muss entdecken, dass er in dem jungen Theologiestudenten Samuel Wilberforce einen Rivalen um ihre Gunst hat. Die beiden Jünglinge nehmen an einem Wettbewerb teil, der von der örtlichen Universität (Oxford) gesponsert wird und bei dem es um das Sammeln und Beschreiben von Käfern geht; und Miss Wedgwood sagt in einer neckischen Anwandlung, sie hebe sich einen Kuss für den Gewinner auf. Daraufhin singt Wilberforce ein Lied über Insekten als Beispiele der gottgewollten Artenvielfalt, was Darwin mit musikalischen Anmerkungen zur Homologie konterkariert (was die körperlichen Ähnlichkeiten zwischen Insekten der verschiedenen Arten meint). Wilberforce, der gnadenlos geschickte Intrigant, versucht, Darwin wegen Gotteslästerung disqualifizieren zu lassen. Oxford weist seine Beschwerde zurück. Darwin gewinnt den Wettbewerb; und Wilberforce kommt dazu, als Emma Darwin züchtig auf die Wange küsst; Darwin errötet; und ein wütender Wilberforce schwört ewige Rache.

Der zweite Akt trug den Titel Diversity oder An English Boy at Sea[101], und deckte Darwins aufregende Reisen an Bord des Forschungsschiffes Beagle ab. Auf diesen Reisen rings um Südamerika macht Darwin Beobachtungen an Meeresschildkröten und Finkenschnäbeln, um nur einiges zu nennen, obwohl wir das Wissenschaftliche auf ein Minimum beschränkten, um das Publikum nicht zu überfordern, und eine belebende Szene hinzufügten, in der ein wilder Löwe vorkam. Aufgrund seiner vielen ungewöhnlichen Beobachtungen beginnt Darwin die großartige Idee der Diversität des Lebens zu formulieren (was die Mannigfaltigkeit der Arten meint) und wie diese durch den Einfluss von Zeit und Umwelt auf die Fortpflanzung entsteht. Er beschließt, seine Erkenntnis zu veröffentlichen, obwohl er weiß, dass sie in ekklesiastischen Kreisen nicht willkommen ist. Zu Hause hat Wilberforce — jetzt ein junger Bischof in Oxford und fest entschlossen, noch mehr ekklesiastischen Einfluss zu bekommen — sein Familienvermögen bemüht, um die Beagle von einer Piratenbande versenken zu lassen. Der zweite Akt gipfelt in einem erbitterten Kampf auf offener See, in dessen Verlauf der junge Darwin auf dem Vordeck — wild mit Schwert und Pistole hantierend — musikalisch über die Auswirkungen von Zufall und »Fitness« auf den Ausgang eines Kampfes spekuliert. Der Kampf ist blutig, aber die »Fittesten« überleben (wie in der Natur) — Darwin ist glücklicherweise einer von ihnen.

Zu Beginn des dritten Aktes, The Descent of Man, hat die Kontroverse über Darwins Theorie ganz England erfasst. Darwin hat ein Buch über die »Entstehung der Arten« veröffentlicht; und Wilberforce, jetzt Erzbischof von Oxford, hat es sich zur Aufgabe gemacht, dieses Werk anzuprangern und seinen Autor lächerlich zu machen. Er will auf diese Weise einen Keil zwischen Emma Wedgwood und Darwin treiben; die beiden haben (auf Drängen von Emmas Familie) ihre Hochzeit auf den Tag verschoben, da sich die öffentliche Meinung wieder deutlicher zu Darwins Ehrbarkeit bekennt. Das scheint in weite Ferne gerückt zu einer Zeit, da Englands Kirchen widerhallen von antidarwinistischer Rhetorik, Oxford von randalierenden Fackelträgern bedroht wird und Emma vom Konflikt zwischen romantischer Liebe und religiöser Pflicht hin- und hergerissen wird. Der Sturm gipfelt in einer öffentlichen Debatte im überfüllten Londoner Rathaussaal, als Darwin und Wilberforce über die Verwandtschaft zwischen Mensch und Affe streiten. Darwin erläutert (singt) seine Theorie ausdrucksvoll und nicht ohne Humor; wohingegen Wilberforce, unter dem grellen Licht der Logik, als eifersüchtiger Wichtigtuer entlarvt wird. DARWIN, EIN GROSSER GELEHRTER!, titelt die London Times am Tag darauf und besänftigt die allgemeine Erregung und ebnet für Emma und Darwin den Weg zum Traualtar. Doch Wilberforce will die Demütigung nicht hinnehmen. Er bezichtigt Darwin der Gotteslästerung und Beleidigung und fordert ihn zum Duell heraus. Darwin nimmt widerstrebend an, weil er darin die einzige Möglichkeit sieht, den lästigen Bischof loszuwerden; und beide Männer erklimmen eine felsige Wiese hoch oben im wilden und stürmischen Gebirge, das über der Universität von Oxford dräut.

Dieses Duell ist eigentlich der Höhepunkt des Films. Darwin durchkreuzt alle gemeinen Tricks, die Wilberforce versucht. Es wird gesungen und mit Pistolen geschossen, und Emma schreit und wieder Pistolenschüsse, und es wird an Steilhängen gerungen, bis Darwin blutend, aber siegreich über dem erkaltenden Leichnam seines skrupellosen Feindes steht.

Gefolgt von einer feierlichen Hochzeit, Glockenläuten, Frohsinn und und und …

Julian war mit dem Konzept einverstanden, machte sich aber einen Spaß daraus, uns auf die Kluft zwischen unseren dramaturgischen Freiheiten und der historischen und anderweitigen Wahrheit hinzuweisen. (»Wenn Oxford Alpen hat, dann hat New York City einen Vulkan«, witzelte er. »Geografie ist nämlich eine der flexibelsten Wissenschaften.«) Es waren rhetorische und keine ernsten Einwände, die er machte; er sah ein, dass wir dem eigensinnigen Lehm der historischen und anderweitigen Wahrheit Gewalt antun mussten.

Und was die Lieder anging, die so wichtig waren für den Erfolg solcher Produktionen — was hätten wir Besseres tun können, als Calyxas außerordentliche Talente in Anspruch zu nehmen? Julian versorgte sie mit Büchern aus dem Bestand des Dominion-Archivs, darunter eine Biografie Darwins und Bücher über die Taxonomie von Käfern, die Geografie Südamerikas und die Lebensweise von Seeräubern. Calyxa nahm ihre Aufgabe sehr ernst und las alle diese Bücher mit großer Aufmerksamkeit. Wenn die Haushaltshilfe nicht da war, musste ich mich nicht selten um Flaxies Belange kümmern (die zahlreich und meist unaufschiebbar waren), während Calyxa ihrer schöpferischen Arbeit an Schreibtisch und Klavier nachging.

In wenigen Tagen hatte sie Arien und Melodien für alle drei Akte entworfen. Sie führte sie Julian eines Abends vor, als er zusammen mit Pastor Stepney zu unserer wöchentlichen Drehbuchkonferenz stieß. Julian blätterte in Musik und Texten, und sein Mienenspiel verriet, dass er zunehmend Gefallen daran fand. Dann wandte er sich an Calyxa und sagte: »Du solltest uns das eine oder andere mal vorsingen. Magnus kann keine Noten lesen.«

»Die meisten Arien sind männlich besetzt«, sagte Calyxa, »abgesehen von ein, zwei Liedern, die Emma singt.«

»Das versteht sich. Hier«, sagte er und reichte ihr einen der ersten Abschnitte, in dem der junge Charles Darwin auf einer Käfer-Expedition in den Wäldern außerhalb von Oxford seine Kusine Emma erblickt.[102] Calyxa setzte sich ans Klavier und griff das Lied da auf, wo Darwin den Inhalt seines Keschers in Augenschein nimmt und singt:

These creatures yet are all alike in

Several ways that I find striking:

Six legs fixed on a tripart body;

External shells, some plain, some gaudy;

Some have wings or hooks or hair

- distinctions, yes, eight, ten, a dozen —

And yet in General Structure they’re

As like as I am to my cousin.

Here comes my cousin now! And as she

Pauses in the shady hedge-wood

I hope she’ll turn her eyes to me,

That young and pious Emma Wedgwood!

White summer dress, blue summer bonnet,

A red coccinellid clinging on it …

»Stopp!«, rief Julian. »Was ist ein coccinellid

»Marienkäfer«, sagte Calyxa knapp.

»Sehr gut! Weiter.«

All life intrigues me, without doubt,

And yet in truth (for truth will out),

I find Miss Emma’s pretty legs

More interesting than Skate-Leech-Eggs …[103]

Julian unterbrach noch ein paarmal, wenn er etwas nicht verstand, aber im Großen und Ganzen konnte Calyxa ungestört singen — die gesamte Partitur, außer einem Duett (das sie alleine nicht bewerkstelligen konnte) und dem vielstimmigen Medley am Ende. Sie sang die männlichen Partien con effeto und die weiblichen in einem gefühlvollen Alt und schlug mit Begeisterung und Können in die Tasten. Klein Flaxie konnte bei dem Lärm unmöglich schlafen, und ihre Amme kam mit ihr nach unten und setzte sich zu uns. Am Ende hatte Calyxa uns fast eine Stunde lang herrlich unterhalten und rückte mit einem zufriedenen Lächeln vom Klavier ab. Sie löste das Tuch aus ihrem Haar, und über ihre schlanke Gestalt perlten schwarze Löckchen in seltener Fülle[104], während Julian applaudierte und wir alle einfielen. Es wurde eine lange Ovation. Sogar Flaxie wollte mitklatschen, obwohl sie darin noch unbeholfen war und ihre Händchen sich meist verfehlten.

Es war alles in allem die schönste Zeit, die wir seit langem miteinander verbracht hatten, und wir hätten eine große Familie sein können, die nach langer Trennung wieder glücklich vereint war und sich nicht um Gram und Gefahr scherte, die über unseren Köpfen kreisten wie Aasvögel über einem schwindsüchtigen Maultier.

7

Im Spätsommer schlich sich ein Attentäter in den Regierungspalast und versteckte sich im Bibliothekstrakt, um Julian dem Eroberer mit aufgesetzter Pistole in den Kopf zu schießen.

Aus August wurde September und die Produktion von The Life and Adventures of the Great Naturalist Charles Darwin kam gut voran. Julian war nicht müßig gewesen, während wir an Buch und Musik gearbeitet hatten. Er hatte das Projekt mit der ganzen Macht seiner Präsidentschaft vorangetrieben und mit einem guten Teil des Vermögens, das er als Comstock verwaltete. Dort, wo das Palastgelände an die 110te Straße West grenzt, hatte er eine Reihe von unbenutzten Stallungen renovieren und in ein »Filmstudio« verwandeln lassen, das in Manhattan seinesgleichen suchte. Und er hatte die Talente der New York Stage and Screen Alliance angeworben, der besten Produktionsgesellschaft der Stadt. Dieses Team aus Schauspielern, Sängern, Geräuschemachern, Kameraleuten, Filmkopierern und anderen war bereits für viele beachtliche Filme verantwortlich, darunter der früher schon beschriebene Film Eula’s Choice. In der Vergangenheit war man allerdings ausnahmslos durch Restriktionen, nicht zuletzt des Dominions, in seinen Möglichkeiten beschnitten gewesen. In diesem speziellen Fall war man direkt Julian unterstellt, er hatte das Sagen und sonst niemand.

An dem besagten Tag hielt ich mich im »Studio« auf und verfolgte Aufnahmen, an denen keine Hauptdarsteller beteiligt waren. Magnus Stepney alias Darwin hatte heute seinen drehfreien Tag; und die Schauspielerin Julinda Pique alias Emma Wedgwood war zu Besuch bei Verwandten in New Jersey. Mich interessierte aber gerade die mehr technische Seite der Dreharbeiten. Ich hatte mich mit dem Kameramann angefreundet, der für die Illusionen verantwortlich war, dem sogenannten Effects Shooter. Ich half ihm bei den Aufnahmen für die Südamerika-Montage im zweiten Akt. Er hatte ein wandgroßes Gemälde aufgestellt, auf dem ein beängstigend realistischer Dschungel samt Gebirge zu sehen war; davor hatte er einige sehr überzeugende Papierimitationen von tropischen Pflanzen und Büschen arrangiert sowie als Tiger verkleidete zahme Hunde und etliche Gürteltiere, die Julian aus Texas geordert hatte, die meisten waren noch am Leben. Julian hatte ihn angewiesen, die Kamera immer in Bewegung zu halten, um noch mehr Leben in die Sequenz zu bringen. Was der Effect Shooter auch beherzigte, wobei er die unruhigen Tiere nicht aus dem Bild verlieren und ebenso wenig den Hintergrund versehentlich als gemalte Kulisse entlarven durfte. Das war eine schweißtreibende Arbeit an diesem schwülen Septembertag, und der Mann stieß ein paar ungewöhnliche Verwünschungen aus, ehe das Ergebnis seinen Vorstellungen entsprach.

Er war dabei, den Set abzubauen, als ein Regierungspage in grüner Livree angelaufen kam. Der junge Mann war offensichtlich erregt und musste erst wieder zu Atem kommen. »Es sind Schüsse gefallen, Major Hazzard!«, keuchte er. »Schüsse im Palast, Sir!«

Ich rannte, ohne nachzufragen, los. Die Republikanische Garde hatte den Bibliothekstrakt abgeriegelt, und mir wurde angst und bange, als ich Julians Leibarzt vor mir durch den Kordon eilen sah. Die Gardisten ließen mich nicht durch, wie sehr ich auch protestierte. Dann tauchte Sam Godwin auf und schob mich vor sich her in den Trakt.

Ich fürchtete das Schlimmste. In dem Maße, wie Julians »Krieg« mit dem Dominion eskaliert war, hatte der Sockel, auf dem er stand, Risse bekommen. Letzte Woche erst hatte er bis auf Weiteres alle einstweiligen Verfügungen des Dominions für null und nichtig erklärt. Was bedeutete, dass die Behörden vorerst alle finanziellen Forderungen, Beschlagnahmungen oder Inhaftierungen als gegenstandslos zu betrachten hatten, wenn sie ausschließlich von der Kirche veranlasst waren. Mit dem Resultat, dass Calyxa nicht länger unter Hausarrest stand und zahllose eingesperrte Ketzer freikamen sowie Anhänger sogenannter Freikirchen und radikale Parmentieristen, die nur auf ekklesiastische Veranlassung inhaftiert waren, nicht zu vergessen die bedauernswerten Spinner, die hartnäckig ihre eigene Göttlichkeit verkündeten.

Dass Julian diese Verfügungsgewalt gekippt hatte und nach wie vor die Trennung zwischen Kirche und Militär betrieb, lief auf eine Kastration des Dominions hinaus. Das Dominion durfte nach wie vor den Zehnten seiner Mitgliedskirchen erheben und den Bann über Dissidenten aussprechen; doch ohne legislativen Rückhalt würde es zunehmend an Boden verlieren — hoffte Julian.

Als Quittung hatten sie einen Killer in die »Höhle des Löwen« geschickt: Denn für mich stand fest, wer die Drahtzieher waren. »Ist Julian tot?«, fragte ich Sam, als wir uns einen Weg durch die Menge bahnten.

»Weiß ich nicht«, sagte Sam. »Wurde ein Arzt gerufen?«

»Ja, er ist hier reingegangen …«

Aber Julian war nicht tot. Er befand sich im Lesesaal, saß in einem Lehnstuhl, aufrecht und hellwach, einen Verband um den Kopf gewickelt. Als er uns sah, rief er uns beim Namen.

»Bist du schlimm verletzt?«, wollte Sam wissen.

»Nicht sehr«, meinte Julian grimmig. »Sagt jedenfalls der Doktor — die Kugel hat das Ohr erwischt.«

»Wie ist es passiert?«

»Der Mann hatte sich hinter einem Sessel versteckt und sprang plötzlich auf mich zu. Er hätte mich todsicher umgebracht, wenn Magnus ihn nicht gesehen und laut aufgeschrien hätte.«

»Verstehe«, sagte Sam. »Wo ist Magnus jetzt?«

»Magnus hat sich hingelegt. Die Sache hat ihn schwer mitgenommen — er ist zartbesaitet.«

»So was steckt man nicht so leicht weg. Was ist mit dem Attentäter?«

»Die Garde war nicht zimperlich«, sagte Julian. »Er liegt in einer Zelle im Tiefgeschoss.«

Im Tiefgeschoss des Regierungspalasts gab es einen Komplex mit Zellen.[105] »Hat er was gesagt?«, fragte Sam.

»Man hat ihm die Zunge rausgeschnitten, vermutlich schon vor Jahren; und schreiben kann oder will er nicht. Das Dominion wählt seine Leute sorgfältig aus — es weiß, wie man Menschen zum Sprechen bringt — aber auch zum Schweigen.«

»Weißt du genau, dass er vom Dominion geschickt wurde?«

»Beweise mir das Gegenteil. Ich brauche keine Gewissheit, um einem wohlbegründeten Verdacht zu folgen.«

Sam schüttelte nur den Kopf; nach ihm — und daraus machte er keinen Hehl — hatte Julian sich bei seiner Auseinandersetzung mit dem Dominion auf einen Kurs begeben, der einem Sprung ins tosende Wildwasser des oberen Niagara gleichkam.

»Das Motiv des Mannes liegt jedenfalls auf der Hand«, sagte Julian. »Er hatte einen primitiv gedruckten Handzettel dabei, der die Wiedereinsetzung von Deklan dem Eroberer fordert.«

»Aber wenn er doch nicht lesen oder schreiben kann …«

»Ich glaube, der Handzettel war ein Requisit, das den Verdacht vom Klerus ablenken sollte, obwohl — wer sonst als der Klerus hat ein Interesse, dass Deklan wieder an die Spitze der Regierung kommt? Trotzdem, ich will nicht, dass Deklan als Nagel benutzt wird, an den Meuchelmörder ihre Hoffnungen hängen. Ich muss mich dringend um ihn kümmern.«

Bei diesen Worten stand ein kalter Glanz in seinen Augen. Weder Sam noch ich trauten uns nachzufragen, obwohl uns Böses schwante.

»Und dann die Republikanische Garde …«, fuhr Julian fort.

»Was ist mit den Männern? Haben sie nicht sofort reagiert, als sich der Attentäter zeigte?«

»Aber sie hätten vorher reagieren sollen; wozu brauche ich sie sonst? Eine Prise Glück und Magnus Stepney haben mir das Leben gerettet, nicht die Gardisten. Ich kann mir nicht vorstellen, wie dieser Mann so weit kommen konnte, ohne einen Kollaborateur in den Reihen der Garde zu haben. Ich habe diese Leute vom letzten Regime geerbt und traue ihnen nicht.«

»Noch einmal«, sagte Sam in einem versöhnlichen Ton, »du weißt nicht …«

»Ich bin der Präsident, Sam, geht das nicht in deinen Kopf? Ich muss nicht wissen; ich muss handeln.«

»Was gedenkst du zu tun?«

Julian zuckte die Schultern; falls er Rat suchte, suchte er ihn offenbar nicht bei uns.

