»Glücklich die Braut, der die Sonne scheint, selig der Leichnam, auf den es regnet.«
Hier beginnt nun der Teil der Geschichte, mit dem meine Leser sich vielleicht schon ein bisschen auskennen, nämlich die Entwicklung von Julian Comstock zu »Julian dem Eroberer«; doch diese Verwandlung und ihre Folgen sind schon so oft falsch dargestellt worden, dass selbst ein Historiker, der sich auf die jüngste Vergangenheit spezialisiert hat, von meiner Version der Geschichte überrascht sein könnte — und von der Rolle, die ich darin spiele, soweit es um Julian geht.
Julian war selbstverständlich kein »Eroberer«, als wir in das Ausbildungslager kamen, obgleich er ziemlich schnell aufhörte, ein Comstock zu sein.
Wir gehörten zu einer Schlange aus mürrischen Männern aus dem Phantomwagen und näherten uns langsam einem Zelt, in dem Armeeärzte darauf warteten, uns zu untersuchen, und Kompanieschreiber bereitstanden, uns in die entsprechenden Listen einzutragen. »Gib einen anderen Namen an«, sagte Sam zu Julian, »dann sind wir wenigstens vor den Nachforschungen deines Onkels gefeit.«
»Welchen Namen soll ich denn angeben?«
Sam zuckte mit den Schultern. »Irgendwas, was dir zusagt. ›Smith‹ ist ein verbreiteter Name.« (Obgleich ich mir Julian nicht als einen »Smith«, »Jones« oder »Wilson« vorstellen konnte: Diese Allerweltsnamen passten einfach nicht zu ihm.) Ich fragte Sam, ob es richtig sei, wenn ich Adam Hazzard blieb, und Sam wiegte den Kopf und nickte zu meiner größten Erleichterung. Mein Familienname war vielleicht nicht aristokratisch, aber mein Vater hätte sich geschämt, wenn ich ihn verleugnet hätte.
Doch ehe man uns zu Papier bringen konnte, musste uns die medizinische Fakultät begutachten: Zwei glatzköpfige Männer in ehemals weißen Baumwollkitteln hörten uns ab, bepochten unseren Rücken und waren mit ihrer Diagnose schnell bei der Hand — obwohl sie immerhin sieben Mann zurückwiesen.[20]
Ich weiß nicht, was aus den sieben Männern wurde. Ich glaube, man hat sie wieder in den Phantomwagen geschickt, vielleicht, um sie an irgendeinem Rangiergleis abzusetzen — ausgeraubt wahrscheinlich.
Sam wurde wegen seines Alters besonders gründlich untersucht. Er erzählte dem Arzt, er sei zweiunddreißig; aber wir mussten uns ja ausziehen, und seine runzlige und ledrige Haut strafte ihn Lügen. Aber Sam war auch kräftig und hatte kein Gramm zu viel und war gesund auf der Lunge; und nach einer eher kurzen Absprache ließen ihn die Ärzte zu. Bei Julian und mir ging es schneller.
Dann mussten wir uns neben einem Graben aufstellen und alle unsere Kleidungsstücke hineinwerfen; wir durften ein paar Kleinigkeiten zurückbehalten, in Ranzen oder Tornistern, die der Quartiermeister zur Verfügung stellte; und währenddessen kippte ein dürrer, mit einem Eimer bewaffneter Rekrut gelbes Pulver über unsere nackten Leiber — ein Insektizid gegen Läuse, Flöhe und anderes Ungeziefer.
Das Pulver war gesundheitsschädlich und legte sich auf Haar und Haut, drang in Hals und Lungen. Unsere Augen brannten derart, dass wir bald so hilflos weinten wie kleine Kinder und husteten und würgten wie Schwindsüchtige im letzten Stadium. Kurz gesagt, das Zeug brachte uns fast um, und vermutlich fanden sich selbst unsere Läuse auf das Unangenehmste gestört, obwohl sie sich Ende der Woche wieder aufrafften, um ein Comeback zu inszenieren.
Sobald wir wieder Luft bekamen, stellte man uns vor einem Kompanieschreiber auf, der unsere Namen in eine Rekrutenliste eintrug. Sam nannte sich Sam Samson, was ihm einen skeptischen Blick einbrachte. Ich sagte wahrheitsgemäß »Adam Hazzard« und das nicht ohne Stolz, ungeachtet der Tatsache, dass ich zitterte wie Espenlaub, weil ich kaum mehr als ein Insektenvernichtungsmittel auf der Haut trug. Dann trat Julian vor. Ihm war noch schwindlig unter dem Einfluss des gelben Pulvers, und nach seinem Namen befragt, begann er: »Julian, Julian Com…« Sam rempelte ihn an. »Commongold«, sagte Julian und hüstelte.
Ein beeindruckendes Pseudonym, dachte ich. Und ganz und gar angemessen: Julian Commongold, vergoldet mit Anti-Läuse-Pulver und verloren im gemeinen Volk; trotz allem ein nobler Name, voller Würde. »Er passt zu dir«, wisperte ich.
»Das Einzige heute«, hauchte er zurück.
Dann wurden wir vereidigt — gelobten Treue zu Flagge und Erlöser, zur weltlichen Macht der Exekutive, zur Weisheit des Senats und der spirituellen Hoheit des Dominions. Das war, trotz unserer Nacktheit und unseres unbeherrschbaren Zitterns, ein erhabener Moment.[21] Dann stellten wir uns auf, um Uniformen entgegenzunehmen; auf Größe und Sitz wurde nur oberflächlich geachtet, so dass wir eine weitere halbe Stunde damit zubrachten, untereinander Mäntel und Hosen zu tauschen und uns am Graben zu wärmen, denn unsere zivilen Sachen waren inzwischen mit Spiritus übergossen und in Brand gesteckt worden … Schließlich dirigierte uns ein Unteroffizier zum Messezelt, in dem wir eine Portion warmen Rindereintopf bekamen, sehr zur Freude der Landstreicher unter uns, für die diese einfache, aber verlässliche Speisekarte »die« versöhnende Tugend der Infanterie war und blieb.
Schließlich und endlich wurden uns Feldbetten zugewiesen, die aufgereiht in einem Zelt standen, das groß genug war, um (wie ich mir vorstellte) einen Zirkus zu beherbergen, und wir hatten ein paar Augenblicke für uns, um im Licht vereinzelter Lampen nach Belieben zu rauchen und zu reden, bis das Horn »Licht aus« verkünden würde. In dieser kurzen Zeitspanne erinnerte Julian mich, dass wir im Zug mit dem Karibugeweih den Neujahrstag verpasst hatten. Das Jahr 2172 war zu Ende und in die unheimliche Gruft gestiegen, die wir »Vergangenheit« nennen; und jetzt schrieben wir das Jahr 2173, in dem Julians Onkel Deklan feierlich in eine weitere Amtsperiode als unangefochtener Präsident der Vereinigten Staaten eingeführt wurde, von Meer zu Meer und von Äquator zu Pol; und ich rief mir selbst in Erinnerung, dass ich jetzt ein Krieger in dieser Angelegenheit war und es erst einmal bleiben würde. Bis zum Frühling würde ich vielleicht schon kämpfen, um die Deutschen aus den heiligen Grenzen von Labrador zu vertreiben, um unser Recht auf Holz, Wasser und Mineralien dieses umkämpften Staates zu reklamieren und unseren gottgewollten Herrscher über die Nordwestpassage zu verteidigen. Ich war, kurz gesagt und unwiderruflich — Amerikanischer Soldat!
»Adam, du bist aus der Finsternis mitten in die Geschichte unseres Landes gestürzt«, sagte Julian mit überraschend wenig Zynismus.
Der Gedanke war beängstigend, aber auch aufregend, und ich hing ihm nach, bis mich die Müdigkeit übermannte.
Ich will nicht jede triviale Einzelheit des Lagerlebens beschreiben und die Schilderung der Kämpfe und Konflikte, an denen Julian und ich beteiligt waren, auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben. Jedenfalls blieben wir nicht lange in diesem barbarischen Lager mitten in der winterlichen Prärie. Praktisch nur, bis wir die Grundausbildung intus hatten und Männer mit verstecktem Risiko aufgefallen waren: Epileptiker, Pocken-Asthmatiker, Tobsüchtige und Depressive. Bis Ostern sollten sie ausgemustert sein oder harmlosen Verrichtungen zugeführt werden.
Alle Übrigen waren natürlich neugierig auf das, was sie erwartete. Manche von den ehemals Abhängigen verschwendeten keinen Gedanken an Sinn und Zweck dieses Krieges, und diese Unkenntnis machte sie furchtsamer als die besser Informierten. In den großen Städten gab es Zeitungen, die über Verlauf und Ausgang der einen oder anderen Schlacht berichteten und den gesamten Kriegsverlauf skizzierten, so dass selbst die kaufmännischen Angestellten und Lohnarbeiter leidlich Bescheid wussten; doch die allermeisten Rekruten waren landlos und konnten weder lesen noch schreiben. Sie bezogen ihre Informationen aus dem sonntäglichen Lager-Gottesdienst, aus Gerüchten und vom Hörensagen. Und einige fragten Julian, wenn sie etwas wissen wollten.
