»Gott hat sich vielmehr die Einfältigen und Machtlosen ausgesucht, um die Klugen und Mächtigen zu demütigen.«
Ich will den Leser nicht mit jeder Lappalie ermüden, die sich nach unserer Abfahrt nach Labrador und vor den triumphalen und tragischen Ereignissen rings um das Erntedankfest 2174 zutrug. Unsere Abfahrt, nicht nur Julians; denn die von Deklan dem Eroberer öffentlich erklärte Wiedereinberufung betraf ebenso Sam Godwin und mich.
Kurz gesagt, ich war gezwungen, meine frisch angetraute Frau sowie meine junge Karriere als New Yorker Schriftsteller im Stich zu lassen und als Teil des persönlichen Stabs von Generalmajor Julian Comstock mit nach Labrador zu segeln — und nicht etwa zu erfreulicheren Bezirken von Labrador, wie beispielsweise dem Saguenay River, sondern zu einer noch unwirtlicheren und feindseligeren Region dieses umstrittenen Staates — betraut mit einer Mission, deren wahrer Zweck es war, aus einem lästigen Erben in spe einen stillen und willkommenen Märtyrer zu machen — beide hießen Julian.
Mitte Oktober verließen wir auf einem schnellen Marinesegler den Hafen von New York und folgten der Kompassnadel. Um diese Jahreszeit war das Wetter auf dem Atlantik ziemlich launisch, und wir überlebten einen wütenden Sturm, der mit unserem Klipper verfuhr wie der Hengst mit dem buchstäblichen Floh am Po. Schließlich stießen wir zu einem Flottenverband unter Admiral Fairfield außerhalb des Hafens Belle Isle (jetzt in amerikanischer Hand).
Unsere Marine hatte nicht das politische Gewicht der beiden großen Armeen, sie war eigentlich nur ihr Ableger zur See; doch in letzter Zeit waren ihre Störmanöver wirkungsvoller gewesen als die der landgestützten Kräfte. Diesmal hatte Deklan Comstock, was selten genug vorkam, eine wirklich brauchbare Entscheidung getroffen und eine Blockade des gesamten mitteleuropäischen Schiffsverkehrs in den Gewässern vor Neufundland und Labrador befohlen. Das war schon einmal versucht worden, allerdings mit enttäuschendem Ergebnis. Aber heute schien die Marine nach Größe und Ausrüstung einem so ehrgeizigen Projekt gewachsen zu sein.
Während der berühmten »Schlacht am Hamilton Inlet« war ich an Bord der Basilisk, des Flaggschiffs der Armada. Da sich eine große Kriegsflotte nicht verstecken kann, konnten die Deutschen unsere Manöver verfolgen; aber sie hatten fälschlicherweise angenommen, wir würden sie in der Nähe der Voisey Bay angreifen, von wo sie Nickel, Kupfer und Kobalt ausführten, Erze, die in Labrador zuhauf abgebaut wurden. (Die vielen kleinen Inseln und Wasserwege in dieser Region machen die Voisey Bay praktisch unkontrollierbar und folglich zu einem sicheren Hafen für Blockadebrecher.) Doch wir hatten einen kühneren Einsatzbefehl. Wir erzwangen uns Zugang zum Hamilton Inlet; und während uns die Deutschen weiter nördlich auflauerten, brachten unsere Geschütze ihre Festung an den Narrows zum Schweigen und rollten rasch ihre Artilleriestellungen auf Eskimo Island und bei Rigolet auf. Und da die deutsche Abwehr nicht mit uns gerechnet hatte, hielten sich unsere Verluste in Grenzen. Von den zwanzig Kanonenbooten in unserer Flottille ging nur eines, die Griffin, verloren. Fünf andere erlitten Schäden, die von den Schiffszimmerleuten behoben werden konnten; und unsere Basilisk war völlig unversehrt geblieben, obwohl sie vorneweg gefahren war.
Ein Kommando der Ersten Nördlichen Division wurde an Land geschickt, um die eroberten Stellungen zu besetzen und wieder herzurichten. Es war ein großer (sonniger und kalter) Moment, als wir zusahen, wie die Sechzig Sterne und Dreizehn Streifen über den Narrows hochgezogen wurden — ab jetzt kontrollierten wir den gesamten Schiffsverkehr, der diesen knapp eine Meile breiten Flaschenhals passieren würde.
Vor uns erstreckte sich die Weite des Lake Melville, der von den Einzugsgebieten des Naskaupi River und des Churchill River gespeist wurde. Im Süden erhob sich das graue, stumpfzahnige Mealy-Gebirge — ein einschüchternder Anblick, wenn er nicht von Wolken verstellt war. Außerhalb unserer Sichtweite lagen unsere eigentlichen Angriffsziele: die von den Deutschen besetzten Städte Shesh und Striver und der ungemein wichtige Schienenkopf in Goose Bay.
Julian und Sam waren die meiste Zeit mit militärischen Planungen und Rücksprachen mit Admiral Fairfield beschäftigt. Doch an diesem besonderen Nachmittag kam Julian an Deck, wo ich mir eben das Kalfatern hatte erklären lassen.[74]
Der antike Forschungsreisende Jacques Cartier, sagte Julian, habe Labrador »das Land, das Gott Kain gab« genannt.[75] »Sicher, damals war es kälter hier«, setzte er hinzu. »So unfruchtbar ist es heute nicht mehr — auch wenn ich hier kein Farmer sein wollte.«
»Kein Wunder, dass Kain so wütend war«, sagte ich und zog mir den Dufflecoat enger um den Körper, denn der Wind war rau und schneidend, und die wachhabenden Matrosen hatten sich zwischen die aufgerollten Taue gekauert, wo sie ungestört schwören und fluchen und ihr Pfeifchen schmauchen konnten. Dabei war das Land überhaupt nicht unfruchtbar: Es brachte große Mengen an Schwarzfichten und Hängebirken hervor, Balsamtannen, Zitterpappeln; und in den kalten Schatten dieser Bäume war das Karibu zu Hause — und ähnlich hartgesottene Kreaturen. Und in den wärmeren Monaten sollte es hier jede Menge Wasservögel geben. Doch Labradors Wälder waren düster und das Land nicht gerade einladend für die menschliche Rasse. »Immerhin haben wir den Deutschen eingeheizt und sind noch in der Lage, damit anzugeben«, sagte ich.
Wir drei — Sam, Julian und ich — waren uns darüber im Klaren, dass wir — oder zumindest Generalmajor Comstock — nicht auf diese Expedition geschickt worden waren, um sie zu überleben. Es komme immer wieder vor, beschwichtigte Julian, dass sich ein Feldzug, auch der aussichtsloseste, zum Guten wende. Für gewöhnlich weckte diese Zuversicht meine Lebensgeister. Doch heute, obwohl wir haushoch gesiegt hatten, hatte sich ein kleiner November in meine Seele geschlichen. Ich war weit weg von zu Hause, und ich machte mir Sorgen.
Wenn ich gehofft hatte, Julian würde sich auch diesmal wieder zuversichtlich zeigen, so hatte ich mich getäuscht. »Das Schlimmste liegt noch vor uns«, räumte er ein. »Admiral Fairfield hat Befehl, die Infanterie in Striver zu landen; wir sollen Goose Bay angreifen, und Goose Bay wird kein Spaziergang. Die werden vorbereitet sein — die Telegrafen müssen schon schnattern.«
Ich ließ meinen Blick achteraus über das windige graue Gewässer schweifen. »Ich habe mehr Angst um Calyxa. Sie ist allein in New York City, sie hat sich schon die Feindschaft von Diakon Hollingshead eingehandelt und bestimmt noch von anderen Autoritäten, so wie ich sie kenne.«
»Meine Mutter wird ihr schon Schützenhilfe geben«, sagte Julian.
»Das ist lieb von ihr, aber ich wünschte, ich könnte Calyxa selbst beistehen.«
»Du wirst noch früh genug wieder bei ihr sein, wenn du mich fragst.«
Deklan der Eroberer hatte auf Julians Jugend und Unerfahrenheit gesetzt, beides sollte seinen Neffen zu einem leichten Ziel für die Deutschen machen. Aber der Präsident hatte ihn wohl unterschätzt. Julian war jung, und manche Truppe unter seinem Kommando hatte erst gezögert, Befehle von einem Jungen mit einem blonden Bart entgegenzunehmen. Doch Julian hatte heimlich ein paar Exemplare meines Hefts in Umlauf gebracht, und zwar als Lektüre für die Soldaten, die lesen konnten; und in dem Maße, wie sie anderen daraus vorlasen und der Inhalt in Kurzform weitererzählt wurde, war sein Ansehen gewachsen. Außerdem war Julian nicht das unbeschriebene Blatt, für das ihn Deklan Comstock hielt. Von Sam ausgiebig in der Theorie der Kriegsführung unterwiesen, hatte Julian auf dem Saguenay-Feldzug Gelegenheit gehabt, Theorie und Praxis zu vergleichen. »Vielleicht kehren wir ja im Triumphzug nach Manhattan zurück«, sagte ich.
»Richtig, und zwingen meinen Onkel, mich weniger umständlich aus dem Weg zu räumen.«
»Wir werden den Eroberer überleben«, sagte ich mit gesenkter Stimme. »Sam ist überzeugt davon.«
»Hoffentlich behält er Recht. Und du, Adam? Du zitterst ja wie Espenlaub — gehst du nicht besser in deine Kabine und hältst unsere Heldentaten fest?«
Meine Kabine lag so nahe an der Bilge, dass frische Luft mitunter nottat, egal wie kalt es an Deck war. Aber Julian hatte Recht. Ich hatte mich bereiterklärt, die Ereignisse für den Spark festzuhalten. Der Fall von Eskimo Island war dramatisch genug, da musste ich nicht viel hinzudichten. »Dann will ich mal«, sagte ich. Ich hatte bereits etliche Seiten vollgeschrieben und ging im Stillen davon aus, sie würden für irgendetwas gut sein. Sicher war ich mir nur, wozu sie nichts taugten: Die Basilisk würden sie nicht wieder flottmachen, wenn sie unter der Wasserlinie getroffen wurde, und auch die feindlichen Geschosse würden sie keinen Augenblick ablenken können.
Ich ließ Julian an Deck zurück. Er blieb an der Heckreling stehen und starrte gedankenverloren zurück auf die Narrows, die Augen von der Krempe seines Uniformhuts beschattet. Die Schöße des blau-gelben Uniformrocks flappten im kalten Wind, der vom Mealy-Gebirge blies.
Als die Narrows fest in unserer Hand waren, ging es nach Striver, einer Stadt am Nordufer des Lake Melville.
Ein Dutzend deutscher Kriegsschiffe lagen dort vor Anker. Wuchtige Kähne, schwer gepanzert und schwer bewaffnet; im ersten Licht der Morgendämmerung nahmen wir sie heftig unter Beschuss; und noch ehe ihre Anker gehievt waren, hatten wir ihre Masten mit Geschützfeuer gekürzt und ein paar Dellen in die gepanzerten Flanken geschossen.
An diesem Tag lag die Basilisk schwer unter Beschuss. Wir Infanteristen suchten Schutz unter Deck, während oben die Seeleute kämpften; und ich war dabei, als uns mittschiffs ein massives Geschoss traf. Nun konnten solche Projektile die Panzerung von Maschinenraum und Heizkesseln nicht durchschlagen, aber wohl die hölzerne Hülle, und das passierte gerade da, wo wir hockten. Ich wurde bei der Explosion nicht verletzt; aber mehrere Männer in der Nähe des Schotts wurden von riesigen Splittern durchbohrt, und einem frisch einberufenen Pächterjungen aus Kentucky wurde der Schädel gesplissen, dass es nur so spritzte. Der Junge war auf der Stelle tot.
Danach hörte ich nur noch Geschützfeuer und das Kreischen von Verwundeten. Die Kanonen der Basilisk feuerten eine Salve nach der anderen ab, Kugeln und Granaten. Einmal riskierte ich einen Blick durch das frisch gebrochene »Bullauge« in der Schiffsflanke, konnte aber nichts anderes als in nächster Nähe die Hülle eines deutschen Schiffes sehen und duckte mich hastig zurück, als die noch rauchende Mündung einer deutschen Kanone sichtbar wurde. Unser Schiff erbebte ein ums andere Mal wie ein sterbender Riese, bis ich mir sicher war, dass wir unsere Maschinen verloren hatten; und ich erwartete jeden Moment, dass der eiskalte Lake Melville über uns zusammenschlug.
Aber der Gestank nach Blut und Pulverdampf musste mich wohl kirre gemacht haben. Denn schließlich erstarb der Gefechtslärm, und Julian kam herunter in den Frachtraum, wo wir kauerten, und erklärte uns, der Feind sei besiegt und der Hafen eingenommen.
Ich ging mit ihm nach oben, um mich zu überzeugen.
Es war windstill, Rauch hing über dem See. Der Himmel war bedeckt. Ein Mast der Basilisk war heruntergekommen, und eine Gruppe von Matrosen war dabei, die Trümmer über Bord zu werfen. Die Basilisk hatte keine gefährlichen Schäden davongetragen, aber andere Schiffe unserer kleinen Armada waren umso schlimmer getroffen. Die Christabel brannte unablässig, und die Beatrice hing gefährlich tief im Wasser.
Die Deutschen waren natürlich am schlimmsten getroffen. Von den acht Schiffen, die Striver verteidigt hatten, waren sechs gesunken; auf dem Wasser treibende Trümmer verrieten, wo die Wracks auf dem felsigen Grund des Sees lagen. Die beiden noch schwimmenden Schiffe hatten keine Masten mehr, aus den Rümpfen quoll schwarzer Rauch. Wir schickten Boote aus, um Überlebende aufzusammeln.
Die Basilisk und ihre Schwesterschiffe hatten ein paar strategische Schüsse zwischen die Gebäude und Lagerhäuser am Fuß der Durchfahrtsstraße platziert, so dass überall, wo eben noch die Fahnen Mitteleuropas getrotzt hatten, weiße Fahnen gehisst waren und die bedingungslose Kapitulation signalisierten. »Adam, wir haben ein Stückchen Amerika zurückerobert«, sagte Julian. »Die Heimat ist wieder ein paar Quadratmeilen größer.«
»Wie kannst du zynisch sein nach so einem Sieg?«
»Ich bin nicht zynisch. Es war ein großer Sieg, aber er gehört Admiral Fairfield und nicht mir. Ich habe zu dieser Expedition nicht mehr beigetragen, als mit meinen Männern auf dem Quarterdeck zu exerzieren. Aber das ändert sich jetzt. Hier landen wir die Infanterie.«
Alle Fußsoldaten unserer Flottille würden heute an Land gehen, erklärte er. Bald würden zwei komplette Divisionen folgen, vorausgesetzt, die Truppentransporter waren planmäßig und unsere Garnisonen konnten weiterhin die Narrows halten. Wenn die Armee an Land und aufgestellt war, würde Julian sie nach Goose Bay führen, während der Admiral und seine Flottille diese Stadt aus der Entfernung unter Granatfeuer nehmen und die deutsche Abwehr auf Trab halten wollte.
Ich versprach, ihm möglichst nicht im Weg zu stehen.
»Du stehst mir nicht im Weg. Weißt du nicht, dass du zu meinen vertrautesten Ratgebern zählst?«
»Ich kann mich nicht erinnern, dir jemals einen Rat gegeben zu haben.«
»Ich schätze weniger deinen Rat als dein Gespür, Adam.«
»Du übertreibst, Julian.«
»Und du bist ein Freund. Ein seltener Luxus in den Kreisen, in denen wir uns vor nicht allzu langer Zeit bewegt haben.«
»Einverstanden. Auf meine Freundschaft kannst du dich verlassen. Und auf mein Pittsburgh-Gewehr, wenn es an Land zum Kampf kommt.«
»Zum Kampf kommt es früh genug«, sagte Julian und sah beiseite, als wolle er der hässlichen Wahrheit nicht ins Auge sehen.
In den nächsten Tagen wurden über zweitausend zusätzliche Infanteristen in Striver gelandet; sie waren aus Stützpunkten in Neufundland unter Begleitschutz hierher verschifft worden. Alle deutschen Soldaten in Striver wurden gefangen genommen und mit denselben Transportern in die Kriegsgefangenenlager auf der Gaspe-Halbinsel verschifft. Den harmlosen Bürgern von Striver wurde geraten, möglichst in ihren Häusern zu bleiben; außerdem wurde eine strikte Ausgangssperre verhängt. Was uns betraf, so war die Disziplin streng genug, um Diebstahl größeren Stils, Vergewaltigung, Plünderung und Brandstiftung zu verhindern, die Schreckgespenster aller Zivilisten in umkämpften Gebieten. Uns fehlte es nicht an Proviant, denn vor kurzem war Striver an die Eisenbahntrasse von Goose Bay angeschlossen worden, als zusätzlicher Umschlagplatz für europäische Waren ins Innere von Labrador. Die Statthalter liebten ihren Luxus: Die Lagerhäuser am Kai lieferten uns dicke Scheiben von geräuchertem Fisch, tonnenweise sauberes Weizenmehl, riesige Räder von duftendem Käse und andere köstliche Sachen.
Ein paar Tage nach unserer Landung besuchten Julian und ich die frisch eingetroffenen Truppen. Ich war für die Dauer meiner Wiedereinberufung zum Colonel ernannt worden, hauptsächlich, um meine Anwesenheit in Julians unmittelbarem Stab zu rechtfertigen; für die meisten Männer war ich nicht mehr als ein weiterer anonymer Offizier, auch wenn manche Die Abenteuer des Captain Commongold gelesen hatten und sich vielleicht an meinen Namen erinnert hätten, wenn ich ihn hätte verlauten lassen. Julian war hingegen durch seinen Rang, seine Jugend, den blonden Bart und die makellose Uniform so bekannt wie ein bunter Hund. Männer salutierten oder versuchten, ihm die Hand zu schütteln, als wir eine Reihe von Kojen abschritten, die man in einem leeren Stall improvisiert hatte. Eine Artilleriegranate hatte ein Loch ins Dach gerissen, und Julian kam mir in dem kalten Bündel Tageslicht wie ein Heiliger in einem Gemälde vor. Er beherrschte die Kunst, nicht bloß Zuversicht auszustrahlen, sondern sie auch zu erzeugen, als sei Mut so etwas wie Wärme und Julian ein Steinkohleofen. Das machte aus seinen Männern bessere und loyalere Soldaten, denn sie kamen zu der Überzeugung, Captain Comstock müsse ein strategisches Genie sein. Ich glaube, sie hätten, wenn diese Unverfrorenheit erlaubt gewesen wäre, abergläubisch an seinen Bart gefasst.
Ich ließ den Blick über das Meer von Gesichtern schweifen, das Julian umgab, in der Hoffnung, jemandem aus dem alten Montreal-Regiment zu begegnen. Über Lymon Pugh hätte ich mich zum Beispiel gefreut, aber er war nirgends zu sehen. Stattdessen stieß ich zu meinem Leidwesen auf das Gesicht eines mir sattsam bekannten Gauners — des Gefreiten Langers, der immer noch Gefreiter war. Als ich auf ihn zuging, wandte er seinen ausgemergelten Körper ab und versuchte mir zu entkommen; doch die Menge war zu dicht für sein Manöver.
»Gefreiter Langers!«, rief ich laut.
Er blieb stehen und drehte sich um. Erst war er von meinem neuen Rang und meiner Position eingeschüchtert und gab vor, ich müsse ihn wohl für jemand anders halten; zu guter Letzt lenkte er dann ein und meinte: »Ist hier irgendwo Sam Samson? Hoffentlich nicht. Sie waren immer anständig zu mir, Adam Hazzard, aber dieser alte Mann hat mich als Schwindler beschimpft und verprügeln lassen — er scheint nur schlecht von mir zu denken.«
»Er heißt jetzt Godwin, nicht mehr Samson, und er gehört zu Julians Stab; ich denke nicht, dass Sie noch etwas zu befürchten haben. Keiner von den beiden ist nachtragend. Sie tun aber gut daran, wenn Sie still sind und sich nicht drücken. Schließlich sind Sie bei bester Gesundheit.« Obwohl seine Nase ein bisschen buckliger war, als ich sie in Erinnerung hatte. »Verkaufen Sie denn noch solche Kinkerlitzchen vom Schlachtfeld?«
Er wurde rot und sagte: »Momentan nicht … das muss aber nicht so bleiben …«
»Ich hoffe, Sie hören auf, die Toten zu bestehlen und die Lebenden zu betrügen!«
»Ich bin ein besserer Mensch geworden«, sagte Langers. »Was nicht heißt, dass ich den einen oder anderen ehrlich abgeknöpften Dollar verabscheue …«
»Freut mich zu hören«, sagte ich. »Ich meine, das mit dem besseren Menschen. Ich richte es Sam und Julian aus.«
»Das ist sehr freundlich, aber bringen Sie die beiden nicht auf mich … ich würde viel lieber unbemerkt bleiben. Sagen Sie, Adam — ich meine, Colonel Hazzard —, stimmt das, was man sich über diese Expedition erzählt?«
»Schwer zu sagen, wenn ich nicht weiß, wer ›man‹ ist und was man sich erzählt.«
»Dass wir eine Geheimwaffe gegen die Deutschen haben — etwas Vernichtendes und Chinesisches und Unerwartetes.«
Ich erklärte ihm, dass ich nichts davon wüsste; aber ich bin mir nicht sicher, ob er mir das abgenommen hat.