Sam verabschiedete sich, als die Krisenstimmung abklang — er hatte anderweitig zu tun. Ich wollte Julian noch nicht allein lassen und sah zu, wie der Doktor den provisorischen Verband entfernte, um das verletzte Ohr mit Jod zu betupfen und die aufgerissenen Ränder zu nähen. Julians Leibarzt ging so ruhig und professionell zu Werke, wie es Dr. Linch in Striver getan hatte; trotzdem würde eine Narbe zurückbleiben. »An meinem Kopf ist rumgeschnippelt worden wie an einem Kuchenapfel«, beschwerte sich Julian. »Es wird allmählich langweilig, Adam.«

»Bestimmt, Julian. Du solltest dich jetzt ausruhen.«

»Noch nicht. Es gibt Angelegenheiten, die vertragen keinen Aufschub.«

»Was für Angelegenheiten?«

Sein Blick war vollkommen ausdruckslos.

»Präsidentensache«, sagte er.


Die Presse brachte nichts über das Attentat auf den Präsidenten — die Sache war ihr zu heiß; Julian dagegen machte seine Reaktion auf den Mordversuch auf seine Art publik. Ich wurde Zeuge, als ich am nächsten Morgen das Palastgelände verließ, um einen Spaziergang auf dem Broadway zu machen.

Auf der 59sten hinter dem Gate gab es einen Menschenauflauf. Die Leute starrten mit aufgerissenen Augen nach oben. Erst als ich draußen auf dem Bürgersteig vor der hohen Umfassungsmauer stand, konnte ich sehen, was die Leute derart in den Bann schlug.

Hoch oben auf den Eisenspitzen, die die Mauer überragten, steckten zwei Köpfe, einer links und einer rechts vom Tor.

Das war grausiger als alles, was ich in Labrador erlebt hatte, vor allem, weil die Stadt ansonsten so friedlich war. Beispiellos war der Anblick allerdings nicht. In früheren Zeiten hatte man hier die Köpfe von Verrätern zur Schau gestellt, aber nur noch selten seit den turbulenten 2130ern. Die Identität der Opfer war von hier unten schwer auszumachen, zumal die Gesichter verzerrt und von Tauben angepickt waren. Doch ein paar Schaulustige hatten sich Operngläser geholt, und in der Menge wuchs die Übereinstimmung. Keiner der Anwesenden kannte den Kopf auf der linken Seite (konnte ihn auch nicht kennen, denn er gehörte dem Attentäter, den man im Bibliothekstrakt überwältigt hatte). Anders der Kopf auf der rechten Seite — er hatte unlängst noch auf den Schultern von Deklan dem Eroberer gesessen; der frühere Präsident, der in seinem Neffen den Thronräuber gefürchtet hatte, hatte jetzt nur noch das Urteil des gerechten Gottes zu fürchten.

Die unerfreulichen Trophäen faulten dort eine Woche lang vor sich hin. Jeden Tag aufs Neue sammelten sich kleine Jungs am Gate und warfen mit Steinen nach den Köpfen, bis sich die scheußlichen Verunzierungen von den Eisenspitzen lösten und hintenüber aufs Palastgelände fielen.


Julian wollte nicht über die Exekutionen sprechen und sagte nur, dass jetzt der Gerechtigkeit Genüge getan und die Sache erledigt sei. Ich konnte nur hoffen, dass er die Hinrichtungen nicht befohlen, sondern lediglich gutgeheißen hatte, obwohl der Unterschied zwischen befehlen und gutheißen so groß nicht war. Nicht dass ich Mitgefühl für Julians Onkel oder den anonymen Attentäter empfunden hätte, denn jener hatte viele Morde und dieser zumindest einen Mordversuch auf dem Gewissen. Doch sie ohne ordentlichen Prozess hinzurichten war mir einfach zu unzivilisiert; und die Zurschaustellung der Häupter konnte auch nur bewirken, dass man Julian für brutal und herrisch hielt.

In derselben Woche entließ Julian in einem weiteren Handstreich alle aktiven Mitglieder der Republikanischen Garde — gut fünfhundert Männer — und ersetzte sie durch Soldaten der Laurentischen Armee, handverlesen aus einer Liste jener, die an Julians Seite bei Mascouche, Chicoutimi und Goose Bay gekämpft hatten. Darunter viele, die auch meine Kameraden waren; es war schon verblüffend, durch die Palastkorridore zu gehen und nicht die gewohnten feindseligen und misstrauischen Blicke zu ernten, sondern herzliche Zurufe alter Freunde und Gefährten.

Am Freitagabend erfuhr dieses Gefühl noch eine Steigerung, als ich zu Julian und Stepney unterwegs war, um den Wochenplan für die Arbeit an Charles Darwin zu besprechen. Der neue Captain der Republikanischen Garde, dem ich bislang noch nicht begegnet war, bewachte höchstpersönlich den Zugang zum Bibliothekstrakt, als ich um eine Ecke der langen Korridore bog und fast mit ihm zusammengestoßen wäre.

»Passen Sie gefälligst auf«, schrie der neue Mann. »Ich bin keine Tür, die man aufstoßen muss, um hier durchzukommen — erklären Sie Ihre Absichten, Mister — aber — hol mich der Teufel, wenn das nicht Adam Hazzard ist! Adam, du Bücherwurm! Da müsste ich einen verdammt guten Grund haben, wenn ich dir nicht die Hand schüttle!«

Er schüttelte sie mir tatsächlich, und es tat verdammt weh, denn der neue Captain der Republikanischen Garde war niemand anderes als Mr. Lymon Pugh.

Vielleicht hätte ich doch nicht so froh sein sollen, ihn wiederzusehen, aber in dem Moment kam er mir wie der Abgesandte einer einfacheren und unbeschwerteren Welt vor. Ich gestand ihm, dass ich nicht damit gerechnet hatte, ihn jemals wiederzusehen, und gab meiner Hoffnung Ausdruck, der Posten hier im Palast möge endlich der Richtige für ihn sein.

»Jeder Palast ist besser als ein Schlachthof«, sagte er. »Und du? Ich habe dich zuletzt gesehen, da hattest du gerade diese Sängerin aus dem Thirsty Boot geheiratet.«

»Wir haben jetzt eine Tochter — du wirst sie noch kennenlernen!«

»Du hast auch ein Buch geschrieben, hat mir jemand gesagt.«

»Ein Heft über Captain Commongold und einen Roman, der sich genauso gut verkauft; und ich habe Charles Curtis Easton besucht, und wir haben die Köpfe zusammengesteckt und gearbeitet. Aber du hast sicher auch einiges vorzuweisen, lass hören!«

Er zuckte die Achseln. »Ich habe bis heute gelebt, ohne zu sterben«, sagte er. »Das ist schon viel für meine Verhältnisse.«


Calyxa machte einen Bogen um Julian und The Life and Adventures of the Great Naturalist Charles Darwin. Nachdem sie Partitur und Texte geliefert hatte, hatte sie keinerlei Bedürfnis mehr, sich auf Einzelheiten der Dreharbeiten einzulassen, zumal sie alle Hände voll zu tun hatte, Flaxie beim Erlernen so fundamentaler Fertigkeiten wie essen, aufrecht stehen und dergleichen zu helfen.

Sie traf sich wohl mit Parmentieristen-Freunden aus der Stadt, und Mrs. Comstock (bzw. Mrs. Godwin, woran ich mich partout nicht gewöhnen konnte) pflegte Kontakte mit gewissen einfacheren Eupatriden. Wichtiger noch, die beiden Frauen berieten sich und schmiedeten Pläne, wie sie Krisen begegnen wollten, die sozusagen über Nacht aus Julians politischer Situation entstehen konnten.

»Weißt du viel über das mediterrane Frankreich?«, fragte Calyxa mit gespielter Beiläufigkeit eines Septemberabends, als wir schon im Bett lagen.

»Nur dass es von Mitteleuropa als Territorium beansprucht wird, während Frankreich darauf besteht, eine unabhängige Republik zu sein.«

»In Frankreich muss das Wetter sehr mild sein, und Frankreich unterhält freundschaftliche Beziehungen zu anderen Teilen der Welt.«

»Soviel ich weiß, ja … und was ist damit?«

»Ach, nur so — kann ja sein, dass wir eines Tages mal da leben müssen.«

Ganz von der Hand zu weisen war das nicht. Wir hatten diese Möglichkeit schon mehrmals diskutiert. Sollte zum Beispiel Julians Präsidentschaft zusammenbrechen und feindlich gesinnte Kräfte an die Regierung kommen, konnten wir alle (einschließlich Julian) gezwungen sein, das Land zu verlassen.

Aber ich hoffte inbrünstig, dass solche Umstände nie eintraten, und wenn, dann erst nach Jahren, wenn Flaxie älter war und eine solche Reise besser verkraften konnte. Mit einem Säugling auf eine Transatlantikreise zu gehen, den Gedanken wies ich weit von mir. Nicht einmal mit in die Stadt wollte ich Flaxie nehmen, besonders jetzt nicht, während eine neue Pockenart kursierte und jeder zweite Bürger eine Papiermaske vor der Nase trug.

»Man kann so was nicht im letzten Moment regeln«, sagte Calyxa. »So was muss im Voraus geplant werden. Wir haben uns für das mediterrane Frankreich entschieden …«

»Moment — wer ist ›wir‹?«

»Emily und ich, so unter uns. Ich habe unsere Parmentieristen gefragt, und sie meinen, Frankreich wäre eine ideale Zuflucht. Emily hat Beziehungen zu Schiffseignern — jetzt im Moment hätte sie zum Beispiel keine Probleme, eine Passage für uns zu buchen, was sich je nach politischer Wetterlage ändern kann.«

»Ich hoffe immer noch, mein Leben in Amerika zu verbringen und hier auch meine Bücher zu schreiben«, sagte ich.

»Du wärst nicht der einzige amerikanische Autor in Marseille. Man kann Manuskripte per Post schicken.«

»Und wenn mein Verleger nicht mitmacht?«

»Wenn die Lage in Manhattan noch brenzliger wird, Adam, dann hast du keinen Verleger mehr.«

Da hatte sie allerdings Recht. Nur dass es mich nicht aufmunterte, mir aber auch nicht in den Schlaf half.

Die Dreharbeiten an The Life and Adventures of the Great Naturalist Charles Darwin waren am Erntedankfest 2175 beendet. Die Arbeit an dem Film war damit noch nicht zu Ende. Was auf Zelluloid gebannt war, war nur der visuelle Teil des Werks; zur Vorführung bedurfte es immer noch der Synchronstimmen, Geräuschemacher, einer intensiven Einstudierung und mehrerer Proben in einem geeigneten Lichtspieltheater. Aber die härteste Arbeit war getan, insbesondere für die Techniker und Schauspieler, und deshalb hielt Julian es für angebracht, das Erreichte durch eine von ihm so bezeichnete Wrap Party zu feiern.

Das Gelände des Regierungspalasts war in Julians Amtszeit kein gesellschaftlicher Anziehungspunkt gewesen und nach den unangekündigten Enthauptungen völlig verwaist geblieben. Julian störte das nicht weiter; er legte keinen gesteigerten Wert auf die Gesellschaft hoher Eupatriden und schon gar nicht auf die Senatoren unter ihnen. Obwohl der Senat seinem Regime zunächst großzügig begegnet war, war es mit diesem Regierungsorgan genauso zu Reibereien gekommen wie mit dem Dominion. Julian hatte keine radikalen Arbeiterschutzgesetze erlassen[106], hatte sich aber geweigert, bei einem Sklavenaufstand in der Textilindustrie Truppen zu entsenden.[107] Seine stillschweigende Sympathie für die Rebellen brachte natürlich jene Senatoren auf, die Beziehungen zu dieser Industrie hatten, was zu scharfen Protesten aus dem Senat geführt hatte.

Mithin gab es keine freundlich gesinnten Eupatriden, die wir zu unserer Wrap Party hätten einladen können; doch Julian fand das nicht tragisch. Er hatte sich in zunehmendem Maße mit Ästheten und Philosophen umgeben, nicht bloß mit Filmleuten — ein kunterbunter Haufen aus Radikalen vornehmer Herkunft, Reformatoren, Musikern, parmentieristischen Traktateschreibern, Künstlern, denen es um mehr als Geld ging, und mehr Leuten dieses Schlags.

Die Party fand am letzten warmen Abend des Jahres statt. Obwohl uns der Erntedank ins Haus stand, herrschten tropische Temperaturen, und nach Einbruch der Dunkelheit eroberte die Feier den weitläufigen Rasen des Regierungspalasts. Die Leistung der hydroelektrischen Generatoren von New York City war unlängst aufgestockt worden, und die künstliche Stadtillumination verlieh den Wolken einen fahlen Glanz. Der Weiher und das Jagdrevier waren in Dunkel gehüllt und nahmen sich geheimnisvoll und romantisch aus. Nicht lange, und die Gäste samt Filmteam waren vom Champagner beschwipst. Man schlenderte oder tanzte über die Wiese, rauchte an abgeschiedenen Stellen Haschischzigaretten und benahm sich, während der Abend älter wurde, immer schamloser und ausgelassener.

Ich saß auf den Marmorstufen des Palastes und verfolgte den Trubel aus sicherer Entfernung. Nach einiger Zeit kam Pastor Magnus Stepney zu mir. »Alle freuen sich, Adam«, sagte er und brachte seine schlaksige Gestalt links neben mir auf die Stufe herunter.

»Trotzdem nur Spektakel«, sagte ich.

»Mögen Sie es nicht, wenn Menschen Spaß haben?«

Diese Frage war heikler, als er vielleicht ahnte. Ich hatte mich mit vielen der Feiernden angefreundet, vor allem mit denen am Set (Filmjargon), und hatte sie als anständige und wohlmeinende Zeitgenossen kennengelernt, also die allermeisten. Aber die Party begann alles hinter sich zu lassen, was ich damals in Williams Ford unter einer zivilisierten Feier verstanden hatte. Männer und Frauen, die nicht einmal miteinander verheiratet waren, tanzten zusammen zu obszönen Liedern oder spielten laut kichernd und lachend Fangen oder duldeten Zärtlichkeiten unter aller Augen. Manche aus dem Filmteam waren so berauscht, dass sie solche Intimitäten sogar Gleichgeschlechtlichen aufdrängten; und nicht selten wurden solche Zuwendungen sogar begrüßt.[108] »Kommt drauf an«, sagte ich. »Ich gönne jedem sein Vergnügen. Und ich schwinge mich nicht gerne zum Richter auf. Aber was ist denn mit Ihnen, Magnus? Sie sind Pastor, auch wenn Ihre Kirche aus der Reihe tanzt. Ermutigen Sie Ihre Gemeindemitglieder, sich so zu verhalten?«

»Mein Gott ist das Gewissen, Adam. Das habe ich auf unser Schild geschrieben, um die Unvorsichtigen zu warnen.«

»Und? Ist Ihr Gewissen glücklich, hier zu sitzen und zuzusehen, wie Ihre Freunde im Mondschein schwelgen und Unzucht treiben?«

»Es steht kein Mond am Himmel.«

»Sie weichen aus, Pastor.«

»Sie verstehen meine Lehre nicht. Vielleicht sollte ich Ihnen eine Broschüre geben. Ich ermuntere die Menschen, auf ihr Gewissen zu hören und der goldenen Regel[109] zu folgen und so weiter. Aber das Gewissen ist nicht der gemeine Aufsehertyp, für den viele es halten. Das wahre Gewissen spricht zu allen Menschen in allen Sprachen, und das gelingt ihm, weil es nur ein paar schlichte Dinge zu sagen hat. ›Liebe deinen Nachbarn wie deinen Bruder‹ und tue alles, was daraus folgt — besuche die Kranken, schlage weder Frauen noch Kinder, töte niemanden deines Vorteils wegen und so fort. Sie wissen, wie ich über das Gewissen denke, Adam? Ich halte das Gewissen für einen großen grünen Gott — buchstäblich grün, weil Grün die Farbe der Frühlingsblätter ist. Mit einem Lorbeerkranz vielleicht oder einem Feigenblatt, um das Nötigste zu bedecken. Dieser Gott sagt: Vertraut einander, auch wenn euch nicht vertraut wird. Er sagt: Tut, was ich euch sage, und ihr werdet wieder im Paradies sein. Schon mal von der Spieltheorie gehört, Adam Hazzard?«

Ich verneinte. Es handle sich dabei um eine obskure Wissenschaft der Säkularen Alten, erklärte Magnus Stepney. Sie habe mit der Mathematik von Abmachungen zu tun und mit der Mathematik von wechselseitig vorteilhaften Tauschgeschäften, um nur einiges zu nennen. »Im Grunde genommen, Adam, unterstellt die Spieltheorie, dass es zwei Möglichkeiten für menschliches Handeln gibt. Man kann vertrauenswürdig sein und anderen vertrauen, oder man kann um des eigenen Vorteils willen nicht vertrauenswürdig sein. Der Vertrauenswürdige geht eine Abmachung ein und hält sich daran. Der Nicht-Vertrauenswürdige geht die gleiche Abmachung ein und ist mit dem Geld auf und davon. Das Gewissen sagt uns: ›Sei der Vertrauenswürdige!‹ Das ist sehr viel verlangt, denn der Vertrauenswürdige wird oft betrogen und ausgenutzt; während der Nicht-Vertrauenswürdige nicht selten auf dem Thron sitzt oder von der Kanzel predigt und in seinem Reichtum schwelgt. Würden wir alle dem Nicht-Vertrauenswürdigen nacheifern, wäre das die ewige Hölle gegenseitigen Ausplünderns; würden wir aber alle dem Vertrauenswürdigen nacheifern, wäre das der Garten Eden. Wenn es ein Himmelreich gibt, Adam, ist es ein Ort, an dem wir einander ohne Zögern trauen können.«

Ich fragte Pastor Stepney, ob er Alkohol getrunken habe. Er verneinte.

»Gut«, sagte ich, »dann ist diese lärmende Party also ein Beispiel für das Paradies?«

»Das Gewissen ist kein brutaler Zuchtmeister. Das Gewissen nimmt keinen Anstoß an einem Kuss im Dunkeln, vorausgesetzt, er wird freiwillig gegeben und freiwillig erwidert. Das Gewissen nörgelt nicht an unserem Musikgeschmack herum, nicht an unserer Kleidung oder Lektüre oder an unseren Schmusereien. Es lächelt über Intimitäten und hasst den Hass. Es geißelt nicht die unbekümmert Liebenden.«

Das war eine interessante Lehre, sie kam mir vernünftig vor, war aber zweifellos ketzerisch.