Dass nun keiner denkt, unsere Zeit im Ausbildungslager sei eine einzige Kette aus historischen und philosophischen Debatten gewesen — weit gefehlt. Der Tag begann in aller Herrgottsfrühe: Wecksignal, Anwesenheitsappell, Krankmeldungen, Kantinensignal gefolgt von Korporalschaftsdrill und Kompaniedrill (nachdem wir Korporalschaften und Kompanien zugewiesen waren), Wachdienst, Polizeiarbeit (das hieß Abfälle aufpicken), Bataillonsdrill bis Mittag, wieder Kantinensignal, Regimentsdrill bis zur Fünf-Uhr-Mahlzeit, Generalparade, Zapfenstreich und Lichtaussignal — an sechs von sieben Tagen. Sonntags gab es keinen Drill und nichts Formelleres als einen morgendlichen Lager-Gottesdienst, der zu erbaulicher Ruhe und Gesprächen einlud.
Wir lernten das Präsentieren von Waffen und die Kompliziertheiten einer Parade, und wir wurden mit den Pittsburgh-Gewehren bekanntgemacht, die uns in die Schlacht begleiten sollten. Wir lernten unsere Waffen zu zerlegen und wieder zusammenzusetzen, sie sauber, trocken und geölt zu halten und sie in der Regel mit derselben Sorgfalt und Liebe zu behandeln, die eine Mutter auf ihren erstgeborenen Säugling verwendet. Als der Winter an Schärfe verlor und der Februar zur Neige ging, bekamen wir Märsche über die feuchte Prärie verordnet, auf denen uns die Stiefel zu eng wurden, weil die Füße Blasen warfen; und wir durften Krieg spielen und bekamen gezeigt, wie man Schützengräben aushebt, einen Stacheldrahtverhau überwindet, eine feindliche Schanze angreift und wie man einer Regimentsflagge folgt. Auf dem Schießplatz verbesserten wir unsere Treffsicherheit. Wir lernten Marschkadenzen zu brüllen, ohne rot zu werden bei den obszönen Gesängen — härteten uns ab gegen Moral und körperliche Entbehrung. Kurz, man hat uns hart rangenommen und gut gefüttert, bis wir stolz waren, die ganze Tortur überstanden zu haben, und uns dem durchschnittlichen zivilen Angestellten und Arbeiter haushoch überlegen fühlten. Konnte es sein, dass wir im richtigen Krieg unschlagbar waren, dass uns niemand besiegen konnte und schon gar nicht die Deutschen (wie wir die mitteleuropäischen Streitkräfte nannten)?
Julian und ich hatten es dank Sams Vorarbeit etwas leichter und gehörten zu den geschickteren Rekruten — wiewohl Sam uns zur Vorsicht mahnte. Beim Exerzieren mit Pferden musste besonders Julian eine gewisse Unbeholfenheit vortäuschen, weil man ihn sonst in die Kavallerie gesteckt hätte, wo Sam ihn nicht mehr hätte schützen können. Sam selbst erzielte (absichtlich oder altersbedingt) bei den Übungen, die Ausdauer verlangten, nur mittlere Leistungen, umso unermüdlicher arbeitete er an einer anderen, neuen Möglichkeit, Einfluss zu nehmen. Er machte sich den Quartiermeister zum Freund, der auch ein Veteran des Isthmischen Krieges war. Die Rivalität zwischen Kalifornischer und Laurentischer Armee bedeutete, dass weder Sam noch der Quartiermeister auf irgendeinen Bonus spekulieren durften; und aus Gründen der Anonymität konnte Sam sich lediglich zu einem kurzen »Gastspiel« als Fußsoldat bekennen. Doch die beiden Männer unterstützten sich quasi außerdienstlich und taten einander kollegiale Gefallen; und Sam war bald schon aufgenommen in den kleinen Kreis isthmischer Veteranen, die ihren Weg in die östlichen Streitkräfte gefunden hatten, darunter sogar Offiziere. Sam nutzte seine Beziehungen, um Julian und mich in Reichweite zu behalten und um sicherzustellen, dass wir drei auch dann zusammenblieben, wenn es nach Labrador ging.
Labrador war Gegenstand vieler Sonntagspredigten. Und da der Gottesdienst von Würdenträgern des Dominions abgehalten wurde, war der Konflikt meist in spirituelle Begriffe gekleidet. Das heißt, der Krieg wurde als Schlacht zwischen Gut und Böse dargestellt. Gut war, wenn Nordamerika voll und ganz im Besitz seiner natürlichen Eigner war; und böse waren die »territorialen Ansprüche«, die von diesem gottlosen Commonwealth geltend gemacht wurden, das gemeinhin als Mitteleuropa bezeichnet wird.
Diese Predigten wurden oft mit wahrem Feuereifer vorgetragen, und wir lauschten ihnen mit gebührender Aufmerksamkeit und nahmen sie uns zu Herzen. Doch in den freien Stunden nach dieser religiösen Lagerversammlung scharten sich viele Rekruten (darunter Lymon Pugh und ich) um Julian »Commongold«, der eine eher pragmatische Version der Hintergründe zum Besten gab.
Diese »Vorträge« fanden an mehreren Sonntagen hintereinander statt. Julian ließ uns in Kurzform wissen, dass die politische Zugehörigkeit von Labrador prinzipiell oder aus anderen Gründen schon seit der Falschen Drangsal des vorigen Jahrhunderts umstritten war. Die verbündeten Staaten von Mitteleuropa hatten, während Amerika noch von zivilen Unruhen gebeutelt wurde, die Bedeutung der Nordwestpassage erkannt (die durch die Klimaerwärmung für den Schiffsverkehr passierbar geworden war) und begehrten ihren Reichtum an natürlichen Ressourcen. Sie beriefen sich auf das, was manche die »Trittstein-Theorie internationaler Ansprüche« nannten: Weil nämlich Europa die Kontrolle über Island und Grönland hatte — und weil Grönland so dicht an Baffinland lag — und Baffinland an der Hudsonstraße — und die an der Hudsonbai — und die an Labrador und Neufundland —, deshalb also sollte das ganze Territorium von München aus verwaltet werden, wo die bürokratischen Paläste Mitteleuropas standen.[22]
Noch ehe die Vereinigten Staaten wieder Tritt gefasst hatten und in der Lage waren, diesem Anspruch die Stirn zu bieten, da gab es bereits von Devonland bis Kangiqsujuaq mitteleuropäische Bekohlungsstationen und mitteleuropäische Trawler in den reichen Gewässern des Foxebeckens und mitteleuropäische Kriegsschiffe vor den Belcherinseln und mitteleuropäische Truppen und Kolonisten, die in Battle Harbour und Goose Bay gelandet waren.
Amerika setzte sich zur Wehr, wie man sich denken kann. Das alles trug sich in der Amtszeit von Präsident Otis zu, der ein neues Nordamerika unter die Fittiche seiner zentralen Regierung nahm. Es war Otis, der uns nördliche Staaten wie Athabaska und Nunavut bescherte und der Nation ungeheure Territorien hinzufügte. Doch sein Feldzug gegen die Streitkräfte Mitteleuropas war weniger erfolgreich, und das wird in den offiziellen Lehrbüchern unter den Tisch gekehrt. Es spricht für sich, dass am Ende der dreißigjährigen Amtszeit von Präsident Otis die Deutschen dauerhaft Fuß gefasst hatten in Labrador, ein rebellisches Neufundland besetzt hielten und das Nordufer des Sankt Lorenz vom Meer bis Baie Comeau kontrollierten.[23]
Und dabei blieb es (so lange, dass es schon fast zum Himmel stank), denn was folgte, waren Jahrzehnte, in denen es laufend zu Zusammenstößen zwischen amerikanischen und mitteleuropäischen Kriegsschiffen kam, in denen immer wieder Vorwürfe wegen Piraterie erhoben wurden, Geplänkel entlang der Laurentischen Berge an der Tagesordnung waren und regelmäßig scharfe diplomatische Noten ausgetauscht wurden … Dennoch hatte ein Modus Vivendi die Oberhand gewonnen: Die Kontinuität der wirtschaftlichen Beziehungen schien wichtiger als der nationale Stolz. Die sogenannten Pius-Präsidenten, die in diesem Intermezzo regierten, waren mehr damit beschäftigt, die Macht des Dominion of Jesus Christ zu etablieren und die Landnutzung der Westprärie zu regeln, als gegen Fremde zu kämpfen.
In der langen und sonnigen Regierungszeit der Pius-Präsidenten wuchsen Macht und Wohlstand der Nation. Unser großartiges Schienennetz wurde vervollkommnet und ausgebaut, während das Landgüter-System Rechtssicherheit in den bisherigen Flickenteppich und die dort geltenden Arbeitsverhältnisse brachte. Nahrung gab es reichlich, die Bevölkerungszahl begann nach dem katastrophalen Massensterben während der Falschen Drangsal zu steigen, die Pocken rafften in dieser Zeit weniger Kinder dahin, und der internationale Handel verwandelte unsere Häfen in ansehnliche Großstädte mit Zehntausenden von Einwohnern.
Das war der Zustand der Nation, als Julians Großvater Emmanuel Comstock Präsident wurde. (Julians Schilderung war, wie gesagt, nicht so trocken und straff wie meine, sonst wären seine Zuhörer sicher weggeblieben. Es waren in der Tat seine dramaturgischen Instinkte, die ihm an diesen entspannten Sonntagnachmittagen zugutekamen. Er redete in flotten Kadenzen, nahm komische Stimmen und Posen an, die seiner Sache dienlich waren, strich sich über den dünnen Bart, um die Pius-Präsidenten nachzuahmen … Und als er über die Comstock-Dynastie sprach, wurden seine Ausführungen pointierter und bissiger — ich glaube aber nicht, dass es jemand bemerkt hat.)