Später im Kommandostand, oben in der früheren Bürgermeisterei von Striver, wurde Julian philosophisch, als ich ihm von Langers erzählte. »Wenn Langers ein besserer Mensch geworden ist, dann wird Deklan noch zum Philosophen. Aber solange er mit einem Gewehr umgehen kann, soll’s mir recht sein. Was mich mehr interessiert, ist die Bemerkung über eine chinesische Geheimwaffe.«
»Ist da was dran?«, fragte ich hoffnungsvoll.
»Nein, natürlich nicht. Aber es könnte die Moral stärken, wenn die Armee an dieses Phantom glaubt. Du hilfst nicht, das Gerücht zu verbreiten, Adam … aber du dementierst auch nicht, hörst du?«
Am Tag darauf streifte ich wieder durchs Lager. In einer Gasse hinter einer geplünderten Taverne fand ich den Gefreiten Langers und andere Infanteristen beim Würfelspiel. Sie bemerkten mich nicht, und ich störte sie nicht. Sollten sie doch ihr Geld verspielen, überlegte ich; viele würden nicht mehr dazu kommen, sich ihren Sold nachzahlen zu lassen, geschweige denn, ihn sinnvoll auszugeben.
Natürlich war Glücksspiel ein Laster und ihm nachzugeben eine Sünde. Aber hatten sie nicht auch etwas gut? Wenn ein Mann vor dem Jüngsten Gericht mit Ein- und vielleicht sogar Durchschusslöchern erschien, die er sich bei der Verteidigung seines Vaterlandes zugezogen hatte, würde man ihn da wirklich abweisen, nur weil er um ein bisschen Geld gewürfelt hatte?
Das konnte ich mir nicht vorstellen. So viel zu dem Agnostiker, den Julian aus mir gemacht hatte.
Am nächsten Morgen blieben die Truppentransporter aus.
Das ließ nichts Gutes ahnen. Die Schiffe waren mit verlässlicher Regelmäßigkeit aus den Narrows gekommen und hatten Soldaten, Waren und Kriegsmaterial gebracht; aber wir waren noch nicht zu der Stärke aufgelaufen, die man uns strategisch zugedacht hatte. Nicht dass die Armee, die sich inzwischen angesammelt hatte, unbedeutend gewesen wäre. Die Marine hatte zwei volle Divisionen von je dreitausend Mann gelandet und eine Abteilung Kavallerie samt Pferden; außerdem ein voll ausgerüstetes Feldlazarett und eine Artilleriebrigade mit nagelneuen Feldgeschützen und üppige Munitionsvorräte.
Auf dem Papier eine eindrucksvolle Streitmacht, obwohl bereits Hunderte von Männern an Beschwerden litten, von Seekrankheit bis zu fiebrigen Infekten. Dabei hatten wir mit insgesamt zehntausend gesunden Soldaten antreten wollen — denn das sollte ungefähr die Stärke der deutschen Truppen sein, die Goose Bay verteidigten, eine Streitmacht, die noch, wenn nicht längst geschehen, auf dem Schienenweg verstärkt werden sollte.
Julian hielt sich den ganzen Tag am Kai auf und spähte mit der Erwartung einer Seemannswitwe über das unruhige Wasser des Lake Melville. Ich war gekommen, um ihn zu einer warmen Mahlzeit und einer Konferenz mit seinen untergeordneten Kommandeuren abzuholen, als endlich ein Segel in Sicht kam … doch es war nur die Basilisk, die vor Shesh gelegen hatte, einer kleineren Ortschaft am gegenüberliegenden Seeufer. Der Admiral ließ sich mit einem Boot an Land bringen und schloss sich uns an.
Admiral Fairfield ist hinreichend beschrieben, wenn ich sage, dass er noch älter als Sam Godwin war, aber lebhaft und hellwach, und dass er ein Veteran vieler Seeschlachten und genauso unpolitisch war, wie es Marinesoldaten zu sein pflegen; denn die Marine war, anders als die beiden Armeen, nur selten aufgerufen, das Gerangel um den präsidialen Rang des Oberbefehlshabers der amerikanischen Streitkräfte zu schlichten. Die Marine war, kurz gesagt, noch nie nach New York City marschiert, um den König auszurufen. Sie bekämpfte einfach den Feind auf See und war stolz auf diese Tradition; und genauso hielt es Admiral Fairfield.
Er trug einen grauen Bart, dessen Länge mit Fairfields Alter und Position wetteiferte; heute Abend blickte der Admiral missbilligend durch seinen Schnauzbart auf den Teller, obwohl das Beefsteak darauf hervorragend war, das Beste, was der Verpflegungsoffizier zu bieten hatte.
»Wo bleiben meine Männer?«, war das Erste, was Julian den Admiral fragte, nachdem wir Platz genommen hatten.
»Es kommen keine Schiffe«, sagte der Admiral ohne Umschweife.
»Halten wir noch die deutschen Festungen?«
»Zu hundert Prozent. Aus Sicht der Marine ist Melville jetzt ein amerikanischer See. Irgendetwas muss den Seeweg zwischen Neufundland und Hamilton Inlet blockieren. Vielleicht ein Hinterhalt. Rigolet und Eskimo Island haben auch keine Nachricht.«
»Ich weiß nicht, ob ich den Marsch nach Goose Bay länger aufschieben kann. Jede Stunde zehrt an unserem Vorteil, wenn wir überhaupt noch einen haben.«
»Ich verstehe Ihre Sorge«, sagte der Admiral. »Ich an Ihrer Stelle würde auch nicht warten. Geben Sie den Marschbefehl, und ziehen Sie los mit Ihren sechstausend Mann.«
Julian lächelte, obwohl ihm nicht danach zumute war. »Solange die Marine zur Stelle ist und uns mit ihren Kanonen unterstützt, könnte sich das Risiko in Grenzen halten.«
Admiral Fairfield sagte mit seinem ganzen Gewicht, und das war erheblich: »Sie haben mein Wort, Generalmajor Comstock, dass die Basilisk vor Goose Bay liegt, wenn Sie und Ihre Armee dort eintreffen. Und wenn die Deutschen jedes andere Schiff der Flottille versenken, solange ich das Kommando habe, werden Sie nicht allein sein.«
»Danke, Admiral«, sagte Julian.
»Das ist ein verwegener Feldzug. Manch einer würde ihn für verrückt halten. Sicher, die Chancen stehen nicht gut. Aber ein Anschlag auf die Pulsader der Deutschen ist längst überfällig.«
»Dann warten wir nicht länger.« Julian wandte sich an Sam. »Morgen früh ziehen wir los.«
»Wir sind noch knapp an Pferden und Maultieren.«
»Die Kavallerie soll möglichst verschont bleiben, aber die Feldgeschütze müssen wir unbedingt mitnehmen.«
»Verstehe. Soll ich die Männer informieren?«
»Nein, das mache ich«, sagte Julian. »Nach dem Dinner.«
Die Nachricht vom bevorstehenden Abmarsch verdarb manchem Regimentskommandeur den Appetit, bei Julian schien es umgekehrt zu sein. Es wurde ein Nachtlager für den Admiral organisiert; dann machten sich Julian und sein Befehlsstab auf, um die Männer zu instruieren. Ich trottete aus journalistischen Beweggründen mal dem einen, mal dem anderen hinterher.
Wir suchten die Gebäude auf, die als Unterkünfte für die Infanteristen requiriert worden waren, dann die Quartiere der Kavallerie und schließlich das große Lager auf dem Marktplatz. Die Begegnungen verliefen meist ohne Zwischenfälle, und die Männer klatschten und pfiffen; sie waren heiß auf den Kampf.
Wir betraten einen Bau, eine frühere Sporthalle, in der fünfhundert Veteranen vor der Kälte Schutz gesucht hatten. In den nördlichen Gegenden der Welt wird es um diese Jahreszeit früh dunkel, und ein November in Labrador ist wie ein Januar in einem freundlicheren Teil des Landes. Die Männer scharten sich um etliche Kohleöfen, die man aufgestellt hatte, und schmetterten Piston, Loom, and Anvil, als wir hereinkamen. Ein Colonel namens Abijah, der mit uns gespeist hatte, war peinlich berührt von dem Benehmen und ging unter die Leute und brüllte immerzu »Aufhören!« und »Stillgestanden!«.
Doch die Männer verstummten erst, als sie Julian gewahrten.[76] Julian war auf ein Fass gestiegen und ergriff das Wort.
»Morgen rollen die Munitionswagen Richtung Goose Bay«, rief er. »Es ist nur ein Tagesmarsch, dann wird gekämpft. Seid ihr bereit?«
Sie schrien »Ja!«, gepaart mit anderen martialischen Rufen, denn sie waren in Hochstimmung.
»Gut«, rief Julian. Er wirkte fast wie ein Kind im Laternenlicht — mehr wie ein Junge, der Soldat spielt, als ein angegrauter General —, aber genau das gefiel der Infanterie, die in die Idee verschossen war, vom jugendlichen Helden am Saguenay geführt zu werden. »Ich glaube, ihr wart beim Singen, als ich kam. Lasst euch bitte nicht aufhalten.«
Dem stand allerdings ein Unbehagen im Weg. Diese Männer hatten in der Fabrik gearbeitet oder auf einem Landgut Pferde gehütet oder waren die lebendige Leihgabe eines Großgrundbesitzers, dem sie auf alle Zeit verschrieben waren. Bei aller Loyalität war nicht vergessen, welcher Klasse Julian angehörte, so dass manche sich für das genierten, was sie gesungen hatten, als seien die Worte eine einzige Beleidigung der Aristokraten (was sie ja auch waren). Doch Julian klatschte in die Hände und machte in seinem näselnden, aber herzlichen Tenor den Anfang: »By Piston, Loom, and Anvil, boys …« Und ehe der Refrain beendet war, hatten alle mit eingestimmt; und nach ein paar Strophen verfielen sie in Bravound Hurrarufe und riefen »General Julian!« oder »Julian Comstock!« oder — das erste Mal, dass ich diese Kombination hörte — »Julian der Eroberer!«.
Aus unerfindlichen Gründen jagte mir der vielhundertfache Ruf »Julian der Eroberer« einen schmerzlichen Schauder über den Rücken. Ich fror mit einem Mal. Doch Julian lächelte nur und nahm den Titel hin, als stünde er ihm zu.
Die Schlacht um Goose Bay ist schon oft beschrieben worden, und ich will den Leser nicht mit Einzelheiten unserer Manöver ermüden noch die Details jener tragischen Tage nachzeichnen.
Ich ritt in der vordersten Reihe. Nicht weit vor mir ritt Julian. Ein Vogel, der aus der kalten, niedrigen Morgensonne gekommen wäre, hätte unser Heer für einen gewaltigen Lindwurm gehalten. Julian ritt auf einem muskulösen, grau und weiß gesprenkelten Hengst an der Spitze, die Flagge des Feldzugs trug ein berittener Adjutant direkt hinter ihm.[77] Die Straße von Striver nach Goose Bay hätte nicht besser sein können; sie war nach Art der Deutschen gepflastert, so dass unsere Karren und Munitionswagen nicht stecken blieben, auch wenn das Land ringsum aus lauter vereisten Mooren, zerklüftetem Fels und Fichtengehölzen bestand. Wann immer der Weg etwas anstieg, blickte ich zurück auf die mächtige Schlange aus Männern, Maultieren und Planwagen. Der Anblick machte Mut; und sollten wir uns an diesem Morgen für unbesiegbar gehalten haben, so war dieser Irrtum (vielleicht) verständlich.
Die Kavallerie bildete die Vorhut, und in unregelmäßigen Abständen kehrte ein Reiter zurück und machte Meldung. Wir kamen gut voran, bis die Kavallerie am frühen Nachmittag erste Berührung mit feindlichen Vorposten hatte und es zu leichten Scharmützeln kam.
Fast gleichzeitig wurden wir von kleinen Gruppen deutscher Reiter angegriffen, die sich bestens in den Wäldern und Mooren auskannten. Das alles hielt sich in Grenzen — ein paar Schüsse aus sicherer Deckung, ein paar scheuende Pferde, ein paar Leichtverletzte. Das eine oder andere Regiment machte kurzen Prozess mit den Angreifern oder konnte sie verjagen. Wenn diese Flohbisse auch keinen großen Schaden anrichteten, so kosteten sie uns doch Zeit.
Julian und seine Kommandeure sorgten für Ruhe und Ordnung. Unser Operationsziel war eine niedrige Hügelkette; Julian nahm an, dass dort der Hauptteil des deutschen Heeres lagerte. Unsere Kundschafter konnten diese Vermutung schon bald bestätigen. In den Außenbezirken der Stadt Goose Bay nähmen die deutschen Schützengräben die Zugangsstraße in die Zange. Die Stellungen seien gut gewählt und die Deutschen daraus zu vertreiben sei sicher nicht einfach.
Knapp außer Reichweite ihrer Feuerstellungen schlugen wir unser Nachtlager auf. Die Infanteristen gruben Löcher, wo der Boden es erlaubte; und nach Einbruch der Dunkelheit, bei schwachem Mondschein, schleppten die Artilleristen ihre Geschütze nach vorn.
Sobald der Mond untergegangen war, zitterte ein zartes blaues Nordlicht am Himmel. Die Temperatur fiel, und der Atem der Schlafenden stieg empor wie leuchtender Rauch. Am Morgen begann die Schlacht.
Julian hatte sich eingehend mit den strategischen Feldmanövern von Armeen befasst und sich vergewissert, dass seine Regimentskommandeure der Aufgabe gewachsen waren, seine Befehle zu verstehen und in die Tat umzusetzen. Obwohl er nicht direkt am Kampfgeschehen teilnahm und in seinem Kommandozelt blieb — wie übrigens Sam und ich auch —, studierte er pausenlos Karten, während unentwegt Boten ein und aus gingen.
Den ganzen Morgen krachte die Artillerie, ihre und unsere.
Wir waren in der Minderheit; aber die Deutschen waren längst nicht so gut aufgestellt wie wir. Da sie nicht wussten, wie Julian angreifen würde, hatten sie ihre Flanken verstärkt und ihre Mitte vernachlässigt. Julian verwirrte sie durch Scheinangriffe auf beiden Seiten und sparte seine schweren Geschütze für einen Frontalangriff auf. Der begann mittags und war blutig. Wir verloren nahezu tausend Mann in der Schlacht, die später den Namen Goose Gap bekam, und weitere fünfhundert Verstümmelte und andere Schwerverletzte wurden mit Dominion-Wagen abtransportiert. Bei Einbruch der Dunkelheit ähnelte das Schlachtfeld dem Abfalleimer einer Förderklasse für unfähige Schlachter. Ich will die Gerüche nicht beschreiben, die um sich griffen.
Sobald wir den Mitteleuropäern so nahe gekommen waren, dass unsere Grabenfeger zum Tragen kamen, flohen sie wie die Hasen aus ihren Stellungen. Wir machten Dutzende von Gefangenen, und nachdem wir vereinzelte Widerstandsnester ausgeschaltet hatten, gehörte der Tag uns. Wir hatten die niedrige Hügelkette genommen, das Einfallstor nach Goose Bay, und beeilten uns, die bislang deutschen Befestigungen zu besetzen und zu verstärken. Der deutsche Oberkommandierende bat unter der weißen Flagge, seine Toten und Verwundeten bergen zu dürfen. Es war traurig mit anzusehen, wie fremde Soldaten mit Handkarren zwischen den Leichen umherirrten, begleitet vom Stöhnen und Stammeln der Sterbenden. (Und sollte zufällig der Gefreite Langers zugegen sein, so sah er seine Felle davonschwimmen.)
Julian verlegte seinen Kommandostand samt Feldflagge auf eine Anhöhe, von der aus man die Hafenstadt und die Überlebenden des deutschen Heers im Blick hatte; Letztere spulten in Windeseile Stacheldraht ab und errichteten Drahtverhaue, um zu verhindern, dass wir Goose Bay im Handstreich besetzten. Julian nutzte den Überblick, um seine Karten zu bearbeiten, und noch zu vorgerückter Stunde brütete er im Laternenschein über ebendiesen Karten. Meine Schreibmaschine war in einem Planwagen hierher geschafft worden — zusammen mit Zelt und Zubehör des mobilen Hauptquartiers —, und ich saß in einer Ecke des geräumigen Zeltes und brachte die Ereignisse dieses denkwürdigen Tages zu Papier. Schließlich wollten mir die Augen zufallen; aber bevor ich ging, um mich aufs Ohr zu hauen, sagte ich noch zu Julian, dass wir einen großen Sieg errungen hätten und er endlich mal Pause machen solle.
»Ich kann mir keine Pause leisten«, meinte er und rieb sich die Augen. Er kam mir schmal vor, schmal und verstört. Er tat mir leid. Vielleicht ist es ungerecht, Mitleid mit einem Generalmajor zu haben, der nicht einen einzigen Schuss abgegeben hatte, an einem Tag, an dem weit über tausend Männer in seinem Namen Leib und Leben geopfert hatten. Doch ich hatte den Eindruck, als habe Julian die Ängste und Qualen jedes einzelnen seiner Soldaten durchlebt und jeden einzelnen Verlust, als hätten sich die Kugeln in seinen eigenen Körper gebohrt. Er identifizierte sich mit seinen Männern und war immer darauf bedacht, dass sie genug zu essen hatten und ausgeruht waren, und das hatte dazu beigetragen, ihn so beliebt zu machen unter den Männern; doch jetzt zahlte er mit Skrupel und Gram dafür.
»Natürlich kannst du dir eine Pause leisten«, sagte ich sanft. »Danach bist du ein besserer Offizier.«
Er erhob sich von seinem Klapptisch und reckte sich, und wir gingen zusammen ins Freie. Ohne die Wärme des tragbaren Ofens war es bitterkalt, und die feindlichen Feuerstellen in den Niederungen nahmen sich aus wie schwelende Kohlestücke.
»Das alles haben wir gewonnen«, sagte ich.
»Mit dem, was ich sehe, bin ich zufrieden«, sagte Julian. »Abgesehen von den vielen Toten. Sorge macht mir das, was ich nicht sehe.«
»Na ja, es ist immerhin dunkel … was siehst du nicht?«
»Zum Beispiel die Kavallerieabteilung, die ich losgeschickt habe, um hinter den feindlichen Linien Gleise zu zerstören. Nicht ein Mann hat sich zurückgemeldet. Wenn die Zugverbindung mit Goose Bay intakt bleibt, wird bald schon Verstärkung kommen, Verstärkung ohne Ende.«
»Es ist nicht so einfach, Schienen zu verbiegen oder Brücken zu sprengen. Die Kavallerie ist noch nicht so weit, das ist alles.«
»Und der Hafen von Goose Bay. Was siehst du bei dem Licht, Adam?«
»Sieht friedlich aus.« Am Himmel stand ein Nordlicht, das aussah wie eine vage glühende, ab- und zunehmende Staubwolke, und ich sah ein paar Masten und Schiffe, die vor Anker lagen — deutsche Handelsschiffe vermutlich. »Die haben ihre ganzen Kanonenboote nach Striver verlegt — und verloren.«
»Ich sehe dasselbe. Was ich nicht sehe, ist irgendein amerikanisches Kriegsschiff. Goose Bay müsste eigentlich unter Artilleriebeschuss stehen — wo bleibt Admiral Fairfield?«
Das fragte ich mich auch — jetzt, wo er mich mit der Nase draufstieß.
»Vielleicht kommt er morgen früh.«
»Vielleicht«, sagte Julian müde.
Bislang habe ich noch nicht viel über Sam Godwin und seine Rolle bei diesen Ereignissen erzählt.
Nicht weil sein Part unbedeutend war, sondern weil er sich in enger Beratung mit Julian ergab und ich nicht direkt an den strategischen Planungen beteiligt war.[78] Denn Sam grübelte mindestens so viel über den Karten wie Julian und brachte dabei seine größere Erfahrung ins Spiel. Er versuchte nicht, die Führung zu übernehmen, sondern ließ sich auf Julians Vorstellungen ein, widersprach nur selten, machte aber Verbesserungsvorschläge. Vermutlich hatte Sam genau diese Rolle schon bei Julians Vater Bryce im erfolgreichen Isthmischen Krieg gespielt — und zuweilen, wenn die beiden die Köpfe zusammensteckten, schien die Weltuhr zwanzig Jahre vorzugehen, und wir befanden uns im Kommandozelt der Kalifornischen Armee … obwohl Julians blonder Bart den Tagtraum Lügen strafte, der Bart und das kalte Novemberwetter.
Julian konnte sich jedenfalls seinen zerbrechlichen Optimismus, was diesen Feldzug betraf, erhalten; während Sam, obwohl er es nicht zu zeigen versuchte, offenbar nicht so zuversichtlich war. Seit wir von Manhattan losgesegelt waren, schien er allen Humor verloren zu haben. Kein Witz kam mehr über seine Lippen, und über Witze lachen konnte er auch nicht mehr. Stattdessen blickte er finster drein … und in seinen Augen lag ein Glitzern, das vielleicht eisern unterdrückte Furcht bedeutete. Ich glaube, Sam war überzeugt, New York City beziehungsweise Emily Baines Comstock nie wiederzusehen, jedenfalls nicht in dieser Welt; ich wünschte mir so sehr, der Lauf der Dinge würde ihn eines Besseren belehren. Doch die Ereignisse des folgenden Tages waren alles andere als ermutigend.
Im Morgengrauen griffen die Deutschen an.
Vielleicht hatten sie uns ausgespäht und waren zu dem Schluss gekommen, dass unser Heer zwar gewaltig, aber doch nicht so groß war, wie sie befürchtet hatten; oder auf dem Schienenweg war Verstärkung eingetroffen. Wie dem auch sei, es fehlte ihnen nicht an Entschlossenheit und schon gar nicht an Mut.