»Kurzum also, ja«, sagte er und machte eine Geste, die das mit Champagner und Haschisch angeheizte Fest meinte, das ringsherum im Gange war, »man kann das alles durchaus als eine erste Annäherung an das Paradies betrachten.«

Ich wollte ihn fragen, was das lorbeerbekränzte und notdürftig mit einem Feigenblatt bekleidete Gewissen denn von Julians Konflikt mit dem Dominion hielt oder vom Aufspießen menschlicher Köpfe am Broadway Gate. Doch Pastor Stepney war schon aufgestanden und ging — vermutlich, um sich seinerseits zu amüsieren. Also folgte ich seinem Rat und versuchte die ganze Schwelgerei, die sich vor mir entfaltete, so zu nehmen, als sei sie ein Vorgeschmack auf die Belohnung, nach der wir Christen trachteten; und meine Bemühungen hatten auch einen gewissen Erfolg, bis ein betrunkener Kameramann die Palaststufen hinaufgetorkelt kam, innehielt und mir vor die Füße kotzte.


Mir fiel auf, dass die Party ohne Julian stattfand. Bei der Eröffnung war er kurz auf einem der Innenbalkons erschienen, auf denen Deklan der Eroberer früher die Gäste zur Feier des Unabhängigkeitstags begrüßt hatte — doch dann hatte er sich zurückgezogen, und seitdem hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Das war nicht ungewöhnlich, denn seine Stimmung schwankte ständig, und er neigte zunehmend dazu, in der Bibliothek oder sonst wo im Labyrinth des Palastes zu hocken und vor sich hin zu brüten. Beunruhigt war ich erst, als Lymon Pugh die Marmorstufen herunterkam, die herumtanzenden Ästheten mit einem angewiderten Blick bedachte und mich bat, mit ihm in den Palast zu kommen, um nach Julian zu sehen.

»Warum, wo ist er?«

»Im Thronsaal mit Sam Godwin. Sie brüllen sich schon eine Stunde lang an, ganz fürchterlich. Vielleicht musst du eingreifen, bevor sie handgreiflich werden. Kannst du noch gerade gehen?«

»Ich bin völlig nüchtern.«

»Da bist du aber der Einzige.«

»Bist du schockiert, Lymon?«

Er zuckte die Achseln. »Ich habe größere Saufgelage erlebt. Aber da, wo ich herkomme, enden sie meistens in einer Massenschlägerei.«

Ich folgte ihm zum »Thronsaal«, wie Lymon und andere Mitglieder der Republikanischen Garde das Amtszimmer des Präsidenten nannten. Vielleicht sollte man ihnen die Übertreibung nachsehen. Das Amtszimmer war ein riesiger, quadratischer Raum mitten im Palast, gefliest und fensterlos und Tag und Nacht in elektrisches Licht gebadet. Die hohe Decke zeigte ein Gemälde von Otis auf seinem Kanonenboot in der lange zurückliegenden Schlacht auf dem Potomac.[110] Hier unterschrieben die Präsidenten Proklamationen und empfingen ausländische Botschafter oder Delegationen des Senats bei formellen Anlässen. Der Saal sollte Würde und Macht des Präsidenten unterstreichen. Der Lehnstuhl des Präsidenten war nicht direkt ein Thron, kam aber diesem Begriff so nahe, wie es sich für einen republikanischen Stuhl gehörte: Er war aus dem Kernholz einer edlen Eiche geschnitzt, purpurrot gepolstert und mit Blattgold verziert und stand auf einem Marmorpodest. Eben jetzt saß Julian schräg in diesem Stuhl, während vor ihm ein wütender Sam in kurzen Schritten auf und ab ging.

»Viel Glück«, flüsterte Lymon und duckte sich aus dem Raum. Es war zu spät, um mich anzukündigen, denn ich war bereits drinnen. Weder Sam noch Julian nahmen Notiz von mir, so heftig war ihre Auseinandersetzung. Die Echos flogen zwischen Zierfliesen und Decke hin und her.

Ich konnte es überhaupt nicht leiden, Julian so unglücklich zu sehen; auch nicht, dass Sam derart mit ihm schimpfte. Es ging um irgendeine Entscheidung, die Julian ohne Sams Wissen und Billigung getroffen hatte.

»Machst du dir eigentlich klar, was du getan hast?«, schrie Sam. »Was das für Konsequenzen hat?«

»Mich interessiert nur eine Konsequenz«, erwiderte Julian, »und das ist der Tod einer alten und hässlichen Tyrannei.«

»Was du erreichst, ist ein Bürgerkrieg!«

»Das Dominion ist eine Schlinge um den Hals der Nation, und ich will das Seil endlich kappen.«

»Und ich sehe einen anderen Hals in der Schlinge, wenn du nicht davon ablässt! Du tust, als könntest du alles proklamieren, was dir in den Sinn kommt, und es dann mit Soldaten durchsetzen …«

»Und? Kann ich das nicht? Hat mein Onkel nicht genau das getan?«

»Und wo ist dein Onkel jetzt?«

Julian sah beiseite.

»Die Feinde des Präsidenten haben einen Dolch in der Hand«, fuhr Sam fort. »Je mehr Feinde, umso mehr Dolche. Du hast das Dominion beleidigt — gut, das lässt sich nicht ungeschehen machen. Du hast dich über den Senat hinweggesetzt, was schon gefährlich genug ist. Und wenn diese Befehle die Kalifornische Armee erreichen …«

»Die Befehle sind unterwegs. Sie können nicht mehr zurückgenommen werden.«

»Du meinst, du willst sie nicht zurücknehmen!«

»Nein«, sagte Julian leiser, aber nicht weniger feindselig. »Nein, ich will nicht.«

Im Blickfeld des »Throns« waren kleinere Stühle aufgereiht, vermutlich für niedrigere Würdenträger. Sam trat einen dieser Stühle, dass er kreischend über die Fliesen fuhr und umkippte. »Ich lasse nicht zu, dass du Selbstmord begehst!«

»Du tust, was ich dir sage, und hältst den Mund! Dass du meine Mutter geheiratet hast, gibt dir nicht das Recht, über mich zu bestimmen! Du bist nicht mein Vater. Mein Vater wurde von Deklan getötet.«

»Wenn ich dich all die Jahre beschützt habe, Julian, dann aus Loyalität zu deinem Vater und aus Zuneigung zu dir und aus keinem anderen Grund! Ich habe keinerlei Interesse an einem Thron und will auch dem Mann nicht reinreden, der darauf sitzt!«

»Aber du hast mich nicht beschützt, Sam, und du redest mir hinein! Verdammt, ich hätte auf dem Goose-Bay-Feldzug krepieren sollen! Alles, was seitdem passiert ist, ist nur ein lächerlich verlängerter letzter Atemzug — geht das in deinen Kopf?«

»So etwas hättest du deinem Vater nicht sagen dürfen.«

»Was du meinem Vater schuldest, ist deine Sache. Meine Schuld habe ich getilgt, mit Deklans Kopf.«

»Du kannst dein Gewissen nicht mit einer Hinrichtung beruhigen! Bryce Comstock würde dir dasselbe sagen.«

Julian schrie nicht mehr, aber seine Erregung war nicht abgekühlt. Sie war abgetaucht und funkelte in seinen Augen wie ein reißender Strom, den man durch eine Gletscherspalte sieht. »Danke für deinen Rat. Aber es gibt nichts mehr zu bereden. Du kannst gehen.«

Sam sah aus, als wolle er noch einen Stuhl umtreten. Aber er tat es nicht. Er gab sich geschlagen und kam mit hängenden Schultern zur Tür.

»Rede mit ihm«, flüsterte er, als er vorbeikam. »Auf mich hört er nicht.«

»Tut mir leid, was du mit anhören musstest«, sagte Julian. Sams Schritte verebbten im Korridor.

Ich näherte mich dem Marmorpodest. »Lymon Pugh hat mir einen Wink gegeben. Er hatte schon Sorge, ihr würdet euch prügeln.«

»Es hat nicht viel gefehlt.«

»Was hast du getan, dass Sam so wütend war?«

»Einen Krieg erklärt, meint Sam.«

»Hast du noch nicht genug vom Krieg?«

»Wir haben es diesmal nicht mit den Deutschen zu tun, sondern mit einer Rebellion in Colorado Springs. Gestern hat der Dominion-Rat seinen Gemeindediakonen befohlen, sich jeder Anordnung des Präsidenten zu widersetzen, die den ekklesiastischen Bestimmungen widerspricht.«

»Das nennst du eine Rebellion? Das hört sich eher wie etwas Juristisches an.«

»Darin kommt ganz klar der Wunsch zum Ausdruck, mich zu stürzen!«

»Und das kannst du vermutlich nicht zulassen.«

»Heute Abend habe ich die Stadt Colorado Springs zum rebellischen Territorium erklärt und die Kalifornische Armee angewiesen, die Stadt einzunehmen und den Ausnahmezustand zu verhängen.«

»Eine ganze Armee, um eine einzige Stadt zu besetzen?«

»So viel wie nötig ist, um den Rat zu stürzen und die Dominion-Akademie niederzubrennen. Kollaborierende Diakone, die mit dem Leben davonkommen, werden wegen ihrer Verbrechen vor Gericht gebracht.«

»Colorado Springs ist eine amerikanische Stadt, Julian. Die Armee wird nicht erbaut sein, auf Amerikaner zu schießen.«

»Die Armee hat viele Meinungen, aber nur einen Oberbefehlshaber.«

»Bei den Kämpfen kommen doch sicher Unschuldige ums Leben.«

»Welcher Kampf hat jemals die Unschuldigen verschont?« Julian blickte finster drein. »Meinst du, ich kann in diesem Stuhl sitzen und mir kein Blut vorstellen, Adam Hazzard? Blut, ja; Blut, bitte sehr! Blut auf allen Seiten! Blut in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft! Ich habe mir dieses Amt nicht ausgesucht, aber ich mache mir nichts vor über seinen Charakter.«

»Gut«, sagte ich, um keinen weiteren Gefühlsausbruch zu provozieren, »ich glaube, am Ende ist alles wieder in Ordnung, wenn du das sagst.«

Er starrte mich an, als hätte ich ihm widersprochen. »Es gibt Regeln für das Betreten dieses Raums — weißt du das, Adam? Ich glaube nicht. Besucher verbeugen sich üblicherweise, wenn sie über die Schwelle treten. Senatoren verbeugen sich, Botschafter aus fernen Ländern verbeugen sich, selbst der Klerus muss sich verbeugen. Diese Regel kennt meines Wissens keine Ausnahme für Pächterburschen aus Athabaska.«

»Nein? Na ja, schön ist der Raum ja, aber ich bin mir nicht sicher, ob er irgendwelche Bücklinge meinerseits erfordert. Ich habe mich nicht vor dir verbeugt, als wir am River Pine Eichhörnchen gejagt haben, und glaube nicht, dass ich mich jetzt noch daran gewöhnen könnte. Ich kann gehen, wenn du möchtest.«

Ich muss wohl scharf geklungen haben. Julians Miene blieb ein, zwei Atemzüge lang unbewegt. Dann schlug sie wieder um.

Er lächelte, es war kaum zu glauben. Einen Moment lang sah er um Jahre jünger aus. »Adam, Adam … es hätte mich mehr verletzt, wenn du dich verbeugt hättest. Du hast Recht, und es tut mir leid, dass ich es erwähnt habe.«

»Schwamm drüber, für diesmal.«

»Ich bin müde und das Streiten leid.«

»Dann solltest du schlafen gehen.«

»Nein — das funktioniert nicht. Ich kann schon seit Tagen nicht mehr schlafen. Aber wir könnten wenigstens aufhören, über Colorado Springs zu reden. Willst du mal etwas Ungewöhnliches sehen, Adam? Etwas aus den Tagen der Säkularen Alten?«

»Du machst mich neugierig.«

Was mich in letzter Zeit an Julian stutzig gemacht hatte, war das häufige und abrupte Umschlagen seiner Stimmung — ein jähes Hin und Her wie bei Elritzen im Fischteich. Das hatte sich zuerst bei der Arbeit an The Life and Adventures of the Great Naturalist Charles Darwin gezeigt. Er konnte unangekündigt am Set erscheinen und sich wie ein orientalischer Tyrann gebärden, kleinliche Änderungen am Bühnenbild verlangen oder Schauspieler schikanieren … Dann verließ ihn die Willkür so rasch wie ein Wolkenschatten, der eine Lichtung überquert, und Julian lächelte verlegen und war gleich wieder mit Entschuldigungen und Lob bei der Hand. »Manchmal setzt Euer Gnaden die Krone auf«, hatte Magnus Stepney einmal gesagt, »und manchmal setzt er das verdammte Ding wieder ab.«

Ich wünschte, er würde die Krone überhaupt nicht mehr tragen; weil sie ihn quälte und despotisch machte und seinen Geist verwirrte.

Er trat von seinem Podest herunter und legte mir den Arm um die Schulter. »Ein frischer Fund aus dem Dominion-Archiv. Weißt du noch, wie ich dir erzählt habe, dort wären uralte Kinofilme versteckt?«

»Ja — aber welche, die wir nicht abspielen können.«

»Und ich wollte Techniker darauf ansetzen. Siehst du, und wir sind inzwischen ein Stück vorangekommen. Begleite mich nach unten, Adam, und ich zeige dir einen Film, der zweihundert Jahre auf uns gewartet hat.«

Es stellte sich heraus, dass Julian im unterirdischen Teil des Palastes ein Studio eingerichtet hatte, in dem man sich nicht nur mit antiken Filmen, sondern auch mit Darwin befasste. Normalerweise mied ich das Tiefgeschoss — da unten fror man selbst bei warmem Wetter, und ich hatte von den Gefängniszellen und Verhörräumen gehört. Das Studio war allerdings ganz modern eingerichtet und leidlich warm. Hier gab es ungewöhnliche Apparate und rätselhafte chemische Bäder und eine makellos weiße Leinwand auf der einen Seite und einen großen komplizierten Filmprojektor auf der anderen.

»Die meisten Filme, die wir gefunden haben, waren verwahrlost und hoffnungslos zerfressen«, sagte Julian. »Selbst die besten waren nur noch teilweise zu retten, aber was wir retten konnten, ist ein einzigartiger Schatz«, und ich hörte in seiner Stimme das Echo eines Julian Comstock, der mit der gleichen verzückten Faszination auf der Halde bei Williams Ford ein Buch nach dem anderen in die Hand genommen hatte. »In der letzten Zeit bin ich nachts viel hier unten, wenn es still und leise ist, und sehe mir diese Fragmente an. Hier«, sagte er und nahm eine tortengroße Blechdose auf, »dieser Film heißt On the Beach und stammt aus dem 20. Jahrhundert[111] — eine halbe Stunde davon. Das Original war natürlich länger und besaß aufgezeichneten Ton und solche Raffinessen.«

Ich nahm mir einen Stuhl, während er den alten Film, den seine Leute auf modernes Zelluloid kopiert hatten, in den Projektor fädelte. Es war schon nach Mitternacht, und Calyxa würde zu Hause auf mich warten, doch ich spürte, dass Julian hier und jetzt meine Gesellschaft brauchte; ich hatte Angst, er könne sonst in eine tiefere Depression fallen oder noch einen Krieg vom Zaun brechen. »Wovon handelt er?«

Der Projektor, angetrieben von den schlaflosen Palastgeneratoren, erwachte summend und rasselnd zum Leben. »Von Schiffen und anderen Dingen. Du wirst schon sehen.« Julian stellte die Beleuchtung dunkler.

Ich gebe zu, dass ich das meiste, was sich auf der Leinwand abspielte, nicht verstand. Grelle Lücken und Löcher trugen das Ihre dazu bei. Viele Szenen waren wie ausgebleicht, beinah gespenstisch. Unsere Unfähigkeit, aufgezeichneten Ton wiederzugeben, beeinträchtigte die Verständlichkeit des Films, der zum großen Teil Leute zeigte, die sich unterhielten. Trotzdem gab es viele verblüffende und ungewöhnliche Dinge zu sehen.

Da war zum Beispiel ein Unterwasserschiff; nach Julian nannte man es »Unterseeboot« oder »U-Boot«. Das Innere sah wie der Maschinenraum eines modernen Dampfers aus, nur komplizierter, mit zahllosen Uhren, Hebeln, Rohren, Knöpfen und blinkenden Lichtern; und die Schiffsbesatzung trug Uniformen, die dauernd blitzsauber und frisch gestärkt waren.

Aber nur ein paar Szenen spielten auf See. Manche spielten in einer Stadt der Säkularen Alten. Auf den Straßen fuhren Automobile, zumindest anfangs, aber nicht so viele, wie man hätte denken können, und danach überhaupt keine mehr. Die Leute in der Stadt benahmen sich, als ob sie sehr reich und exzentrisch wären, aber exzentrischer als reich.

Es gab auch, wie der Titel versprach, eine Strandszene, in der Männer und Frauen in einer Bekleidung miteinander verkehrten, die so knapp gehalten war, dass sie fast splitternackt waren. Ein kurzer Blick, dachte ich bei mir, hätte Diakon Hollingshead in all seinen Vorurteilen über unsere Vorfahren bestätigt.

Unerklärliches passierte. Es gab Opfer bei einem Automobilrennen. Die Stadt wurde evakuiert, und eine Zeitung wehte eine leere Straße hinunter.[112] Julian folgte dem bruchstückhaften Film mit großer Aufmerksamkeit, dabei hatte er ihn schon viele Male gesehen; ich fand den Film sehr traurig und elegisch und fragte mich, ob das wiederholte Betrachten nicht noch mehr auf Julians Stimmung gedrückt hatte.

Der Film hörte unvermittelt auf. Julian schüttelte den Kopf wie jemand, der aus einer Trance erwacht, hielt den Projektor an und drehte die Beleuchtung auf. »Na?«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Julian. Ich hätte mir mehr Szenen von dem Unterwasserschiff gewünscht. Der Film ist gut, glaube ich. Aber warum sehen die Menschen so unglücklich aus? Dabei leben sie in einer Welt mit lauter Automobilen und Unterseebooten.«

»Es ist ein dramatischer Film — in einem Drama sind die Menschen selten glücklich.«

»Es gab keine Hochzeit am Ende, nichts Erbauliches.«

»Weiß man es? Den ganzen Film kennen wir ja nicht.«

»Das ist bestimmt ein seltener Einblick in das Leben der Säkularen Alten. So schlimm, wie das Dominion behauptet, scheinen sie jedenfalls nicht zu sein. Vollkommen waren sie aber auch nicht.«

»Ich bestreite nicht, dass sie unvollkommen waren«, sagte Julian geistesabwesend. »Ich sehe die Säkularen Alten durchaus kritisch, Adam. Es gab kein Laster, das sie nicht kannten, und sie begingen eine Sünde, die ich ihnen beim besten Willen nicht verzeihen kann.«

»Welche Sünde meinst du?«

»Uns hervorzubringen«, sagte er.