Emmanuel Comstock, der erste der imperialen Comstocks, war ein brutaler, aber weitblickender Präsident, der es sich zur Aufgabe machte, die Armeen zu modernisieren und sie der Church of the Dominion zu unterstellen. Seine Arbeit war erfolgreich, und es dauerte nicht lange, da verfügte die Nation über eine Streitmacht, die ihresgleichen suchte — eine Streitmacht, die Emmanuel Comstock nicht zögerte unverzüglich einzusetzen. Die frisch reformierte Laurentische Armee griff die Deutschen nördlich des Sankt Lorenz an, während die rot-weiße Flotte von Admiral Finch den Mitteleuropäern vor Groswater Bay empfindliche Verluste beibrachte.
Während dieser Konflikte nahm Emmanuel Comstock die Tochter eines Senators zur Frau, und im fünften und sechsten Jahr seiner Regierung brachte die Verbindung zwei Söhne hervor: Deklan und Bryce Comstock, in dieser Reihenfolge. Emmanuel Comstock wollte unbedingt verhindern, dass seine Söhne zu aristokratischen Müßiggängern wurden, und ließ die Brüder von Kindesbeinen an als Krieger und Staatsmänner trainieren; kaum herangereift, bekamen sie militärische Vollmacht, damit sie Gelegenheit hatten, ihre Führungsqualitäten unter Beweis zu stellen: Deklan wurde Generalmajor der Laurentischen Armee und Bryce, der jüngere Bruder, bekam einen vergleichbaren Rang in der Kalifornischen Armee.
So verschieden die Brüder waren — der freundliche, glücklich verheiratete Bryce und der brütende Einzelgänger Deklan —, sie erwiesen sich beide als fähige Kommandeure. Die Siege des Ersteren hatten die Mitteleuropäer zwar zurückgedrängt, aber nicht aus Nordamerika vertreiben können: Die Statthalter oder deutschen Gouverneure hatten sich in den Weiten des Nordostens, die sie so viele Jahre lang regiert und ausgebeutet hatten, zu fest eingeigelt. Doch die Laurentische Armee unter Deklan Comstock eroberte und besetzte ganz Neufundland, und die Eisenbahntrasse zwischen Sept-Iles und Schefferville fiel in amerikanische Hände.
Das war der berühmte Sommerfeldzug von 2160.[24] In seinem Kielwasser marschierten Kerntruppen der Laurentischen Armee nach New York City, um dort eine Siegesparade abzuhalten. Bald darauf[25] starb Emmanuel Comstock an den Folgen eines Sturzes (beim Jagen auf dem Gelände des Regierungspalastes hatte sein Pferd gescheut), und Deklan übernahm mit Zustimmung eines machtlosen Senats die Präsidentschaft.
(Hier rief Julian seine Zuhörer ganz nah zu sich heran, um sicherzugehen, dass »Deklans« gereizte und schrille Stimme nicht etwa von einem vorbeikommenden Offizier gehört wurde. Sam war nicht da, sonst hätte er Julian Einhalt geboten. Sam hatte ihn bereits vor Darstellungen atheistischer oder aufwieglerischer Szenen gewarnt; doch Julian sah nicht ein, warum die Rekrutierung seinem liebsten Steckenpferd im Weg sein sollte.)
Deklan hatte seinen Status als Vorzeige-General durchaus verdient, wurde aber ein eifersüchtiger und argwöhnischer Präsident. Er misstraute vor allem seinem jüngeren Bruder Bryce, in dem er einen möglichen Rivalen sah, und beschwor, nicht zuletzt um Bryce in Gefahr zu bringen, den Isthmischen Krieg herauf.[26] Ein amerikanisches Kriegsschiff, die Maude, war bei der Ausfahrt aus dem Panamakanal explodiert — wahrscheinlich wegen eines defekten Dampfkessels; doch Deklan Comstock erklärte den Vorfall zum Sabotageakt und gab die Schuld den brasilianischen Bewachern des Kanals. Der Kanal sollte in amerikanische Hände gelangen; und nach einem kühnen Feldzug konnte ihm die Kalifornische Armee unter dem Kommando von Bryce Comstock diesen Wunsch erfüllen.
Panama hätte ein Juwel in Deklans Krone sein können. Doch der jüngere Bruder hatte die finsteren Erwartungen des älteren enttäuscht, und das nur, weil er am Leben geblieben war. Und Bryce erregte noch mehr Eifersucht durch die vieldiskutierte Brillanz seiner militärischen Karriere.
Die Westarmeen konnten nicht den weiten Weg nach New York kommen, nur um sich feiern zu lassen. Bryce wurde allein in diese Stadt beordert, angeblich, um den Verdienstorden entgegenzunehmen. Doch kaum hatte er den Zug verlassen, wurde er von Ostsoldaten umringt und wegen Hochverrats festgenommen.
(Ich will den Leser nicht ermüden und die »an den Haaren herbeigezogene« Anklage erläutern, wie Julian sie nennt, oder die brudermordende Logik, die aus einem siegreichen Offizier einen Feind der Nation macht. Es erübrigt sich zu sagen, dass die Auszeichnung, die ihm um den Hals gehängt wurde, nicht aus Gold, sondern aus Hanf war, und seine wahre Belohnung ein Platz im Thronsaal eines Herrschers ist, der weit mehr zu sagen hat, als der amtierende Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte.)
Und die letzten zehn Jahre, so Julian zu seinen gespannten Zuhörern, hatten wenig geändert — ein Patt in Labrador, ein Sieg am Isthmus von Panama und ein Deklan Comstock, der in den Marmorfluren des Präsidentenpalastes egozentrisch vor sich hin brütete. Zumindest bis zum letzten Jahr. Dass Amerika den Kanal annektiert hatte, hatte die mitteleuropäischen Mächte alarmiert; sie sahen sich nun, was ihre Verbindung zum Pazifik anging, einmal mehr auf die Nordwestpassage angewiesen; eine amerikanische Vorherrschaft über den pazifischen Raum wollte man nicht hinnehmen. Also hatten sie ihre restlichen amerikanischen Besitzungen befestigt, ihre Streitkräfte zu Land und zu Wasser verstärkt und schon bald die Laurentische Armee mit einem massiven Gegenangriff überzogen.
»Und das ist der Krieg, in dem wir kämpfen sollen?«, fragte Lymon Plugh, dessen Aufmerksamkeit durch Julians Ausführungen strapaziert schien.
»Das ist genau der Krieg, in dem wir kämpfen sollen«, sagte Julian, »und es sieht nicht gut aus. Die Deutschen werfen alles an die Front, wir haben bereits die Eisenbahntrasse nach Schefferville verloren, und der Feind steht vor Quebec City und Montreal. Die Laurentische Armee hat letzten Sommer schwere Verluste erlitten — Grund genug, so viele einzuziehen.«
»Sieht aus, als kämen wir schlecht weg dabei«, meinte ein anderer Soldat.
»Vielleicht nicht«, sagte Julian, denn er war weder ein Pessimist noch ein Freund der Deutschen. »Der Feind lebt vom Nachschub, und der muss über den weiten Atlantik, und die Marine heizt den deutschen Versorgungsschiffen tüchtig ein. Ihre Armee kann nur schrumpfen, während unsere wächst. Und das Entscheidende ist«, fügte Julian mit einem breiten Grinsen hinzu, »wir sind Amerikaner und sie nicht.«
Es folgte ein »Hurra« auf die Vereinigten Staaten, und man schlug sich mit der Faust auf die Brust; die Rekruten gingen davon und prahlten, wie sie den Feind in die Flucht schlagen und den Deutschen zeigen würden, aus welchem Holz amerikanische Soldaten geschnitzt waren. Es war Lymon Pugh, der zurückblieb und fragte: »Woher wissen Sie das alles, Julian Commongold? Sind Sie so was wie ein Gelehrter? Sie reden wie einer.«
Mit einem Schulterzucken wich Julian der Frage aus: »Ich bin aus New York City — ich lese Zeitung.«
Das erinnerte Lymon Pugh wieder ans Lesen und auch ans Schreiben, und er schwieg nachdenklich, während er mit uns zur Kantine ging.
Julians »Geschichtsseminare« blieben den ranghöheren Offizieren natürlich nicht lange verborgen. Sein Steckenpferd sprach sich herum, und die Dominion-Leute im Stab seien — wie man Sam steckte — gar nicht glücklich über Julians persönliche Auslegungen und schlügen vor, ihm einen Verweis zu erteilen. Doch der Lagerkommandant legte sein Veto ein, denn Julian sei ein vielversprechender Soldat, und seine freimütigen Reden hätten die Männer mehr erfrischt als ein Dutzend feurige Sonntagspredigten.
Sam hatte solche Skrupel nicht und machte Julian die Hölle heiß wegen seines losen Mundwerks — ermahnte ihn, dass Bekanntheit auf lange Sicht so gefährlich sein könne wie ein Gefecht, bei dem scharf geschossen werde — doch bei Julian standen die Ohren auf Durchzug.
Nach einer solchen Strafpredigt sagte Sam einmal zu mir: »Was rege ich mich auf? Das ist der Comstock in ihm.«
»Dann wird er ja ein guter Soldat«, sagte ich.