Auch wenn die Verteidiger von Goose Bay kein chinesisches Geschütz besaßen, so reichte ihre Feldartillerie doch um mehrere hundert Meter weiter als unsere. Sie hatten diese Differenz genau ermittelt und nutzten sie weidlich aus. Unsere Vorwärtsverteidigung wurde derart mit Kugeln und Granaten eingedeckt, dass wir stecken blieben. Unsere Männer ließen schon bald ihre eigenen Waffen sprechen, nicht zuletzt unsere bewährten Grabenfeger; aber die Deutschen waren so rasch vorgerückt, dass sie unsere Feldgeschütze unterliefen und im Handumdrehen einen strategisch wichtigen Hügel erobert und eine komplette Artillerieabteilung erbeutet hatten.
Den ganzen Morgen über hörte ich das Krachen der Geschütze und die Schreie der Verwundeten, die von der Front nach hinten transportiert wurden. Deutsche und amerikanische Regimenter schlugen aufeinander ein wie abertausend Säbel, die Funken aus Blut und Knochensplittern sprühten. Boten kamen und gingen, ihre Augen sagten alles, und jeder schien erschöpfter als sein Vorgänger. An unserer rechten Flanke wurde ein ganzes Bataillon von Artilleriefeuer aufgerieben, obwohl Verstärkung nachrückte und die Stellung mit Mühe und Not hielt.
Der Mittag kam, der Mittag ging, und der Rauch der Schlacht stieg wie ein rabenschwarzer Obelisk in den fahlen, windstillen Himmel. »Panik ist jetzt unser ärgster Feind«, sagte Sam verbittert.
Julian trat von seinem Kartentisch zurück und schmiss den Bleistift hin. »Wo ist die Marine? Hier passiert nichts, was ein Beschuss von Goose Bay nicht korrigieren könnte!«
»Admiral Fairfield hat uns seine Armada versprochen«, sagte Sam, »und das war kein leeres Versprechen. Was immer ihn aufhält, es muss stärker sein als er. Wir können nicht mehr mit ihm rechnen.«
»Meinst du, mein Onkel hatte das von Anfang an im Auge gehabt — uns hier zwischen den Deutschen zu isolieren und die Marine abzuziehen?«
»Das ist ihm zuzutrauen. Das Entscheidende ist, dass wir keine Marine haben und auch keine bekommen werden. Und ohne Marine können wir unsere Stellung nicht halten.«
»Und ob wir sie halten«, sagte Julian kategorisch.
»Wenn die Deutschen uns seitwärts umgehen und die Straße besetzen, ist uns der Rückzug nach Striver versperrt — das ist unser Ende.«
»Wir halten die Stellung«, sagte Julian, »bis wir genau wissen, dass Fairfield nicht kommt. Er ist nicht der Mann, der ein Versprechen nicht hält.«
»Und wenn er es nicht einlösen kann, es gibt tausend Gründe.«
Doch Julian ließ sich nicht umstimmen. Abseits vom Kampfgeschehen gab es einen Hügel, auf dem eine einzelne Fichte stand; Julian postierte in der Baumspitze einen wendigen Mann und übertrug ihm die Aufgabe des Matrosen im Ausguck: Sowie sich auf dem Lake Melville ein Schiff zeige, solle er im Hauptquartier Meldung erstatten.
In der Zwischenzeit beugte er sich Sams Vorschlag und versammelte seinen Befehlsstab, um vorsorglich einen geordneten Rückzug zu planen. Falls es dazu käme, meinte Julian, dann solle es ein kämpferischer Rückzug sein, bei dem der Gegner für jeden Meter moosbewachsenen Boden bezahlen müsse. Julian erläuterte, wie und wo Truppen hinter Bodenwellen und Bahndämmen platziert werden konnten, so dass deutsche Soldaten, die ein Regiment verfolgten, von diesem in einen Hinterhalt gelockt werden konnten. Boten wurden zu den Bataillonskommandeuren geschickt, um diese Strategie zu koordinieren und zu verhindern, dass aus einem geplanten Rückzug eine wilde Flucht wurde.
Der Plan funktionierte, bis zu einem gewissen Grad. Unsere Front gab nach — so sollte es wohl aussehen —, und die mitteleuropäischen Truppen ergossen sich in die Lücke (deshalb Goose Gap). Die deutsche Infanterie johlte und feuerte übermütig ihre Gewehre ab, als Reihen unserer Männer sie aus dem Hinterhalt mit Grabenfegern bestrichen und mitten unter ihnen Artilleriegranaten explodierten. Ihre Kreuz-und-Lorbeer-Fahne, die in rasendem Tempo vorgestürmt war, stürzte plötzlich zu Boden zusammen mit ihrem Träger und Dutzenden gemeiner Soldaten. Die deutschen Truppen stürmten wie am Schnürchen in die Feuerlinie, strauchelten über ihre toten Kameraden, drehten sich verstört um und wurden niedergemäht.
Die Deutschen rückten unter entsetzlichen Verlusten vor … doch am Ende zählte, dass sie vorgerückt waren, verlustreich oder nicht. Sam schlug vor, das Kommandozelt unverzüglich abzubrechen und mit dem Wagenkonvoi nach Striver zurückzukehren, wo wir im Falle einer Belagerung zumindest nicht hungern mussten.
Dann stürzte Julians »Mann im Krähennest« ins Zelt und berichtete, er habe ein Schiff gesichtet, genau genommen nur den Rauch aus dem Schornstein eines Schiffes.
Julian ging mit einem erbeuteten Feldstecher ins Freie. Seine Position war ungleich gefährlicher als noch vor einer Stunde — deutsche Granaten krepierten in bedenklicher Nähe —, doch er stand ungerührt da, der Generalmajor in seiner hellen Uniform, und suchte die bleierne Oberfläche des Lake Melville ab.
»Rauch«, bestätigte er, als Sam und ich hinzukamen. »Ein Dampfschiff. Verbrennt Anthrazit, wie es aussieht; könnte gut und gerne amerikanisch sein.« Und nach ein paar Atemzügen: »Ein Mast. Eine Flagge. Unsere Flagge.« Er fuhr zu Sam herum, in seinen Augen loderte so etwas wie Genugtuung. »Sag den Männern, sie sollen ihre Stellung halten, koste es, was es wolle.«
»Julian …«, hob Sam an.
»Komm mir jetzt nicht mit deinem Pessimismus, Sam, bitte!«
»Wir wissen doch noch gar nicht …«
»Es gibt immer etwas, was wir noch nicht wissen — Kampf ist Risiko. Gib den Befehl aus!«
Und Sam tat, was ein gehorsamer Diener tun muss: Er gab den Befehl weiter.
Zehn Minuten später entpuppte sich das Schiff als die vertraute Basilisk von Admiral Fairfield, und wir hielten Ausschau nach dem Rest der Armada …
Bis uns klar wurde, dass es da draußen nur dieses eine Schiff gab — die Basilisk.
Ich kann kaum beschreiben, wie Julian aussah, als er das begriff. Er wurde noch blasser, als er es von Haus aus war. Sein Blick irrte umher. Die blau-gelbe Uniformjacke, die er so kühn und unerschrocken getragen hatte, hing ihm von den hängenden Schultern wie eine einzige Zurechtweisung.
Admiral Fairfield tat, was in seiner Macht lag. Die Basilisk gehörte zu den besten Kriegsschiffen der Vereinigten Staaten, und Fairfield holte alles aus ihr heraus. Er pflügte mit Volldampf in den Hafen, alle Segel gerefft, die Schornsteine rauchten, als würde unter Deck die Hälfte der Weltkohle verheizt. Er rauschte schräg an den deutschen Kais vorbei und bedachte Goose Bay mit ein paar wohlplatzierten Schüssen. Dann kam er die Küste heraufgeschippert und eröffnete das Feuer auf die mitteleuropäischen Stellungen in unserem Kampfgebiet. Was uns enorm geholfen hätte, wenn die Granaten ihr Ziel erreicht hätten. Aber die deutsche Küstenabwehr war gut bestückt und gut verschanzt und feuerte aus allen Rohren. Doch die Basilisk bot dem Sperrfeuer die Stirn und pirschte sich näher heran, nur um uns Entlastung zu bringen. Ihre Masten knickten weg, und je näher sie kam, desto verletzlicher wurde sie — sie gab sich erst geschlagen, als die Flammen aus dem Vorderdeck schlugen. Fairfield konnte nur noch abdrehen, solange sich die Schiffsschrauben noch drehten, und Kurs auf Striver oder sonst einen geschützten Ort am oberen See nehmen …
Julian sah der Basilisk hinterher. Erst als sie außer Sichtweite war, drehte er sich um und befahl Sam, das Signal zum Rückzug zu geben. Seine Stimme klang so kalt und schaurig, als komme sie aus einem Loch in einem alten, hohlen Baumstamm. Auch Sam ließ die Schultern hängen, er kehrte uns sprachlos den Rücken zu, schüttelte den Kopf und ging.
Ein Rückzug ist nicht so berauschend wie ein Angriff, aber er kann gut oder schlecht organisiert sein. Julian verdient Anerkennung für einen wohlüberlegten Rückzug aus der Katastrophe.
Trotzdem war es ein verlustreiches und demütigendes Manöver. Als wir uns leidlich formiert hatten, um den Gewaltmarsch nach Striver anzutreten, wimmelte es hinter uns von Deutschen. Julian befahl frische Truppen (was immer er mit »frisch« meinte) nach hinten, und es waren deren wohlüberlegte Manöver aus Scheinangriff und Rückzug, die entscheidend dazu beitrugen, die große Masse des Heeres vor Schlimmerem zu bewahren.
Bei dem nutzlosen Versuch, Gleise und Brücken hinter den mitteleuropäischen Linien zu zerstören, war der größte Teil unserer Kavallerie aufgerieben worden, so dass wir der deutschen Reiterei ausgeliefert waren. Deren Kommandos kamen von schräg vorne und versuchten ganze amerikanische Kompanien zu isolieren. Auf diese Weise verloren wir mehr als ein paar Infanteristen. Doch wann immer so ein Gefecht ausbrach, ritt Julian mit Feuereifer an den Ort des Geschehens und stärkte den Männern den Rücken; und wir setzten uns mit einer Heftigkeit zur Wehr, die den Gegner langsam, aber sicher zermürbte.
Kurz vor Sonnenuntergang kamen die ersten Häuser von Striver in Sicht. Boten hatten die Garnison gewarnt; man hatte bereits einen Verteidigungsgürtel aus Baumverhauen und Schanzen um Striver gelegt und für freies Schussfeld gesorgt. Ein willkommener Anblick für ein geschlagenes Heer — oder das, was davon übrig war. Die Dominion-Wagen fuhren voraus, damit die Verwundeten so schnell wie möglich ins Feldlazarett kamen.
Julian, Sam und ich unterstützten die taktischen Manöver der Nachhut, während die Masse der Männer Schutz in der besetzten Stadt suchte. Das ging eine ganze Weile gut, denn die Deutschen hatten sich verzettelt und brachten keinen geordneten Sturmangriff zustande. Aber sobald ihre Artillerie aufgerückt war, wurde die Lage brenzlig.
Granaten, die mitten unter dicht marschierenden Männern krepieren, deren Sicherheit zum Greifen nahe ist, sind das perfekte Rezept für Tod und Panik. Genau das passierte. Gemessen an unseren wirklichen Verlusten hielten sich die aktuellen in Grenzen — die Verteidiger von Striver brachten die deutschen Geschütze sofort zum Schweigen, als sie sich einmal darauf eingeschossen hatten —, aber der moosbewachsene Boden vor unseren Schützengräben in dieser langen, kalten und schrecklichen Abenddämmerung war im Nu mit Körperteilen übersät und mit amerikanischem Blut getränkt.
Julian war ein weithin sichtbares Ziel, und ich wunderte mich, dass noch kein deutscher Schütze auf die Idee gekommen war, ihn einfach aus dem Sattel zu fegen. Doch wie schon in der Schlacht von Mascouche bei Montreal schien ihn eine Aura der Unverwundbarkeit zu umgeben, die heiße Bleikugeln ablenkte.
Diese wundersame Aura reichte nicht für die Männer an seiner Seite. Unsere Feldflagge ging zu Boden, weil das Pferd eines Stabsoffiziers durch Granatsplitter getötet wurde. Sam stieg sofort ab und bückte sich, um das Banner aufzuheben. Kaum hatte er es wieder aufgerichtet, als ihn eine deutsche Kugel traf — Sam wankte und kippte um.
Was dann passierte, weiß ich nicht mehr genau — nur dass ich zwei Männer herbeirief, die mir halfen, Sam zu einem Dominion-Wagen zu tragen, in dem schon ein Dutzend Verwundete auf ihre Behandlung warteten. Als ich dem Ambulanzkutscher erklärte, er habe jemanden aus Julians Führungsstab an Bord, trieb er sogleich seine Maultiere an. Ich fuhr mit — zur Portage Street, einer breiten Straße in Striver, wo sich das behelfsmäßige Lazarett befand.
Die Gewehr- oder Schrapnellkugel hatte Sams linken Unterarm erwischt und die schmalen Knochen oberhalb des Handgelenks durchschlagen; das Geschoss hatte so viel Fleisch mitgenommen, dass fast nur noch lose Enden und Fetzen übrig waren. Die linke Hand war nahezu abgetrennt und hing nur noch an ein paar dünnen, blutigen Knorpelsträngen.
Sam war bei Bewusstsein, kämpfte aber mit einer Ohnmacht; er bat mich, ihm den Arm abzubinden, um die schreckliche Blutung zu stillen. Ich war froh, ihm helfen zu können, und kümmerte mich nicht um das Blut, das über meine sowieso schon zerrissene Uniform spritzte — es war so viel, dass mich ein Lazarettgehilfe mit großen Augen ansah und wissen wollte, wo ich denn getroffen sei.
Das Lazarett war überfüllt, und am Eingang wurden immer mehr Verwundete abgeladen. Drei Ärzte machten Dienst, davon waren zwei mit Operationen zugange, die nicht unterbrochen werden konnten. Zum Glück kümmerte sich der dritte sofort um Sam, als ich ihm dessen hohe Position meldete.
Nach einer knappen Untersuchung erklärte der Arzt, er müsse wohl oder übel amputieren. Sam gefiel die Idee nicht, er machte kraftlose Anstalten zu protestieren, bis der Arzt ihm ein Tuch an den Mund hielt, das er zuvor mit etwas Flüssigkeit aus einer braunen Flasche getränkt hatte. Sam gab sofort Ruhe. Wie er so dalag mit geschlossenen Augen, sah die Behandlung mehr nach Mord als nach Barmherzigkeit aus; doch der Arzt schien zufrieden, nachdem er eines von Sams Augenlidern hochgeklappt und Sams Pupille gesehen hatte.
»Man braucht das Zeug nur einzuatmen, und die Wunde heilt?«, fragte ich neugierig.
Der Arzt schien mich zum ersten Mal wahrzunehmen. »Davon heilt keine Wunde«, sagte er. »Es erleichtert mir nur die Arbeit. In welcher Beziehung stehen Sie zu dem Mann?«
»Ich bin sein Adjutant«, sagte ich. »Und sein Freund.«
»Verstehe. Und jetzt sind Sie ein assistierender Chirurg.«
»Moment mal, das bin ich nicht.«
»Doch, sind Sie. Ich bin Dr. Linch. Und Sie …?«
»Colonel Adam Hazzard.«
Er langte in ein Regal und warf mir einen Baumwollkittel zu. »Anziehen, Colonel Hazzard. Haben Sie sich vor kurzem die Hände gewaschen?«
»Ja, vorgestern noch.«
»Tunken Sie sie in den Eimer, der da auf dem Tisch steht.«
Die Flüssigkeit brannte in den kleinen Schnitten, die ich mir im Laufe des Rückzugs zugezogen hatte, ätzte aber den meisten Schmutz von den Händen. Die Chemikalie musste schon jemand benutzt haben, denn obenauf schwamm schmieriger roter Schaum.
»Wo Sie schon mal dabei sind, spülen Sie doch eine von den Knochensägen da vorne«, sagte Linch und zeigte auf ein ekliges Ding mit Klinge, das ich gehorsam in denselben Eimer tauchte und mit der sauberen Stelle eines Handtuchs abtrocknete. »Jetzt halten Sie den Arm fest, während ich amputiere.«
Dr. Linch war ein barscher Typ und duldete keine Widerrede.
Ich hatte noch nie eine Amputation aus nächster Nähe erlebt. Linch war nicht mehr jung, aber seine Hände waren bemerkenswert sicher; während ich am liebsten das Weite gesucht hätte, musste ich seine flinken Finger bewundern. Ich war wie verhext vom schnellen und sauberen Schnitt der Knochensäge. Linch zeigte großes Geschick im Verschließen der Blutgefäße, die aus dem Stumpf von Sams Unterarm hingen. Er trug eine Reihe von Nähnadeln im Revers seines weißen Jacketts, jede war mit einem Seidenfaden bestückt. Dann und wann pflückte er sich eine heraus und nähte damit eine rinnende Ader zu, wobei mir das Bild eines Anglers in den Kopf kam, der einen pulsierenden blauen Wurm auf den Haken steckt. Linch schnitt den Faden immer ein paar Zoll später ab, damit er gezogen werden konnte, sobald der Stumpf verheilt war. Er bestand darauf, mir die Prozeduren zu erklären, auch wenn mir dabei fast schlecht wurde; und ich schwor mir, nie die Laufbahn eines Arztes einzuschlagen, selbst dann nicht, wenn sich das Schreiben eines Tages nicht mehr lohnen sollte. Amputieren war mindestens so schlimm wie Entbeinen — in mancher Hinsicht noch schlimmer, denn ein totes Rind wacht nicht kreischend auf, wenn an ihm herumgesäbelt wird, so dass es ein zweites Mal betäubt werden muss.
Wenn ich genauer hinsah, empfand ich unweigerlich Abscheu; also sah ich so oft wie möglich beiseite, obwohl der Raum voller Betten war, in denen Männer lagen, die genauso schlimm verletzt waren wie Sam, wenn nicht schlimmer, und dieser Anblick tröstete ein bisschen. Hier wurde hauptsächlich amputiert. Das schmirgelnde Geräusch der Knochensägen schien nie zu verstummen. Eine blutverschmierte Ordonnanz kam in Abständen durch den Raum und sammelte abgetrennte Gliedmaßen ein. Dr. Linch hatte die Überreste von Sams Unterarm achtlos fallen lassen; als der Mann sie aufhob und in seinen Abfalleimer warf, führte mir diese abwegige Hygienemaßnahme — viel deutlicher, als es die Operation getan hatte — die ganze Grausamkeit des Geschehens vor Augen. Ich wollte Sams Hand wieder aus dem Eimer holen — sie einfach so wegzuwerfen kam mir respektlos vor, und ich wurde den Gedanken nicht los, Sam könnte sie irgendwann zurückhaben wollen. Ich musste die Zähne zusammenbeißen, um mich wieder zu beruhigen.
Bei einem dieser wenig erfolgreichen Versuche, mich von der Operation abzulenken, begegnete mir ein bekanntes Gesicht in einem neuen Kontext. Zwischen den Verwundeten und Sterbenden bewegte sich ein aufgeschossenes, ausgezehrtes Individuum mit Dominion-Hut, spendete Trost und zitierte aus der Bibel. Er musste mich erkannt haben, denn er versuchte dauernd, sein Gesicht abzuwenden — der Mann war niemand anderes als der Gefreite Langers!
Ich war empört, hielt aber den Mund, bis die Hautlappen von Sams Stumpf vernäht waren. Kaum hatte Dr. Linch letzte Hand an den Verband gelegt, sagte ich: »Dr. Linch, wir haben hier einen Hochstapler«, und deutete auf Langers. »Dieser Mann ist kein Dominion-Offizier.«
»Ich weiß Bescheid«, sagte Dr. Linch gleichgültig.
»Bescheid! Und warum werfen Sie ihn dann nicht raus?«
»Weil er einem Zweck dient. Colonel Hazzard, hier gibt es weit und breit keine echten Dominion-Offiziere. Julian Comstock hat sie praktisch ausgesperrt, und das ist gar nicht mal so schlecht, denn das erspart uns die Sonntagsschelte. Aber ein sterbender Soldat braucht für gewöhnlich einen gottgefälligen Mann an seiner Seite und schnüffelt nicht im Stammbaum des Pastors. Als ich bei der Truppe nach einem Freiwilligen gefragt habe — irgendwem, der irgendwie mit der Kirche zu tun hat, und wenn er nur den Klingelbeutel herumgehen lässt —, da hat sich dieser Langers gemeldet. Die anderen hatten Angst, ihren Einsatz zu verpassen oder als Drückeberger zu gelten.«
»Das ist das Letzte, woran Langers denkt. Welche Beziehung zur Kirche soll er denn haben?«
»Er sei früher Kolporteur gewesen und habe Schriften zu religiösen Themen verkauft.«
Langers’ Schriften, stellte ich klar, seien nicht viel mehr als pornografische Anleitungen gewesen, die von keiner biblischen Autorität gebilligt würden; Langers sei ein arglistiger Betrüger und notorischer Lügner.
»War das jemals ein Grund, um einem Dominion-Offizier die Qualifikation abzusprechen? Machen Sie sich keine Gedanken, Colonel, vielleicht hat das Boot ein Leck, aber wir haben kein anderes …«
Ich befolgte seinen Rat. Vielleicht war er nicht so sarkastisch gemeint, wie er klang. Als ich die chirurgische Station verließ, hörte ich, wie Langers einen Mann tröstete, der eine furchtbare Kopfverletzung erlitten hatte. Das gesunde Auge des Opfers war fest auf Langers gerichtet, während das Schlitzohr die vermutlich einzigen Bibelverse falsch zitierte, die er jemals auswendig gelernt hatte — nämlich aus dem Hohen Lied Salomons, vermengt mit Stellen des verbotenen Dichters Walt Whitman.