Es war wirklich an der Zeit, nach Hause zu gehen. Nicht mehr viele Stunden, und die Sonne würde aufgehen. Ich riet Julian, sich wenigstens hinzulegen — vielleicht komme ja ein ausgeruhter Geist mit der Präsidentschaft besser zurecht.

»Einverstanden«, sagte er wenig überzeugend. »Aber bevor du gehst, Adam, möchte ich dich um einen Gefallen bitten.«

»Gerne, Julian. Lass hören.«

»Meine Mutter schmiedet Pläne für den Fall, dass wir alle das Land verlassen müssen. Ich habe ihr wiederholt erklärt, dass es zu einem so drastischen Abgang nicht kommen wird. Aber man kann nie wissen. Es stimmt, dass ich mir Feinde gemacht habe. Ich habe mit der Geschichte gespielt und weiß nicht, was dabei herauskommt. Adam, siehst du die drei Filmdosen?« Er zeigte auf den Tisch an der Tür.

»Nicht zu übersehen. Was ist das? Frisch aus dem Archiv?«

»Nein, das ist The Life and Adventures of the Great Naturalist Charles Darwin. Alle drei Akte, das Original samt Partituren, Textbuch und Bühnenanweisungen. Vielleicht ist es kindisch, aber der Gedanke, der Film könnte ein für alle Mal verlorengehen, gefällt mir nicht. Wenn die politische Situation umschlägt oder mir etwas zustößt, möchte ich, dass du Darwin mitnimmst.«

»Mache ich! Du hast mein Wort. — Aber du kommst doch mit nach Frankreich, wenn wir hier wegmüssen.«

»Sicher, Adam; aber ich wäre beruhigt, wenn ich nicht der Einzige wäre, der sich darum kümmert. In dem Film steckt das Beste von mir. Die Menschen sollen ihn sehen.«

»Ganz Manhattan wird ihn sehen. Ein paar Wochen noch, dann ist Premiere.«

»Natürlich. Aber du tust mir den Gefallen, ja?«

Nichts leichter als das. Ich versprach es mit Handschlag. Dann verließ ich — ohne besagte Verbeugung auch nur anzudeuten — das Studio. Auf dem Weg nach oben hörte ich, wie der Projektor wieder losschnurrte.


Das umfriedete Palastgelände war ein Rechteck, das zweieinhalb Meilen lang und eine halbe Meile breit war. In alten Zeiten hatte es ein Mann namens Olmsted aus dem Boden Manhattans gestampft. Wohltuend und grün am Tag, nach Mitternacht einsam und verlassen. Das Gelände hatte eine ständige Bevölkerung an Beamten, Dienstpersonal und Gardisten; doch die allermeisten schliefen bereits seit Mitternacht. Inzwischen war sogar der Trubel der Wrap Party erloschen. Kaum etwas erinnerte an das, was hier am frühen Abend stattgefunden hatte, abgesehen von einem Ästhetenpaar, das in den Korbsesseln an der großen Piazza des Palastes schnarchte.

Von der Republikanischen Garde durften natürlich nicht alle schlafen. Die Gardisten hielten Wache, in Schichten wie die Matrosen auf hoher See. Sie bemannten rund um die Uhr die vier großen Gates und patrouillierten ständig an der hohen Umfassungsmauer. Einer von ihnen war Lymon Pugh, und er begegnete mir, als ich aus dem Palast kam. »Hallo, Lymon, immer noch Dienst?«

»Wurde eben abgelöst. Wollte mir noch ein bisschen die Beine vertreten, die Nacht ist so lau.«

Der Mond war aufgegangen. Nebel stieg vom nahen Weiher auf und streckte seine bleichen Finger in die Götterbaumhaine am Rand des Rasens. »Dieses Wetter ist mir nicht geheuer«, sagte ich. »In Athabaska hatten wir so oft Schnee gegen Erntedank, natürlich auch in Labrador. Und hier? — In diesem Jahr jedenfalls nicht.«

»Gehn wir ein paar Schritte, Adam. Ich habe nichts mehr zu erledigen, und schlafen kann ich sowieso nicht.«

»Der Schlaf ist manchmal wie ein scheues Baumhörnchen«, nickte ich. »Arbeitest du gerne für Julian?«

»Gern ist übertrieben. Es war nett von ihm, mich auszuwählen. Eine großartige Beförderung war nicht damit verbunden. Auf die Dauer … ich weiß nicht. Nichts gegen Julian Commongold — ich meine, Comstock —, aber ob er unterm Strich in das Amt passt?« Lymon wiegte den Kopf.

»Wie kommst du darauf?«

»Nach dem, was ich so gesehen habe, macht er im Grunde den Job eines Packstraßenaufsehers in einem Abpackbetrieb — der Job belohnt Rücksichtslosigkeit und tötet alle guten Charaktereigenschaften. Ich kannte einen Mann aus Seattle, der in der Fabrik, wo ich arbeitete, als Packstraßenaufseher eingestellt wurde, ein freigebiger Mann, lieb zu seinen Kindern, überall gern gesehen; aber man hat einen Packstraßenboss aus ihm gemacht, und nach einer Woche hörte ich, wie er jemandem die Gurgel durchzuschneiden drohte, wenn er nicht schneller spurte. Das war keine leere Drohung. Seitdem trug er ein Rasiermesser in der Gesäßtasche und spielte ab und zu damit herum.«

»Und mit dem vergleichst du Julian?«

»Julian ist kein schlechter Kerl. Überhaupt nicht. Das ist es ja. Ein richtig mieser Typ hätte es leichter als Präsident und käme auch vorwärts in dem Job.«

»Muss ein Präsident denn schlecht sein?«

»Denk ich mal. Aber ich weiß nicht viel von der Vergangenheit — vielleicht war es nicht immer so.« Unter unseren Schritten knirschte leise der Kies. »Ich will damit sagen«, fuhr Lymon fort, »dass Julian kein erfolgreicher Präsident ist, warum auch immer. Ich weiß, dass ihr eure Flucht plant.«

»Wer hat dir das erzählt?«

»Niemand, aber man hört dies und das. Du musst nicht darüber reden, Adam, ich hab nichts gesagt.«

»Nein — du hast ja Recht. Ich hoffe nicht, dass wir fliehen müssen. Aber es tut nicht weh, wenn man weiß, wo die Hintertür ist. Komm einfach mit, wenn das Fass überläuft, was Gott verhüten möge. Nach Frankreich. Das mediterrane Frankreich hat es Calyxa angetan.«

»Danke für das Angebot, Adam. Das ist Balsam für meine Seele. Aber was soll ich im Ausland? Ich kann Französisch nicht von Kanaanäisch unterscheiden. Wenn es dazu kommt, schnappe ich mir einen Gaul und reite nach Westen, wenn es sein muss, bis nach Willamette Valley.«

Wir näherten uns dem Gästehaus, in dem Calyxa, Flaxie und ich zurzeit noch wohnten. Ich wusste nicht, warum ich so traurig war, doch ich wollte nicht, dass Lymon Pugh es mitbekam, also hielt ich den Mund.

»Du hast eine wunderbare Familie, Adam Hazzard«, sagte er. »Pass gut auf sie auf. Nur das ist deine Aufgabe, sagt dir ein einfacher Gardist, der jetzt schlafen geht.« Er kehrte mir den Rücken. »Gute Nacht!«

»Gute Nacht«, brachte ich heraus.

Ich wartete an der Haustür, während Lymon Pugh zurück zum Palast ging.

Die Nacht war so außerordentlich still, wie sie es in der Stunde vor dem ersten Schimmer des neuen Tages zu sein pflegt — die Stille hängt wie ein sanfter Geist über der regungslos verharrenden Welt.[113] Hinten in der Dunkelheit gewahrte ich eine riesige Silhouette, die schwerfällig zwischen den Bäumen dahinschritt — es war Otis, der auf dem besten Wege war, eine nachtaktive Giraffe zu werden. Vielleicht genoss er gerade diese einsamen Stunden des frühen Morgens; oder fand einfach nicht in den Schlaf, wie andere auch.

Ich blickte noch eine Zeit lang in die Dunkelheit hinaus. Dann ging ich ins Haus und kroch, als sich der erste Glanz in den Himmel schlich, zu Calyxa ins Bett und kuschelte mich in die Wärme ihres schlafenden Körpers.

8

Von der nächtlichen Wrap Party, die den Abschluss der Dreharbeiten an The Life and Adventures of the Great Naturalist Charles Darwin beging, bis zur Premiere des Films in einem plüschigen Broadwaytheater brauchte es keinen Monat mehr. Normalerweise eine kurze Zeitspanne; doch eine schreckliche Ewigkeit für den amtierenden Präsidenten …

Sam Godwin, der engen Kontakt zum Militär unterhielt, hatte die undankbare Aufgabe übernommen, Julian die schlechten Nachrichten zu überbringen — eine Rolle, die er immer öfter zu spielen hatte. Es war Sam, der Julian berichtete, die Kalifornische Armee sei in Colorado Springs auf heftigen Widerstand ekklesiastischer Kräfte gestoßen. Es war Sam, der ihm berichtete, die Rocky Mountain Division dieser Armee habe rebelliert und sei zu den Streitkräften des Dominion of Jesus Christ on Earth übergelaufen. Es war Sam (und ich beneidete ihn um diese Aufgabe am allerwenigsten), der gezwungen war, Julian davon in Kenntnis zu setzen, dass die Befehlshaber der Kalifornischen Armee nach dem breiten, aber vergeblichen Einsatz von Artillerie und Brandbeschleunigern mit dem Dominion-Rat einen Waffenstillstand ausgehandelt und die einseitige Feuereinstellung erklärt hatten — alles gegen Julians ausdrücklichen Befehl.

Sam kam aschfahl und kopfschüttelnd aus dieser Unterredung. »Manchmal, Adam«, vertraute er mir an, »weiß ich nicht, ob er mir überhaupt zuhört. Er tut so, als seien diese Rückschläge belanglos oder zu weit entfernt, um hier noch eine Rolle zu spielen. Dann wieder tobt und wütet er, als sei ich an allem schuld, und sperrt sich anschließend in diesen Projektionsraum, um sich mit seinen Filmen zu betäuben.«

Es sollte noch schlimmer kommen. Nur drei Tage vor dem Debüt von Charles Darwin erreichte uns die Nachricht, die Befehlshaber der Laurentischen Armee hätten sich mit ihren Kameraden in Kalifornien solidarisiert und die Möglichkeit erwogen, nach New York zu marschieren, um Julian den Eroberer abzusetzen. Als möglicher Nachfolger sei Admiral Fairfield im Gespräch (der so erfolgreich auf See gewesen war). Das musste für Julian ein Schlag ins Gesicht gewesen sein, denn er bewunderte den Admiral, der ihn im Goose-Bay-Feldzug nicht im Stich gelassen hatte.

Diese kleinen und großen Revolten ließen das Fundament seiner Präsidentschaft erodieren; doch Julian fuhr fort, die Premiere vorzubereiten. Die örtlichen Kirchen riefen bereits zum Boykott auf, und es würde nötig sein, das Lichtspieltheater mit Republikanischer Garde abzuriegeln, um Ausschreitungen zu verhindern. Nichtsdestoweniger lud Julian uns alle ein, ließ die schönsten Kutschen bereitstellen und bat uns, die besten Sachen anzuziehen, um eine Galapremiere daraus zu machen; und das taten wir auch, weil wir ihn mochten und weil es vielleicht die letzte Gelegenheit war, ihm eine solche Ehre zu erweisen.


Eine Phalanx vergoldeter Kutschen, allseits von berittenen und bewaffneten Gardisten eskortiert, verließ an dem betreffenden Nachmittag das Palastgelände.

Calyxa und ich fuhren in einer der mittleren Kutschen, vor uns fuhren Julian und Magnus Stepney und hinter uns Sam und Julians Mutter. Es war kurz vor Weihnachten, aber die Straßen von Manhatten waren alles andere als fröhlich. Julian hatte Kreuzbanner entfernen lassen, damit die Scharfschützen freie Sicht hatten, die er auf allen Dächern zwischen Zehnter und Madison Avenue platziert hatte. Doch die Straßen waren ohnehin nicht bevölkert, zum Teil wegen der neuen Pocken — vor denen Dr. Polk letzten Sommer gewarnt hatte —, die in zwielichtigen Impfläden an junge eupatridische Damen und über diese in alle Lebensbereiche New York Citys übertragen worden waren.

Diese Pocken waren Gott sei Dank nicht besonders ansteckend — nicht mehr als einer von vierzig oder fünfzig New Yorkern war daran erkrankt —, aber der Verlauf war qualvoll und endete tödlich. Es kam zu Fieberschüben und Verwirrtheitszuständen, am ganzen Körper bildeten sich gelbe Pusteln (besonders am Hals und in den Leisten), die schließlich aufbrachen und zu bluten begannen, woraufhin ein rascher Verfall zum Tode führte. Für viele Grund genug, trotz Vorweihnachtszeit zu Hause zu bleiben; und viele Fußgänger, an denen wir vorbeifuhren, trugen Papiermasken über Mund und Nase.

Das alles und ein kalter Nordwind verliehen dem New Yorker Weihnachten eine gewisse Tristesse.

Die Furcht vor den Pocken hatte das öffentliche Leben aber nicht ganz zum Erliegen gebracht, zumal es hieß, die Krankheit werde nicht bloß durch beiläufigen Kontakt übertragen. Das Lichtspielhaus war strahlend hell erleuchtet, die Bürgersteige wimmelten von Besuchern und Neugierigen; der Kastanienröster kam nicht zur Ruhe.

Das Vordach des Theaters verkündete den Filmtitel, und ein Spruchband setzte hinzu: THE WORLD DEBUT OF JULIAN CONQUEROR’S BRILLIANT AND STARTLING CINEMATIC MASTERPIECE![114] Ein Kordon Republikanischer Gardisten hielt alle Unruhestifter außen vor, darunter Gruppen, die von Kirchenkomitees gleichsam als Verbeugung vor dem Dominion hergeschickt waren. Den besonders Frommen und Konservativen war der Film natürlich ein Dorn im Auge; doch es gab mehr als genug Ästheten, Philosophen, Agnostiker und Parmentieristen in Manhattan, um diese Scharte auszuwetzen. Diese Klientel wollte Julian erreichen, und sie war in großer Zahl angerückt.

Julian stieg aus, als unsere Kutsche zum Halten kam. Er würde sich den Film aus einer geschützten Loge oberhalb der Galerie ansehen, zusammen mit Magnus Stepney, der nun mal der Star des Films war. Für Sam und Julians Mutter war eine ähnliche Loge vorgesehen, während für Calyxa und mich Plätze am Orchestergraben reserviert waren. Wir hatten das weite Foyer kaum halb durchschritten, als ein Mann, in dem ich den Theaterdirektor erkannte, auf uns zugestürzt kam.

»Mrs. Hazzard!«, rief er. Er hatte mit ihr als Texterin und Komponistin des Films zu tun gehabt.

»Ja, was gibt es?«, fragte Calyxa überrascht.

»Ich habe versucht, Sie zu erreichen! Wir haben ein unerwartetes und ernstes Problem, Mrs. Hazzard. Wie Sie wissen, singt Candita Bentley[115] den Part der Emma. Aber Candita ist krank — eine plötzliche Attacke — Pocken!«, sagte er hinter vorgehaltener Hand. »Die Zweitbesetzung auch!«

»Die Vorstellung fällt aus?«

»Das dürfen Sie nicht einmal flüstern! Nein, auf keinen Fall; aber wir brauchen eine neue Emma, zumindest für die Lieder. Ich könnte jemanden vom Chor kommen lassen; aber ich dachte — da Sie doch die Partitur geschrieben haben und alle sagen, Sie hätten die Stimme dazu — ich weiß, das ist ein absurdes Ansinnen, und ich weiß auch, dass Sie nicht geprobt haben …«

Calyxa nahm die Einladung gelassen auf. »Ich brauche nicht zu proben. Zeigen Sie mir einfach, wo mein Platz ist.«

»Dann singen Sie den Part?«

»Ja. Besser ich als irgendeine Chorsängerin.«

»Aber das ist ja wunderbar! Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll!«

»Müssen Sie nicht. Adam, was dagegen, wenn ich die Emma singe?«

»Nein — aber bist du sicher, dass es klappt?«

»Das sind meine Lieder, und ich singe sie bestimmt nicht schlechter als diese Broadway-Walküren. Besser, vermutlich.«

In der Planungsphase war ihr der Part von Emma angetragen worden, aber sie hatte sich (ungern, wie ich weiß) geweigert, weil sie sich ganz unserer Flaxie hatte widmen wollen. Diese gänzlich unerwartete Gelegenheit heute Abend gefiel ihr offensichtlich. Und Lampenfieber kannte meine Calyxa nicht.

Ich wünschte ihr viel Erfolg, und sie eilte davon, um sich vorzubereiten. Der Beginn der Vorstellung, wurde laut verkündet, verschiebe sich um fünfzehn Minuten. Also zog ich meine Kreise im Foyer und lief Sam Godwin über den Weg.

Seine Stirn war bewölkt. »Wo ist deine Frau?«, fragte er.

»Für die Aufführung rekrutiert. Und wo ist deine?«

»Zurück zum Palast.«

»Zurück zum Palast? Warum das denn? Sie verpasst den Film!«

»So ist das nun mal, Adam. Die Dinge nehmen ihren Lauf. Sie packt für Frankreich«, sagte Sam sehr leise. »Wir reisen noch heute Nacht.«

»Heute Nacht?«

»Nicht so laut! So groß kann der Schock für dich nicht sein. Die Laurentische Armee ist im Anmarsch, der Senat stellt sich offen gegen Julian …«

»Das ist doch nicht erst seit heute Abend so.«

»Und jetzt brennt das ägyptische Viertel. Der größte Teil der Houston Street soll in Flammen stehen, und das Feuer droht den Kanal an der 9ten zu überspringen. Der Wind facht es an, und wenn die Flammen den Hafen erreichen, schneiden sie uns den einzigen Fluchtweg ab, den wir haben.«

»Aber … Sam, ich weiß nicht, ob ich darauf vorbereitet bin.«

»Das bist du, Adam, selbst wenn ihr nur das mitnehmen könnt, was ihr am Leib habt. Die Karten sind gemischt.«

»Aber Flaxie …«

»Emily sorgt dafür, dass Flaxie heil zum Schiff kommt. Die beiden Frauen haben alle Eventualitäten eingeplant. Sie stehen schon seit einer Woche auf dem Sprung. Hör zu! Unser Schiff ist die Goldwing, sie liegt am Fuß der 42sten Straße. Bei Tagesanbruch legt sie ab.«

»Und was ist mit Julian? Weiß er von dem Feuer?«

»Noch nicht. Er hat sich eingekapselt in seiner Loge und mit lauter Gardisten umgeben. Aber ich werde mit ihm reden, noch ehe der Film zu Ende ist, und wenn es blutige Nasen gibt.«

»Ich glaube nicht, dass er sich das Ende des Films entgehen lässt.« Das Gleiche galt für Calyxa, die jetzt unverzichtbarer Bestandteil der Aufführung war.