»Oder eine berühmte Leiche«, versetzte Sam.
Wir sollten für den Frühlingsfeldzug nach Osten verschifft werden, der Termin stand fest; doch vorher, an einem Sonntagnachmittag, trat Lymon Pugh noch einmal an mich heran.
»Dachte, ich könnte vielleicht noch lesen und schreiben lernen«, sagte er einfältig. »Es sei denn, ich habe zu lange gewartet. Was meinen Sie, Adam Hazzard? Muss man ein Kind sein, um das zu lernen?«
»Nein«, sagte ich, denn ich hielt mich in dieser Kommune für eine Art Evangelist in Sachen Lesen und Schreiben. Dass ich beides konnte, hatte die Runde gemacht, und viele Männer kamen und baten mich, ihnen beim Lesen und Aufsetzen ihrer Briefe zu helfen. »Jeder kann es jederzeit lernen. Es ist nicht allzu schwer.«
»Gilt das auch für mich?«
»Davon gehe ich aus.«
»Und würden Sie’s mir beibringen?«
Ich kam mir edelmütig vor — der Tag war strahlend hell, die Luft trug eine leise Wärme mit sich, und eine schläfrige Melancholie hing über dem Lager (zusammen mit dem morastigen Geruch einer auftauenden Prärie und dem bedauerlichen Latrinenduft). Ich streckte mich auf mein Feldbett, die Stiefel am Boden und meine Zehen im Freien. Lymon Pugh saß auf dem Feldbett daneben und fettete gedankenverloren sein Gewehr, die narbigen Pranken schienen ein Eigenleben zu führen. Ein Akt christlicher Nächstenliebe schien angebracht. »Aber eine Lektion reicht nicht, das sag ich dir. Wir müssen ganz weit vorne anfangen.« (Es könnte hier gewesen sein, dass ich anfing, ihn zu duzen.)
»Wir haben jede Menge Zeit, wenn wir nicht vorher ins Gras beißen. Sie bringen es mir in kleinen Portionen bei, Adam, ja?«
»Also gut, fangen wir mit dem Alphabet an. Das Alphabet ist eine Sammlung von allen Buchstaben, die es gibt, Lymon, und wenn du die einmal gelernt hast, weißt du immer, was du vor dir hast.«
»Wie viele Buchstaben gibt es?«
»Sechsundzwanzig.«
Lymon wirkte geknickt. »Das sind viele.«
»Das scheint nur so. Hier, ich schreibe sie auf, und du behältst das Blatt und lernst.« Ich riss eine Seite aus meinem Notizbuch und schrieb alle Buchstaben auf, in der großen und kleinen Version: Aa — Bb — Cc — …
»Sie haben sich vertan«, bemerkte Lymon Pugh, als ich fertig war. »Das sind mindestens fünfzig.«
»Nein, nur sechsundzwanzig, aber von jedem gibt es zwei Spielarten, die eine ist größer, die andere kleiner. Großbuchstabe, Kleinbuchstabe.«
Er besah sich das Blatt und schien ratlos. »Vielleicht sollten wir das lassen … das krieg ich nie in den Kopf.«
»Kopf hoch, Lymon. Nehmen wir mal an, du gehst von Willamette Valley aus nach Osten und kommst in ein Dorf mit nur sechsundzwanzig Einwohnern und würdest da wohnen bleiben. Du würdest doch die Namen der ganzen Sippe ziemlich rasch lernen, oder? Und noch viel mehr über die Leute.«
»Menschen sind aber keine Striche und Schnörkel. Menschen laufen rum und reden und tun.«
»Buchstaben laufen vielleicht nicht rum, aber sie reden, denn jeder vertritt einen Laut. Pass auf, wir müssen dich jetzt nicht mit allen sechsundzwanzig Buchstaben auf einmal bekanntmachen. Das wär so, als wärst du ein Fremder unter lauter Fremden, man weiß nicht, wohin mit sich. Nimm einfach nur die ersten drei, als säßen sie rund ums Lagerfeuer und würden dich einladen …«
»Das ist albern.«
»Mach einfach mit. Hier ist A und sein Freund, das kleine a«, und dann ließ ich den großen und den kleinen Buchstaben reden (gab also den Laut von mir, den die Buchstaben vertreten) und wies Lymon Pugh an, die Laute zu wiederholen und die Laute mit der Gestalt des Buchstabens zu verbinden, etwa wie man einen Namen mit einem Gesicht verbindet. Als er das einigermaßen fertigbrachte, gingen wir zum schlichten, bauchigen Bb über und dann zum weniger schlichten, windigen Cc. Als er diese drei Buchstaben beherrschte, war nahezu eine Stunde vergangen, und ich hatte den Eindruck, dass Lymon Pugh wie ein Schwamm alles in sich aufgesogen hatte, was momentan Platz fand, und alles Weitere einfach außen vor bleiben würde.
Er war einverstanden, den Unterricht für heute zu beenden und, wenn nichts dazwischenkam, nächsten Sonntag fortzusetzen — doch er sagte noch: »Das sind nur Laute, und ich verstehe nicht, was das mit Schreiben oder Lesen zu tun hat.«
»Man kann sie so zusammensetzen und anordnen, dass daraus Wörter und Sätze werden. Aber satteln wir nicht das Pferd von hinten auf.«
»Gibt es ein Wort, das ich mit diesen drei Buchstaben machen kann?«
Mir fiel nur das Wort Cab ein, also schrieb ich es auf, und er war begeistert. »Ich will verflucht sein, wenn mein Onkel in Portland nicht vor Jahren eine Droschke gefahren hat, mit vier Pferden davor. Ich wünschte, ich hätte ihm das Wort aufschreiben können! Er hätte mich für einen verkappten Dominion-Gelehrten oder Aristokraten gehalten.«
»Und zwischendurch übst du deine Buchstaben, hier«, sagte ich und gab ihm noch ein leeres Blatt und einen Bleistift, den ich letzte Woche im Zelt des Quartiermeisters stibitzt hatte (weil ich gerne einen Vorrat an Bleistiften habe: Sie nutzen sich ab und sind oft schwer zu bekommen). »Du kannst jetzt CAB schreiben«, sagte ich und machte es ihm vor, »oder cab — das bedeutet dasselbe —, aber beides solltest du üben.«
»Wird gemacht«, sagte er, überlegte kurz und setzte hinzu: »Aber das kann ich nicht annehmen, Adam Hazzard. Sie haben viel Arbeit mit mir, und ich möchte Sie dafür bezahlen.«
Ich war schon froh, dass er mich nicht mehr mit seinen Fäusten traktierte, mehr an Bezahlung wollte ich nicht. Aber um die Situation zu retten, sagte ich: »Da ist sicher manches, wovon du mehr verstehst als ich, Lymon. Eines Tages kannst du dich revanchieren.«
Er runzelte die Stirn, nahm sein Gewehr wieder auf und setzte es fertig zusammen. Dann, als er den letzten öligen Lumpen beiseitelegte, hellte sich sein Gesicht auf: »Ich glaube, ich kann Ihnen beibringen, wie man sich einen schönen Knocker macht.«
»Ein gutes Beispiel, denn ich habe keinen Schimmer, was das ist.«
»Oha, na gut.« Er erwärmte sich sichtlich für die Lektion, die er mir erteilen wollte. »Einen primitiven Knocker kann sich jeder machen — bestimmt haben Sie das schon mal gemacht, Adam, könnte aber sein, dass man in Athabaska anders dazu sagt. Ein Knocker, Adam! Das Ding, das man braucht, wenn man jemandem eins überziehen will.«
»Vielleicht beschreibst du es mal.«
»Man nimmt eine Socke, steckt einen Stein rein und fertig. Lässt das Ding kreisen und knallt es dem Gegner auf die Birne: peng!«
Das laute Peng hatte mich aufgerüttelt. »Musst du das … öfter tun?«
»Damals in Willamette Valley. Die meisten Jungs haben das getan, für ein Zubrot außerhalb des Schlachthauses, von Betrunkenen zum Beispiel, oder wenn wir untereinander kämpften. Aber ein Stein in der Socke ist ein primitiver Knocker, primitiver geht’s nicht.«
Jetzt begann Lymon Pugh zu erklären, wie man sich einen professionellen Knocker herstellt, einen, auf den man zu Recht stolz sein könne. Erst müsse man ein frisches Hühnerei aufmachen, sagte er, »nicht wie sonst: Man muss es ganz vorsichtig am spitzen Ende anknacksen und aufpflücken, bis man ein kleines Loch hat; dann sticht man den Inhalt an, lässt ihn rauslaufen und wartet, bis die Schale trocken ist. Dann bringt man etwas Blei zum Schmelzen — ein alter Kerzenständer, eine Handvoll Gewehrkugeln oder Ähnliches. Man steckt die Schale bis zum Loch in Sand und lässt das geschmolzene Blei hineinlaufen. Das Ganze lässt man über Nacht stehen und nimmt am nächsten Morgen das Ei aus dem Sand und pellt es, und was dabei herauskommt, ist ein gutes, glattes, schweres Bleiei. Jetzt macht man noch ein Säckchen für das Ei — eine alte Socke schadet dem Ansehen — aus gewalktem Leder oder kräftigem Hanf und bindet das Ganze mit einem Lederriemchen fest zusammen —, wenn man will, kann man nun noch eine Perle oder einen Messingknopf draufnähen. Die Waffe passt problemlos in die Hosentasche, aber so ein Knocker knackt einen Schädel, als ob er ein Ei wär.«
»Womit sich der Kreis schließt«, sagte ich ein wenig erschrocken.