»Wie viel süßer ist deine Liebe als Wein!«, psalmodierte er mit sanfter Stimme, die Hand wie zum Segen erhoben und ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen. »Göttlich bin ich innen und außen und mache heilig, was ich berühre, oder was mich berührt. Ich sehe Gott in den Gesichtern der Männer und Frauen, und in meinem eigenen Antlitz im Spiegel. Nordwind, erwache! Südwind, herbei! Durchweht meinen Garten, lasst strömen die Balsamdüfte! Auch mächtige Wasser können die Liebe nicht löschen, auch Ströme schwemmen sie nicht hinweg. Leg mich wie ein Siegel auf dein Herz, denn stark wie der Tod ist die Liebe, und die Leidenschaft ist hart wie das Grab.«
Diese Worte waren nicht der übliche Zuspruch an einem Sterbebett, aber sie taten einfach gut; und im Stillen verzieh ich dem Gefreiten Langers, dass er sie unter Vorspiegelung falscher Tatsachen von sich gab, denn die Träne, die in das gesunde Auge des Sterbenden trat, war fraglos echt und zeugte ebenso fraglos von dessen Dankbarkeit.
Am nächsten Tag war Sam wach, obwohl die verabreichten Dosen an verdünntem Opium nicht nur seine Schmerzen, sondern auch sein Denkvermögen in Schach hielten.
Julian besuchte ihn nicht, weil er alle Hände voll zu tun hatte, um Striver auf eine längere Belagerung vorzubereiten. Wir waren gut geschützt, unser Verteidigungsgürtel reichte vom Lake Melville bis zum Northwest River, so dass man uns nicht ohne weiteres umgehen konnte; und einen Frontalangriff würden die Deutschen mit verheerenden Verlusten bezahlen. Aber sie konnten uns aushungern, sie mussten nur warten. Und das war vermutlich ihre Absicht. Das hieß, wir mussten eine Bestandsaufnahme aller Lebensmittel und medizinischen Versorgungsgüter machen, die Depots unter schärfste Bewachung stellen und alles rationieren — um nur einiges zu nennen, womit Julian beschäftigt war.
Ich saß dafür doppelt so lange an Sams Bett. Wenn Sam nicht gerade schlief, dann schwieg er — aber manchmal redete er, und dann gab ich mir Mühe, ihn aufzumuntern. Einoder zweimal erwähnte er seinen Vater — ich glaube, den jüdischen, nicht den Adoptivvater —, und ich bat Sam, mehr von ihm zu erzählen.
»Welcher Arbeit ist dein Vater nachgegangen?«, fragte ich.
Sam schien abgemagert, so wie er sich unter den Decken abzeichnete. Draußen war es kalt, und es schneite ein bisschen. Auch die Kohle wurde rationiert, und die Öfen im Lazarett konnten die Kälte nicht wirklich vertreiben. Immer wenn Sam redete, wurden die Worte zu kleinen Nebelschleiern, als atme seine sterbliche Lunge nach und nach seine unsterbliche Seele aus. »Er war ein Abwracker«, sagte Sam.
»Was hat er denn abgewrackt?«
»Er hat im Schiffskanal von Houston gearbeitet, unten in Texas, wo ich herkomme.«
»Und wie ist es da unten?«
»Im Kanal? Der Kanal ist die Hölle. Ein giftiger Graben so groß wie eine Hauptstadt, reich an Kupfer und Aluminium, nicht für Menschen geschaffen, sondern fürs Öl und die Fabriken der Säkularen Alten. Mit ein bisschen Glück und Schläue kannst du da ganz schnell ganz viel Geld machen. Aber es lauern schreckliche Gefahren auf dich. Das Wasser ist eine Kloake, und es gibt keine Krankheit, die da nicht ausgebrütet wird. Ich war noch sehr klein, als ich Abwracker gesehen habe, die vom Kanal kamen und denen Blut in Bächen aus der Nase lief oder deren Haut schwarz und verschrumpelt war. Mein Vater hat sich immer in Acht genommen und Stiefel und Handschuhe getragen und eine Lederschürze. Es gab Tage, da karrte er fast eine Tonne Kupfer oder Aluminium aus dem Kanal, oder Schlamm, aus dem man Arsen, Kobalt, Blei und andere wertvolle Elemente gewinnen konnte, für die es an der Börse in Galveston einen Aufpreis gab. Mit dreißig hatte er genug zusammengespart, um seine Familie nach Osten zu verfrachten. Aber der Kanal brachte ihn um, wie er schon so viele umgebracht hatte, nur langsamer. Er starb ein Jahr später in Philadelphia, erstickt an den Tumoren, die in Brust und Hals gewuchert waren. Meine Mutter war zu der Zeit schon schwindsüchtig und zerbrechlich — sie überlebte ihn keinen Monat mehr.«
»Und dann hat dich eine christliche Familie adoptiert.«
»Er war ein freundlicher, aber reservierter Mann, ein Freund meines Vaters. Er und seine Frau sorgten für mich, bis ich alt genug war, um zur Militärakademie zu gehen — mein Vater hatte genug Geld für meine Ausbildung hinterlegt.«
»Aber du musstest deine Religion verleugnen.«
»Sagen wir, ich tat so, als hätte es sie nie gegeben. Was mein Vater zeitlebens getan hatte. In meiner Familie, Adam, erschöpfte sich die Frömmigkeit darin, dass wir an gewissen Wintertagen Kerzen anzündeten und ein paar unverständliche Gebete sprachen. Meine Adoptiveltern wussten nichts davon und haben nie etwas erfahren.«
Das war ein trauriges Bekenntnis, und ich bekam rote Ohren bei dem Gedanken, dass ich seine Gebete für Zauberei gehalten hatte, früher in Williams Ford, als ich noch blutjung und unerfahren gewesen war. »Hättest du gerne, dass ich für dich bete, Sam? Ich könnte ein jüdisches Gebet sprechen, wenn du es mir beibringst.«
»Keine Gebete, bitte, weder jüdische noch christliche — das funktioniert nicht. Ich bin weder das eine noch das andere.«
Ich sagte ihm, ich verstünde seine missliche Lage, da ich selbst ein Mischling sei, weder ein Schlangenbändiger wie mein Vater noch ökumenisch fromm wie meine Mutter. Ich befand mich östlich des Skeptizismus und nördlich des Glaubens, mit ungeeichtem Kompass und bei wechselndem Wind. Konnte ich denn nicht wie jeder andere ein Gebet an Gott richten und alles Weitere dem Adressaten überlassen?
»So bald brauche ich noch keine Fürbitten«, sagte Sam, wobei seine Stimme wieder undeutlicher wurde. »Ich wünschte mir allerdings meine Hand zurück — das schon. Ich glaube, ich kann sie noch fühlen — zur Faust geballt und brennend. Adam!«, rief er plötzlich, die Augen schwammen und blickten in die Ferne. »Wo ist Julian? Wo ist Admiral Fairfield? Wir müssen die verdammten Deutschen zurückschlagen!«
»Beruhige dich — das ist nicht gut für deine Wunde.«
»Zum Teufel mit meiner Wunde! Julian will mich bestimmt fortschicken — das darfst du nicht zulassen! Er braucht meinen Rat, mehr als ich jemals meine linke Hand gebraucht habe! Sag ihm das, Adam … sag ihm …!«
Dr. Linch wurde aufmerksam, kam herüber und zwang Sam, ein Opiumpräparat zu schlucken. Nicht lange, und Sam beruhigte sich. Er schlief wieder ein.
»Erholt er sich?«, fragte ich den Arzt.
»Sein Fieber ist gestiegen. Das ist kein gutes Zeichen. Nach dem Geruch zu urteilen, könnte etwas Fäulnis in der Wunde sein.«
»Es wird ihm aber doch bald wieder besser gehen?«
»Das ist ein erbärmliches Hospital, Colonel Hazzard, und es wird noch erbärmlicher, wenn die Vorräte knapp werden. Nichts ist sicher.«
Ich wollte etwas Beruhigenderes von ihm hören; doch Dr. Linch blieb stur und schwieg eisern.
Ich hätte nicht gedacht, dass sich Sams Befürchtung bewahrheiten würde. Aber Julian schickte ihn tatsächlich fort.
Die angeschlagene Basilisk lag unweit des Hafens vor Anker, und Admiral Fairfield kam mit einem Boot an Land. Der Hafen, der außerhalb der Reichweite der deutschen Artillerie lag, war noch fest in unserer Hand, und wir hätten nichts dagegen gehabt, wenn jetzt die amerikanische Flotte aufgekreuzt wäre. Doch wie schon in Goose Bay gab es hier nur das eine Schiff, dessen Takelage von Matrosen wimmelte, die damit beschäftigt waren, die Schäden zu beseitigen. Die immer noch stattliche Basilisk nahm sich aber vor dem kalten Gewässer des Lake Melville und dem fernen Grat des Mealy-Gebirges klein und verloren aus. Der Admiral kam den Pier herauf — ich merkte ihm an, wie verbittert er war. Er hüllte sich in Schweigen, während ich ihn zu Julians Hauptquartier brachte.
In der Abgeschiedenheit dieses Hauses, in dem früher der deutsche Bürgermeister residiert hatte, saß oben im ehemaligen Schlafzimmer, das Julian als sein persönliches Büro requiriert hatte, ein Admiral Fairfield — dessen anfängliche Zweifel an Julians Führungsqualitäten einer widerwilligen und schließlich unumwundenen Anerkennung gewichen waren — und erklärte, seine gesamte Flotte sei von Lake Melville abgezogen worden.
»Abgezogen!«, platzte Julian heraus. »Warum?«
»Der Befehl kam ohne jede Begründung«, sagte Admiral Fairfield angewidert. »Aus New York.«
»Von meinem Onkel, wollen Sie sagen.«
»Davon gehe ich aus.«
»Und alle haben gehorcht, nur Sie nicht?«
»Offiziell deckt die Basilisk unseren Rückzug gegen deutsche Angriffe. Das war meine Entschuldigung; ich wollte zurückbleiben, bis ich meinen Beitrag — der dürftig genug war — geleistet und mit Ihnen gesprochen hatte.«
»Das heißt, Sie werden uns in Kürze verlassen«, sagte Julian nachdenklich. »Und Sie können natürlich keine Verstärkung herbeischaffen.«
»Ich sage es nicht gerne, aber so ist es. Unseren Versorgungsoffizier werde ich anweisen, alle nicht unbedingt erforderlichen Vorräte abzuladen, und ich nehme alle Verwundeten mit, die eine bessere Behandlung brauchen, als ihnen ein Feldlazarett bieten kann. Mehr kann ich nicht tun.«
»Wir bleiben also hier zurück«, sagte Julian, »belagert, bis wir Hungers sterben oder kapitulieren … nur weil mein durchgeknallter Onkel es so will.«
»Mein Treueid steht einer Anerkennung dieser Wahrheit im Weg. Zur Not, General Comstock, könnten Sie einen Ausfall nach Osten wagen. Die einzige Straße dort bringt Sie unweigerlich zu den Narrows, sie ist aber unbefestigt, und die Festungen an den Narrows wären bestimmt noch in amerikanischer Hand, wenn Sie eintreffen. Ich gebe zu, ein Akt der Verzweiflung.«
»Allerdings«, sagte Julian, »zumal wir zahlenmäßig weit unterlegen sind.«
»Das haben natürlich Sie zu entscheiden.« Admiral Fairfield stand auf. »Sie unter diesen Umständen im Stich zu lassen ist unentschuldbar, aber ich habe die Dehnbarkeit meiner schriftlichen Befehle bereits über die Maßen strapaziert.«
»Verstehe«, sagte Julian und drückte bewegt die knorrige Hand des Admirals. »Ich hege keinen Groll gegen Sie, Admiral, und ich danke der Marine für alles, was sie in Ihrem Namen getan hat.«
»Ich hoffe, Ihr Dank ist nicht unangebracht«, sagte der Admiral verbissen.
Julian und ich gingen zum Kai hinunter, wo Sam und Dutzende von Schwerverletzten in Boote gehievt wurden, die sie zur Basilisk brachten. Ich übergab dem Quartiermeister der Basilisk mehrere maschinengeschriebene Seiten — meine Kriegsberichte für den Spark, die er in Neufundland auf die Post geben wollte.
Wir stießen auf Dr. Linch, der die Krankentransporte beaufsichtigte, und er brachte uns zu Sam, der in Wolldecken gehüllt auf einer Trage wartete, wobei sich in seinem Bart vereinzelte Schneeflocken sammelten. Seine Augen waren geschlossen, und auf seinen verwitterten Wangen blühten Fieberrosen. »Sam«, sagte Julian und legte behutsam die Hand auf die Schulter seines Mentors.
Sams Augenlider krochen zurück, und er starrte in die dahinziehenden Wolken, ehe er Julian fand.
»Lass nicht zu, dass sie mich mitnehmen«, sagte er mit erschreckend schwacher Stimme.
»Was sein muss, muss sein«, sagte Julian. »Tu, was der Doktor sagt, Sam, dann kannst du den Kampf bald wieder aufnehmen.«
Sam ließ sich nicht so leicht beschwichtigen und langte mit der rechten Hand nach Julians Kragen. »Du brauchst meinen Rat!«
»Du hast Recht; aber wenn du mir einen Rat geben willst, Sam, dann tu es jetzt, denn die Boote legen gleich ab.«
»Benutze sie«, drängte Sam.
»Was soll ich benutzen? Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Die Waffe! Die chinesische Waffe.«
Julian bekam große, traurige Augen. »Sam … es gibt weit und breit keine chinesische Waffe.«
»Das weiß ich, du Kindskopf! Benutze sie trotzdem.«
Vielleicht war Sam im Fieberwahn. Wir erfuhren nicht mehr, ob er noch etwas zu sagen hatte, denn zwei Männer packten die Bahre und trugen ihn fort. Nicht lange, und er lag gut verstaut im Bauch der Basilisk, die Kurs auf das Marinehospital von St. John’s an der Küste Neufundlands nahm.
Ich glaube, ich hatte mich noch nie so einsam und verlassen gefühlt wie in der kurzen Zeit, da die Basilisk die Anker lichtete und nach Osten segelte — nicht einmal auf den verschneiten Ebenen von Athabaska, als ich Williams Ford und meine ganze Kindheit hinter mir ließ. Damals war ich wenigstens in Begleitung von Julian und Sam gewesen. Jetzt war Sam fort … und Julian in seiner blau-gelben (leicht ramponierten) Uniform hatte kaum noch etwas mit dem Julian von damals gemein.
Unter den Vorräten, die uns Admiral Fairfield dagelassen hatte, befand sich ein Sack mit Post. Noch am selben Tag wurden die Päckchen und Briefe an die Soldaten verteilt. Einer von Julians Adjutanten brachte mir einen Umschlag, auf dem mein Name stand, in Calyxas Handschrift.
Die Nacht war hereingebrochen; ich hielt den Brief nahe an die Lampe und öffnete ihn mit zitternden Händen.
Calyxa war kein Briefeschreiber — niemand würde sie wortreich nennen. Der Brief bestand aus einer Anrede und drei kurzen Sätzen:
Lieber Adam, das Dominion droht mir. Bitte komm bald nach Hause, aber bitte lebendig. Außerdem bin ich schwanger.
Es liesse sich manches darüber sagen, wie ich die Tage bis zum Erntedankfest erlebt habe. Aber ich will den Leser nicht mit Trivialitäten traktieren. Es war eine düstere und karge Zeit. Ich habe mich jede Nacht an die Schreibmaschine gesetzt und im Schein der Lampe alles sorgfältig zu Papier gebracht, bevor ich mir den Luxus des Schlafens gegönnt habe. Diese Seiten sind noch in meinem Besitz, und der gebotenen Kürze halber will ich mich darauf beschränken, einzelne Abschnitte daraus zu zitieren:
Donnerstag, 10. November 2174
Um den Verbrauch an Vorräten aller Art zu reduzieren, sehen wir uns gezwungen, den Rest der Zivilbevölkerung auszusperren.
Die Bewohner von Striver zeigten sich nicht feindseliger, als man es von jeder anderen Gruppe ansonsten umgänglicher Männer und Frauen erwarten würde, die von Besatzungstruppen mit Waffengewalt aus ihren Häusern vertrieben werden. Viele waren froh, wieder in mitteleuropäische Obhut zu gelangen, auch wenn das einem gesunden Amerikaner nicht in den Kopf will.[79] Ich stand diesen Nachmittag auf dem Dach unseres Hauptquartiers und sah zu, wie sich die Männer, Frauen und Kinder der Stadt unter dem Schutz einer weißen Fahne durch das frostige Niemandsland zwischen den gegnerischen Gräben schleppten. Die gebeugten Gestalten, die im frühen Halbdunkel dann und wann in einen Artilleriekrater stolperten, erregten mein Mitgefühl, und ich konnte mir beinahe vorstellen, einer von ihnen zu sein. Vielleicht ist jeder Mensch ein Spiegel, in dem man sich sehen kann — vielleicht ist es das, was Julian mit kulturellem Relativismus meint (obwohl der Klerus diesen Begriff kategorisch ablehnt).
Bei den Deutschen bekommen diese Unglücklichen wenigstens jeden Tag zu essen. Bei uns wird streng rationiert. Die deutschen Spezialitäten in den Lagerhäusern werden genauso sorgfältig aufgelistet wie die Vorräte an gepökeltem Rindfleisch und Maismehl — alle Nahrungsmittel werden portioniert, auch wenn es allem Anschein nach für amerikanische Soldaten gewöhnungsbedürftig ist, genau berechnete Portionen an Edamer Käse, Rogen vom Stör und Gänseleberpastete zusammen mit Zwieback und Speck zu essen. Wie dem auch sei, diese Delikatessen dienen nur dem Zweck, den Tag hinauszuschieben, an dem unser Hunger unerträglich wird. Nach Mäulern und aufgelisteten Vorräten hat Julian berechnet, dass wir Mitte des Monats den Gürtel enger schnallen müssen und bis zum Jahresende verhungert sind.
Im Stillen rechnen die Männer immer noch auf den baldigen Einsatz einer chinesischen Waffe. Aber Julian weigert sich, dieses Gerücht ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen und lächelt in einer Art verrückter Unbekümmertheit, wann immer ich darauf zu sprechen komme.
Ansonsten sind meine Gedanken natürlich nur bei Calyxa und ihren Problemen mit dem Dominion und dieser anderen erstaunlichen Neuigkeit. Ich soll Vater werden! Nein, ich werde Vater, vorausgesetzt, Calyxa trägt das Kind aus. Ich werde sogar Vater, wenn ich in diesem verlassenen Winkel von Labrador sterben sollte. Denn selbst ein toter Mann kann Vater sein. Das ist ein kleiner, aber echter Trost für mich — obwohl ich mir jetzt nur noch Sorgen mache.
Dienstag, 15. November 2174
Es bläst ein beständiger, kalter Westwind, der Himmel bleibt klar. Es wird früher dunkel. Wir entzünden nur wenige Lampen, um Spiritus zu sparen. Diese Nacht führen Nordlicht und Polarstern einen eisigen und erhabenen Tanz auf. Es ist leider keine stille Nacht, denn die Deutschen haben ihre schwere Artillerie in Stellung gebracht, und in unregelmäßigen Abständen schlagen Granaten ein. Ich habe den Eindruck, als müsste jedes zweite Gebäude in Striver zerstört oder ausgebrannt sein. Schornsteinkästen säumen wie schwörende Finger die leeren, aufgeharkten Straßen.
Julian ist launisch und verhält sich merkwürdig ohne den Rat und die leitende Hand von Sam. Er besteht darauf, alle Waren in den Lagerhäusern aufzulisten, nicht bloß die Lebensmittel. Heute habe ich bei so einer Inventur geholfen und Julian die Listen ins ehemalige Bürgermeisterhaus gebracht.
Die Deutschen und ihr Luxus! Die Statthalter sind nicht bloß verwöhnte Gourmets; sie scheinen auf nichts verzichten zu wollen, was das Leben angenehm macht. Julian las den endlosen Katalog sorgfältig durch: Stoffe, Schildkrötenpanzer, Heilmittel, Rinderhörner, Musikinstrumente, Hufeisen, Ginseng, Rohrleitungen, Wasserhähne und vieles mehr, dank Beuterecht alles von uns. Er sah nachdenklich aus beim Lesen, wie jemand, der überschlägt und kalkuliert.
»Ihr habt diese Seidenballen nicht aufgeschlüsselt«, sagte er.
»Es waren zu viele«, erklärte ich ihm. »Die ganze Seide ist in Kisten verpackt und übereinandergestapelt — sieht aus, als wäre sie eingetroffen, kurz bevor wir die Stadt eingenommen haben. Aber Seide kann man nicht essen, Julian.«
»Ich habe nicht vor, sie zu essen. Kümmere dich morgen darum, Adam. Mich interessiert nicht nur die Menge, sondern auch die Qualität, vor allem, wie dicht das Gewebe ist.«
»Kann ich nichts Wichtigeres tun als Fäden zählen?«
»Stell dir vor, es wär ein Befehl«, sagte Julian scharf. Dann sah er von den Listen auf, und seine Miene entspannte sich. »Tut mir leid, Adam. Trag es mit Fassung. Aber zu niemandem ein Wort — ich will nicht, dass die Männer denken, ich sei übergeschnappt.«
»Ich strick dir einen Kimono, Julian, wenn es hilft, die Belagerung zu überleben.«
»Genau das will ich, überleben, meine ich … gestrickt werden muss nicht — aber vielleicht genäht, mal sehen.«
Mehr wollte er nicht verraten.