»Wahrscheinlich nicht«, sagte Sam grimmig.

Eine Glocke bimmelte — das Signal, die Plätze einzunehmen. »Aber sowie der Vorhang fällt«, fuhr Sam hastig fort, »müssen wir sofort hier raus. Wir sehen uns zwischen den Akten, hier im Foyer. Und wenn nicht … oder wenn wir getrennt werden — vergiss nicht! Die Goldwing, in aller Herrgottsfrühe.«


Es war klar, dass mir der Kopf schwirrte, als sich der Vorhang hob; dabei kam (abgesehen von dem Feuer im ägyptischen Viertel) nichts von alledem gänzlich unerwartet, obwohl ich gehofft hatte, nicht so bald fliehen zu müssen. Aber da ich vorerst nirgends gebraucht wurde, konnte ich mich ebenso gut auf Charles Darwin konzentrieren.

Das Orchester spielte eine lebhafte Ouvertüre, eine Kombination aus den wesentlichen musikalischen Themen des Films. Die Erregung des Publikums war augenfällig. Dann gingen die Lichter aus, und eine grandios verzierte Titelei flammte auf:

THE LIFE AND ADVENTURES OF THE GREAT NATURALIST CHARLES DARWIN

(FAMOUS FOR HIS THEORY OF EVOLUTION, ETC.)


Produced by Mr. Julian Comstock and Company

with the assistance of the


New York Stage and Screen Alliance

Featuring Julinda Pique as Emma Wedgwood

and introducing Magnus Stepney in the Title Role

Die Schrift verblasste und machte dem schlichter gehaltenen Hinweis Platz:

OXFORD

IN THE COUNTRY OF ENGLAND

Long before the Fall of the Cities

Damit war der Schauplatz geklärt. Der junge Darwin spazierte durch die Landschaft von Oxford, die in Wahrheit das Jagdrevier des Palastgeländes war, bestückt mit Schildern wie FORTY MILES TO LONDON und WATCH OUT FOR FOX HUNTS und dergleichen, um einen allgemeinen Eindruck von England zu vermitteln.

Ich hatte bis jetzt noch keinen Filmmeter gesehen und gewisse Zweifel gehabt, was Pastor Stepneys schauspielerische Qualitäten betraf. Doch er verkörperte, ein bisschen zu meiner Überraschung, einen achtbaren Darwin. Vielleicht ist die Kanzel der richtige Exerzierplatz für Schauspieler. Wie dem auch sei, er gab einen stattlichen Naturforscher ab; und die berühmte Julinda Pique, obwohl fast doppelt so alt wie er, stellte eine angemessen attraktive Emma dar, wobei jedwede äußerliche Unvollkommenheit weggeschminkt war.

Ich habe die Geschichte bereits umrissen und will mich hier nicht wiederholen; nur ein paar Höhepunkte seien erwähnt: Der erste Akt hielt das Publikum unbarmherzig im Griff. Darwin sang seine Arie über die Ähnlichkeit zwischen Insekten verschiedener Arten, synchronisiert durch einen kraftvollen Tenor. Das Oxford Bug Collecting Tournament wurde gezeigt, Emma frohlockte am Bildrand. Für mich bestand nicht der geringste Zweifel: Während Julinda Pique auf der Leinwand agierte, stammte die Stimme, die ihr anscheinend über die Lippen kam, von Calyxa in ihrer verhangenen Kabine. Ich hatte befürchtet, Calyxa könne sich durch ihre Unerfahrenheit verraten, doch schon der allererste Refrain[116] klang erfrischend und kühn; ein beifälliges Raunen lief durch die Reihen.

Natürlich neigte das Publikum, das sich hauptsächlich aus Apostaten und radikalen Querdenkern zusammensetzte, zu Beifallsbekundungen; ich fand es trotzdem schockierend, Häresien so offen proklamiert zu hören. Als der schändliche Wilberforce sang Only God can make a beetle, wiederholte er exakt, was ich in der Dominion-Schule gelernt hatte; und Darwins Retourkutsche (I see the world always changing / unforced, unfixed, and rearranging) hätte mir eine Strafpredigt oder Schlimmeres eingebracht, wenn ich sie Ben Kreel (zumal gereimt) dargeboten hätte. Aber hatte Darwin nicht Recht? Ich hatte so viel von dieser unfertigen Welt gesehen, dass ich mich beim Nicken ertappte.

Das Insekten-Turnier endete mit Sieg und Kuss für Charles Darwin. Darwins Schwur, die Welt auf der Suche nach dem Geheimnis des Lebens zu bereisen und der Racheschwur des eifersüchtigen Wilberforce waren Gegenstand eines mitreißenden Duetts, das den Vorhang für den ersten Akt in einen frenetischen Applaus fallen ließ.

In dieser Nacht blies ein trockener, steifer Wind aus dem Norden und fachte die Flammen im ägyptischen Viertel an. Draußen vor dem Theater priesen Zeitungsjungen eine Spätausgabe des Spark an. BIG BLAZE HITS GYPTOWN war die vulgäre, aber zutreffende Schlagzeile.[117]

Das war eine bestürzende Nachricht, denn ein unkontrolliertes Feuer in einer modernen Stadt kann rasch zu einer allgemeinen Katastrophe werden, doch das Lichtspieltheater war weit entfernt von den Flammen, und im dicht bevölkerten Foyer gab es nur vereinzelte aufgeregte Unterhaltungen, von Panik keine Spur.

Ich hielt Ausschau nach Sam und sah ihn die Treppe von einer der Emporen herunterkommen.

»Zum Teufel mit Julian!«, sagte er, als ich neben ihm war. »Er macht niemandem auf, auch mir nicht — hockt da drinnen mit Magnus Stepney und bewaffneten Gardisten vor den Türen — keine Ausnahmen!«

»Ich glaube, er ist nervös. Wie sein Film ankommt, mehr interessiert ihn jetzt nicht.«

»Ich glaube, er ist halb übergeschnappt — so weit lässt man es nicht kommen —, aber das ist keine Entschuldigung!«

»Am Ende muss er ja rauskommen. Vielleicht kannst du gleich nach dem letzten Akt mit ihm reden.«

»Ich werde vorher mit ihm reden, und wenn ich die Waffe ziehen muss! Hör zu, Adam: Die Gardisten, die ich mit Emily zum Palast geschickt habe, melden mir, dass sie zwei Fuhrwerke bereitstehen hatte und zusammen mit Flaxie, Betreuerinnen, Dienstpersonal und einem Trupp ausgeruhter Gardisten zum Hafen unterwegs sei. Keine Zwischenfälle, alles sei reibungslos verlaufen.«

Die Vorstellung, dass Flaxie in dieser brenzligen Nacht elternlos durch die Straßen von Manhattan geisterte, gefiel mir ganz und gar nicht; doch ich wusste, dass Julians Mutter unser Baby liebte, als wäre es ihr eigenes, und jede erdenkliche Vorsicht walten ließ. »Und passieren kann ihnen nichts?«

»Keine Sorge. Wahrscheinlich sind sie schon an Bord der Goldwing. Aber im Palast ist der Teufel los — das ist die Kehrseite der Medaille. Das Dienstpersonal und die Gardetruppen haben sie mit Sack und Pack wegfahren sehen und machen sich ihren Reim darauf. Lymon Pugh tut sein Bestes, um die Ordnung aufrechtzuerhalten und Plünderungen zu verhindern. Aber es wird sich wie ein Lauffeuer verbreiten, dass Julian der Eroberer abgedankt hat — und das hat er, ob er es schon weiß oder nicht —, und das Palastgelände ist ein gefundenes Fressen für Chaoten und marodierende Soldaten.«

»Was heißt das?«

»Das heißt, die Bluthunde sind uns auf den Fersen, und dieser verdammte Film ist hoffentlich bald zu Ende!«

Und damit bimmelte es zum zweiten Akt.


Der zweite Akt erzählte von Darwins Seereisen, stand also in krassem Gegensatz zur ländlichen Idylle des ersten Aktes. (Und passte somit zu dem stürmischen Seegang in meinem Innern.)

Da war die Beagle (in Wahrheit ein alter angemieteter Schoner draußen vor Long Island) unterwegs nach Südamerika mit ihrer Mannschaft aus verwegenen Seeleuten. Daheim in England war Emma Wedgwood, die sich dem Werben des wohlhabenden und zunehmend verbitterten Wilberforce verweigerte. Und hier war Wilberforce in einer Hafenkneipe und schob dem betrunkenen Kapitän eines Piratenschiffs ein Bündel Geld über den Tisch, damit dieser die Beagle verfolgte und auf den Grund des Meeres schickte.

Da war auch Südamerika mit seiner sonderbaren tropischen Schönheit. Da war Darwin, der Meeresmuscheln von den Klippen pflückte und Knochen ausgestorbener Säugetiere aus dem uralten Mergel zog und die ganze Zeit eine Meditation über das Alter der Erde sang und vor äußerst angriffslustigen Gürteltieren floh. Dann war Darwin auf den Galapagosinseln und sammelte Spottdrosseln und bot einem wilden Löwen die Stirn (in Wirklichkeit eine mit Läufer und Perücke ausstaffierte Dogge, die aber durchaus überzeugend wirkte). Der Dschungel (zum größten Teil aus Papier) erstreckte sich bis an die fernen Berge (gemalt), und eine Giraffe tauchte flüchtig auf.[118]

Auf der Rückreise nach England stieß die Beagle auf die von Wilberforce gedungenen Seeräuber. Sie wurde geentert, und der Kampf an Deck wirkte sehr realistisch. Als Seeräuber hatte Julian einen Trupp Männer aus den New Yorker Hafenkneipen rekrutiert, die ihre Aufgabe vielleicht etwas zu gut angingen. Wir hatten ihnen gezeigt, wie man zuschlug und ein Schwert führte, ohne jemanden umzubringen; doch die Ausführung war häufig schlampig oder übereifrig, so dass etwas von dem Blut, das vergossen wurde, echter war, als den Berufsschauspielern lieb gewesen war.

Darwin erwies sich, was man von einem Naturforscher nicht erwartet hätte, als geschickter Schwertkämpfer. Mit einem Satz war er auf der Ankerwinde und verteidigte das Vordeck gegen Dutzende von Piraten, wobei er sang:

Now we see in miniature the force that shapes creation:

I’ll slay a Pirate — this one, here — and stop the generation

Of all his heirs, and all their heirs, and all the heirs that follow,

Just as the Long-Beaked bird outlives the starving Short-Beaked Swallow.

Some pious men may find this truth unorthodox and bitter:

But Nature, Chance, and Time ensure survival of the fitter![119]

Eine so gute Kampfszene war (meines Wissens) noch nie gedreht worden. Die anwesenden Ästheten und Apostaten waren nicht so leicht zu beeindrucken, aber sie brachen in Bravorufe aus und johlten triumphierend, als Darwin den Piratenkapitän mit seinem Schwert durchbohrte.

Die Beagle erreichte London, lädiert, aber fahrtüchtig — beobachtet von Emma am Ufer und von Wilberforce aus dem Schatten heraus — Wilberforce, jetzt Bischof, sang mit grimmiger Miene eine Reprise seiner mörderischen Absichten.


In Erwartung des dritten und letzten Aktes schlenderte ich durch die Menschenmenge im Foyer auf die großen Glastüren zu. Ich konnte sehen, dass der Wind an Stärke zugenommen hatte, denn er zerrte an den Markisen und Bannern längs des Broadways, und die Droschkenfahrer am Trottoir drängten sich zusammen und klammerten sich an ihre Pfeifen. Ein zweispänniges Löschfahrzeug lärmte mit bimmelnden Messingglocken vorüber, zweifellos unterwegs zum Einwandererviertel.

Es herrschte ein aufgeregtes Kommen und Gehen von Kurieren in Gardeuniform — sie schoben das Aufsichtspersonal beiseite und eilten die Treppe zu Julians Hochbalkon hinauf und hinab. Sam tauchte allerdings nicht auf, und so kehrte ich, ohne auf dem Laufenden zu sein, in den Saal zurück, um mir den dritten Akt anzusehen.


Während dieses letzten Aktes, als Darwin und Bischof Wilberforce sich im Zuge ihrer großen Debatte andauernd ansangen, kam mir die ganze Tragweite dieses Abends zu Bewusstsein. Selbst als das Publikum seine Anteilnahme durch lautes Bravo für Darwin und ebenso laute Buhrufe für Wilberforce bekundete (die Pfiffe waren manchmal verwirrend), lag mir die Tatsache, dass ich heute noch mein Vaterland verlassen sollte, schwer auf der Seele.

Ich hielt mich für einen Patrioten oder wenigstens für so patriotisch, wie es die meisten Amerikaner waren. Was nicht hieß, dass ich den Rücken vor irgendeinem Individuum beugen würde, das zufällig Präsident war, aber auch nicht vor einem Senat, ja nicht einmal vor dem Dominion. Ich hatte zu viele Schwächen und Borniertheiten solcher Leute und Institutionen erlebt. Aber das Land — das Land liebte ich, sogar Labrador (soweit ich es kannte und ein klein wenig reservierter vielleicht); und ganz bestimmt New York City; aber über alles den Westen mit seinem zerklüfteten Ödland, der offenen Prärie, den saftig grünen Vorgebirgen und purpurrot gefärbten Bergen. Der nördliche Westen war nicht reich oder besonders dicht besiedelt, aber seine Menschen waren höflich und nett und …

Nein, so meine ich das nicht. Die Menschen im Westen sind nicht bescheidener oder besser als andere. Es gibt durchaus Gauner und Schläger unter ihnen; obwohl es in Manhattan bestimmt mehr davon gibt. Nein, ich will sagen, dass ich im Westen aufgewachsen bin und gelernt habe, die Welt mit seinen Augen zu sehen. Von seiner Weite habe ich unsere »Größe« gelernt; von seinen Sommernachmittagen Kunst und Wissenschaft des Ruhens; von seinen Winterabenden den bittersüßen Geschmack der Melancholie. Jeder Mensch lernt diese Dinge auf die eine oder andere Weise; aber ich habe sie vom Westen gelernt, und ich bin ihm auf meine Weise treu geblieben.

Und nun ließ ich das alles zurück.

Meine Gefühle rückten Darwins Arie über die Zeit und das Alter der Erde in ein schärferes Licht, obgleich mir diese Gedanken nicht neu waren, denn ich hatte sie oft genug von Julian gehört. Die Berge, die ich so bewunderte, hatte es nicht immer gegeben, der Weizen, von dem ich mich ernährte, wuchs auf dem Grund eines Urmeeres, und es waren Äonen von Eis und Feuer vergangen, ehe sich die ersten Menschen den Rocky Mountains genähert und die Gegend von Williams Ford entdeckt hatten. Alles fließt, pflegte Julian einen Philosophen zu zitieren; und man könne es sehen, wäre man nur imstande, ein Weltalter stillzuhalten.

Für mich hier unten am Orchestergraben war diese Vorstellung nicht weniger beklemmend als für Bischof Wilberforce da oben auf der Leinwand. Ich konnte Wilberforce nicht leiden, er trachtete Darwin nach dem Leben und stellte der armen Emma nach; aber ich empfand eine unerwartete Sympathie für ihn, als er in die zerklüftete Wiese des Mount Oxford kletterte (in Wirklichkeit irgendeine schroffe Landzunge oben am Hudson), in der Hoffnung, die Evolution zu erschießen und obendrein die Ungewissheit zu ermorden.

Es war Calyxas Stimme, die mich aus der Talsohle holte. Emma Wedgwood sang:

It’s difficult to marry a man

Who won’t admit the master plan

In nature’s long exfoliation,

But finds a better explanation

In Natural Law and Chance Mutation —

His theories shocked a Christian Nation —

But I love him nonetheless!

Yes, I love him, nonetheless![120]

Und sie sang es so rückhaltlos und mit einer so gewinnenden Stimme, dass ich Julinda Pique auf der Leinwand vergaß und vor meinem geistigen Auge Calyxa singen sah; und ich wurde zu Darwin, der um seine Liebste kämpfte. Diese Analogie stellte sich nicht von ungefähr ein, denn Calyxa war durch Julians Scheitern als Präsident ebenso sehr bedroht wie Emma Wedgwood durch die Schüsse und Winkelzüge dieses Bischofs.

Diese Schüsse und Winkelzüge wurden geschickt dargestellt, und das Publikum ächzte und jubelte bei jeder Kehrtwende; ich gewann den Eindruck, dass Julians Life and Adventures of the Great Naturalist Charles Darwin ein großer Erfolg war und immer volle Häuser haben würde, wo immer der Film gezeigt werden durfte. Doch am Ende hatten sich so viele Ängste in mir angestaut, dass ich den Nachspann nicht mehr abwarten konnte, sondern in den Orchestergraben sprang, um die Leinwand bog und schnurstracks die Kabinen der Synchronstimmen und Geräuschemacher aufsuchte.

Das war sicher unvernünftig, denn die Gerüchte von Feuer und Abdankung hatten schon genug Nervosität gestiftet. Den Zuschauern war der Schreck in die Glieder gefahren, als sie mich und meinen verzerrten Schatten hinter der Leinwand verschwinden sahen, und als ich über eine Marschtrommel strauchelte, mit der Schüsse nachgeahmt wurden, und einen Krach vom Zaun brach, der von einem heftigen Schusswechsel hätte stammen können, verebbte der Applaus, und die Leute räumten fluchtartig den Saal, wobei eine Platzanweiserin in arge Bedrängnis geriet.

Calyxa war erst überrascht, mich zu sehen, und dann ein bisschen verstimmt, weil es nun nicht mehr zum Ruf vor den Vorhang kam. Ich packte sie beim Arm und eröffnete ihr, wir müssten heute Abend noch Manhattan verlassen; Flaxie und Mrs. Godwin seien schon an Bord der Goldwing. Sie bewahrte eine stoische Ruhe, und nachdem sie noch ein paar Komplimente ihrer Kollegen entgegengenommen hatte, verließen wir durch eine Seitentür die Bühne.

Die Menschenmenge vor dem Theater hatte sich weitgehend zerstreut, nur ein Kordon wurde noch aufrechterhalten für die präsidialen Besucher. Man ließ uns durch.

Sam winkte uns zu sich. Er schien verbittert.

»Wo ist Julian?«, fragte ich.

»Weg«, sagte er.