»Wie meinen Sie das?«
»Schon gut. Das ist eine hübsche Portion Know-how, Lymon, und ich bedanke mich und fühle mich bestens bezahlt, obwohl ich im Moment keine Verwendung für einen Knocker habe.«
»Das geht mir genauso«, sagte Lymon Pugh grinsend. »Ich habe auch keine Bücher zum Lesen und keinen, dem ich einen Brief schreiben könnte — na ja, bis auf den Lebensmittelhändler. Aber wer weiß, vielleicht macht sich das Alphabet ja mal nützlich.«
»Oder der Knocker«, sagte ich, und dann erscholl das Kantinensignal.
Es könnte so aussehen, als hätten wir uns rasch und ohne größere Probleme an das Lagerleben gewöhnt. Der Schein trügt. An vielen Prärieabenden bin ich mit zitternden Tränen in den Augen eingeschlafen und mit dem Gedanken an ein scheinbar sorgloses Dasein daheim in Williams Ford. Auch wenn ich von anderen Jungen gehänselt oder in den Ställen grob behandelt oder hin und wieder von einer Zuchtstute gezwickt wurde, so verblassten diese Erinnerungen, und mein früheres Leben wurde zu einem einzigen müßigen Sommer an den Ufern des River Pine, wo Eichhörnchen gleich tropischen Früchten von den Bäumen fielen und ich alle Zeit auf einer sonnengesprenkelten Lichtung vor mich hindöste, ein geöffnetes Buch auf der Brust, und von erfreulicheren Kriegen träumte als dem in Labrador.
Meine Gedanken wandten sich auch zärtlichen Liebeleien zu, die bei uns zurzeit Mangelware waren. Durfte ich je wieder in ein lächelndes Gesicht blicken oder ein Paar weibliche Augen aus allernächster Nähe erforschen? Der männliche Trieb in mir schlief nicht, und ich hatte Angst, so vereinsamt und verzweifelt zu werden wie manche meiner Kameraden, die sich ihrer Lust auf unzüchtige und unbeschreibliche Weise entledigten. Eine Ausgabe der Handlungen, die von Levitikus verdammt sind wurde verstohlen von Hand zu Hand gereicht, und ich gebe zu, aus lauter Neugier auch ein- oder zweimal einen Blick riskiert zu haben.
Doch im Allgemeinen hatten wir zu wenig Zeit, um in Selbstmitleid zu versinken. Und für viele Männer hier bedeutete die Armee eine deutliche Verbesserung ihres Lebensstandards — vor allem wegen der regelmäßigen Mahlzeiten und der schmalen, aber verlässlichen Bezahlung.
Wir bekamen unseren ersten Sold, kurz bevor wir nach Osten verschifft wurden. Wo es sicher Gelegenheit gebe, etwas davon auszugeben, wurde spekuliert, vor allem, wenn man in der Nähe von Montreal oder Quebec stationiert sei. Es war jedenfalls eine völlig neue Erfahrung, bares Geld in der Hand zu halten. Viele Soldaten nähten Papier- und Hartgeld in ein Geheimtäschchen ihres Tornisters ein oder versteckten es in ihrer Kleidung oder in improvisierten Gürteln. Eben weil Geld für mich etwas völlig Neues war — ich kannte nur Pachtquittungen und antike Pennys —, begab ich mich sofort ins Schlafzelt, um die Münzen zu befühlen und in Augenschein zu nehmen. Sam und Julian folgten mir.
»Morgen früh brechen wir auf«, sagte Sam, als er hereinkam, »komme, was kommt. Vielleicht feiern wir Ostern in Montreal. Und dann kämpfen — richtig diesmal … Noch nie welche gesehen, Adam Hazzard?«
»Nicht wirklich.«
Von den Münzen gefiel mir am besten die größte, die Ein-Dollar-Münze. Sie war nicht so fein gearbeitet wie das Münzgeld der Säkularen Alten, aber dennoch sehr sauber geprägt. Der Dollar enthielt einen messbaren Anteil an echtem Silber und besaß eine geriffelte Kante, und rings um die Vorderseite waren Weinranken eingraviert und die Worte »In God We Trust«, aber so verschnörkelt, dass sie kaum lesbar waren; mittendrin war das Relief eines männlichen Porträts zu sehen, ernst und mit kleinen Augen und spitzer Nase. Von den Silhouetten, die auf den Münzen mit kleinerem Nennwert zu sehen waren, kannte ich einige von Illustrationen aus der Dominion History of the Union — darunter die historischen Patrioten Washington, Hamilton und Otis; doch das Gesicht auf der Dollarmünze war mir unbekannt, und als ich es Julian zeigte, lachte er. »Hier bahnt sich des alten Schurken Eitelkeit aufs Neue ihren Weg ans Licht! Das ist mein Onkel, Adam. Deklan Comstock oder sein schmeichelhaftes Konterfei.«
»Er ist auf einer Münze?«
»Eine neue Münze zum neuen Jahr. Und jede Menge vermutlich. Die Münzanstalt muss Überstunden machen, um die Kriegsanstrengungen zu bezahlen.« Julian lenkte meine Aufmerksamkeit auf die Rückseite des Dollars, auf der geschrieben stand DEKLAN COMSTOCK POTUS[27] und das Jahr 2173 zusammen mit der Darstellung von zwei verschränkten Händen als Symbol der Eintracht von Ost- und Westarmeen, daneben das Siegel der Bostoner Münzstätte und die unklare, aber vage drohende Inschrift NOW AND FOREVER.
»Lass mich mal sehen«, sagte Sam und meinte beim Untersuchen der Münze: »Ja, das ist er, eine reichlich schmeichelhafte Ähnlichkeit. Mit dieser Nase kann er Löcher in den Käse bohren. Bryce war der Hübschere.«
Hier betraten wir ein Territorium, das ich von mir aus nie betreten hätte — ich meine die Angelegenheiten von Julians Familie. Aber ich war jetzt kein Stalljunge und Julian kein Aristokrat mehr, wir waren beide Soldaten und würden es auch bleiben, zumindest für die Dauer des unfreiwilligen Eintritts in die Armee. Also traute ich mich zu fragen: »Wie war dein Vater, Julian? Hast du ihn gut gekannt?«
Sam und Julian wechselten Blicke.
»Ich kannte ihn ganz gut«, sagte Julian sanfter. »Ich war erst acht Jahre alt, als er starb, und zwei Jahre davor zog er in den Krieg. Um ehrlich zu sein, Adam, er ist eher eine Art Widerhall in meinem Kopf als eine handfeste Erinnerung. Er war immer nett zu mir. Er war nie herablassend, obwohl ich doch ein Kind war. Und wenn ich etwas nicht verstand, hat er es mir erklärt.«
»Und deine Mutter?«
Zu meiner Überraschung antwortete nicht Julian, sondern Sam. »Einer so wundervollen Frau wie Emily Baines Comstock begegnet man nur selten«, erklärte er. »Vielleicht wirst du ihr ja eines Tages begegnen. Sie ist genau die Frau, die ein Mann wie Bryce Comstock an seiner Seite verdient hatte, und sie hat ihn sehr geliebt und hat lange gebraucht, um seinen Tod zu verschmerzen. Emily ist nicht nur wunderschön — sie ist klug und einfallsreich.« Und hier errötete er und räusperte sich.
»Wohnt sie im Regierungspalast?«, fragte ich. »Auf dem Grundstück des Palasts hat man ein Cottage für sie reserviert«, sagte Sam, »aber sie besitzt ein Reihenhaus in Manhattan, in dem sie auch wohnt. Emily kümmert sich nicht um die Rivalitäten und Eifersüchteleien der Hochgeborenen. Sie fühlt sich am wohlsten unter Künstlern, Schauspielern und Intellektuellen — Leuten, von denen sie wenig zu befürchten hat.«
»Meine Mutter ist eine sehr feinsinnige Frau«, fügte Julian hinzu, »und macht sich nichts aus der Gegenwart von Deklan dem Schurken, der obendrein ein entsetzlicher Banause ist.«
Was erklärte, wieso Julian in Manhattan aufgewachsen war und so viele Theaterstücke und Filme gesehen hatte; dort musste er auch seine Philosophen getroffen und ihre häretischen Ideen aufgeschnappt haben. »Aber du musst doch deinem Onkel begegnet sein«, sagte ich.
»Zu oft, wenn du mich fragst. Nach dem Tod meines Vaters gab es nur eins, was mich davor bewahrte, ihn des Mordes zu bezichtigen: seine Gegenwart. Oh, diese Festtagsdinner im Regierungspalast! Du hast ja keine Ahnung, Adam. Meine Mutter und ich auf engstem Raum mit Deklan und seinem Rudel von Speichelleckern, während die feigen Amtsträger des Dominions jede seiner Launen und Regungen selig priesen. Wir saßen auf dem Präsentierteller — seht her, ich kann sogar die Loyalität seiner Witwe und seines Sohnes erzwingen! Wir waren machtlos gegen ihn. Er hätte uns jederzeit beseitigen können. Er tolerierte meine Mutter, weil sie eine Frau war, und mich, weil ich ein Kind war, und uns beide, weil wir das perverse Wahrzeichen seiner angeblichen Großzügigkeit waren.«
Ich hatte eine Feindseligkeit berührt, die sich tief in Julian eingefressen hatte, und seine Verbitterung war nicht zu überhören. So wie er von diesen Palastdinnern sprach und über den Klerus, der dort präsidierte, hielt ich es nicht für ausgeschlossen, dass diese Demütigung die eigentliche Ursache seiner Abtrünnigkeit war. Doch solche Spekulationen waren unnütz, und ich verschonte Julian mit weiteren Fragen.