Mittwoch, 16. November 2174
Mir fällt ein, dass Erntedank vor der Tür steht. Wir haben uns keine großen Gedanken gemacht über diesen Universellen Christlichen Feiertag, vielleicht, weil wir in unserer momentanen Lage so wenig Anlass zur Dankbarkeit sehen. Wir versinken eher in Selbstmitleid, als uns auf das zu besinnen, was wir Gott sei Dank haben.
Meine Mutter hätte uns bestimmt für kurzsichtig gehalten. Tatsächlich bin ich Gott für vieles dankbar.
Ich bin ihm dankbar für Calyxas Brief — wie kurz er auch gehalten ist —, den ich gefaltet in meiner linken Brusttasche trage.
Ich bin dankbar, dass ich, so Gott will, Vater werde, das Ergebnis einer womöglich überhasteten, aber gesegneten und freigebigen Ehe.
Ich bin heilfroh, dass ich noch am Leben bin, und dass Julian noch am Leben ist, auch wenn unser Leben ein Provisorium ist, das jederzeit zusammenbrechen kann. (Kein sterbliches Geschöpf »kennt die Stunde oder den Tag«, nur dass wir von deutscher Infanterie umgeben sind, die es sich auf die Fahne geschrieben hat, uns dieses ungemütliche Ereignis so rasch wie möglich zu bescheren.)
Ich bin so froh, dass sich das Leben in Williams Ford — ungeachtet meiner Abwesenheit — ein Beispiel an den vielen anderen, ähnlich einfachen Orten in den großen Vereinigten Staaten von Amerika genommen hat und seinen gewohnten Gang geht. Ich bin auch dankbar für die zynischen Philosophen, dreckigen Kipper, blasshäutigen Ästheten, korrupten Eigentümer und verweichlichten Eupatriden, die sich in den Straßen von New York City drängen — und vor allem dafür, dass ich sie aus nächster Nähe sehen durfte.
Gott, ich danke dir für meine tägliche Ration, obwohl sie von Mal zu Mal kleiner wird.
Donnerstag, 17. November 2174
Heute überrannten unsere Soldaten einen mitteleuropäischen Schützengraben, den der Feind zu dicht an unseren Linien gegraben hatte. Wir nahmen fünf Gefangene, die wir in einem Akt christlicher Nächstenliebe am Leben ließen, obwohl sie von unseren Vorräten essen. Julian hofft, sie gegen amerikanische Gefangene austauschen zu können — er hat diesen Vorschlag von einem Parlamentär überbringen lassen, bis jetzt aber noch keine Antwort erhalten.
Ich wollte dabei sein, wenn die Gefangenen verhört wurden, nicht zuletzt, damit der Feind für mich ein Gesicht bekam, den ich bis jetzt nur als anonymen Kämpfer und Verfasser unverständlicher Briefe kennengelernt hatte. Nur einer der Männer sprach Englisch; die anderen vier wurden von einem Leutnant befragt, der ein paar Brocken Niederländisch und Deutsch konnte.
Die feindlichen Soldaten sind hagere, sture Männer. Sie geben nicht viel mehr als ihre Namen preis, nicht mal unter Zwang. Mit Ausnahme des Englischsprechenden, eines Briten, der auf einem Handelsschiff gefahren war, dienstverpflichtet in einer Bar in Brüssel, als er sturzbetrunken war. Seine Loyalität ist gemischter Natur, und er hat sich bereiterklärt, Angaben über Stärke und Stellungen des Feindes zu machen.
Er meinte, die Deutschen seien fest überzeugt, uns durch die Belagerung zermürben zu können. Mit einem Angriff halte man sich allerdings zurück, da Gerüchte über die (leider nicht vorhandene) chinesische Waffe durchgesickert seien. Man wisse nichts Genaues über »unsere« Waffe[80], nur dass sie ganz schrecklich und außergewöhnlich sei.
Das habe ich Julian heute Abend erzählt, und er hat es mit grimmigem Vergnügen zur Kenntnis genommen.
»Genau so hab ich mir das vorgestellt. Gut! Vielleicht finden wir ja eine Möglichkeit, ihnen noch mehr Angst einzujagen.«
Und wieder wollte er nicht erklären, was er vorhat. Doch er hat ein geräumiges Lagerhaus am Kai beschlagnahmt (außer Reichweite der feindlichen Artillerie) und ist dabei, es in eine Art Werkstatt zu verwandeln. Er hat Männer abgestellt und zum absoluten Stillschweigen verpflichtet. Er hat unzählige Ballen schwarzer Seide angefordert; außerdem Nähmaschinen, Haken und Ösen, Leisten und Latten aus den Trümmern zerstörter Häuser, Flaschen mit Ätznatron und andere komische Sachen.
»Vielleicht ist es gut, wenn die Deutschen an diese Waffe glauben«, sagte ich, »aber leider glauben unsere Soldaten auch daran. Und sie glauben, du bist dabei, sie scharf zu machen.«
»Und wenn es so wäre?«
»Julian, du weißt so gut wie ich, dass es keine chinesische Waffe gibt, oder hat dich der Hunger um deinen Verstand gebracht?«
»Natürlich weiß ich das. Ich glaube fest an ihre Nichtexistenz. Das heißt aber nur, dass wir auf unsere Erfindungsgabe angewiesen sind.«
»Du meinst, wir bauen eine Waffe aus Seide und Angelhaken?«
»Bitte behalte deine Idee für dich. Dir werden beizeiten die Augen aufgehen.«
Samstag, 19. November 2174
Das Treiben in dem versiegelten Lagerhaus wird immer emsiger. Die »Geheimwaffe« ist jetzt in aller Munde, und ich mache mir Sorge, die Männer könnten, wenn die Wahrheit ans Licht kommt, mit Verbitterung und Wut reagieren.
Heute schlugen mehr Granaten ein, und ein Regiment erlitt besonders hohe Verluste. Ich habe heute Nachmittag im Feldlazarett ausgeholfen, das heißt, ich habe Dr. Linch beim Absägen, Zurechtstutzen und Nähen zerschmetterter Glieder assistiert. Diese Arbeit ist nahezu unerträglich für empfindliche Naturen (zu denen ich mich zähle), aber die Not packt dich beim Wickel.
Unser schlimmster Feind, meint Dr. Linch, sei nicht die Artillerie, sondern die Ruhr. Schon ein Viertel unserer Soldaten sei daran erkrankt und sie verbreite sich wie ein Lauffeuer.
Zwieback und Salzdorsch zum Dinner, in kleinen Portionen.
Sonntag, 20. November 2174
Außergewöhnliche Ereignisse! Ich will sie noch zu Papier bringen, obwohl es schon reichlich spät ist.
Nach dem Abendessen bestellte Julian mich samt Schreibmaschine in sein Quartier. Sich mit so einer Maschine die Treppe der alten Bürgermeisterei hinaufzuquälen war keine leichte Aufgabe für einen vom Hunger Geschwächten. Julian bat mich, Papier einzuspannen und abzuwarten. Er wollte mir eine Botschaft diktieren.
Dann rief er einen Adjutanten und schickte zu meiner Verwunderung nach Langers.
»Langers!«, platzte ich heraus, als der Adjutant fort war. »Was willst du von Langers? Was hat er jetzt wieder verbrochen? Ich habe ihn heute im Lazarett gesehen, wo er die Schau mit dem Kirchenmann abzieht. Aber das kann es wohl nicht sein.«
»Nein — oder nur zum Teil. Und bitte, Adam — du bist vielleicht entsetzt, wenn du hörst, was ich ihm zu sagen habe; aber das Gelingen meines Plans hängt wesentlich davon ab, dass du mich, solange Langers im Zimmer ist, nicht unterbrichst oder korrigierst.«
Einen so strengen Ton schlug er mir gegenüber nur selten an; doch ich machte mir klar, dass wir uns im Krieg befanden und belagert wurden und er der Generalmajor war und nicht ich. Ich versprach, keine unpassenden Bemerkungen zu machen, und brannte natürlich vor Neugier.
Wir zitterten, weil Julian nur sparsam heizte. Nach einer knappen halben Stunde wurde Langers ins Zimmer geschubst. Er zitterte auch, aber vermutlich nicht nur der Kälte halber. »Sir?«, sagte er mit einem ängstlichen Blick auf Julian.
Julian setzte seine autoritärste Miene auf.[81] »Bitte nehmen Sie Platz, Soldat.«
Langers wählte einen Sessel am Ofen. »Sie haben mich rufen lassen, Sir?«
»Offensichtlich, denn da sind Sie. Nun, man hat sich über Sie beschwert, Soldat.«
Langers — der sich fraglos an den Saguenay-Feldzug und die schmerzhafte Angelegenheit mit dem Glückstopf erinnerte — sank in sich zusammen vor Schreck, und sein Blick wurde noch verstohlener und argwöhnischer, als er es ohnehin schon war. »Der Vorwurf ist unbegründet«, sagte er leise.
»Sie kennen ihn ja noch gar nicht.«
»Ich weiß, er ist unberechtigt, Sir, weil mein Verhalten über jeden Tadel erhaben ist. In den letzten Wochen habe ich ausschließlich im Feldlazarett gearbeitet und die Kranken und Sterbenden getröstet.«
»Darüber hat man mich in Kenntnis gesetzt«, sagte Julian, »und ich würde Sie sogar loben für Ihren Einsatz — wenn da nicht diese andere Sache wäre.«
»Welche andere Sache?«, wollte Langers mit schlecht gespielter Empörung wissen.
»Ein Regimentskommandeur hat mehrere verdächtige Dinge unter Ihrem aufgerollten Bettzeug entdeckt. Darunter eine stattliche Anzahl Goldringe und Lederportemonnaies.«
»Und?«, sagte Langers, obwohl er rot anlief. »Ein Mann darf doch ein paar Andenken haben, oder?«
»Nein, darf er nicht — nicht, wenn diese Sachen von tödlich Verwundeten als vermisst gemeldet werden. Ich habe die belastende Aussage eines Lazarettarztes, der gesehen hat, dass Sie die rechte Hand wie zum Segen erhoben hatten, während die linke ein Portemonnaie aus der Tasche des Opfers zog. Und was die Ringe angeht, normalerweise werden solche Schmuckstücke den trauernden Witwen geschickt und verschwinden nicht unter dem Bettzeug falscher Diakone.«
»Sehen Sie, ich …«, hob Langers an und stockte. Die Beweise waren erdrückend und Leugnen zwecklos. Sein von Natur aus langes Pferdegesicht schien noch länger zu werden. »Sir, das Lazarett ist ein furchtbarer Ort — das beschädigt den Verstand — vielleicht waren es die Umstände, die mich …«
»Ja, vielleicht. Oder eben doch nur Ihre Habgier. Aber keine Sorge, Soldat. Ich habe Sie nicht kommen lassen, um Sie zu beschimpfen oder zu bestrafen. Nein, ich will Ihnen Gelegenheit geben, Ihre Schandtat wiedergutzumachen.«
Langers war nicht so naiv, nach diesem Strohhalm zu greifen, ohne sich kurz zu vergewissern. »Sie können auf mich zählen, Sir — wiedergutmachen, wie meinen Sie das, Sir?«
»Geduld. Bevor wir fortfahren, muss ich einen Brief diktieren. Adam, bist du bereit?«
Ich unterdrückte mein Erstaunen über den Verlauf der Unterredung und sagte: »Ja, sicher, Julian — ich meine, General Comstock.«
»Gut.« (Meine Finger schwebten über den Tasten.) »Schreibe eine Kopfzeile mit Datum und Absender — also Generalmajor Comstock, Hauptquartier, Laurentische Armee, Nördliche Division, Striver, Lake Melville, Ost-Labrador usw.« Ich tippte und tippte. Meine Schreibfertigkeit war ungleich besser als bei meinen ersten »Gehversuchen«, und ich war stolz auf mein Tempo, obwohl es sicher noch steigerungsfähig war. »Der Adressat ist Major Walton, Generalhauptquartier, Neufundland.«
Dann diktierte Julian den eigentlichen Text, den ich hier wiedergeben werde, solange er mir noch frisch im Gedächtnis ist, einschließlich der ungewöhnlichen Großschreibung, wo immer Julian sie verlangte:
Sie sollen wissen, dass ich mich nach reiflichen Überlegungen und angesichts der Tatsache, dass ich vom Feind umzingelt bin und unter anhaltendem Artilleriebeschuss liege, dazu durchgerungen habe, den MECHANISMUS einzusetzen, von dem wir inständig gehofft hatten, dass er in einer zivilisierten Kriegsführung nie zur Anwendung kommen würde. Diese Entscheidung fällt mir nicht leicht. Dieser Krieg ist ohnehin brutal, und ich trage schwer daran, ihn noch unmenschlicher zu machen, indem ich eine so grausame ERFINDUNG zum Einsatz bringe. Es ist nicht der SOFORTIGE Tod zahlloser feindlicher Soldaten, der mich abschreckt, denn das liegt in der Natur des Krieges, sondern vielmehr das Wissen um die SCHLEICHENDE WIRKUNG, die erst nach qualvollen Stunden oder Tagen zum Tode führt. Sie wissen, dass ich mich im Kreise der Verantwortlichen immer wieder gegen die Anwendung dieser WAFFE ausgesprochen habe, die so tückisch in ihrer Wirkungsweise ist, dass es jeden eingeweihten Christen kalt überläuft. Aber ich befinde mich in einer Lage, die keinen anderen Ausweg zulässt. Meine Armee ist in Bedrängnis geraten, und wir können weder auf NACHSCHUB noch auf VERSTÄRKUNG hoffen. Tausende treu ergebener Soldaten sehen dem Hungertod entgegen, und ich kann es nicht verantworten, sie der mitteleuropäischen Armee auszuliefern. Daher bin ich fest entschlossen, alles zu tun, was in meiner Macht steht, um meine Truppen, oder wenigstens einen Teil von ihnen, in Sicherheit zu bringen, auch wenn dieser Krieg dadurch noch TEUFLISCHER wird. Ich stelle Ihnen anheim, den Generalstab und den Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte über mein Vorgehen in Kenntnis zu setzen. Gott möge mir verzeihen. BETEN SIE FÜR UNS, Major Walton! Wir handeln in den nächsten Tagen.
»Und dann noch die übliche Grußformel«, sagte Julian und ignorierte meinen vor Verblüffung offen stehenden Mund. Verblüfft war ich nicht bloß über den Inhalt des Briefes, sondern auch über den ungewöhnlich klerikalen Ton, in dem er abgefasst war. »Gib mir den Brief zum Unterzeichnen. Danke, Adam.«
Ich tat, worum er mich bat, obwohl ich meine Fragen und Befürchtungen kaum noch zurückhalten konnte.
»Was hat diese Angelegenheit mit mir zu tun?«, wollte Langers wissen. »Lauter grässliches Zeug, von dem ich nichts weiß!«
»Natürlich wissen Sie nichts davon; aber eine Nachricht, die ankommen soll, muss auch überbracht werden. Und das ist Ihre Aufgabe, Soldat Langers. Der Brief wird in eine Umhängetasche genäht. Sie bringen die Tasche über die deutschen Linien zu den amerikanischen Festungen an den Narrows und händigen sie persönlich dem ranghöchsten Offizier aus.«
»Über die deutschen Linien?« Langers’ Augen waren so groß wie Comstock-Dollars.
»Ganz recht.«
»Unmöglich«, fuhr Langers auf; und diesmal war ich auf seiner Seite, hielt aber wie versprochen den Mund.
»Ja, vielleicht«, sagte Julian, »aber ich brauche jemanden, der es versucht. Sie sind ziemlich gesund und haben, wie mir scheint, ein starkes Motiv, diese Aufgabe zu meistern. Sie haben die Wahl, Soldat Langers. Sie tun, was ich von Ihnen erwarte, oder Sie bleiben hier und stehen wegen Beraubung verwundeter Soldaten am Pranger.«
»Sie würden nichts über meinen Fehltritt verlauten lassen?«
»Und ob — bei der nächsten Sonntagsversammlung! Die Männer mögen keinen, der Traktate verhökert und sie bestiehlt, wenn sie am hilflosesten sind.«
»Aber man wird mich lynchen, wenn es herauskommt — in solchen Dingen sind sie wie Pastorentöchter!«
»Mich müssen Sie nicht überzeugen. Es liegt bei Ihnen.«
»Ich erhebe Einspruch! Das ist Erpressung — ich bin so oder so ein toter Mann.«
»Mit ein bisschen Glück kommen Sie ungeschoren durch. Sie müssen sehr leise sein und bei Mondlicht losgehen. Wenn ich der Meinung wäre, Ihre Gefangennahme sei so gut wie sicher, würde ich Sie gar nicht erst losschicken.«
Langers ließ verdrießlich den Kopf hängen, er sah keinen Ausweg aus der Falle, die Julian hatte zuschnappen lassen.
»Lassen Sie mich hinzufügen«, sagte Julian, »dass dieses Dokument, sollte Ihnen wirklich etwas zustoßen, auf keinen Fall in die Hände der Deutschen fallen darf. Unser Vorhaben wäre ein Schlag ins Wasser, wenn sie von unserem Plan erführen. Und der Feind ist schlau — selbst wenn er Sie gefangen nimmt, selbst wenn er Sie mit Privilegien oder großartiger Belohnung zu bestechen versucht — Sie dürfen nicht nachgeben.«
Das sagt er dem Richtigen, dachte ich bei mir. An Langers’ Gewissen zu appellieren war zwecklos — wenn er überhaupt eines hatte, war es ein besonders schwaches und blutarmes Exemplar —, und ich hätte Julian am liebsten über seinen Irrtum aufgeklärt. Doch eingedenk seiner Warnung biss ich mir auf die Zunge.
Nach Julians Ermahnung schien Langers ein wenig erleichtert. Ich bin überzeugt, er sondierte die Lage, in die er so unverhofft geraten war, und begann sich häuslich darin einzurichten. Er erhob noch ein paar kleinere Einwände, nur um den Schein zu wahren, und war schließlich einverstanden, den drohenden Vermerk in seiner Führungsakte über das Bestehlen noch nicht ganz Toter zu vermeiden. Ja, er war einverstanden, den mitteleuropäischen Linien zu trotzen und sich auf dem schnellsten Weg zu den Narrows zu begeben, wenn das von ihm verlangt werde. »Aber wenn ich ums Leben komme«, sagte er, »und wenn Sie davon Kenntnis bekommen, General Comstock, dann bitte ich Sie, mich in die Reihe der ehrenwerten Gefallenen aufzunehmen; ich möchte meiner Familie keine Schande bringen.«
»Welcher Familie?«, platzte ich unwillkürlich heraus. »Haben Sie nicht immer behauptet, Sie wären ein Vollwaise?«
»Ich meine die, die mir so nahestehen wie eine Familie«, sagte Langers. (Und Julian bedachte mich mit einem giftigen Blick.)
»Versprochen«, sagte Julian. Es war kaum zu glauben, aber er streckte dem Ganoven die Hand hin. »Ihr Ruf ist gerettet, Mr. Langers. Sobald Sie den Auftrag übernehmen, sind Sie in meinen Augen rehabilitiert.«
»Ich bedanke mich für Ihr Vertrauen. Sie sind ein großzügiger Befehlshaber, Sir, und ein aufrechter Christ — ich habe nie etwas anderes behauptet.«
(Wenn das nicht aufhört, dachte ich, zerbeiße ich mir noch die Zunge.)
»Es ist wichtig, dass Sie sofort aufbrechen. Ein Adjutant wird Sie an die vorderste Linie bringen und Ihnen letzte Anweisungen geben. Sie bekommen einen Mantel und ein frisches Paar Stiefel sowie eine Pistole mit Munition.«
Julian rief einen jungen Leutnant, der den Brief mit ein paar Stichen hinter das Futter einer Ledertasche nähte und dann mit Langers fortging.
Jetzt, da wir allein waren, sah ich Julian entgeistert an.
»Nun?«, fragte er mit einem Anflug von Unbekümmertheit. »Raus damit, Adam.«
»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, aber — Julian! Gibt es denn nun doch eine chinesische Waffe?«
»Kannst du dir einen anderen Grund vorstellen, warum ich diese Nachricht an General Walton schicke?«
»Aber das ist ja das Verrückte! Du machst Langers zum Boten, und dann erzählst du ihm, die Deutschen würden ihn belohnen, wenn er uns verrät! Du wirfst mir manchmal meine Naivität vor, aber das schlägt dem Fass den Boden aus — du ermunterst ihn förmlich zur Fahnenflucht!«
»Glaubst du wirklich, er erliegt der Versuchung?«
»Was sonst?«
»Dann sind wir derselben Meinung.«
»Heißt das, du erwartest, dass er zum Feind überläuft?«
»Wenn mein Plan funktionieren soll, dann wäre es besser, er täte genau das.«
Ich war völlig aus dem Häuschen, und ich nehme an, mein Gesicht machte keinen Hehl daraus, denn Julian bekam Mitleid und legte mir den Arm um die Schulter. »Tut mir leid, wenn es so aussieht, als würde ich dich an der Nase herumführen, Adam. Wenn ich nicht ganz offen zu dir war, dann nur, weil mir an absoluter Geheimhaltung liegt. Melde dich morgen früh bei mir, und du wirst alles erfahren.«
Mehr als dieses dubiose Versprechen konnte ich ihm nicht entlocken, und als ich das Hauptquartier verließ, schwirrte mir der Kopf.