»Schon zum Hafen, meinst du.«

»Nein, ich meine, weg, einfach nur weg — auf und davon. Hat sich mit Magnus Stepney im dritten Akt aus dem Theater gestohlen und mir diesen Brief hinterlassen.«

Sichtlich empört reichte er mir das gefaltete Blatt. Die Nachricht war unverkennbar von Julian verfasst. Die Zeilen waren hastig und mit fahriger Hand geschrieben:

Lieber Sam,

danke für die wiederholten Versuche, mich über die bevorstehende Abfahrt der Goldwing in Richtung Ausland zu unterrichten. Bitte richte meiner Mutter und Calyxa aus, dass ich ihre aufwendige und sorgfältige Planung für diesen Fall der Fälle zu schätzen weiß. Ich bedaure, dass ich die beiden Frauen, Dich und Adam und die anderen nicht begleiten kann. Ich wäre in Europa nicht sicher und brächte Euch nur in Gefahr. Aber es gibt noch andere persönliche und triftige Gründe, warum ich hierbleiben muss.

So unbefriedigend diese Erklärung ist, sie muss Euch reichen. Bitte versucht nicht, mich ausfindig zu machen, denn nichts kann meine Entscheidung ändern; Ihr brächtet mich nur in Gefahr.

Ich danke Euch allen für die Freundlichkeit, die Ihr mir über so viele Jahre gezeigt habt, und ich entschuldige mich für die Unbill, die Euch diese Freundlichkeit allzu oft eingebracht hat. Besonders Dir, Sam, danke ich, dass Du meinen Vater vertreten und mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden hast, selbst dann, wenn ich mich widersetzt habe. Deine Lektionen waren nicht umsonst, und ich habe sie Dir schlimmstenfalls kurz verübelt. Bitte, sei nett zu meiner Mutter, sie wird sich nämlich furchtbar aufregen, weil ich nicht mitkomme. Wenn es etwas Unvergängliches gibt, dann meine Liebe zu ihr — sage ihr das, Sam.

Und richte Adam aus, dass ich ihm für seine grenzenlose Freundschaft und Nachsicht danke; und erinnere ihn an sein Versprechen!


Euer Julian Comstock

(nie wirklich ein Eroberer)


»Weißt du, was er meint, Adam?«

»Ich denke schon«, sagte ich kleinlaut.

»Da weißt du mehr als ich! Verdammter Julian! Sieht ihm ähnlich, einfach querzuschießen! Aber das Versprechen …«

»Nicht der Rede wert.«

»Wärst du so nett, mich aufzuklären?«

»Nur eine Gefälligkeit. Du bringst Calyxa zur Goldwing, und ich komme gleich nach.«

Calyxa protestierte, aber ich blieb stur; sie kannte den metallischen Klang in meiner Stimme und schickte sich in das Unvermeidliche, wenn auch nicht anstandslos. Ich gab ihr einen Kuss und noch einen, den sie an Flaxie weitergeben sollte. Ich hätte noch mehr gesagt, aber dann wäre sie misstrauisch geworden.

»Nur eine Gefälligkeit«, wiederholte Sam, als Calyxa bereits in der Kutsche saß.

»Es dauert nicht lange.«

»Besser, es würde gar nicht dauern. Das Feuer soll sich rasch ausbreiten — der Wind bringt schon den Geruch mit. Wenn der Hafen in Gefahr ist, legen wir ab, ob du an Bord bist oder nicht.«

»Habe verstanden.«

»Hoffentlich. Vielleicht habe ich Julian verloren — ich kann es nicht ändern —, ich will nicht auch noch dich verlieren, Adam.«

Ich sah beiseite, um meine Verlegenheit zu verbergen. Sam drückte mir herzhaft die Hand (mit der einzigen, die er hatte). Dann stieg er zu Calyxa in die Kutsche; und als ich mich umdrehte, waren sie schon weg.

Alle Kinobesucher waren schon vorher weg gewesen. Bis auf ein paar Republikanische Gardisten, die noch Wache hielten, war die Straße nahezu leer. Nur ein Einspänner hielt am Bordstein. Er trug die Insignien der Bundesregierung.

Lymon Pugh hielt die Zügel. »Wohin soll’s denn gehen, Adam Hazzard?«

Ein paar Planwagen und Kutschen überholten uns, als wir den Broadway hinauftrabten, alle kehrten dem brennenden Einwandererviertel den Rücken. Eine steife Brise blies die verwaisten Gehsteige hinunter, trug lose Seiten der Sonderausgabe des Spark in die Luft und störte die Bettler, die in den finstren Gassen schliefen.

Sams Abschiedsworte hatten mich gerührt, und ich muss zugeben, auch Julians Brief hatte meine Gefühle in Aufruhr versetzt. Ich ging davon aus, dass er seine Gründe hatte hierzubleiben. Oder wenigstens glaubte, welche zu haben. Aber es tat schon weh, dass er sich nicht die Zeit genommen hatte, mir Lebewohl zu sagen. Wir hatten so viel zusammen durchgestanden, dass ich angenommen hatte, ihm wenigstens einen Händedruck wert zu sein.

Doch Julian war in letzter Zeit nicht Julian gewesen, ich hatte ihn manchmal nicht wiedererkannt …

»Er hatte es bestimmt sehr eilig«, meinte Lymon Pugh, als könne er Gedanken lesen.

»Du hast den Brief gelesen?«

»Ich habe ihn Sam gebracht.«

»Was machte Julian für einen Eindruck, als er dir den Brief gab?«

»Gar keinen. Ich bekam den Brief hinten durch den Vorhang der Loge gereicht. Ich habe nur eine behandschuhte Hand gesehen und seine Stimme gehört: ›Sorge dafür, dass Sam Godwin diesen Brief bekommt.‹ Na ja, dafür habe ich gesorgt. Sollte ich ihn unterwegs geöffnet und rasch gelesen haben, dann ist das zweifellos deine Schuld, Adam Hazzard.«

»Meine Schuld?«

»Wer hat mir denn das Lesen beigebracht?«

Wer weiß, vielleicht hatten die Eupatriden Recht, dass sie die Fertigkeit des Lesens nicht allzu verbreitet wissen wollten. Ich überging geflissentlich seine Schuldzuweisung. »Was hältst du davon?«

»Keine Ahnung. Alles Dinge, die unsereins nicht mitbekommt.«

»Aber du sagst doch, er hätte es bestimmt eilig gehabt.«

»Vielleicht wegen Diakon Hollingshead.«

»Was ist mit dem Diakon?«

»In der Garde geht das Gerücht, Hollingshead hätte einen persönlichen Hass auf Julian und würde in der ganzen Stadt Jagd auf ihn machen, mit einem Trupp ekklesiastischer Polizisten.«

»Ich weiß, dass die beiden Gegner sind, aber was verstehst du unter einem persönlichen Hass?«

»Na ja, wegen seiner Tochter.«

»Der Tochter des Diakons? Die bekanntermaßen mit anderen Frauen Geschlechtsverkehr hat?«

»Das ist mehr, als ich bis eben wusste, aber ja. Das Mädel brachte ihn ständig in Verlegenheit, und damit sie keine Dummheiten macht, hat er sie in seinem schicken Haus in Colorado Springs eingesperrt. Dann rückt die Kalifornische Armee an, und das Haus wird in die Luft gesprengt. Hollingshead war natürlich hier in New York. Aber er macht Julian für ihren Tod verantwortlich und will sich persönlich an ihm rächen. Eine Schlinge oder eine Kugel, das ist ihm egal, Hauptsache, Julian stirbt.«

»Woher weißt du das alles?«

»Nichts für ungut, Adam, aber was in meiner Kaserne die Runde macht, erreicht nicht immer die oberen Gefilde. Julian hat uns alle frisch aus der Laurentischen geholt. Manche haben Freunde in der hiesigen Garnison. Und es wird hin und her geredet.«

»Hast du das Julian erzählt?«

»Nein, ich hatte nie die Gelegenheit; möglich, dass ihm der ehrenwerte Pastor etwas erzählt hat. Stepney hat Kontakte zu politischen Agitatoren, die solche Dinge mit Interesse verfolgen.«

Oder es war alles nur dummes und aufgeblähtes Zeug. Ich musste daran denken, wie damals in Williams Ford ein Schnupfen, der unter den Duncans (oder den Crowleys) grassierte, zur »Roten Plage« wurde, als die Pferdepfleger und Stallburschen davon erzählten. Die Nachricht vom Tod des Mädchens war allerdings schlimm. Das Mädchen hatte mir immer leidgetan, obwohl ich auch nur die entsprechenden Zeilen kannte, die Calyxa auf dem Ball zum Unabhängigkeitstag vor anderthalb Jahren gesungen hatte.

»Gibt es einen besonderen Grund, warum wir zum Palast fahren?«, fragte Lymon Pugh.

»Ein paar Sachen, die ich mitnehmen will.«

»Und dann ab nach Südfrankreich?«

»Du kannst immer noch mitkommen, Lymon — das Angebot steht. Ich weiß nicht, wie momentan deine Aussichten sind. Ich weiß auch nicht, wie du noch an deinen Sold kommen willst.«

»Nein danke. Als Sold nehme ich mir ein Rassepferd aus den Palastställen und reite nach Westen. Das heißt, falls noch Pferde da sind. Die Gardisten mögen Julian, ihren Julian den Eroberer, aber sie wissen so gut wie jeder andere, was die Stunde geschlagen hat. Viele von ihnen sind schon abgezogen. Kann sein, dass inzwischen einiges vom Präsidentensilber fehlt, frag mich nicht.«

Menschen, die ein sinkendes Schiff verlassen, nennen wir Ratten; doch manchmal ist die Ratte die Klügere. Lymon Pugh hatte Recht, was das Plündern betraf, das Plündern und die Gründe dafür. Normalerweise ist die Republikanische Garde eine unparteiische Truppe und übersteht mehr oder weniger unbeschadet die Unruhen eines Regimewechsels, indem sie ihre Loyalität einfach auf den Thronfolger überträgt. Aber Julian hatte die Garde ausgewechselt, und die handverlesene neue Garde ging entweder mit dem gekenterten Schiff unter — oder fand rechtzeitig den Absprung.

Wir kamen zum Gate in der 59sten. Offenbar hatten einige Soldaten der örtlichen Garnison von der Plünderung des Palastes gehört und fühlten sich bemüßigt, daran teilzunehmen, zumal jeden Tag mit ihren Kameraden aus dem Norden zu rechnen war.

Diese Aasgeier hatten sich am Gate versammelt und verlangten Zutritt und feuerten mit ihren Pistolen in die Luft. Es gab allerdings noch genügend Gardisten an der Mauer, um den Mob aufzuhalten; und dieser Mob hatte noch genügend Respekt vor dem Wappen des Präsidenten, um uns durchzulassen, wenn auch unter Murren und beißendem Spott.

Ich bat Lymon Pugh, das Gästehaus anzufahren, in dem ich bis heute Abend gewohnt hatte. In weiser Voraussicht hatte Calyxa bereits vor Tagen gepackt, und das Gepäck musste inzwischen am Kai sein. Lediglich Kleinigkeiten waren noch hier. Dazu gehörte eine Schachtel mit Souvenirs und Andenken, die ich ohne Calyxas Wissen aufgehoben hatte; mit ihr und ein paar anderen Sachen verließ ich das hallende, leere Haus.

Von hier fuhren wir zum Palast. Die Republikanische Garde verhielt sich gerade so paradox, wie Lymon es beschrieben hatte. Manche standen an den üblichen Stellen im Portikus Wache, während andere ungehindert die Marmorstufen hinauf- und wieder hinunterstürmten, beladen mit Besteckkästen, Vasen, Porzellan, Gobelins und allem, was nicht niet- und nagelfest war. Ich machte ihnen aber keinen Vorwurf. Von heute Abend an konnten sie sich praktisch als gefeuert betrachten, mit den allerschlechtesten Aussichten und dem guten Recht, sich auf diese Weise schadlos zu halten.

Hoffentlich hatte niemand mitgenommen, weswegen ich hergekommen war. Ich hatte Glück. Nur wenige (von denen mich ein paar schuldbewusst grüßten) hatten sich in den unterirdischen Bereich des Palastes getraut, der immer noch einen abschreckenden Ruf hatte. Das Studio war unberührt, und das Original von The Life and Adventures of the Great Naturalist Charles Darwin war noch da, wo Julian es zurückgelassen hatte — drei tortengroße Blechdosen, in denen sich nicht nur die Filmspulen, sondern auch Texte und Partituren befanden.

Ich zauderte nicht, als ich die Dosen einmal an mich genommen hatte. Wenn es hier unten noch einen Gefangenen gegeben hätte, hätte ich ihn vermutlich freigelassen. Aber es gab hier Gott sei Dank keine Gefangenen mehr. In Julians Amtszeit hatte es hier unten praktisch nur einen Gefangenen gegeben, nämlich den Mann, den er beerbt hatte, seinen Onkel Deklan, und der war zwischenzeitlich geköpft und aufgespießt worden und schmorte seitdem in der Hölle.


Als ich aus dem Palast kam, sah ich Lymon Pugh auf mich warten; er hatte getan, was er gesagt hatte, und sich ein reinrassiges Pferd aus den Stallungen geholt und mit einem schönen Ledersattel und passenden Satteltaschen ausgerüstet. Und da er noch ein zweites, ebenso edles Pferd mit der gleichen Ausstattung für mich mitgebracht hatte, konnte ich ihm schwerlich einen Vorwurf machen.

»Auch wenn du nur bis zum Hafen reiten musst, solltest du es mit Stil tun«, meinte er.

Die drei schweren Spulen von Charles Darwin und meine Souvenirschachtel passten bequem in die Satteltaschen. »Aber ich reite nicht gleich zum Hafen«, sagte ich.

»Wohin denn sonst?«

»Eine Adresse unten im primitiven Teil der Stadt.«

»Ist das nicht nahe am Feuer?«

»Sehr nahe — gefährlich nahe —, aber wohl noch zugänglich.«

»Was gibt es da?«

Ich zuckte mit den Schultern. Ich wollte meine schrägen Hoffnungen für mich behalten.

»Egal, dann lass mich wenigstens mitreiten.«

»Du bringst dich nur in Gefahr.«

»Wär nicht das erste Mal. Wenn ich nervös werde, bleibe ich zurück — versprochen.«

Das Angebot gefiel mir.

Bevor wir aufsaßen, griff ich mir noch ein Belegexemplar von A Western Boy at Sea (sechs Stück hatte ich mitgenommen) und schenkte es Lymon. Er bestaunte es von allen Seiten, was immer das brachte in dem bisschen Licht, das aus dem Palast sickerte. »Das Buch, das du geschrieben hast?«

»Mein Name steht auf dem Buchdeckel. Ein Stück weit über dem Kraken. Der kommt aber nicht vor in dem Buch.«

Er schien wirklich gerührt zu sein. »Das werde ich lesen, Adam, versprochen, sobald ich wieder zur Ruhe komme. Hier«, sagte er und langte in die Tasche, »hier ist etwas für dich. Eine Erinnerung an mich. Betrachte es als Weihnachtsgeschenk.«

Ich nahm das Geschenk an, das er selbst fabriziert hatte, und bedankte mich feierlich.


Bevor wir das Palastgelände verließen, erlebten wir etwas, das schlimm hätte enden können. Auf dem Weg zum Gate an der 59sten ritten wir durch die Statuary Lawn, auf der man Skulpturen und Relikte aus den Tagen der Säkularen Alten zusammengetragen hatte. Eine unheimliche Stätte, selbst bei Tageslicht, und noch unheimlicher im Widerschein des nächtlichen Manhattans — das kupferne Haupt des Colossus of Liberty, das ständig nach Süden geneigt war, der Angel of the Waters, der voller Mitleid auf Christopher Columbus starrte, und Simon Bolivar, der eine Attacke auf Cleopatra’s Needle ritt. Der Weg wand sich durch die bronzenen Rätsel aus alten Zeiten wie durch ein Labyrinth. Wir schienen mutterseelenallein zu sein.

Aber dem war nicht so. Eine Handvoll berittener Männer, die sich durch das eine oder andere Gate Zutritt verschafft hatten, lauerte zwischen den Skulpturen. Womöglich, um Eupatriden auszurauben oder vereinzelte Gardisten, die mit ihrer Beute vom Gelände wollten; sie gingen wohl davon aus, dass ihre Schandtat im allgemeinen Chaos untergehen würde.

Was immer sie im Schilde führten, sie sahen uns kommen und preschten geschlossen auf uns zu. Ich zählte sechs Reiter. Der Vorderste machte keinen Hehl aus seinen Absichten und riss sein Gewehr aus dem Sattelhalfter. »Da lang!«, schrie Lymon Pugh, und wir spornten unsere Pferde an; aber die Banditen hatten ihren Angriff sorgfältig kalkuliert. Sie waren dabei, uns den Weg abzuschneiden, und hätten uns wahrscheinlich wegen unserer bescheidenen Habe getötet, als der Mann mit dem Gewehr plötzlich die Augen aufriss, an uns vorbeistarrte und irgendetwas Unanständiges rief, während sein Pferd sich aufbäumte.

Ich drehte mich im Sattel, weil ich wissen wollte, was ihn so erschreckt hatte.

Es war nichts Haarsträubendes. Es war nur Otis, der reife Junggeselle, der seine Abende gerne zwischen den Artefakten verbrachte. Das ganze Hin und Her am Palast hatte ihn vermutlich nervös gemacht, und wenn Otis nervös war, konnte er leicht zum Angriff übergehen, wie eben jetzt — er trabte mit majestätisch schwankendem Hals hinter dem zerbeulten Strahlenkranz der Freiheitsgöttin hervor und sprengte geradewegs auf die Wegelagerer zu. Ich glaube, er hätte gebrüllt, wenn die Natur ihn mit diesem Talent gesegnet hätte.

Die Banditen stoben auseinander. Lymon und ich nutzten die Gelegenheit und ergriffen, ohne über die Schulter zu blicken, die Flucht und hielten das Tempo, bis wir die Lichter der 59sten sahen.

Schüsse waren zu vernehmen, als wir das Gate passierten. Ich weiß nicht, ob Otis bei der Konfrontation verletzt wurde. Ich glaube es zwar nicht. Aber Giraffen sind so sterblich wie alle anderen Geschöpfe auch und haben Gewehr- oder Pistolenkugeln nicht das Geringste entgegenzusetzen. Ich konnte mir allerdings nicht vorstellen, dass ein Otis sich von solchen Schurken töten ließ — das war nicht seine Art.

9

Ich verriet Lymon Pugh erst kurz vor dem Ziel, wohin ich wollte, denn ich war mir überhaupt nicht sicher, ob ich das Richtige tat; ich fand, Julian verdiente eine letzte Chance, seine Meinung zu ändern, zumal die Stadt bald lichterloh brennen würde; und falls ich ihn fand (so dachte ich vermutlich), konnte ich ihn auch gleich fragen, weshalb er sich auf so unpersönliche Weise verabschiedet hatte.

Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich ihn finden würde. Aber ich hatte einen begründeten Verdacht, und es war noch Zeit, ihm nachzugehen (auch wenn sie knapp wurde).

Das Einzige, was uns aufhalten konnte, war das Feuer im Einwandererviertel, je nachdem, welchen Weg es nahm. Doch als wir die 9te Straße überquerten, drohte uns ein breiter Strom fliehender Ägypter zurückzudrängen. Das waren unglückselige Menschen, die von der Mehrheit verachtet wurden. Viele hatten ihre Heimat verlassen, um der Armut und dem Suezkrieg zu entgehen und der Krankheit, die in den schrecklichen Ruinen von Kairo grassierte. Sie kannten sich mit Zerstörung aus und schienen nicht überrascht von dieser neuerlichen Katastrophe; sie trotteten gottergeben dahin, das Gepäck geschultert oder im Handkarren hinter sich her ziehend, als sei dies nicht die letzte Apokalypse, die auf sie wartete. Sie schenkten uns keine Beachtung; aber wir ritten gegen eine menschliche Strömung an …

Bald sahen wir die Flammen über den Dächern züngeln. Sie hatten bereits den größten Teil des Einwandererviertels verschlungen — die Häuser, meist Anbauten alter Betonruinen und zusammengeschustert aus allem, was man aus Schutt und Erde gebuddelt hatte, brannten wie Zunder. Alle Löschfahrzeuge und Wassermaschinen aus Manhattan schienen im Einsatz zu sein. Das Wasser wurde entweder aus dem Houston- oder aus dem Delancey-Kanal gepumpt, je nachdem, wer gerade am nächsten war — Ersterer war ein Treidelkanal, Letzterer ein Abwasserkanal. Die Wasserschläuche waren oft genug von den widerlichsten Dingen verstopft, und der Gestank nach Rauch, verkohltem Holz und brodelnden Fäkalien aller Art hätte uns beinah umkehren lassen. Zum Glück hatte Lymon Pugh ein Sortiment Papiermasken dabei (manche nach Eupatridensitte in Opoponax-Öl getaucht), von denen wir rasch Gebrauch machten. Die Masken erwiesen sich als einigermaßen nützlich gegen alles, was uns die Atemwege zu verschlagen drohte.

Der Wind blies kräftig und trug Funken und glühende Asche mit sich. Bis jetzt hatten es die Wassermaschinen geschafft, den Houston-Kanal als eine Art Feuerschneise zu halten, die den Flammen Einhalt gebot. Das war ein Glück, denn die Adresse, die ich suchte, lag auf der (noch) sicheren Seite des Kanals.

»Würdest du mir endlich mal verraten, wo du hinwillst?«, sagte Lymon Pugh.

»Church of Apostles etc.«

»Was — der alte Schuppen von Magnus Stepney? Ich dachte, der wär letztes Jahr aufgeflogen.«

»Er unterhält eine kleinere Ausgabe oben in einem Lagerhaus an der 9ten.«

»Du meinst, da würde Julian sich aufhalten, trotz des Feuers?«

»Eine Eingebung«, murrte ich, und vielleicht war sie ja falsch; doch die Idee, die beiden könnten hierhergekommen sein, hatte mich nicht mehr losgelassen.

»Du könntest Recht behalten«, sagte Lymon unvermittelt, zügelte sein Pferd in eine Gasse und winkte mir, ihm zu folgen. »Schau mal.«

Wir blieben im Schatten, als ein Trupp vorbeiritt, nicht vom Feuer weg, sondern auf das Feuer zu, in unsere Richtung also. Dann begriff ich, was Lymon meinte: Es handelte sich um ekklesiastische Polizisten, kenntlich an ihren goldbetressten Uniformen, angeführt von Diakon Hollingshead. Ich war mir sicher, dass es der Diakon war, denn ich hatte das hasserfüllte Gesicht des Mannes nicht vergessen, der Calyxa derart zugesetzt hatte.

Er hatte uns im Vorbeireiten mit einem Blick gestreift; doch die Schutzmasken machten uns unkenntlich, und er war zu sehr auf sein Vorhaben fixiert, um sich näher mit uns zu befassen.


Er hatte dasselbe Ziel wie wir. Als wir das Lagerhaus sehen konnten, auf dessen Dachboden sich Magnus Stepneys Kirche befand, waren Hollingshead und seine Männer bereits abgesessen. Das halbe Dutzend ekklesiastischer Polizisten umstellte flugs das Gebäude und blockierte jeden Ausgang. Lymon und ich verfolgten das Manöver aus sicherer Entfernung.

Es waren keine Feuerwehrleute in der Nähe — die Straße war verwaist, die Anwohner längst geflohen. Seit meinem letzten Besuch hier hatte sich das Straßenbild geändert, hauptsächlich weil Julian das Verbot sogenannter Freikirchen aufgehoben hatte. Noch vor einem Jahr war hier ein fragwürdiges Viertel aus Haschischläden, Pensionen und anderen zwielichtigen Geschäften gewesen. Und das war auch jetzt noch so — nur dass zwischen den Tavernen und Schmuddelhotels Tempel, Moscheen und andere Kultstätten aus dem Boden geschossen waren, viele davon in grellbunten Farben, mit wunderlichen Symbolen und Sprüchen, als sei ein Volksfest der Religionen ausgebrochen.

Die Löschfahrzeuge waren allesamt unten am Kanal beschäftigt, hinter uns und westlich von uns. Das Einwandererviertel brannte ungehemmt, und überall schwebten Glutteilchen herab, doch weder das Lagerhaus, in dem sich die Church of the Apostles etc. befand, noch irgendein anderes Gebäude in der näheren Umgebung hatte bis jetzt Feuer gefangen.

»Wie du vermutet hast«, sagte Lymon Pugh. »Der Diakon lauert Julian auf. Schau mal, wie sie die Ausgänge versperren — sehr professionell für Dominion-Leute, aber nicht für eine Armee-Patrouille.«

»Und gut bewaffnet sind sie«, fügte ich hinzu, denn in den Händen der ekklesiastischen Polizisten funkelten Pittsburgh-Gewehre. »Wären wir bloß die Ersten gewesen!«

»Nein, Adam. Wären wir die Ersten gewesen, wären wir jetzt drinnen bei Julian und den Launen des Diakons ausgesetzt. So wie die Dinge liegen, haben wir die Überraschung auf unserer Seite.«

»Wir sind nur zwei!«

»Wir müssten unsichtbar sein«, sagte Lymon Pugh, »aber es lässt sich machen.«

»Ich habe nicht mal eine Pistole.«

»Überlass das mir. Sie teilen sich auf, Adam, siehst du? Sechs Männer und der Diakon, und er hat gerade drei Mann ums Haus geschickt, um die Ausgänge zu besetzen.«

»Das sind immer noch drei bewaffnete …«

»Dominion-Polizisten! Na, hör mal, von denen schick ich dir ein Dutzend zu Boden — alles schon da gewesen, da war noch kein Denken an die Armee.«

Trotz allem, was Lymon mir über seine Zeit als Straßenkämpfer und Rindfleischentbeiner erzählt hatte, fand ich sein Vorhaben reichlich riskant. Aber er war fest entschlossen: Ich solle zurückbleiben und die Pferde beruhigen, während er einen Bogen um das Lagerhaus schlage. Sobald die rückwärtigen Wachen außer Gefecht seien, nehme er die Gewehre an sich, der Rest sei ein Kinderspiel — falls ich denn wirklich zu Julian wolle! Da ich es bis hierher geschafft habe, erwiderte ich, wolle ich die Sache auch zu Ende bringen — aber nur, wenn wir eine vernünftige Chance hätten, das Ende zu überleben.

Er grinste und duckte sich im großen Bogen davon.

Das Feuer jenseits des Kanals machte die Pferde nervös, sie wollten wiehern und stampfen. Ich band sie an einen der allgegenwärtigen Pfosten und gab mir Mühe, sie zu beschwichtigen. Die Flammen schlugen so hoch in den Himmel, dass alles in ein rötliches Zwielicht getaucht war, und der Rauch war so dicht, dass selbst die Schutzmaske nicht mehr half — der Hustenreiz wurde übermächtig …

Dann war ein Schuss zu hören, gefolgt von einer stotternden Gewehrsalve. Die Tiere scheuten und wieherten. Ich spähte über die Straße zum Lagerhaus hinüber. Die dortigen Dominion-Schergen eilten mit schussbereitem Gewehr um das Gebäude herum und ließen den Diakon zurück.

Der fackelte nicht lange, zog seine Pistole und ging durch den Vordereingang ins Lagerhaus.

Lymons Plan schien nicht aufzugehen, und ich musste tun, was ich für richtig hielt. Ich lief geduckt über die leere Straße, vorbei an umgestoßenen Mülleimern und nachglühenden Ascheflocken, betrat das Lagerhaus und heftete mich so leise wie irgend möglich an die Fersen des Diakons.


Ich brauchte meine Zeit, um die Treppe hinaufzufinden, denn das einzige Licht rührte vom Feuerschein hinter den Treppenhausfenstern. Ich fürchtete jeden Moment einen weiteren Schuss zu hören und Julian tot zu Füßen des Diakons zu finden. Doch dieser Schuss blieb aus; und als ich am Treppenkopf das Schild

CHURCH OF THE APOSTLES ETC.

God is Conscience

— HAVE NO OTHER —

Love Your Neighbor as Your Brother

sah, vernahm ich dahinter Stimmen. Die Tür war nur angelehnt.

Ich war mit wenigen Schritten am Eingang zu dem geräumigen Dachboden mit dem runden Giebelfenster, den Magnus Stepney zum Gotteshaus erkoren hatte. Ich steckte den Kopf hinein — keine Gemeindemitglieder, leere Bänke und Diakon Hollingshead, der mit dem Rücken zu mir stand und mit seiner Pistole auf Julian Comstock und Magnus Stepney zielte, die Schulter an Schulter auf der nächstgelegenen Bank saßen.

Mehr war im unsteten Widerschein des Rundfensters nicht zu erkennen, das aufs ägyptische Viertel blickte. Alles zitterte und flackerte in Schattierungen von Erdbraun über Orange bis Glutrot.

Noch hatte mich niemand bemerkt, und ich rührte mich nicht von der Stelle.

»Was mich herführt?«, sagte Hollingshead gerade. »Von allen Verbrechen, die Sie begangen haben, führt mich nur eines hierher, und das ist die Ermordung meiner Tochter.«

Magnus und Julian saßen aneinandergelehnt. Ihre Gesichter lagen im Schatten. Julians Stimme war kaum zu hören.

»Dann hätten Sie sich den Weg sparen können«, sagte er. »Ich habe Ihrer Tochter nichts zuleide getan.«

Der Diakon stieß ein wildes Lachen aus. »Nichts zuleide getan? Haben Sie nicht den Angriff auf Colorado Springs befohlen?«

Julian nickte langsam.

»Dann hätten Sie ihr auch einen Dolch in die Brust stoßen können! Mein Haus wurde durch Artilleriefeuer zerstört. Es ist völlig ausgebrannt, Mr. President. Niemand hat überlebt, auch meine Tochter nicht.«

»Tut mir leid um Ihr Haus …«

»Um mein Haus?«

»… und um alle Menschen, die bei dem Angriff getötet wurden — sinnlos vermutlich, obgleich künftige Generationen darüber entscheiden werden. Das Dominion hätte nachgeben können, und das ganze Blutvergießen wäre vermieden worden. Und was Ihre Tochter angeht — Ihre Tochter ist nicht tot, sie lebt.«

Hollingshead mochte fadenscheinige Ausreden oder eine Art Gnadengesuch erwartet haben. Doch diese beinah entwaffnende Erwiderung verblüffte ihn. Die Mündung der Pistole sank ein wenig, und ich überlegte kurz, ihn von hinten anzufallen, um ihm die Waffe zu entreißen, fand es dann aber doch zu riskant.

»Warum sagen Sie so etwas?«, fragte er. »Sind Sie völlig übergeschnappt?«

»Die Geschichte von Ihrer Tochter hat weite Kreise gezogen …«

»Dank der vulgären Verse, die das vulgäre Weib Ihres Freundes zum Besten gegeben hat, auf dem Ball Ihres Onkels …«

»Und ich gebe zu, dass ich hellhörig wurde. Ich habe die Situation Ihrer Tochter eingehend recherchiert. Noch vor dem Angriff auf Colorado Springs habe ich ihr zwei meiner Gardisten geschickt.«

»Wozu?«

»Meine Männer haben sie über die bevorstehende Intervention unterrichtet und ihr Mittel und Wege zur Flucht angeboten.«

Hollingshead trat einen Schritt vor. »Lügen, nichts als Lügen; aber ich beschwöre Sie, Julian Comstock, wenn Sie meine Tochter als Geisel genommen haben, dann sagen Sie mir jetzt, wo sie ist — reden Sie, und Sie bekommen eine Schonfrist.«

»Ich habe Ihre Tochter nicht als Geisel genommen. Ich sagte, man hat ihr Mittel und Wege zur Flucht angeboten. Damit meine ich den Umzug in eine andere Stadt — weit weg vom Zentrum des Dominions und weit weg von Ihnen, Diakon Hollingshead —, wo sie unter einem anderen Namen leben und sich nach Herzenslust verlieben kann.«

»Ungehindert sündigen kann, meinen Sie! Wenn das stimmt, hätten Sie sie ebenso gut umbringen können! Sie haben ihre unsterbliche Seele getötet, was auf dasselbe hinausläuft!«

»Für Sie vielleicht. Die junge Lady sieht das anders.«

Das brachte den Diakon noch mehr in Rage. Er machte einen drohenden Schritt auf die beiden zu, ich holte zwei Schritte auf. Inzwischen hatten Julian und Magnus mich entdeckt, ließen sich aber nichts anmerken.

»Sie kommen sich wohl wie ein Sieger vor«, sagte der Diakon. »Präsident Comstock! Julian der Eroberer! Dass ich nicht lache. Wo ist denn Julian der Eroberer? Er verkriecht sich in einer abtrünnigen Kirche, die Präsidentschaft in Trümmern und die brennende Stadt im Rücken!«

»Was ich für Ihre Tochter getan habe, habe ich ihr zuliebe getan, nicht um zu gewinnen. Sie haben Ihre Tochter so verprügelt, dass sie Narben davongetragen hat. Wenn ich nicht eingegriffen hätte, wäre sie keine dreißig geworden, nicht unter Ihrer Knute.«

Ich fragte mich, ob Julian es darauf anlegte, dass der Mann ihn erschoss. Ich trat noch einen Schritt vor.

»Über kurz oder lang werde ich sie zurückhaben«, sagte der Diakon.

»Da wäre ich nicht so sicher. Wir haben sie sehr sorgfältig versteckt. Sie wird ihren Vater für den Rest ihres Lebens verfluchen. Sie hat ihn schon mehr als einmal verflucht.«

»Allein dafür sollte ich Sie töten.«

»Tun Sie sich keinen Zwang an — es macht keinen Unterschied.«

»Und ob es einen Unterschied macht. Sie sind ein Versager, Julian Comstock, Sie haben als Präsident versagt, Sie haben als Rebell gegen das Dominion versagt.«

»Das Dominion wird noch eine Weile weitertorkeln. Aber es ist auf lange Sicht zum Untergang verdammt. Solche Institutionen sind nicht von Dauer. Betrachten Sie die Geschichte der Menschheit. Es hat so viele Dominions gegeben. Sie sind allesamt untergegangen oder haben sich bis zur Unkenntlichkeit verändert.«

»Die Weltgeschichte steht in der Heiligen Schrift, und sie gipfelt im Reich Gottes.«

»Die Weltgeschichte ist in Sand geschrieben, und sie entwickelt sich, wie der Wind bläst.«

»Sagen Sie mir, wo meine Tochter ist.«

»Nein.«

»In dem Fall töte ich zuerst Ihren homosexuellen Freund und dann …«

Was er noch sagen wollte, wurde im Keim erstickt. Ich hatte aus der Tasche gezogen, was Lymon mir zu Weihnachten geschenkt hatte. Einen Knocker natürlich. Lymon hatte die Herstellung laufend verbessert und mir eines seiner besten Exemplare überreicht. Das Hanfsäckchen war niedlich mit Perlen bestickt, und die Gussform des Bleikerns hätte gut und gerne ein Straußenei sein können. Ich tat einen Satz nach vorne und benutzte meine Waffe, um dem Diakon die seine aus der Hand zu schlagen. Ein Schuss löste sich, aber die Kugel fuhr in den Holzboden. Hollingshead wirbelte herum, die verletzte Hand mit der anderen haltend, und stierte erst mich und dann den Knocker entgeistert an.

»Was ist das?«, wollte er wissen. (Mich hatte er wohl schon erkannt.)

»Ein sogenannter Knocker«, sagte ich und demonstrierte ihm auch gleich die Wirkungsweise, woraufhin er bewusstlos zu Boden sackte.


In dem Moment kam Lymon Pugh herein. »Ich hatte ein kleines Problem«, begann er, »aber ich habe sie alle weggeputzt, einen nach dem anderen — und dann habe ich hier oben einen Schuss gehört — he, ist das nicht der Diakon? Sieht aus, als hätte er schlappgemacht.«

»Du bewachst den Haupteingang, Lymon«, sagte ich, denn ich wollte mit Julian unter vier Augen reden. Lymon verstand den Wink und machte kehrt.

Julian stand nicht auf oder veränderte sonst wie seine Haltung. Er saß gegen Magnus Stepney gelehnt und Magnus Stepney gegen ihn, und sie erinnerten an zwei Stoffpuppen, die ein Kind achtlos beiseitegelegt hatte. Ich ging um den besinnungslosen Diakon herum.

»Nicht zu nahe«, sagte Julian.

Ich zögerte. »Wie meinst du das?«

Magnus Stepney antwortete für Julian: »Ich hätte dich fast nicht erkannt, Adam Hazzard. Aber du setzt die Maske besser wieder auf.«

»Wegen des Rauchs?«

»Nein.«

Magnus langte nach der Laterne, die an seinen Füßen stand. Er zündete sie mit einem Streichholz an und hielt sie hoch, so dass ihr Licht auf ihn und Julian fiel.

Ich begriff sofort, hielt den Atem an und wich unwillkürlich einen Schritt zurück.

Julian war blass, seine Augen waren halb geschlossen, und auf beiden Wangen blühten Fieberflecken. Aber das war nicht das entscheidende Symptom. Das entscheidende Symptom waren die vielen blassgelben Pusteln, die aus dem Kragen kletterten und die Arme hinunterschwärmten. (Sie erinnerten entfernt an Schneeglöckchen in einem Wintergarten.)

»Oh, oh«, machte ich.