»Da!«, sagte Sam. »Hört ihr?«
Es war der Pfiff eines Zuges, vom Wind über die tauende Prärie geweht — nicht der Zug mit dem Karibugeweih, der uns von Bad Jump hierher verfrachtet hatte, sondern ein Armeezug, der uns gleich morgen früh an die Ostfront bringen würde.
»Versteck deine Comstock-Dollars«, sagte Sam, »du brauchst sie für Frauen und Schnaps, wenn wir nach Montreal kommen.«
Ich bekam rote Ohren und versuchte zu lachen; sein Scherz enthielt aber letzten Endes mehr Wahrheit, als mir jetzt lieb ist.
Das miteinander im Truppenzug nach Montreal unterschied sich auffallend vom Miteinander im Phantomwagen. Es war Monate her, seit wir Bad Jump verlassen hatten, und diejenigen von uns, die sich damals fremd gewesen waren, waren inzwischen Freunde, zumindest aber Verbündete geworden — eng vertraut miteinander, im Schlechten wie im Guten. Falls wir Angst vor dem Krieg hatten, dem wir ausgeliefert wurden, so behielten wir dieses heikle Gefühl für uns. Wir sangen viel, um uns bei Laune zu halten, und ich war nicht mehr der prüde Kindskopf, der ich einmal gewesen war, und stimmte mit ein bei den weniger obszönen Refrains von Those Two-Dollar Shoes Hurt My Feet. Nicht weil mir das Vulgäre ans Herz gewachsen war, sondern weil Ausgelassenheit ein probates Mittel gegen Angst ist.
Ich bemerkte auch, wie oft sich die Soldaten an »Julian Commongold« wandten, um seine Meinung einzuholen oder sein Urteil in einem Streit, und dass sie seine Einlassungen wie geltendes Recht betrachteten. Und das, obwohl Julian so unübersehbar jung war, was der dünne strohblonde Bart nur unzulänglich kaschierte. Es war, als trüge Julian eine unsichtbare, aber wahrnehmbare Aura von Autorität mit sich herum, die vielleicht das war, was Sam den »Comstock in ihm« genannt hatte. Hinzu kamen seine breiten Schultern, seine Gepflegtheit und die Selbstverständlichkeit, mit der er die blau-gelbe Uniform der Infanterie trug. Aber es war eine kameradschaftliche Autorität, die seinem Selbstvertrauen keinen Abbruch tat und auch nicht der offensichtlichen Freude, die er am Umgang mit Menschen unterhalb seines ursprünglichen Standes hatte. Er lächelte häufig, und nur die größten Querköpfe unter uns brachten es fertig, dieses Lächeln nicht zu erwidern.
Der Zug trug uns aus der Prärie in ein Land aus Wald und Seen. Es schüttete von früh bis spät, doch wir saßen gut geschützt in einem ordentlichen Personenwagen. So hatte ich es mir immer vorgestellt, das Fahren mit der Eisenbahn. Ich saß am Fenster und sah den Regentropfen zu, wie sie seitwärts glitten, während wir in höhlenartige Kiefernwälder hinein- und herausfuhren und dem dampfenden Ufer eines riesigen grauen Sees folgten. Für die Heiden des alten Roms, hatte Julian mir einmal erzählt, hatte die Osterzeit für Tod und Wiedergeburt gestanden. Die Landschaft, durch die wir fuhren, hatte gewiss keinen Mangel an Wiedergeburt. In engen, schattigen Tälern entrollten sich Farne, die vollgesogenen Äste der Bäume schlugen aus, und breitblättriger Rohrkolben durchstieß die Tümpel der Wintersümpfe. Auch Tod gab es, wenn man ihn suchte: in den Ruinen, an denen wir ab und zu vorbeifuhren — nicht bloß Kellergeschosse wie in Lundsford, sondern ganze Steingebäude, moosgrün, und ein- oder zweimal die Überreste ganzer Städte, Steinkästen mit hängenden Schultern, die Regentropfen vergossen, als wir mit dreißig Meilen die Stunde vorüberfuhren. Krähen nisteten in diesen alten Gebäuden, kalkiger Dung wuchs auf den Traufen, und zu Besuch kam Rotwild und hin und wieder ein streunender Wolf oder Bär.
Bis zum Einbruch der Dunkelheit zogen noch viele von Pflanzen überwucherte Ruinen an mir vorbei. Als wir uns den Außenbezirken von Montreal näherten, den Lagerfeuern, die in der verregneten Ferne schwelten, vernahmen wir gelegentlich ein Donnergrollen (oder waren es Geschütze?), und spätestens jetzt verstummte das Singen und machte einer argwöhnischen Stille Platz, und in unseren Köpfen begannen unerfreuliche Bilder zu spuken.
Ein ganzes Regiment war in den Zug gepackt worden — eine Menge Männer, aber verschwindend wenig angesichts der großen Armee von General Galligasken draußen vor Montreal. Unsere Leute waren wie die Tränen, die jemand ins Meer weint. Und das war so groß und mit sich selbst beschäftigt, dass es nicht im Traum daran dachte, sie willkommen zu heißen. Nachdem wir unsere Siebensachen geschultert und den Zug verlassen hatten, wurden wir sofort in ein morastiges Feld geführt, wo man uns einlud, unser Scherflein zu einem Meer aus Zelten beizusteuern — nichts als Morast und Zeltleinwand, so weit (bei Nacht und Regen) das Auge reichte. Nach einem konzertierten Gefuchtel, bei dem unsere Stiefel mit dem saugenden Matsch kämpften, bei dem wir fluchten und verflucht wurden von den Soldaten in den Nachbarzelten, die zu schlafen versuchten, taumelten wir schließlich in voller Montur in unsere unwirtlichen Schlafstätten, nur um ein paar Stunden später unter dem Wecksignal und in dreckverkrusteten Uniformen wieder aufzuwachen.
Anwesenheitsappell. Ich sah mich neugierig um, während wir uns zu Kompanien formierten. Noch in der Nacht hatte der Regen aufgehört. Der Morgen war frisch und hell, und hohe Wolken krängten über den Himmel wie Melonenkarren, die sich selbstständig gemacht hatten. Wohin ich auch blickte, wurden Hörner geblasen und Männer geweckt und knallten Regimentsflaggen im Wind wie Astknorren im Feuer. Auf den verdreckten Straßen, die das weite, morastige Feld durchpflügten, mühte sich bereits ein Heer von Pferden und Maultieren mit Proviant- und Munitionswagen; und ich bemerkte die stattlicheren Zelte in der Ferne, in denen die Regiments- und Bataillonskommandeure residierten. Ansonsten standen wir mitten in einem Ozean an Soldaten — Infanterie, Kavallerie und Artillerie. Das Nächstgelegene, das nicht zur Laurentischen Armee gehörte, war eine zierliche Baumzeile, so weit weg wie eine Wolke am Horizont.
»Ist das Montreal?«, fragte ich Sam. Wenn dem so war, war die Stadt beträchtlich kleiner, als ich gedacht hatte — aber immer noch sehr, sehr groß.
»Du bist ja verrückt«, sagte Sam. »Die Stadt ist noch meilenweit entfernt, der größte Teil liegt auf einer Insel im Sankt-Lorenz-Strom. Meinst du, man könnte so viele Männer in einer modernen Stadt kampieren lassen? Die Hälfte wär mittags besoffen, und der Rest hätte sich auf die Freudenhäuser verteilt. Und krieg nicht immer rote Ohren, Adam: Du bist Soldat und keine Mimose.«[28]
Jemand hat gesagt — ich weiß nicht mehr, wer —, dass man in Montreal keinen Stein werfen kann, ohne eine Kirche oder ein Freudenhaus zu treffen. Ich sollte bald Gelegenheit haben, der Sache auf den Grund zu gehen, denn beim Mittagessen wurde verkündet, dass unser Regiment Urlaub bekommen sollte — unter Aufsicht, versteht sich: Man würde uns zum Ostergottesdienst in eine der großen, altehrwürdigen Dominion-Kirchen bringen.