Jetzt muss ich aufhören mit Schreiben, sonst schreibe ich noch bis zum Wecksignal.
Die Nachtluft ist kalt, der Himmel klar und der Wind messerscharf. Meine Gedanken sind bei Calyxa, auch wenn sie so schrecklich weit weg ist.
Montag, 21. November 2174
Julian hat mir seinen Plan erklärt. Diese Nacht führen wir einen entscheidenden Test durch. Ich darf niemandem die Wahrheit anvertrauen — nicht einmal dem Papier in meiner Maschine.
Es ist eine winzige Chance, aber wir haben keine andere.
(Hier ist Schluss mit dem Tagebuch, und ich erzähle wieder im gewohnten Stil.)
Julian hat mich endlich ins Vertrauen gezogen und nahm mich am Nachmittag des 21. Novembers mit in das Lagerhaus, in dem die »Waffe« entstand.
Auf unserem Rundgang wurde mir schon bald klar, was ich gänzlich aus den Augen verloren hatte — Julians allgegenwärtige Liebe zum Theater. Sie schien sich seit seiner Beförderung zum Generalmajor in nichts aufgelöst zu haben, hatte aber wohl nur auf ihre Stunde gewartet. Das Innere des Lagerhauses (erhellt durch frisch gereinigte Oberlichter und eine großzügige Anzahl Laternen) ähnelte nichts so sehr wie dem Chaos hinter der Bühne bei einer Mammutproduktion von Lucia di Lammermoor mit Julian als Requisiteur.[82]
Männer in Uniform ersetzten die Näherinnen und verarbeiteten in fieberhafter Eile ganze Ballen schwarzer Seide, oft schon, wenn das Tuch noch abgeschnitten wurde. Schreiner hatten von Holzstangen und Latten mannsgroße, biegsame Stücke geschnitten. Dünnes Seilwerk von einer mühlradgroßen Fabrikspule wurde sorgfältig abgemessen und die Segmente auf kleinere Kerne gewickelt. Das war nur eine Kostprobe der Betriebsamkeit, die hier herrschte.
Der riesige Raum stank nach chemischen Substanzen, einschließlich Ätznatron und einer Chemikalie, die Julian eine »niederwertige Phosphorlösung« nannte (in angefressenen narbigen Metallfässern). Sowie sich die Tür hinter mir geschlossen hatte, fingen meine Augen an zu tränen, und ich fragte mich, ob das, was ich bei Julian für Anzeichen von Erschöpfung gehalten hatte, nicht in Wirklichkeit auf die langen Stunden zurückzuführen war, die er in dieser Lagerhalle verbracht hatte. Ich war beeindruckt von der Emsigkeit und dem Umfang der Arbeit, die den geschlossenen Raum mit einem fürchterlichen Lärm erfüllte — musste aber zugeben, dass ich mir keinen Reim darauf machen konnte.
»Komm schon, Adam, rate mal.«
»Und du sagst dann ›warm‹ oder ›kalt‹? Ich denke, du baust irgendeine Waffe zusammen — oder etwas, das so aussieht.«
»Von jedem ein bisschen«, sagte Julian und lächelte schelmisch.
Ein Soldat kam vorbei, er trug ein zusammengewickeltes Gebilde aus Latten und schwarzer Seide, das Julian kurz in Augenschein nahm. Ich sagte zu Julian, das Bündel erinnere mich an die Angeldrachen, die er in Edenvale habe steigen lassen.
»Sehr gut!«, sagte Julian. »Gut beobachtet.«
»Aber was ist es wirklich?«
»Das, was du dir darunter vorstellst.«
»Drachen?« Der besagte Soldat stellte das Gebilde aufrecht zu den vielen ähnlichen Gebilden. Zusammengefaltet ähnelten sie finsteren Schirmen, die für einen wählerischen Riesen hergestellt wurden. »Aber das sind bestimmt hundert!«
»Mindestens.«
»Und was willst du mit den Drachen?«
»Jede Erklärung, die ich dir geben könnte, würde von der Wahrheit übertroffen. Diese Nacht ist Generalprobe. Wenn du das Ergebnis siehst, wirst du etwas schlauer sein.«
Typisch Julian. Nur ja keinen Bühneneffekt beschreiben, weil dann das Pulver verschossen ist. Er wollte mich als »unvoreingenommenen Beobachter« einsetzen. Ich sei nicht unvoreingenommen, bemerkte ich, sondern ungeduldig; dann suchte ich das Lazarett auf, wo ich mich bis zum Einbruch der Dunkelheit nützlich machte.
Als die Nacht hereingebrochen war und die kärglichen Abendrationen vertilgt waren, machten Julian und ich uns erneut auf den Weg zum Kai. In besagtem Lagerhaus, das rund um die Uhr bewacht wurde, ging es um diese Zeit stiller zu. Die Männer, die Julian als Arbeitskräfte rekrutiert hatte, waren zum Stillschweigen verpflichtet worden und schliefen, um ungewollte Äußerungen zu verhindern, getrennt von den übrigen Soldaten. Die meisten von ihnen, sagte Julian, würden nur die Arbeit kennen, die ihnen aufgetragen sei, und mehr nicht. Aber gut hundert Männer wüssten über Ziel und Zweck der Operation Bescheid, und diese Elitetruppe sei heute Nacht im Lagerhaus — oder besser auf dem Lagerhaus, denn wir erklommen eine Eisentreppe, die zum Dach führte, das ordentlich gedeckt und nur leicht abschüssig war. Die »Drachenbrigade«, wie Julian sie nannte, wartete schon.
Die Nacht war mondlos, die Sterne wurden von hohen, schnell ziehenden Wolken verdeckt. Abgesehen von ein paar Lagerfeuern und schwach flackernden Fenstern lag Striver in völliger Dunkelheit. Die riesigen Drachen waren aufs Dach geschafft worden; sie waren noch aufgerollt, aber ihr Zaumzeug war bereits mit Hanfleinenspulen verbunden, die auf Holzfundamenten saßen und mit Handkurbeln versehen waren. Außerdem gehörte zu jedem Drachen ein Eimer, der über eine kurze Leine mit seinem Zaumzeug verbunden war. Wir kamen dazu, als ein Mann gerade damit fertig wurde, in jeden Eimer eine abgemessene Menge Sand zu füllen.
»Wozu soll das gut sein?«, fragte ich Julian — leise, denn in der unheimlichen Atmosphäre hier oben auf dem Dach schien sich jedes laute Wort zu verbieten.
»Ich habe ausgerechnet, wie viel Nutzlast ein Lenkdrachen tragen kann«, sagte Julian. »Heute Nacht sehen wir, ob die Berechnungen stimmen.«
Wie überschlug man die Tragkraft eines Lenkdrachens — wie rechnete man so was aus? Ich fragte erst gar nicht. Julian hatte das bestimmt wieder in einem antiken Buch gefunden. Sollte es vom Wind abhängen, hatten wir Glück — es blies eine kräftige Brise. Es war so kalt hier oben, dass ich meine Hände in den Manteltaschen ließ und wünschte, ich hätte statt der dünnen Armeekappe meinen alten Päckel auf dem Kopf.
Alles schien für die Premiere bereit, bis auf die Sichtverhältnisse. »Woher weißt du, dass sie fliegen, wenn weder Mond noch Nordlichter am Himmel sind?«
Julian gab keine Antwort und winkte einem Mann in der Nähe. Der Soldat hielt einen Behälter und einen dicken Pinsel bereit.
Die Flüssigkeit in dem Behälter entpuppte sich als eine Phosphorverbindung, die ein gespenstisches grünes Leuchten von sich gab.[83] Der Soldat klatschte mit dem Pinsel ein kleines Quantum der Chemikalie an jeden Eimer, bis sie alle wie dämonische Halloweenlaternen glühten.
»An die Leinen!«, rief Julian.
Dutzende von Männern sprangen an die verankerten Spulen.
»Präsentiert die Drachen!«
Genauso viele Männer, die mit dem Rücken zum Wind am Rand des Daches standen, packten die riesigen zusammengerollten Drachen und hielten sie mit beiden Händen vertikal und mittig vor dem Körper, damit sie sofort entrollt werden konnten, um den Wind zu fangen.
»Und Start!«, schrie Julian.
Der Leser muss wissen, dass ein übermannsgroßer schwarzseidener Drachen hoch oben in der stygischen Finsternis einer Labradornacht — während der Polarwind heranjault wie ein Wahnsinniger, der ein Messer zwischen den Zähnen hat — längst nicht so possierlich ist wie ein Kinderdrachen, der in der Sonne eines Sommertages tanzt. Diese schwarzen, schemenhaften Bestien machten sich in dem Augenblick bemerkbar, als die erste den eiskalten Wind fing und sich mit dem markerschütternden Knall eines Artilleriegeschützes öffnete.
Jeder Drachen tat, wenn er den Wind fing, denselben ohrenbetäubenden Knall (was mich an das Knallen der Segel erinnerte, wenn die Basilisk gegen schweres Wetter lavierte), bis es sich anhörte, als sei ein Artillerieduell im Gange und wir mittendrin. Dann erhoben sich die Drachen um die Länge des Seils, das sie mit ihrem Eimer und seiner abgewogenen Menge Sand verband …
Julians Berechnungen erwiesen sich als richtig. Nach einem winzigen Augenblick des Zögerns und einem ermutigenden Ruck an den Leinen schwangen sich die Eimer empor. Worte allein können nicht vermitteln, wie ungewöhnlich und seltsam sich das ausnahm: Alles, was zu sehen war, waren die vielen grün phosphoreszierenden Markierungen der Eimer. Diese (in einem ganz säkularen Sinne) überirdischen Lichter stiegen und tanzten und stiegen wieder, wie ein Schwarm von Engeln oder Dämonen. Ich war von Ehrfurcht durchdrungen, auch wenn ich genau wusste, was ich da sah. Einen nicht eingeweihten Beobachter hätte vielleicht das kalte Grausen gepackt.
»Nicht jeder amerikanische Soldat in der Stadt schläft schon«, sagte ich. »Was, wenn jemand das sieht und Alarm schlägt?«
»Umso besser. Der Gedanke, eine Kostprobe unserer Arbeit zu sehen, wird sie aufmuntern.«
»Sie werden es für eine übernatürliche Erscheinung halten.«
»Soll es jeder halten, wie er will, es macht keinen Unterschied.«
»So eindrucksvoll das Ganze ist, ein Drachen ist keine Waffe, Julian, auch wenn er nachts fliegt und glitzert wie das Auge einer Eule.«
»Manchmal ist der Schein so gut wie das Sein.« Julian befasste sich mit einer Art Sextant und tat etwas, was er »triangulieren« nannte. Inzwischen hatten die Drachen die volle Länge ihrer Leine bekommen. Die Leinen waren straff; die Männer an den Kurbeln hatten alle Hände voll zu tun, die Spulen mit ihren Holzfundamenten festzuhalten, so kräftig griff der Wind in die Drachen. Die Hanfleinen waren stramm und sangen, es klang schaurig in der Dunkelheit.
Julian unterwies die Männer an den Kurbeln, wie man Leine einhalten und ausgeben musste, damit der Drachen fiel und wieder stieg. Sie brachten es nicht zur Meisterschaft, doch etwas Erfahrung sei besser als keine, meinte Julian. Dann begann die mühselige Arbeit, die Drachen wieder aus dem Himmel zu kurbeln.
Ein eindrucksvolles Schauspiel, doch damit nicht genug — Julian wollte noch einen anderen Bühneneffekt erproben.
»An die Röhren!«, brüllte er.
Andere Soldaten, die der Wärme wegen am Schornsteinsockel gekauert hatten, sprangen auf, bildeten eine Reihe und nahmen Abstand voneinander. Jeder trug eine elastische Gummiröhre bei sich, ursprünglich vielleicht als Wasserleitungsrohr für die Villa eines deutschen Gouverneurs vorgesehen. Als sie genügend Freiraum hatten — sehr viel zu meiner Verwunderung —, begannen sie die Röhren über ihrem Kopf zu wirbeln, wie ein Rinderhirte ein Seil wirbelt, nur nicht so gekonnt. Mit dem Ergebnis, dass jede Röhre (sie waren verschieden lang) zu singen begann, ziemlich so, wie eine Orgelpfeife klingt, wenn die Luft hindurchgepustet wird. Was hier dargeboten wurde, war aber keine Musik, sondern eine Art unirdisches, misstönendes Johlen — so wie sich vielleicht ein Chor von Eistauchern anhört, die zur Größe von Elefanten aufgepumpt sind.
Ich musste mir die Ohren zuhalten. »Julian, die ganze Stadt wird wach — du weckst noch die deutsche Infanterie!« (Dabei waren die deutschen Schützengräben meilenweit entfernt.)
»Großartig!«, sagte Julian; oder schien er zu sagen, denn das Wehklagen der Gummiröhren übertönte ihn. Er lächelte zufrieden, wartete noch einen Moment und brachte dann das schaurige Konzert mit einem Handzeichen zum Schweigen. Die schwarzen Drachen waren fast wieder eingeholt, und bald darauf fiel der Vorhang.
Die Aufführung hatte eine knappe Stunde gedauert.
Und obwohl ich über die Maßen beeindruckt war, gestand ich Julian, noch immer nicht zu wissen, wozu das alles gut sein solle. Die deutschen Truppen, so ins Bockshorn gejagt, würden ohne Frage perplex — wahrscheinlich sogar in Angst und Schrecken versetzt sein, aber meines Erachtens keinen wirklichen Schaden davontragen.
»Wir werden sehen«, sagte Julian.
Am Tag darauf griffen wir die mitteleuropäischen Truppen nicht an, sondern tauschten mit ihnen Gefangene aus.
Julian ging zu den Schützengräben, um den Austausch zu überwachen, und ich ging mit. Die Deutschen beeilten sich, unter einer flatternden weißen Fahne das Niemandsland zu überqueren, und genauso viele von unseren Männern kamen von drüben an ihnen vorbei. Es gab keine Formalitäten, nur eine kurze Waffenruhe; und als der Tausch vollzogen war, nahmen uns die deutschen Heckenschützen wieder ins Visier, und die deutsche Artillerie nahm ihr zweckloses Feuer wieder auf.
»Die Gefangenen, die wir ausgetauscht haben«, sagte ich zu Julian, als wir frierend in einem rückwärtigen Graben standen, »wissen die von dem Probelauf letzte Nacht?«
»Ihre Quartiere haben jedenfalls in die richtige Richtung geblickt, dafür war gesorgt.«
»Und es kommt dir gelegen, dass sie jetzt den Gerüchten Nahrung geben, die sich drüben ausbreiten. Hinzu kommt noch der Brief an Major Walton, sofern Langers der Versuchung erlegen ist.«
»Du hast es erfasst.«
»Schön und gut, Julian, aber der ganze Zauber …«
»Psychologische Kriegsführung, Adam.«
»Meinetwegen. Aber diese psychologische Kriegsführung muss früher oder später handfeste Resultate haben.«
»Das wird sie. Die Befehle sind erteilt, die Vorbereitungen für die Schlacht angelaufen. Heute Nacht schlafen wir in vorgeschobener Stellung, vor Tagesanbruch greifen wir an. Wir müssen zuschlagen, solange die Angst noch frisch ist, die ihnen im Nacken sitzt.«
Ich packte Julian beim Ärmel seines ramponierten blau-gelben Jacketts, um sicherzugehen, dass er mir zuhörte. Es war kalt in dem Graben, und trotz des schneidenden Windes stank es nach Blut und Fäkalien, und wo ich auch hinblickte, sah ich Elend und Zerstörung. »Sag mir die Wahrheit, Julian — ist das alles nur Theaterdonner, um den Männern Mut zu machen?«
Julian zögerte, bevor er antwortete.
»Die Moral ist auch eine Waffe«, sagte er. »Und ich gehe mal davon aus, unser Arsenal wenigstens ideell erweitert zu haben. Wir haben einen Vorteil, den wir vorher nicht hatten. Wir haben jeden Vorteil bitter nötig. Denkst du an zu Hause, Adam?«
»Ich denke an Calyxa«, gab ich zu. Und an das Kind, das sie unter dem Herzen trug, wovon ich Julian nichts gesagt hatte.
»Ich kann natürlich nichts versprechen.«
»Gibt es denn Hoffnung?«
»Aber sicher gibt es Hoffnung«, sagte Julian. »Es gibt immer Hoffnung — die Hoffnung stirbt zuletzt.«
An diesem Nachmittag schrieb ich noch einen Brief an Calyxa und schob ihn in die Brusttasche meiner Jacke, wo er leicht zu finden war, falls ich getötet wurde. Entweder sie bekam ihn, oder er wurde mit mir begraben oder irgendein mitteleuropäischer Infanterist behielt ihn als Souvenir — es lag nicht in meiner Hand.
Ich überlegte, ob ich für unseren Erfolg beten sollte, doch ich war mir nicht sicher, ob Gott überhaupt daran interessiert war, was in einem derart entlegenen und menschenleeren Land vor sich ging.[84] Ich war mir auch nicht sicher, ob meine Gebete überhaupt gnädig aufgenommen würden in Anbetracht meiner konfessionellen Gemengelage. Ich brauchte noch viel Zeit, um mit mir ins Reine zu kommen, und wünschte, ich müsste dem Tod so bald noch nicht ins Auge blicken.
Weil fast Erntedank war, befahl Julian Sonderrationen für alle, dazu gehörten die letzten Fleischvorräte (Streifen von gepökeltem Rindfleisch und alle Pferde, die wir erübrigen konnten — die Maultiere hatten wir bereits gegessen). Es war kein richtiges Erntedank-Dinner, wie meine Mutter es zubereitet hätte, mit einer gebratenen Gans vielleicht, dazu Preiselbeeren, stibitzt aus der Duncon-und-Crowley-Küche, und danach Rosinenkuchen mit Sahne. Aber es war so viel wie lange nicht mehr. Das Festmahl leerte unsere Speisekammer: Übrig blieb nur der Schiffszwieback, und den würden wir als Marschverpflegung brauchen, sollte es uns gelingen, die Belagerung von Striver zu brechen.
Das Feldlazarett war ein trostloser Ort, als ich es heute Abend besuchte. Ein Gruppe von Krankenpflegern sang etwas halbherzig geistliche Lieder, die dem Fest gerecht werden sollten. Viele Verwundete waren nicht transportfähig, und Dr. Linch meinte, man müsse sie wohl oder übel der Barmherzigkeit der mitteleuropäischen Armee überlassen. Die Entscheidung, wer mitgenommen und wer hiergelassen wurde, lag bei ihm; und er hasste dieses Richteramt und war in entsprechend gedrückter Stimmung.
»Wenigstens«, sagte Dr. Linch, »haben die Männer es diese Nacht etwas wärmer hier — dieser unerträgliche, kalte Wind hat endlich aufgehört.«
Es brauchte einen Augenblick, bis mir die Tragweite seiner Feststellung zu Bewusstsein kam. Dann lief ich ins Freie, um mich selbst zu überzeugen.
Dr. Linch hatte völlig Recht. Der Wind, der seit einem Monat unaufhörlich geklagt hatte, war verstummt, und die Luft war so still wie Eis.
Wir stecken in einer Flaute!, schrieb ich in mein Tagebuch.
Keine Nahrung außer Schiffszwieback, und damit müssen wir noch knausern. Julian kann den Männern nicht erklären, warum der Angriff verschoben wurde, ohne das Geheimnis der schwarzen Drachen preiszugeben (die ohne Wind nicht fliegen können). Die Truppen sind nervös und murren. Erntedankfest 2174 — bitter und enttäuschend.
Wieder ein kalter und windstiller Tag. Julian findet keine Ruhe und sucht dauernd den Horizont nach irgendwelchen meteorologischen Anzeichen ab.
Vergebens — heute Nacht schimmert allerdings ein Polarlicht wie ein goldenes Tuch knapp nördlich des Zenits.
Das deutsche Granatfeuer nimmt zu, und wir hatten im Ostteil der Stadt etliche Brände zu löschen. Zum Glück greifen die Feuer nicht um sich — kein Wind.
Kein Wind.
Wir laufen Gefahr, alles zu verlieren, was Julian sich von seinem Plan erhofft hat. Er befürchtet, dass die Mitteleuropäer schon Verstärkung bekommen haben. Zahlenmäßig sind wir weit unterlegen, und die chinesische Waffe wird allmählich zu einer leeren Drohung, sollte sie jemals mehr gewesen sein.
Trotzdem hat Julian sich etwas Neues ausgedacht: Seine Näher haben in aller Eile nahezu zweihundert »Schutzmasken« für die Männer an der Spitze unseres geplanten Vormarschs genäht. Schwarzseidene Strumpfmasken mit weiß umrandeten Augenlöchern, die sich aus der Entfernung furchterregend und aus der Nähe etwas albern ausnehmen. Doch eine Phalanx bewaffneter Männer in dieser Aufmachung könnte einen argwöhnischen Feind durchaus einschüchtern.
Es weht noch immer kein Wind.
Kein Wind, aber Schnee. Er fällt ruhig und gleichmäßig und deckt einen weißen Teppich über die Lücken und Schrägen dieser heimgesuchten Stadt.
Heute ein paar Böen, zu wenig für unsere Zwecke.
Wind! — aber der Schnee nimmt jede Sicht. Wir können nicht vorrücken.
Klarer Himmel heute früh. Böen launisch, aber auffrischend, während der Nachmittag voranschreitet. Wird der Wind bis zum Abend anhalten?
Julian meint, ja. Bei Morgengrauen marschieren wir los, Wind hin, Wind her.