»Die Pocken«, sagte Julian. »Ich wollte es erst nicht wahrhaben, aber heute sind sie ausgebrochen. Deshalb habe ich mich so abgekapselt, deshalb bin ich wortlos auf und davon. Und deshalb kann ich auch nicht mit euch kommen, falls du mich das fragen willst. Ich könnte die Crew der Goldwing anstecken, die Passagiere — könnte die Hälfte der Menschen töten, die ich liebe. Und wäre wahrscheinlich der Erste, der sterben müsste.«

»Deshalb bist du hier.«

»Hier stirbt es sich so gut wie überall.«

»Die Flammen sind schneller als die Pocken.«

Er zuckte nur mit den Schultern.

»Und du, Magnus?«, fragte ich. »Du sitzt direkt neben ihm — hast du keine Angst, dich anzustecken?«

»Danke der Nachfrage«, sagte er, »aber das hat sich wohl erledigt. Ich bleibe so lange bei ihm, wie ich noch bei Kräften bin.«

Diese Worte sprachen ihn heilig. Julian nahm seine Hand, streckte sich stöhnend auf die Bank und legte den Kopf in den Schoß seines Freundes.

Ich hatte immer gehofft, Julian würde eine Frau finden, die ihn liebte und ihn in die Freuden des Lebens einweihte, die für mich so selbstverständlich waren und ihm versagt blieben. Das war nicht eingetreten; doch ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass ihm jetzt wenigstens sein Freund Magnus zur Seite stand. Er hatte zwar keine Frau, die ihm Trost spenden oder das Sterbebett richten konnte — aber er hatte Magnus, und vielleicht war das in Julians Augen genauso viel wert.

»Ich habe den Schlussvorhang verpasst«, sagte Julian so versonnen, als schweife sein Geist schon ab. »Gab es Applaus?«

»Applaus und Bravorufe, ohne Ende.«

Es war schwer zu sagen bei der Düsternis, aber ich glaube, er lächelte.

»Hat dir der Film gefallen, Adam?«

»Ich fand ihn richtig gut. Einen besseren gibt es nicht.«

»Ob er mich ein bisschen unsterblicher macht, was meinst du?«

»Ganz bestimmt.«

Er nickte und schloss die Augen.

»Stimmt das«, fragte ich, »was du ihm von seiner Tochter erzählt hast?«

»Sie ist wohlbehalten in Montreal, dafür habe ich gesorgt.«

»Das war eine gute Tat.«

»Es mildert den Ruch von Krieg und Tod. Mein kleines Opfer, das ich dem Gewissen dargebracht habe. Meinst du, es war gut genug?«, fragte er, und seine fiebrigen Augen suchten Magnus.

»Das Gewissen ist nicht kleinlich«, sagte Magnus. »Gott nimmt fast jedes Opfer an, und deines war großzügig.«

»Danke, dass du gekommen bist, Adam«, sagte Julian, der zusehends müder wurde. »Aber du solltest dich jetzt besser aufmachen. Die Goldwing wartet nicht, und das Feuer breitet sich aus.«

»Der Wind trägt glühende Asche über den Kanal. Das Haus wird bald Feuer fangen.«

»Ein Grund mehr, dich zu beeilen«, meinte Julian.

Doch keiner von beiden rührte sich vom Fleck, und ich konnte ihnen nicht den Rücken kehren.

»Ich war wohl kein guter Präsident«, sagte Julian so leise, dass man ihn kaum verstand.

»Aber du warst ein guter Freund.«

»Pass auf Flaxie auf, Adam Hazzard. Schreit sie da? Ich möchte jetzt schlafen, nur noch schlafen.«

Er schloss die Augen und nahm keine Notiz mehr von mir. Ich dankte Magnus, drehte mich um und verließ die stille, wabernde Kirche mit den leeren Bänken.

Ich trat in die flackernde, brenzlige Nacht hinaus und verabschiedete mich von Lymon Pugh. Lymon drückte mir ein letztes Mal die Hand — Julian tue ihm leid, er wünsche uns alles Gute im Ausland. Dann ritt er stadtaufwärts, ein einsamer Reiter auf einer verwaisten Straße, auf der es von herbeigewehten, glühenden Ascheflocken wimmelte.

Gegen Mitternacht erreichte ich den Kai, wo die Goldwing noch vor Anker lag. Ich schnallte die Satteltaschen ab und überließ das gesattelte Rassepferd einer vorbeikommenden ägyptischen Familie, die sich von nun an vermutlich zu den Schwerreichen zählte. Ich ging an Bord und suchte unsere Kabine auf; Calyxa deckte soeben Flaxie zu. Sie war ziemlich ungehalten und wollte wissen, wo ich so lange gewesen sei; ich nahm sie wortlos in die Arme und heulte mich an ihrer Schulter aus.

10

Im Morgengrauen, als die Flammen den Hafen erreichten, legte die Goldwing ab. Sie fuhr durch die Narrows und ankerte in der Lower Bay, um auf eine günstige Brise zu warten. Eine strahlende Dezembersonne prangte am Himmel.

Wir sahen den Rauch aus der Stadt steigen. Die Flammen verschlangen Lower Manhattan fast bis hinauf zum Palastgelände, bevor der Wind das Feuer auf sich selbst zurückwarf. Der Rauch stieg in einer riesigen, schrägen Säule in den Himmel, bis er von der oberen Luftschicht erfasst und über das Meer gefächert wurde. Ich hatte den makabren Einfall, diese Wolke aus Asche und Ruß enthalte — nein, müsse aus wissenschaftlicher Sicht Partikel meines Freundes Julian enthalten. Seine Atome, meine ich, umgeformt und keimfrei gemacht durch das Feuer, um schließlich über einem gleichgültigen Meer abgeregnet zu werden.

Der Gedanke schmerzte; aber ich glaube, er hätte Julian gefallen, denn er war philosophischer Natur — er war jedenfalls so philosophisch, wie ein Gedanke von mir nur sein konnte.

Gegen Mittag entschied sich unser Kapitän, die Fahrt anzutreten. Diese Entscheidung löste eine Reihe von Maßnahmen aus: Anker lichten, Segel setzen, Seilwinden drehen und etliches mehr. (Die Goldwing besaß nur eine kleine Dampfmaschine für präzisere Manöver. Auf hoher See war sie ein Schoner und auf Wind angewiesen.) Calyxa und ich überließen Flaxie einem Kindermädchen und stiegen aufs Achterdeck, um zuzusehen, wie die Segel gesetzt wurden; Sam und Julians Mutter waren bereits da, und wir vier gesellten uns zueinander — ohne viel zu sagen, denn wir teilten einen unsäglichen Schmerz.

»Spill bespaken!« — »Anker kurzstag holen!« Die Befehle des Kapitäns wurden die Befehlskette hinunter- und die Rückmeldungen die Befehlskette hinaufgebrüllt. Die Sonne heizte das Deck auf und ließ die Planken dampfen.

Sam trat an die Heckreling und blickte auf die brennende Stadt zurück. Wir kamen dazu, schon um den emsigen Seeleuten aus dem Weg zu gehen. Die Toppsegel waren ausgeschüttet, angeholt und säuberlich gehisst. Die Goldwing regte sich ein wenig, gerade so wie ein Lebewesen, das sich im Schlaf bewegt.

Sam wandte sich an Emily. »Hältst du es für angebracht«, fragte er, »… angemessen, meine ich … ähm … ein Gebet …?«

»Aber sicher«, sagte sie und nahm seine einzige Hand in ihre Hände.

»Eins von meinen Gebeten, meine ich.«

»Ja, Sam«, sagte sie. »Hier ist weit und breit kein Dominion, das uns bestrafen könnte, und die Crew hat bestimmt schon merkwürdigere Dinge vernommen — die Hälfte besteht aus europäischen Heiden.«

Sam nickte und fing an, das Gebet für Julian zu sprechen; er musste es in frühester Kindheit gelernt und nicht wieder vergessen haben. Die gebrüllten Befehle und Rückmeldungen überlagerten den feierlichen Singsang. Salzwasser klatschte an die Holzverschalung des Schiffes, und über uns schrien die Möwen.

Er hielt den Kopf geneigt. »Yit gid-all«, psalmodierte er, »va-yit ka-dash …«

»Klüver und Fallen besetzen!«, kam das nächste Kommando des Kapitäns, das vom Maat weitergebrüllt wurde. Die Matrosen schwärmten in die hohe Takelage.

»… Smay ra-bah balma div-ray …«

»Anker lichten! Stopp, und sperrt das Spill! Anker katten und fischen!«

»… Hero-tay ve-am-lik mal ha-tay …«

»Steuer nach backbord!«

Die Goldwing setzte sich hurtig in Bewegung.

»… Bu-chaw yay honey vi-ormy chon …«

»Ausholer besetzen! Geien los und Geeren los!«

»… Of chay-yed whole bate yis-royal by agula you viz man ka-reef …«

»Vorder- und Hauptbrassen besetzen! Loslassen und anholen! Anholen jetzt, anholen feste, ANHOLEN!«

»… vim roo ah-main«, sagte Sam; und »Amen«, sagte auch Emily; und Calyxa sagte »Amen«; und ich auch.

Dann standen wir an der Reling und sahen zu, wie sich Amerika über den westlichen Horizont davonstahl.

Epilog (Frühling 2192)

»Doubts of all things earthly, and intuitions of some things heavenly; this combination makes neither believer nor infidel, but makes a man who regards them both with equal eye.«[121]

— Mr. Herman Melville (in einem Werk, das Julian Comstock aus dem Dominion-Archiv befreit hat)


Mit diesem Buch habe ich die Absicht verfolgt, Leben und Werdegang des Julian Comstock wahrheitsgetreu und authentisch darzustellen — nur wo die Wahrheit ungewiss oder unerreichbar war, habe ich nach besten Kräften dramatisiert; und ich lege meinen Federhalter in einer Mischung aus Stolz und Scham und Liebe und Gewissensbissen aus der Hand.

Sechzehn Jahre sind seit diesen Ereignissen vergangen.

Im taufrischen Jahr 2176 ging die Goldwing unbehelligt im Hafen von Marseille vor Anker; und obwohl wir Fremde im mediterranen Frankreich waren und von uns nur Calyxa Französisch sprach — und das mit einem Akzent, der Einheimische blinzeln oder die Lippen schürzen ließ —, sind wir hier gut vorangekommen. Das Wetter ist im Großen und Ganzen freundlich. Die Bevölkerung ist bunt gemischt, aber friedlich. — Moslems und Christen rivalisieren zwar miteinander, haben sich aber seit Jahrzehnten nicht mehr nach dem Leben getrachtet (mit wenigen Ausnahmen).

Anfangs haben wir Emily Godwin auf der Tasche gelegen, die so viel vom Comstock-Vermögen mitgebracht hatte, dass es für eine Villa in einer kleinen Küstenstadt reichte. Aber weder ich noch Sam waren zufrieden, auf diese Weise ausgehalten zu werden. Schließlich gelang es Sam, im Pferdehandel Fuß zu fassen: Er lieh sich so viel von Emily, dass er eine Auswahl an Zuchtstuten aus dem Osten des Kaspischen Meeres importieren konnte, und baute damit ein gut florierendes örtliches Geschäft auf. Sam hat sich inzwischen einen guten Ruf erworben.

Calyxa singt regelmäßig in den örtlichen Tavernen und wird manchmal zu einem Auftritt im Hafen von Marseille aufgefordert. Ihr Akzent, auf den die Menschen im Alltag eher abschätzig reagieren, wird beim Singen als »charmant« empfunden; und aus diesem Widerspruch hat sie eine sprudelnde Geldquelle gemacht. Außerdem findet sie von Zeit zu Zeit Arbeit als Synchronstimme für amerikanische Frauen in französischen Filmen, denn die Filmindustrie blüht im mediterranen Frankreich. Hier gibt es kein Dominion, das die Originalität der Produktionen zunichtemacht (obwohl sich die Regierung immer mal wieder einmischt), und die Aufzeichnung von Ton gehört hierzulande fast schon zum Standard. Vor kurzem hat Calyxa ihre Stimme für eine französische Übersetzung von Julians Life and Adventures of the Great Naturalist Charles Darwin zur Verfügung gestellt; dabei wurde ihre Stimme mechanisch aufgezeichnet. Kopien des Films wurden in die mitteleuropäischen Mandatsgebiete nördlich von Lyon geschmuggelt, wo sie, wie verlautet, ein enthusiastisches Publikum finden. Erst gestern erreichte uns die Nachricht von einer öffentlichen Vorführung in Brüssel, in deren Verlauf es zu tumultartigen Szenen kam.

Flaxie ist jetzt eine junge Frau. Sie hat schon früh gelernt, Englisch und Französisch zu lesen, und sie beherrscht beide Sprachen meisterlich. Sie ist beliebt bei den Jungs der Stadt, von denen meines Erachtens kein Einziger für sie infrage kommt, obwohl sie anderer Meinung ist. Sie liebt Bücher und Musik, und ihr dunkles, glänzendes Haar ist so dicht gelockt wie das ihrer Mutter, das jetzt immer mehr silberne Strähnen bekommt. Sie hilft Sam in den Ställen, weil sie Pferde mag, was sie sicher nicht von mir geerbt hat, und sie liebt lange Ritte in den Hügeln nördlich der Stadt.[122] Wir sind sehr stolz auf sie.

Was mich betrifft, so verdiene ich meinen Lebensunterhalt mit dem Federhalter (genau genommen mit der Schreibmaschine, obwohl Mr. Dornwoods Maschine betagt und weit gereist ist und inzwischen ein paar Teile verloren hat). Die Druckereien von New York City hatte das Feuer verschont, und unter Präsident Fairfield war der Buchhandel trotz der Edikte eines geschwächten Dominions aufgeblüht. Ich sei eine Hauptstütze dieses Geschäfts, heißt es, obwohl meine Manuskripte per Schiff in die Staaten geschickt werden und nicht selten ein nasses Ende nehmen.

Mein letztes Buch (vor diesem) heißt American Boys on the Moon — es verkauft sich gut, auch ohne Stempel des Dominions.[123] Das Buch wurde von Mr. Charles Curtis Easton gelobt; er hatte das Feuer auch überlebt, ist inzwischen älter als meine ehrwürdige Schreibmaschine und denkt daran, sich endgültig zur Ruhe zu setzen. Beim Schreiben von American Boys on the Moon ließ ich mich von meinem Exemplar der History of Mankind in Space inspirieren. Dieses antike Buch liegt jetzt auf meinem Schreibtisch, zusammen mit anderen Erinnerungsstücken, die ich aus Amerika herübergerettet habe — ein verblasster Brief, der mit »Liefste Hanni« beginnt; ein Zugbillett für die Fahrt von Montreal nach New York City; ein Comstock-Dollar mit dem Konterfei von Deklan dem Eroberer (Julian ist nicht lange genug Präsident gewesen, um seine eigene Münze geprägt zu bekommen); ein Programm des Broadway-Debüts von Darwin; ein dekorativer Knocker (sehr fleckig) und noch ein paar Dinge. Morgen werde ich sie wieder wegräumen.

Als wolle sie etwas beitragen, blättert eine Brise in dem Kalender, der an der Wand hängt. Kaum zu glauben, dass in nur acht Jahren das 23. Jahrhundert beginnt! Zeit ist etwas Geheimnisvolles für mich, ich kann mich nicht daran gewöhnen, wie sie verfliegt. Vielleicht bin ich nur altmodisch und bleibe zeitlebens ein Mensch des 22. Jahrhunderts.

Eben kommt Calyxa durch mein Arbeitszimmer — das muss sie immer, wenn sie in den Garten will. Unsere Villa steht nahe am Felsufer, und auf dem Grundstück wächst normalerweise nur Seegras und Sand; schon vor langer Zeit hat Calyxa ein rechteckiges Stück umfriedet und den Sand durch gute Erde ersetzt; seither pflanzt sie jedes Jahr Lavendel, Mimosen und Sonnenblumen. — Sie war mir eine unschätzbare Wissensquelle beim Schreiben von Julians Lebensgeschichte — konnte meinen vage erinnerten Eindrücken von Französisch den genauen Wortlaut geben und mir die Sätze mit Accent grave und Accent aigu und solchen Finessen in die Maschine tippen.

Heute bleibt sie stehen und bedenkt mich mit einem rätselhafen Lächeln. »Tu es l’homme le plus gentil et le plus innocent que je connaisse«, sagt sie. »Tu rends les laideurs de la vie supportables. Sans toi, elles seraient insoutenables.«

Das ist bestimmt wieder ein Scherz auf meine Kosten, denn Calyxa ist von Natur aus skeptisch und sagt ihre Ironien auf Französisch — auch nach sechzehn Jahren in diesem Land habe ich mit dieser Sprache noch Probleme. »Das denkst du also«, sage ich in solchen Fällen; sie lacht, als sie nach draußen geht und das weiße Kleid um ihre Fesseln spielt.

Ich will jetzt meine Schreibmaschine zurücklassen und Calyxa folgen. Der Nachmittag ist zu verlockend, um ihm zu widerstehen. Wir leben hier nicht im Paradies, nicht einmal annähernd; aber die Mimosen blühen, und die Seeluft ist kühl und angenehm. An solchen Tagen muss ich an den grünen, sich entwickelnden Gott des armen alten Magnus Stepney denken, der uns Menschen nach Eden scheucht. Die Stimme des grünen Gottes ist aber so vage, dass ihn nur wenige deutlich verstehen, und das ist vermutlich die Tragödie unserer Spezies … aber ich höre ihn eben ganz deutlich. Er fordert mich auf, hinaus in die Sonne zu gehen, und ich will tun, was er sagt.

Danksagung

Ich kann nicht alle Menschen namentlich aufführen, deren Großzügigkeit und Unterstützung »Julian Comstock« erst möglich gemacht haben (unter ihnen ist wieder einmal meine unendlich geduldige Frau Sharry). Von den unzähligen Buch-Antiquaren, die ich im Zuge meiner Recherchen um Rat gefragt habe, verdienen zwei eine besondere Erwähnung: Jeffrey Pickell von Kaleidoscope Books & Collectibles in Ann Arbor, der mich als Erster auf das Werk von »Oliver Optic« (William Taylor Adams) aufmerksam gemacht hat, und Terry Grogan von BMV Books in Toronto, der mit nachtwandlerischer Sicherheit zur rechten Zeit das rechte Buch fand. Vielen Dank auch an Mischa Hautvast, Peter Hohenstein, Mark Goodwin und Claire-Gabriel Robert für ihre Hilfe bei den niederländischen und französischen Passagen — jeder Irrtum ist natürlich mein eigener. Und mein aufrichtiger Dank gilt nicht zuletzt Peter Crowther von PS Publishing, dessen ansprechende kleine Geschenkausgabe von »Julian: A Christmas Story« die Tür für diese viel größere Arbeit geöffnet hat.

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