»Feiern Juden Ostern?«, fragte ich Sam, als wir auf die Ausläufer von Montreal zumarschierten. »Ich glaube nicht.«
»Ich wäre überrascht, wenn sie es täten«, sagte Sam. »Obgleich wir um diese Zeit auch ein Fest feiern, das Passah-Fest.«
»Und was feiert ihr da? Bestimmt nicht die Kreuzigung Christi und seine Auferstehung.«
»Dass die Juden von den Plagen verschont wurden, die über Ägypten hereinbrachen.«
»Du liebe Zeit«, sagte ich in Erinnerung an die Bibelstunden bei Ben Kreel, »dafür kann man nicht dankbar genug sein. Das waren schlimme Plagen, damit ist nicht zu spaßen.«
»Schlimm ist gar kein Ausdruck«, mischte Julian sich ein, und ich war froh, dass das Marschgeräusch, obwohl es vom feuchten Boden gedämpft wurde, immer noch laut genug war, um Julians Auslassungen über dieses heikle Thema zu übertönen. »Einfallsreich, würde ich sagen, der Gipfel des Wahnsinns, wenn du mich fragst. Insekten — Geschwüre — das Abschlachten von Kindern — jeder andere, der solche Methoden anwenden würde, wäre ein Paradebeispiel für unsäglichen Sadismus, doch nicht für himmlische Gerechtigkeit.«
Ich war ziemlich schockiert (aber nicht wirklich überrascht) von dieser neuerlichen Ketzerei. »Gott ist von Natur aus eifersüchtig, Julian«, erinnerte ich ihn. »So steht es in der Bibel.«
»Oh ja«, sagte Julian, »eifersüchtig, sicher, aber auch versöhnlich; barmherzig, aber auch rachsüchtig; zornig, aber auch liebevoll — ungefähr alles, was wir ihm unterstellen können. Das ist das ›Paradox des Monotheismus‹, wie ich es nenne. Vergleiche einen Christen mit einem Heiden, der die Natur anbetet: Wird das Kornfeld des Heiden von einem Sturm verwüstet, kann er sich über die schlechten Manieren des Zyklongottes beschweren; und ist das Wetter freundlich, bedankt er sich, sagen wir mal, bei Mutter Sonnenschein; das alles ist zwar nicht vernünftig, folgt aber einer schlichten Logik. Doch mit der Erfindung des Monotheismus ist ein einziger Gott gezwungen, die Verantwortung für jede noch so unbegreifliche Freude und Tragödie zu übernehmen. Er muss gleichzeitig Gott des Hurrikans und Gott der sanften Brise sein, muss in jedem Akt der Liebe und in jedem Akt der Gewalt zugegen sein, in jeder freudigen Geburt und in jedem unerwarteten Tod.«
»Etwas weniger Mutter Sonnenschein wär mir lieber«, bemerkte Sam und legte sich das Taschentuch über die Stirn, denn es war warm geworden und der Marsch ermüdend.
»Aber die Juden sind von den Plagen verschont worden«, sagte ich zu Julian, »willst du ihnen vorwerfen, dass sie das feiern?«
»Nein«, sagte Julian, »nicht mehr und nicht weniger, als ich es dem einzigen Überlebenden eines Zugunglücks vorwerfe, dass er aus vollem Herzen schreit: ›Gott, ich danke Dir, dass Du mich am Leben gelassen hast!‹ — obwohl derselbe Gott, der ihn verschont hat, dies nur konnte, weil er das Unglück nicht verhinderte und alle anderen sterben ließ. Die Dankbarkeit des Überlebenden ist zwar verständlich, aber kurzsichtig.«
»Ich verstehe trotzdem nicht, was am Monotheismus so schlecht ist. Wenn du einmal anfängst, Gott zu vervielfältigen, wo willst du dann aufhören? So viele Götter, dass man sie nicht mehr auseinanderhalten kann, und gar kein Gott — wo ist da der Unterschied? Besonders wenn sie anfangen, sich zu streiten. Hast du mir nicht eingeschärft, immer nach der einfachsten Erklärung zu suchen?«
»Die Ziffer Eins ist eine einfachere Zahl als Zwölf«, räumte Julian ein. »Aber Null ist einfacher als Eins.«
»Danke, jetzt reicht’s mir«, sagte Sam.
»Wieso, Sam«, sagte Julian und lächelte schadenfroh, »hast du Angst vorm Philosophieren?«
»Das ist Theologie und nicht Philosophie — ein viel gefährlicheres Parkett, Julian; und es ist nicht das leichtfertige Gerede, das mir Angst macht, sondern dein loses Mundwerk.«
»Wo ist das Dominion, dass wir uns selbst zensieren müssten?«
»Wo das Dominion ist? Das Dominion ist überall — das weißt du! Das Dominion marschiert an vorderster Stelle.« Womit er den frisch bestallten Dominion-Offizier, einen Major Lampret, meinte, der gemessenen Schritts voranging, ein stattlicher Mann in einer stattlichen Uniform.[29]
Julian hätte die Unterhaltung fortsetzen können, nur schon um Sam zu ärgern, doch wir betraten soeben eine gewaltige Eisenbrücke, die ein noch gewaltigeres Gewässer überquerte. Schiffe vieler Nationalitäten bewegten sich unter der Brücke, manche mit riesigen weißen Segeln und manche, die von Dampfkesseln angetrieben wurden; manche, die einen Bogen schlugen und zum Hafen von Montreal wollten, andere unterwegs zu den großen Binnenseen oder gen Osten zum Atlantik; und hinter dieser Brücke lag die wundersame Stadt Montreal, und es war diese Stadt, die uns letzten Endes den Atem raubte — mir zumindest.
Ich sollte größere Städte zu sehen bekommen und in noch weitere Fernen reisen; aber da Montreal die erste richtige Stadt war, die ich zu Gesicht bekam, konnte ich sie nur mit Williams Ford vergleichen. An Williams Ford gemessen war sie gigantisch. Und sie sei früher noch »gigantischer« gewesen, erinnerte mich Julian, denn wir waren den ganzen Morgen durch eine Landschaft marschiert, die im Grunde genommen eine einzige riesige Abraumhalde war, von Feuer und Verfall gezeichnet und von Gestrüpp und niedrigen Bäumen zurückerobert: die einstigen Industrieviertel und wuchernden Vororte eines Montreal, wie es nur die Säkularen Alten gekannt hatten. Was uns damals so faszinierte, war nur der Kern des einstigen Montreal.
Und in diesem Kern hatten viele herrliche antike Bauwerke überdauert. »Die Häuser sind so hoch!«, entfuhr es mir, und Julian sagte: »Sie waren früher noch viel höher. Selbst diese Gebäude sind abgewrackt worden, Adam.« Er lenkte meine Aufmerksamkeit von den kahlen, kompliziert verschachtelten Betonfassaden auf die komischen Spitzdächer mit ihren geriffelten Ziegeln aus rotem Lehm und den schiefen Schornsteinen: »Siehst du, wie primitiv und schlampig so ein Dach gemacht ist im Vergleich zu dem Gebäude darunter? Dabei sind die Dächer viel jünger. Hier gibt es kaum mehr als drei oder vier Stockwerke (ja, ja, ›immer noch sehr hoch‹, nun hör auf zu glotzen, Adam, du blamierst dich nur), aber manche von diesen Gebäuden waren früher bis zu zehnmal höher, der größte Teil von ihnen ist Zoll für Zoll abgebaut worden, um Holz, Draht und Aluminium zu gewinnen. Sogar die Stahlskelette wurden systematisch zurückgestutzt, um damit die Walzwerke zu beschicken; gewohnt wird nur noch in ausgeschlachteten Betonstümpfen. Wenn du von dieser Stadt überwältigt bist, Adam, dann versuch dir mal das Montreal von damals vorzustellen. Vor Jahrzehnten standen hier wahre Wunder aus Glas und Stahl — Berge von Menschenhand —, eine Stadt, die sich anschickte, den Himmel zu erobern.« Julians Blick schweifte ab. »Genau wie New York City«, fügte er stolz hinzu, »nur dass New York City größer ist.«
Seine Vergleiche konnten mich nicht einschüchtern; mir reichte das heutige Montreal mit seinen ziegel- und kopfsteingepflasterten Straßen und seinen rastlosen Einwohnern. Sollte Julian die Wunder der Vergangenheit beschwören — hier und jetzt gab es reichlich Stoff für einen wissbegierigen Burschen wie mich.