Endlich, nach Mitternacht und allerlei heimlichen Vorbereitungen befand ich mich mit Julian und dem übrigen Stab in einem leidlich befestigten Schützengraben nahe der Front. Wir saßen an einem primitiven Tisch, auf dem zwei Lampen brannten, während Julian einen Brief des deutschen Oberkommandierenden las, in dem wir — in Anbetracht Ihrer unhaltbaren Besetzung einer Stadt, deren Gerichtsbarkeit früher oder später ohnehin wieder von uns ausgeübt wird — zur bedingungslosen Kapitulation aufgefordert wurden. Der mitteleuropäische General hieß Vierheller[85] und versprach, wir würden gut behandelt und eines Tages nach dem Ende der Feindseligkeiten wieder in amerikanisches Territorium entlassen.[86]
»Sie haben die Nase wieder oben«, bemerkte ein Regimentskommandeur.
Julian war gezwungen gewesen, seinen Stab über die Natur der chinesischen Waffe aufzuklären, obwohl er ein paar Details für sich behielt. Sie begriffen, dass wir den Deutschen einen tüchtigen Schrecken einjagen wollten und dass es galt, jede Schwäche oder Verwirrung, die sich infolgedessen zeigte, rasch und wirksam auszunutzen. Für die meisten Kommandeure würde es sich um einen ganz und gar der militärischen Tradition verhafteten Angriff handeln.
»Ein bisschen Angst werden die noch haben«, meinte Julian. »Vielleicht können wir sie erinnern, warum sie gut daran tun.«
Also gab es eine kleine Ouvertüre zu dem Drama, das er geplant hatte. Eine Stunde nach Mitternacht brachte er seine Röhrenmänner so dicht an die Front, wie sie sich noch in Sicherheit wähnen durften. Das deutsche Heer lagerte auf der Ebene hinter den Hügeln, wo sich unsere Abwehrstellungen befanden. Ihre Feuer hatten ausgesehen wie zahllose Sterne in einem riesigen schwarzen See, und wir hatten den bedrohlichen Geräuschen ihrer Manöver gelauscht. Heute Nacht schliefen sie; doch Julian wollte sie aufwecken. Wie ein Dirigent hob er die Hand und gab den Einsatz. Der schaurige Lärm setzte nicht abrupt ein, nein, er fing an mit einem einzelnen Mann, der einen einzelnen Heulton erzeugte, zu dem sich bald andere und immer noch andere gesellten, bis der ganze gemischte Chor — der an die Schreie ruheloser Seelen erinnerte, die von geschäftstüchtigen Dämonen für solche Zwecke vermietet wurden — an das Bewusstsein der feindlichen Infanteristen appellierte, die zutiefst verstört aus dem Schlaf fuhren. Überall auf der Ebene mussten die deutschen Soldaten aus dem Schlaf gefahren sein und nach ihren Gewehren gegriffen und ängstlich in die frostige Nacht gespäht haben, um nichts als ein paar kalt glitzernde Sterne am mondlosen Himmel zu sehen, während das Geheul wieder verebbte.
»Es wird sie eine Weile beschäftigen«, sagte Julian nicht ohne Genugtuung.
»Was wohl in ihnen vorgeht?«
»Schlimmes. Ihre Fantasie spielt uns in die Hände. Was malt sich wohl ein deutscher Infanterist aus, wenn er über das Gerücht einer chinesischen Geheimwaffe grübelt?«
»Keine Ahnung.«
»Ich auch nicht; aber es könnte sein, dass sich seine Fantasie aus den uralten Geschichten der europäischen Kriege speist, die mit den verrücktesten und schrecklichsten Waffen ausgetragen wurden, einschließlich Flugzeugen und Giftgas. Vielleicht weckt das Heulkonzert diese schlummernden Schreckgespenster, und die schwarzen Drachen tragen das Ihre dazu bei. Wir werden es noch früh genug erfahren.«
Im Schein einer Lampe reinigte und ölte ich mein Pittsburgh-Gewehr, in greifbarer Nähe lag ein üppiger Vorrat an Munition, denn selbst der Stab des Generalmajors war nicht von den bevorstehenden Kampfhandlungen ausgenommen — jeder halbwegs gesunde amerikanische Soldat in Striver und Umgebung musste irgendwann im Laufe des Tages seinen Mann stehen.
Julian konnte seine Befehle nicht aus dem Hintergrund erteilen. Die Drachen sollten hinter einer niedrigen Bodensenke gestartet werden, die mit halbrunden Schanzen gespickt war und gefährlich nahe an den deutschen Linien lag. Die beste Wirkung würden die Drachen nur bei tiefer Dunkelheit erzielen, also mussten wir sie lange genug vor dem Morgengrauen steigen lassen, noch vor dem ersten Schimmer, den die Sonne an den Horizont schickte; und unsere Regimenter standen Gewehr bei Fuß, um bei diesem ersten Schimmer vorzurücken. Julian stand in unserem hartgefrorenen Graben oder ging darin auf und ab und schaute immer wieder auf seine Armeeuhr und in seinen Almanach, um sich der genauen Zeit des Sonnenaufgangs zu vergewissern. Schließlich begann er vor sich hin zu murmeln; mit dem hochgeschlagenen Mantelkragen und dem blonden Bart, in dem lauter Eiskristalle glitzerten, sah er älter aus, als er es an Jahren war.
Seine Adjutanten und Subkommandeure warteten ungeduldig auf das erlösende Wort. Schließlich sah er von seiner Uhr auf und lächelte dünn. »Also dann«, sagte er. »Besser zu früh als zu spät.«
Mit diesen Worten stieg er bis an den äußersten Rand der Brustwehr und befahl die einen an die Leinen und die anderen an die Drachen. »Und — in den Wind damit!«
Es verlief alles ziemlich so wie auf dem Lagerhaus in Striver, allerdings mit gewissen Abweichungen. Auf dem Dach hatten die Drachen Eimer mit Sand getragen. Diese Nacht hingen schwere Fellsäcke an ihrem Zaumzeug. Ich fragte Julian nach dem Inhalt.
»Alles, was schädlich und ungesund ist«, sagte er. »Manche enthalten reines Ätznatron oder Industrie-Lösungsmittel. Manche sind mit Bleichlauge gefüllt, andere mit Abfällen aus der Gerberei oder aus dem Feldlazarett. Manche enthalten Entlausungsmittel oder gemahlenes Glas.«
Die Säcke waren tüchtig mit Leuchtfarbe beschmiert worden. Sonst hätten erstens die Deutschen nichts zu sehen bekommen und zweitens unsere Männer den Aufstieg nicht verfolgen können. Ich hatte mir Sorgen um den Wind gemacht, der ziemlich launisch war; vor kurzem erst hatte er Geschwindigkeit aufgenommen und schwang sich zu stürmischen Böen auf. Die Drachen entfalteten sich mit einem lauten, mürben Knall. Sie stiegen, prüften ihr Gepäck, zögerten. Dann raste die grün leuchtende Ladung gen Himmel.
Sofort ließ Julian wieder die Röhren schwingen, damit die Deutschen auch ja auf der Hut waren.
Ich kann nicht sagen, wie hoch die Drachen stiegen, aber ihre ausgeklügelte Konstruktion hielt sie in etwa auf gleicher Höhe und in stabiler Lage zueinander. Sie sahen aus wie hundert oder mehr unheimliche, hüpfende grüne Lichter, die über dem dichten mitteleuropäischen Heerlager aufgegangen waren wie ein Schwarm aus der Art geschlagener Sterne. Einem feindlichen Infanteristen war es unmöglich, Größe oder Nähe der Erscheinung abzuschätzen — weswegen Julian sich so angestrengt hatte, die deutsche Fantasie mit Andeutungen und Gerüchten zu füttern.
Natürlich wurden die Drachen bemerkt. Beinah augenblicklich begannen drüben die Trompeten zu schmettern, laut genug, um nicht völlig in unserem Heulkonzert zu ertrinken. Ich spähte durch eine Schießscharte in der hartgefrorenen Brustwehr und sah in den Stabszelten des mitteleuropäischen Heerlagers Laternen flackern. Ein paar übereilte Schüsse wurden abgegeben. Die Hände um den Mund gelegt, beugte ich mich zu Julian hinunter: »Wenn sie nun die Drachen abschießen, Julian?«
»Noch nicht — sie sind zu hoch. Und wenn sie doch schießen, Adam, dann zielen sie nicht auf die Drachen, sondern auf die Ladung.«
Der Vormann an den Leinen rief Zahlen, die er von seiner großen Spule ablas — Zahlen, die der abgespulten Länge entsprachen. Die anderen hielten vermutlich Schritt, während Julian auf einem Block Papier mit Zahlen jonglierte, und die Hanfseile an den verankerten Holzspulen ruckten und sangen.[87]
Endlich hatte Julian ein Resultat und gab den Befehl, Leine auszugeben. Die Männer ließen ihre Leine einen Augenblick länger ablaufen, ehe sie die Spule mit einem Holzkeil bremsten.
Die grün leuchtende, toxische Fracht glitt näher an die feindliche Infanterie heran, und wieder waren Gewehrschüsse zu hören.
Das Gewehrfeuer nahm zu. Ich starrte über das flache, weite Dunkel des deutschen Heerlagers, wo sich das Mündungsfeuer der Gewehre wie das Spiel der Blitze innerhalb einer Gewitterwolke ausnahm — ein immer dichteres, sich immer weiter ausdehnendes Knattern von Gewehrfeuer.
Die Röhrenmannschaft ließ ihr zermürbendes Jaulen und Heulen zu einem heillosen Crescendo anschwellen. Ich glaube, das Theater hat die Mitteleuropäer ganz schön eingeschüchtert — um ehrlich zu sein, es fing an, sogar mich einzuschüchtern. Diese deutschen Gewehre zielten zwar auf die Drachen, zeigten aber grob in unsere Richtung, so dass es ringsherum Kugeln zu regnen begann, was nicht ganz ungefährlich war. Bald hagelte es nur so gegen die Schutzwälle aus Steinen und gefrorenem Erdreich.
Am Himmel nördlich von uns zuckten und tanzten die grün leuchtenden Ziele, während sie wieder und wieder getroffen wurden.
Ich malte mir aus, was sich auf dem Schlachtfeld abspielte. Ich rief mir in Erinnerung, dass die Deutschen den Brief abgefangen hatten (den Julian dem Gefreiten Langers anvertraut hatte) und jetzt keinen Theaterdonner erlebten, sondern das, was (nach Julians Worten, die ich in die Maschine getippt hatte) eine TEUFLISCHE ERFINDUNG war, tückisch in ihrer SCHLEICHENDEN WIRKUNG. Die erst durchlöcherten und schließlich von Kugelsalven zerfetzten Fellsäcke entluden ihren höchst unerfreulichen Inhalt in die schwarze Nacht, der die entsetzten Infanteristen wie ein jäher, scheußlicher Niederschlag überkam.
Ein Adjutant trat Julian in den Weg und meldete: »Licht am östlichen Horizont, Sir.«
»Drachen einholen!«, befahl Julian.
Selbst dieses vage Licht einer Sonne, die noch weit unter dem Horizont war, genügte, um das Schlachtfeld sichtbar zu machen. Ein paar schwarze Drachen — das massive Gewehrfeuer hatte sie zerfetzt oder von ihrer Leine gekappt — waren wie riesige, verwundete Fledermäuse zwischen die Deutschen gestürzt. Doch den mitteleuropäischen Truppen schienen sie kaum aufzufallen — viele ihrer Soldaten rannten mehr oder weniger ziellos herum.
Ich versuchte mich in einen solchen Soldaten hineinzuversetzen, das Geschehen mit seinen Augen zu sehen. Von einem unirdischen vielstimmigen Wehklagen aus dem unruhigen Schlaf gerissen und von Trompetenstößen alarmiert, sieht er, wie sich ein Schwarm seltsamer grüner Lichter auf das Feldlager zubewegt. Lauter Ängste und Einbildungen buhlen um seine Aufmerksamkeit. Er ist erleichtert, als das Signal zum Sperrfeuer aufruft, und er hebt das deutsche Gewehr — sagen wir, er ist ein Scharfschütze — und feuert Schuss um Schuss auf das unheimliche Ziel am Himmel ab. Falls er das Ziel verfehlt, ist es nicht weiter schlimm, denn tausend und mehr Männer schießen auf dasselbe Ziel.
Das Schießen macht ihm Mut. Doch bald schon steigt ihm ein übler, undefinierbarer Geruch in die Nase, der (was er nicht weiß) von all den üblen Dingen stammt, die Julians Männer in den nächtlichen Himmel befördert haben: Rattengift in Pulverform, verschiedene Lösungsmittel, Laugen zur Herstellung von Seife, Lazarettabfälle … Ein Tropfen von irgendetwas fällt auf seine Haut und juckt oder brennt. Er blickt noch einmal in den Nachthimmel, und seine Augen werden mit etwas Ätzendem benetzt; er weint unfreiwillig und kann nichts sehen …
Nicht dass in den Fellsäcken genug Reizstoffe und Gifte gewesen wären, um ein deutsches Heer zu vernichten, vielleicht nicht einmal genug, um auch nur einen einzigen Deutschen umzubringen, von seltenen Glücksfällen abgesehen. Aber unser hypothetischer Soldat würgt, er schwitzt, er hält sich für einen Todeskandidaten, zumindest für jemanden, der in Lebensgefahr schwebt. Es handelt sich nicht um eine Gefahr, die er eindämmen oder bekämpfen kann. Aus der Nacht kommt sie, wie eine übernatürliche Heimsuchung. Er kann im Grunde nur eines — davonlaufen.
Er war nicht der Einzige, der sich so verhielt.
Das deutsche Heerlager war ein einziges Chaos. Das Frühlicht konnte die Panik, die Julian so raffiniert heraufbeschworen hatte, nicht zerstreuen. Und Julian hatte noch einen Joker. »Kartätschen, Feuer!«, brüllte er, und der Befehl erreichte im Nu unsere Artilleriestellungen. Julian hatte offenbar angeordnet, bestimmte Kartätschen (wie er mir später erklärte) mit einer Mischung aus Flohpulver und rotem Farbstoff zu füllen. Diese Kartätschen explodierten zu riesigen bernsteinfarbenen Staubwolken, die der Wind in Drehung versetzte und unter die deutsche Infanterie trug — alles harmlos. Doch die Deutschen hielten die Granaten für hochgiftig und flohen auf eine Weise in alle Himmelsrichtungen, wie sie es bei einem konventionellen Artilleriefeuer niemals getan hätten.
Die mitteleuropäischen Kommandeure hatten sich auf ihre Pferde geschwungen und versuchten ihre Truppen zu sammeln; doch es zeigte sich bald, dass die deutsche Mitte zusammengebrochen war und eine Bresche für die Amerikaner bot.
Julian befahl sofort den Angriff. Augenblicke später stürmte ein ganzes amerikanisches Infanterieregiment mit schwarzen Strumpfmasken und wildem Geheul aus den Gräben und Schanzen und eröffnete aus Pittsburgh-Gewehren und ein paar unersetzlichen Grabenfegern das Feuer.
Der deutsche Oberkommandierende geriet in Panik und warf uns alle Truppen entgegen, nur um die Mitte zu halten. Damit hatte Julian gerechnet und schickte die Kavallerie gegen die deutschen Flanken. Unsere Kavallerie bestand aus hungrigen Männern auf hungrigen Gäulen, doch ihr Angriff zeigte Wirkung. Noch mehr Grabenfeger kamen zum Einsatz. Und als die wässrige Sonne über den Horizont stieg, blickte sie auf ein Blutbad hinab.
Unsere gesamte Armee war im Begriff auszubrechen, Infanterie und Kavallerie vorneweg, die Planwagen mit den Versorgungsgütern und den transportfähigen Verwundeten dahinter und zur Rückendeckung wieder Infanterie und Kavallerie. »Komm, reite mit, Adam!«, schrie Julian; und zwei knochige Hengste wurden gebracht, mit Proviant und Munition in den Satteltaschen. Und wir galoppierten gen Osten, vor uns lauter mutig geschwenkte Regimentsfahnen.
Das war nicht die erste verzweifelte Schlacht, die ich erlebte, aber sie war auf ihre Weise besonders grell und schrecklich.
Wir ritten hinter den Regimentern der Vorhut. Das deutsche Heerlager bot ein Bild der Verwüstung, das Gebiet lauerte uns auf, viele Pferde stürzten in Gräben oder rutschten in Granattrichter und verletzten sich derart, dass wir sie erschießen mussten. Unser Sturmangriff und Julians Drachen hatten einen erstarrten Alptraum hinterlassen, in dem sich nichts regte außer uns. Deutsche Truppen, niedergemäht von unseren Grabenfegern. Leiber, verrenkt im Todeskampf. Das Sperrfeuer mit Farbpulverkartätschen hatte den festgetretenen Schnee scharlachrot gefiedert, und die Gerüche der verschiedenen Zutaten von hoch oben hatten sich zusammen mit anderen zu einem allgegenwärtigen beißenden, chemischen Fäkaliengestank vereint, bei dem uns jetzt noch die Augen tränten.
Julian ritt an Kompanien von Fußsoldaten vorbei zur Front und hielt unterwegs an, um die Flagge des Goose-Bay-Feldzugs aufzunehmen. Das war ein erhebender Anblick, obwohl (oder weil) sie Federn gelassen hatte. WE HAVE STEPPED UPON THE MOON, erklärte das Banner, und wenn es nach der Trostlosigkeit unserer Umgebung ging, hätten wir durchaus wieder auf dem Mond sein können; abgesehen von den primitiven Baumverhauen und offenen Latrinen. Jede Infanterieeinheit, an der wir vorbeikamen, hatte ihre helle Freude an dem Banner, und Rufe wie »Julian der Eroberer!« waren keine Seltenheit.
Wir kamen in leicht bewaldetes, unübersichtliches Gelände. Der Wind, den wir herbeigefleht und so freudig begrüßt hatten, wurde allmählich zur Plage. Niedrige Wolken fegten über den Himmel, Sturmböen rissen alten Schnee mit sich fort und jagten neuen vor sich her. Die deutsche Armee war auf der Flucht vor uns, aber wir verfolgten sie nicht; unser Ziel war der Ausbruch, nicht der Kampf, und eine Zeit lang kam es nur selten zu Feindberührungen, dann nämlich, wenn wir auf versprengte mitteleuropäische Infanteristen stießen und sie überwältigten.
Doch der mitteleuropäische Oberkommandierende war kein Dummkopf, und als der Schnee unseren Vormarsch erschwerte, setzte er alles daran, seine Truppen in ihren Rückzugsstellungen zu sammeln. Den ersten Hinweis bekamen wir durch Gewehrfeuer im Schneetreiben östlich von uns — ich hielt es für ein weiteres Geplänkel, doch Julian runzelte die Stirn und trieb sein Pferd zu größerer Eile an.
In unserem Eifer, aus Striver auszubrechen, hatten wir zugesehen, wie sich unsere Verbände etwas aufgelockert hatten, und nun sah es so aus, als sei unsere Vorhut in eine Falle getappt. Das Gewehrfeuer schwoll rasch an, und als wir darauf zu galoppierten, sahen wir die ersten Opfer, die sich zurückschleppten oder geschleppt wurden. Da vorne werde heftig gekämpft, warnte uns ein Soldat — »und die Deutschen laufen nicht mehr fort, Sir … sie weichen keinen Schritt zurück!«
Julian improvisierte in der Nähe des Kampfgebietes sein Hauptquartier und stellte rasch einen Stab zusammen. Späher meldeten, unsere Vorhut sei in eine Senke der Straße hineinmarschiert und aus sicheren Stellungen heraus unter Dauerfeuer genommen worden; ehe die Männer Deckung gefunden oder sich hätten zurückziehen können, seien mitten unter ihnen Granaten explodiert. Man würde zurzeit kompanieweise zurückweichen. Es herrsche heillose Verwirrung.
Julian tat, was er konnte. Er mobilisierte die Artillerie. Er zog seine Karten zurate und versuchte, obwohl das Terrain flach und ungünstig war, seine Linien sicher zu verankern. Nicht lange, und ein Adjutant meldete, unser schwacher rechter Flügel sei völlig zusammengebrochen und werde von den Mitteleuropäern aufgerollt.
Ich hörte die Artillerie und das Gewehrfeuer — beides kam näher. Deutsche Granaten schlugen gefährlich nahe bei uns ein. Wir liefen Gefahr, von unseren eigenen Truppen überrannt zu werden, sollte das Gefecht in einer wilden Flucht enden.
Julian erteilte dem Leutnant eine wütende Abfuhr, der ihm als Erster zum Rückzug riet. Es sei überhaupt nicht gesagt, dass wir sicher nach Striver zurückkehren könnten — und dann wären wir nur wieder im Belagerungszustand, unter großen Verlusten und ohne Proviant. Striver sei ein Gefängnis und wir hätten alles darangesetzt, aus diesem Gefängnis auszubrechen. Doch es kamen mehr Boten, und die Nachrichten wurden immer schlimmer, und als eine Granate unseren primitiven Unterstand zum Einsturz brachte, gab Julian endlich zu, dass es unmöglich war, dem Feind standzuhalten. Die Deutschen hatten wieder Mut gefasst und uns mit aller Deutlichkeit Einhalt geboten, und wir hatten nichts mehr, um sie abzuschrecken.
Als Julian begriff, dass er mit seinem Plan gescheitert war, war er am Ende seiner Kräfte. Er hatte die gleichen Rationen bekommen wie wir alle, und ich hatte ihm mehr als einmal zur Seite gestanden, wenn er sich mit seinen Adjutanten beriet, um ihn zu stützen, wenn er Schwäche zeigte. In Julian loderte eine ungestüme, beinah übernatürliche Kraft; ich hatte erlebt, wie sie ihn fürchterliche Schlachten hatte durchstehen lassen; aber selbst diese Kraft hatte ihre Grenze, die er soeben erreicht zu haben schien. »Mir ist kalt, Adam«, flüsterte er, »und überall ringsum sind Tote — so viele Tote!«
»Wir müssen dafür sorgen, dass möglichst viele überleben«, sagte ich.
»Damit sie das Privileg haben, etwas später zu sterben«, murmelte er; aber die Mahnung half ihm, tief in seinem Innern eine letzte Reserve an Mut aufzutreiben.
»Bringen Sie das Banner«, wandte er sich an den nächstbesten Adjutanten, »und mein Pferd, und lassen Sie zum Rückzug blasen.«
Unser Rückzug nach Striver war ein einziger Alptraum. Ich wünschte, ich wäre fähig, den Leser daran teilnehmen zu lassen, doch ich habe weder die schriftstellerische Begabung noch die Lust dazu. Nicht dass mir die Bilder abhandengekommen wären, denn nachts suchen sie mich immer wieder heim und lassen mich nicht selten in Schweiß gebadet oder schreiend aus dem Schlaf fahren. Aber ich bringe es nicht über mich, sie wahrheitsgetreu zu Papier zu bringen.
Es muss genügen, wenn ich sage, dass wir durch den Tartaros ritten, den Teufel im Nacken und immer nur kämpften, kämpften, kämpften …
In Labrador waren die Tage zu dieser Jahreszeit kurz. Das Licht, das wir heute früh so zuversichtlich begrüßt hatten, wurde dünn und wässrig. Julian, der immer noch von einer tief in seinem Innern verborgenen Kraftreserve zehrte, trug das Banner hoch und kämpfte an der Seite der Nachhut. Ich kämpfte neben ihm, wir er aus dem Sattel heraus, während wir Land aufgaben, das wir vor Stunden erst gewonnen und mit amerikanischem Blut bezahlt hatten. Wie tödliche Insekten flogen uns die deutschen Kugeln um die Ohren, und Julian schien — wie damals in der Schlacht von Mascouche — unverwundbar zu sein.
Aber er konnte nicht ungetroffen bleiben in einem Kugelhagel, der aus seinem Banner einen kümmerlichen Fetzen machte.
Ich war dicht neben ihm, als die Kugel seinen Uniformmantel an der Schulter durchbohrte. Es war keine ernste Wunde, aber sie betäubte seinen Arm, und sein ganzer Stolz, das Banner, rutschte ihm aus der Hand. Und das verblasste Bild des Mondes geriet unter die Hufe seines Pferdes, als er im Sattel zusammensackte.
»Julian!«, schrie ich.
Er blickte in meine Richtung, einen um Verzeihung heischenden Ausdruck im Gesicht. Dann traf ihn eine zweite Kugel, und sein Mund füllte sich mit Blut.
Nach Einbruch der Dunkelheit ließen die Deutschen sich Zeit — sie wussten, wohin wir wollten und würden uns bei passender Gelegenheit erledigen. Also kehrte ein Bruchteil der Armee, die Striver verlassen hatte, im Schein des Mondes nach Striver zurück, abgerissen und hungrig, und bezog Stellung entlang der alten Verteidigungslinien. Und in der Stadt schlug Dr. Linch, der einzige von unseren Ärzten, der den Ausbruchsversuch überlebt hatte, wieder sein Feldlazarett auf, diesmal eine »abgespeckte« Version. Sein Handwerkszeug bestand aus ein paar Messern, Sägen und Flaschen mit medizinischem Branntwein und flüssigem Opium; Nadel und Faden stammten aus den Trümmern einer Schneiderwerkstatt. Über einem Ofen, in dem er Möbelholz verbrannte, brodelte Wasser.
Er sah mich geistesabwesend an, als ich ihm Julian brachte. Die eigene Erschöpfung schien ihn eingeholt zu haben. Ich musste ihm klarmachen, wie dringend dieser Fall war und dass er Julians Leben retten musste …
Er zögerte, dann nickte er. Ich trug Julian in das Geviert des alten Lazaretts, vorbei an Leichen, die aufgeschichtet waren wie Klafterholz für ein Freudenfeuer. Im Licht einer Laterne untersuchte er Julians Wunden.
»Die Schulter ist nur eine Fleischwunde«, sagte er. »Die Wunde im Gesicht ist ernster. Die Kugel hat einen Teil der Wange weggerissen und zwei Backenzähne zerschmettert. Er hat noch Glück gehabt.« Er hielt inne und lächelte — es war ein freudloses, bitteres Lächeln, nie mehr wollte ich so ein Lächeln sehen. »Ich würde sagen, wenn wir Nahrung für ihn hätten und noch einen Ofen mit Brennholz und es hier nicht so ziehen würde, müsste er bald wieder auf den Beinen sein.«
»Werden Sie wenigstens seine Wange nähen?«
»Nein«, sagte Dr. Linch. »Hier sind Männer, die Schlimmeres durchmachen, und sie verdienen meine Aufmerksamkeit — und erwähnen Sie jetzt nicht den Namen Comstock, als habe der Mann irgendeinen Anspruch auf mein Mitgefühl. Wenn Sie ihn genäht haben wollen, Adam Hazzard, dann tun Sie es selbst. Sie haben mir oft genug assistiert. Sie wissen, wie man das macht.«
Er gab mir Nadel und Faden und ließ mir die Laterne.
Julian war bewusstlos, während ich ihn verarztete, obwohl er ein- oder zweimal stöhnte. Es war nicht angenehm, mit einer eingefädelten Nadel durch ausgefranste Haut zu stechen — das Blut wegzutupfen, um das Ergebnis zu prüfen — und das wieder zu tun und wieder und wieder —, bis eine grobe Naht das Gewebe zusammenzog, wenn nicht sauber und akkurat, dann wenigstens zweckdienlich. An den zersplitterten Zähnen konnte ich nichts machen, außer dass ich auf Anraten von Dr. Linch eine dicke Lage Mull auf den betroffenen Bereich packte. Während der Prozedur hatte meine Kleidung viel Blut abbekommen, und der Verlust ließ Julian wie leblos daliegen.
Dr. Linch kam zurück und verabreichte ihm ein leichtes Opiumpräparat. Ich blieb die Nacht über bei Julian und schürte den Ofen, wenn es allzu zugig wurde.
Am Morgen deckte uns die Artillerie mit Granaten zu, als wollten uns die Deutschen für die Unverschämtheit bestrafen, den Ausbruch versucht zu haben. Oder als wollten sie mit uns aufräumen, damit endlich wieder Normalität einkehrte.
Bis Mittag spuckte Julian Blutklumpen. Seine Schmerzen waren augenfällig, sagen konnte er nichts. Schließlich machte er Handbewegungen, die nach Papier und Bleistift verlangten.
Beides hatte ich immer dabei, wie es sich für einen Schriftsteller gehört[88], und gab es Julian.
Er verlangte in zittrigen Großbuchstaben nach MEHR MORPHIUM.
Ich ging und bedrängte Dr. Linch, doch die Nachricht, die ich meinem Freund ans Bett brachte, war nicht gut. »Es ist nur noch ganz wenig Opium übrig, Julian. Der Doktor muss es für ganz schwere Fälle aufheben.«
MEHR, schrieb Julian.
»Es gibt keins mehr — hast du nicht gehört?«
Er bot einen furchtbaren Anblick: spindeldürr, schneeweiß, die Wunden braun von altem Blut, der blonde Bart voller Dreck und geronnenem Blut. Er verdrehte die Augen.
ICH WÄRE BESSER GESTORBEN, schrieb er.
Kurz darauf schlief er.
Am nächsten Tag zogen sich unsere stark dezimierten Truppen an ihren unwiderruflich letzten Verteidigungsgürtel dicht um die Stadt zurück. Mit anderen Worten, die Schlinge hatte sich zugezogen. Das Wort »Kapitulation« machte die Runde; doch dazu war es noch nicht gekommen … nicht, solange es noch Schiffszwieback gab … aber der ging rapide zur Neige.
Ich tunkte Schiffszwieback in Wasser, bis er matschig wurde, und ließ kleine Happen davon in Julians Mund fallen — für ihn zurzeit die einzige Möglichkeit, Nahrung zu sich zu nehmen. Nur wenn die Schmerzen unerträglich wurden, wollte er den Mund nicht mehr öffnen.
Ich fragte ihn, ob er Befehle für die Männer habe.
KEINE BEFEHLE NICHTS MEHR ÜBRIG WARUM SOLLTEN SIE AUF MEINE BEFEHLE WARTEN?
»Weil du der Oberkommandierende bist, Julian. Auch wenn dein Angriff nicht zum Ziel geführt hat, die Männer sehen darin einen achtbaren Versuch — ohne dich wären sie nicht so weit gekommen.«
FEHLSCHLAG
»Die Deutschen haben Verstärkung bekommen. Keiner kann etwas dafür, dass wir sie nicht überwältigen konnten. Es war eine fantastische Anstrengung — sie wird in die Geschichte eingehen.«
QUATSCH KEINER WIRD DAVON ERZÄHLEN WEIL WIR ALLE HIER KREPIEREN WERDEN
»Sag so was nicht!«, flehte ich ihn an. »Wir werden heimkehren — wir müssen! Calyxa braucht mich — sie hat Probleme mit dem Dominion. Vielleicht lässt dieser Diakon aus Colorado sie noch foltern. Außerdem ist sie — ich habe noch niemandem davon erzählt, Julian —, sie bekommt ein Kind!«
Er starrte mich an. Dann nahm er wieder Bleistift und Papier auf.
DEIN KIND?
»Natürlich mein Kind! — Was sonst?«
Nach einer Pause schrieb er:
GUTE NACHRICHT HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH WÜRDE LÄCHELN, WENN ICH KÖNNTE NATÜRLICH WIRST DU HEIMKEHREN
»Danke, Julian. Du wirst mitkommen, und wir werden das Baby sehen. Du bist praktisch sein Onkel; und du darfst es auf dem Knie halten und meinetwegen mit Apfelbrei füttern.«
PATENONKEL?
»Ja, wenn du einverstanden bist!«
FALLS GOTT MICH SO NAH AN SICH HERANLÄSST, schrieb er, und dann legte er sich zurück auf den Lattenrost, der ihm als Bett diente. Die Augen fielen ihm zu, und aus den Wunden sickerten blassrosa Flüssigkeiten.
Trotz der Zuversicht, die ich Julian hatte vermitteln wollen, nahm sich der folgende Tag wie unser letzter aus. Das Granatfeuer erreichte einen neuen Höhepunkt. Die deutschen Sperrfeuer erreichten jeden Teil der Stadt, und ich war oft weiß vom Putz, der von der Decke rieselte, während ich mich um Julian kümmerte.
Seine Adjutanten und Junior-Colonels hatten aufgehört, ihn um Befehle zu bitten — er war zu schwer verletzt, um noch führen zu können, und was für Befehle hätte er auch geben sollen? Die Laurentische Armee, Nördliche Division, reagierte automatisch und feuerte auf jedes Ziel, das sich ihr bot. Das Ende rückte unaufhaltsam näher — allmählich ging uns die Munition aus.
Es war ein kalter Tag, klar und windstill. Julian fiel in Schlaf, wann immer die Artillerie es zuließ; und ich schlief nicht selten auf dem Stuhl an seinem Bett.
Ich war gerade wach, und Julian schlief, als ein frischgebackener Leutnant ins Zimmer stürzte. »General Comstock!«, rief der Mann aufgeregt.
»Leise, Leutnant — der General ist eingenickt, er braucht seinen Schlaf — was ist denn?«
»Tut mir leid, Colonel Hazzard, aber ich soll Meldung erstatten — das heißt, wir …«
»Was? Schon wieder ein gemeiner Anschlag der Deutschen? Wenn unsere Abwehr versagt, ist das kein Grund, Julian Comstock damit zu behelligen. Er ist nicht in der Lage zu helfen, er kann nicht helfen, selbst wenn er wollte.«
»Das ist es nicht, Sir. Wir haben Segel gesehen!«
»Wie bitte?«
»Segel, Sir! Wir haben Schiffe gesichtet, sie kommen den Lake Melville herunter, von Osten!«
»Deutsche Schiffe?«
»Sir, sie sind noch weit entfernt, aber die Wachen meinen, es könnte die Flotte von Admiral Fairfield sein! Die Marine kommt uns doch noch zu Hilfe, Sir!«
Es verschlug mir regelrecht die Sprache. Es gibt eine Form der Erlösung, die einen genauso mitnimmt wie das, wovon sie einen erlöst. Ich schlug die Hände vors Gesicht, um meine Gefühle zu verbergen.
»Sir?«, sagte der Leutnant. »Wollen Sie ihm das nicht sagen?«
»Sobald wir Gewissheit haben«, brachte ich heraus. »Ich möchte ihm die Enttäuschung ersparen.«
Aber ich hielt es nicht aus, auf die Meldung eines Adjutanten zu warten. Ich ließ Julian schlafen und stieg ins Obergeschoss.
Das Lazarett befand sich am ufernahen Ende der Portage Street, im Parterre eines Hauses, das oben ausgebrannt war. Das Obergeschoss war praktisch offen und den Elementen ausgesetzt. (In besseren Tagen war unten ein deutsches Geschäft gewesen und darüber Wohnraum.) Von hier oben war der Hafen gut einzusehen. Ich stand in der leeren Öffnung eines großen Fensters und starrte auf den See hinaus.
Nicht lange, und die Segel wuchsen über den Horizont. Ohne Fernglas konnte ich die Flaggen nicht erkennen, und trotz der ermutigenden Worte des Leutnants argwöhnte ich einen neuen mitteleuropäischen Angriff. Dann hatte ich plötzlich das Gefühl, die Umrisse des vordersten Schiffes zu kennen, und mein Herz tat einen Sprung.
Es war die Basilisk — die heiß ersehnte Basilisk — Admiral Fairfields Flaggschiff.
Ich schickte ein glühendes Dankgebet in das schiefergraue Wolkenmeer.
Der Lake Melville war zu salzig, um ganz zuzufrieren, aber am Rand hatte er Eis angesetzt, und die Marine konnte nicht so nahe am Ufer vor Anker gehen, wie sie es vorgehabt hatte. Doch es gab genug offene Rinnen für die Landungsboote. Ein Spähtrupp erkundete rasch die Aussichtslosigkeit unserer Lage und teilte der Basilisk die Einzelheiten per Signalflaggen mit; und bald schon begann die Flotte aus allen Rohren zu feuern, und die Granaten flogen über Striver hinweg und fielen mit bemerkenswerter Genauigkeit in die deutschen Linien. Der Beschuss steigerte sich zu einem Sperrfeuer, das die Mitteleuropäer eine Meile oder mehr von ihren vordersten Schützengräben zurücktrieb; und dieser Lärm war es, der Julian schließlich aus dem Tiefschlaf riss.
Er dachte sofort an einen feindlichen Sturmangriff; und als ich ihn aufklärte, war er zwar beruhigt, aber nicht glücklich. Er nahm Papier und Bleistift und schrieb:
SIND WIR GERETTET?
»Ja, Julian, das versuche ich dir doch die ganze Zeit klarzumachen! Die Männer sind in den Straßen und jubeln!«
ÜBERFLÜSSIG ALSO — UNSER VERSUCH DURCHZUBRECHEN
»Aber wir konnten doch nicht wissen …«
WIE VIELE TOTE FÜR NICHTS HUNDERTE TAUSENDE KÖNNTEN NOCH LEBEN, WENN ICH NUR GEWARTET HÄTTE
»So darfst du nicht denken, Julian!«
BLUT AN MEINEN HÄNDEN
»Nein, du warst großartig!«
Er wollte es partout nicht wahrhaben.
Ein Adjutant traf ein und meldete, der Admiral wünsche Julian zu sehen, um die Evakuierung unserer Truppen aus Striver zu besprechen.
RICHTEN SIE IHM AUS, ICH SEI NICHT DA, schrieb Julian; es waren nicht seine Worte — nur die seiner Verletzungen.
Der Admiral wurde sofort vorgelassen.
Es tat so gut, den alten Marineoffizier wiederzusehen, dass ich den Tränen nahe war. Seine Uniform war so strahlend hell und verwegen, als sei er — wohlversorgt mit patriotischen Schneidern — aus einem fernen Walhall zu uns herabgestiegen. Er nahm Julian mit der wissenden Anteilnahme eines Mannes in Augenschein, der schon oft verwundete Männer und Schlimmeres gesehen hatte. »Bleiben Sie liegen«, sagte er, als Julian Anstalten machte, sich aufzusetzen und militärisch zu grüßen. »Und versuchen Sie nicht zu sprechen, wenn Ihre Wunden es nicht erlauben.«
ICH KANN SCHREIBEN, schrieb Julian hastig, und ich las vor.
»Nun«, meinte Fairfield, »was noch zu sagen wäre, kann noch ein Weilchen warten. Das Wichtigste ist, dass Ihre Männer gerettet sind — die Belagerung ist aufgehoben.«
ZU SPÄT, schrieb Julian, aber ich konnte doch nicht so etwas Pessimistisches an den Admiral weitergeben. »Julian spricht Ihnen seinen Dank aus«, sagte ich und überging die Blicke, mit denen Julian mich durchbohrte. Seine Augen übernahmen das gesamte Mienenspiel, denn die Wunden waren so empfindlich, dass selbst ein Stirnrunzeln Schaden angerichtet hätte.
»Keine Ursache. Im Gegenteil, ich muss mich entschuldigen, dass wir so lange gebraucht haben.«
DEKLAN WOLLTE, DASS ICH HIER STERBE EIN WOHLDURCHDACHTER PLAN WAS HAT SICH GEÄNDERT?
»Julian meint, die Verzögerung sei schließlich nicht Ihre Schuld. Er möchte aber zu gerne wissen, welche Umstände diesen Befreiungsschlag ermöglicht haben.«
»Aber ja — wie konnte ich vergessen, dass Sie von allen Nachrichten abgeschnitten waren«, sagte der Admiral. »Der Befehl, der uns vom Lake Melville fernhielt, wurde annulliert.«
DEKLAN MUSS TOT SEIN
»Julian will wissen, wie es seinem Onkel geht.«
»Das ist der springende Punkt«, sagte Admiral Fairfield nickend. »Es ist schlicht so, dass Deklan der Eroberer abgesetzt wurde. Nicht zuletzt wegen des Berichts über den Goose-Bay-Feldzug, den Sie, Colonel Hazzard, auf den Weg gebracht haben, als ich diesem Ufer den Rücken kehren musste. Der Spark hat den Bericht in der irrigen Annahme gedruckt, es sei ganz im Sinne von Deklan dem Eroberer, Julians Heldentaten unters Volk zu bringen. Aber zwischen den Zeilen war deutlich zu lesen, dass die Exekutive Julian im Stich gelassen hatte. Die Laurentische Armee war sowieso schon höchst unzufrieden mit Deklans Missregierung und seiner Arroganz — das Maß war voll.«
HAT MAN IHN UMGEBRACHT?
»Hat Deklan der Eroberer aus freien Stücken abgedankt?«, fragte ich stattdessen.
»Überhaupt nicht. Eine Brigade kam von den Laurentischen Bergen nach New York City marschiert und hat den Präsidentenpalast besetzt. Die Republikanische Garde hat offenbar keinen Widerstand geleistet — die Männer hatten keine höhere Meinung von Deklan Comstock als jeder andere.«
LEBT DER MÖRDER NOCH?
»Wurde Julians Onkel bei dem Putsch verletzt?«
»Man hält ihn im Palast gefangen.«
WER ERHEBT ANSPRUCH AUF DIE PRÄSIDENTSCHAFT?
»Hat man schon einen Nachfolger nominiert?«
Admiral Fairfield wirkte ein wenig verlegen. »Ich wünschte, ich könnte diese Nachricht feierlicher überbringen«, sagte er, »und an einem angemesseneren Ort, aber — ja«, sagte er und sah Julian fest in die Augen, »ein Nachfolger ist nominiert, sobald ich bestätige, dass er überlebt hat. Der Nachfolger sind Sie, General Comstock. Ich sollte wohl besser ›Präsident Comstock‹ sagen. Oder ›Julian der Eroberer‹, wie die Infanterie Sie gerne nennt.«
Julian sank auf das primitive Bett zurück, die Augen zugepresst. Die Farbe wich aus seinem Gesicht. Ich glaube, Admiral Fairfield sah darin eine körperliche Reaktion auf den Wundschmerz oder einen Schwächeanfall. Es folgte ein betretenes Schweigen. Dann verlangte Julians Hand unmissverständlich nach Papier und Bleistift.
DAS IST SCHLIMMER ALS DER TOD (schrieb er) ICH WÜNSCHTE, DIE DEUTSCHEN HÄTTEN MICH GETÖTET O GOTT, NEIN SAG IHM, ER SOLL SICH ZUM TEUFEL SCHEREN ZUM TEUFEL MIT ALLEN ICH STEHE NICHT ZUR VERFÜGUNG
»Julian ist zu erregt, um seinem Erstaunen Ausdruck zu verleihen«, sagte ich. »Er fühlt sich durch die Ehre gedemütigt, die ihm so unverhofft zuteilwird, und hofft, die in ihn gesetzten Hoffnungen nicht zu enttäuschen. Aber er ist jetzt erschöpft und braucht dringend Ruhe.«
»Danke, Colonel«, sagte der Admiral, »und gute Besserung, Mr. President.«