Die Leute waren fast so erstaunlich wie ihre Stadt. Weil wir geschlossen marschierten, machte unser Regiment einen martialischen Eindruck, und die Einwohner traten (nicht immer wohlwollend) zurück, um uns vorbeizulassen, während Pferdewagen beim Geräusch unserer Stiefel in Nebenstraßen auswichen. Die Frauen waren farbenfroh gekleidet, in allen Farben des Regenbogens, und kamen mir zugeknöpft, aber auch verlockend vor, so wie sie durch die Frühlingssonne bummelten, um kurze Abstecher in die unzähligen Läden und Märkte zu machen; die Männer waren eher konservativ gekleidet — mehr Pfauhenne als Pfau —, aber ihre Hosen, Hemden und Mäntel waren sauber und gedämpft. Selbst die Kinder waren gut gekleidet, und nur wenige gingen barfuß. Ich fragte Julian: »Sind das lauter Aristokraten?«
»Einige, aber die meisten nicht. Die Oststädte sind keine Landgüter mit einer streng kontrollierten Pächterklasse. Eine Großstadt braucht Handwerker und Arbeiter, die sich frei zwischen verschiedenen Arbeitsplätzen bewegen können; Geschäftsführer und Kleineigner können Kredite aushandeln und Fabriken gründen oder Läden aufmachen und damit Geld verdienen. Was dabei herauskommt, ist eine Bürgerschaft, deren Angehörige mitunter so wohlhabend sind, dass sie sich extravagant kleiden können — zumindest zu Ostern —, auch wenn sie nicht im wahrsten Sinne des Wortes ›begütert‹ sind.«
»Hat die Stadt nicht unter dem Krieg gelitten?«
»Ja und nein. In jüngster Vergangenheit war die Stadt ausschließlich in amerikanischer Hand, und die Truppen, die hier in Garnison lagen, haben zweierlei bewirkt: einen wirtschaftlichen Aufschwung und ein Übermaß an Diebstahl und Laster. Schau mal, Adam, das wird dich beeindrucken — ich glaube, das ist die Kathedrale, in der unser Gottesdienst stattfindet.«
Nach diesem sarkastischen Kommentar blieb mir förmlich die Spucke weg, und Julian lachte wieder über mein ungläubiges Gaffen. Die Straße war leicht angestiegen, war um eine Ecke gebogen und hatte uns in die unmittelbare Nähe einer riesigen Kirche gebracht. Es war das größte Bauwerk, das ich jemals gesehen hatte.[30] Die Spitztürme waren hoch genug, um die Wolken zu kitzeln, und es verschlug mir den Atem, als wir durch den Schatten des Bauwerks und durch seine riesigen und reich verzierten Holztüren marschierten. In der Düsternis des Foyers hielten wir auf Geheiß von Major Lampret inne und nahmen respektvoll die Mütze ab und stopften sie in die Tasche. Dann passierten wir ein zweites Paar Türen und betraten die »Kathedrale«, wie Julian die Kirche nannte, die eher der Dominion-Halle in Williams Ford glich — wenn man die Dominion-Halle zu ungeheurer Größe aufgepumpt und die bescheidenen Wände gegen Granitgewölbe ausgetauscht hätte und ihre Holzarbeiten von einer Armee imaginärer und leicht übergeschnappter Tischler hätte anfertigen und polieren lassen. Wohin man auch blickte, sah man allerfeinste Filigranarbeit und Nischen und Kapellen mit noch mehr Filigranarbeit, und mehr Kerzen als der Nachthimmel Sterne hatte, die einen ätzenden Geruch von Rauch und Wachs erzeugten; und auf all das sahen etliche großartige Buntglasfenster herab, die so hoch waren wie die Kiefern von Athabaska und allesamt ekklesiastische Themen behandelten und dank der Sonne über Montreal in paradiesischen Farben erstrahlten.
Unter den Soldaten, von denen nur wenige jemals in einer Kathedrale gewesen waren, wurden ehrfürchtige Kommentare laut, und mehrere Männer stießen Laute aus, um zu erleben, wie sie sich am fernen Deckengewölbe brachen und als Echo zurückkamen, bis Major Lampret die Betreffenden durch einen leichten Klaps zur Ordnung rief. Dann nahmen wir in den Bänken Platz.
»Macht es dir nichts aus«, flüsterte ich Sam zu, »dass du hier an einem christlichen Gottesdienst teilnimmst?«
»Christen haben mich nach dem Tod meiner leiblichen Eltern aufgezogen«, rief er mir in Erinnerung, »und ich bin schon in vielen christlichen Kirchen gewesen, und das nicht nur zu Ostern; ich versuche mich wie ein wohlerzogener Gast zu benehmen, auch wenn ich kein frommer Gläubiger bin. Jetzt sei still, Adam Hazzard, und lausche den Gesängen.«
Wie es sich traf, saßen wir in der Nähe des Chors. Zuerst schien der Chor nur eine anonyme, weiß gekleidete Masse zu sein. Dann, während sich meine Augen an das Duster gewöhnten, erkannte ich, dass die Chorsänger weiblichen Geschlechts waren und größtenteils jung, und ich schäme mich zu sagen, dass mir diese Entdeckung gefiel, denn die Frauen von Montreal waren von einer Schönheit, die (so schien es mir damals) mindestens so frappierend war, wie alle Buntglasheiligen und Marmormärtyrer des Christentums zusammengenommen.
Skeptiker werden das als Entzugserscheinungen des Lagerlebens abtun — was natürlich nicht ganz falsch ist —, doch ich bin überzeugt, dass meine Faszination auch etwas Schicksalhaftes hatte —, denn in der vordersten Reihe des Chors stand die schönste Frau, die ich je gesehen hatte.
Ich werde nicht versuchen, die Gefühle hier niederzuschreiben, die diese namenlose Frau in mir erregte, denn die Superlative würden den gereiften Schriftsteller nur in Verlegenheit bringen; meine ganze Objektivität aufbietend, kann ich sagen, dass ich Folgendes sah: eine kleine weibliche Person, etwa so alt wie ich, in einem wolkenweißen Chorhemd, von Statur kräftig oder gesund; mit einem rosaroten, strahlenden Gesicht und großen Augen, deren Farbe ich aus dieser Entfernung nicht erkennen konnte, die ich mir aber (und zwar zutreffend, wie sich zeigte) als ein hübsches Kastanienbraun vorstellte; und ihr Haar war eine einzige üppige Ansammlung ebenholzfarbener Spiralen, woraus das Gegenlicht einen spektakulären Glorienschein machte … Falls sie meinen glasigen Blick bemerkte, ließ sie sich nichts anmerken.
Ich konnte ihre Stimme nicht heraushören, doch ich war mir sicher, dass sie mindestens so rein und engelsgleich war wie der Rest des Chors. Sie sangen eine Hymne, die mir unbekannt war und sich auf das Bollwerk der Tugend, den Exerzierplatz des Glaubens und andere metaphorische Einrichtungen bezog. Dann — leider, denn ich war hingerissen davon — verstummte der Gesang, und Major Lampret stieg die Stufen zum Pult hinauf. Alle Blicke waren plötzlich auf ihn gerichtet, auch die des Chors, und unvermittelt nahm ich ihm seine adrette Erscheinung übel, die er in seiner Dominion-Uniform machte, an deren Brust das silberne Engelsflügelabzeichen im bunten Licht der Fenster funkelte.
Major Lampret erklärte — mit Exerzierplatzstimme, um auch die hinterste Bank zu erreichen —, dass die Kathedrale zwar eine katholische Kirche sei, sich aber rundherum für nicht konfessionsgebundene christliche Gottesdienste geöffnet habe, allerdings nur für solche, die vom Dominion genehmigt und ausgerichtet seien. Man tue dies den Divisionen zuliebe, die für kurze Zeit von der Front abgezogen werden konnten. Er dankte dem lokalen Klerus für die erwiesene Großzügigkeit; dann ermahnte er uns, still zu sein und nicht zu essen, falls wir heimlich etwas mitgenommen hätten, und den Gottesdienst nicht durch »Ja, so ist es!« oder »Weiter!« oder andere vulgäre Ausrufe zu unterbrechen, und auch nicht am Ende der Predigt zu klatschen und zu pfeifen — sondern still dazusitzen und an die »Erlösung« zu denken.
Jetzt bestieg ein lokaler Geistlicher — ich glaube, die Katholiken sagen »Priester« — das Podium und verlas die Predigt, die ihm die Gelehrten des Dominions geschrieben hatten. Die Lektion versprach lange zu dauern — sie begann mit Palmwedeln und schlug eine entsprechend gemächliche Gangart auf dem Weg zur Auferstehung ein (die für mich der Höhepunkt der Geschichte war, denn ich malte mir immer aus, was die Leute für Gesichter gemacht hatten, als sie entdecken mussten, dass das Grab leer war) —, und der Geistliche war ein Meister jenes eigentümlichen ekklesiastischen Singsangs, der in Verbindung mit Wärme und Müdigkeit und verpesteter Luft nicht wenige seiner fremden Schäfchen hatte einnicken lassen. Julian, der gleich neben mir saß, schien der Predigt hellwach zu folgen, doch ich wusste, dass der Schein trog, denn Julian hatte mir einmal gebeichtet, was er wirklich während eines Gottesdienstes tat (in einer christlichen Kirche ist der Atheist genauso ein Fremder wie der Jude): Er verbringe, hatte er gesagt, die Zeit damit, sich den Film vorzustellen, den er eines Tages drehen werde — The Life and Adventures of the Great Naturalist Charles Darwin — und die einzelnen Szenen und die Dialoge in seinem Kopf durchzuspielen und sich den Szenenaufbau zu überlegen oder daran zu arbeiten, die Handlung noch dramatischer zu gestalten.
Ich kämpfte gegen meine eigene Müdigkeit an, indem ich mich ab und zu nach dem Chor umsah, wo diese bestrickende Frau stand und geduldig wartete. Sie zeigte keine Anzeichen von Langeweile, obwohl sie ab und zu himmelwärts blickte, wohl eher aus Wut als aus Frömmigkeit, und sich zweimal mit dem linken Schuh an der rechten Wade kratzte. Da es draußen wärmer wurde, wurde es drinnen auch wärmer, und auf ihrer Stirn hatte sich ein Schweißtropfen gebildet und kullerte ihr über die Wange und spielte Fangen mit dem bunten Licht. Ich war hin und weg.
Eine Stunde verstrich. Der Geistliche war halbwegs durch mit seiner Lesung (vermute ich mal, denn wir hatten Judas hinter uns und ließen uns eben auf die schmutzige Sache mit Pontius Pilatus ein), als es einen fernen Donnerschlag tat, gefolgt von einem leisen Grummeln, das in die hölzernen Bänke und von da in unser Rückgrat fuhr. Ein Murmeln lief durch die Reihen, doch der Priester fuhr unbekümmert fort, und Sam wisperte: »Artilleriefeuer — keine Gefahr für uns; die Deutschen haben kein Geschütz, das von ihren Schützengräben bis nach Montreal reicht.«
Das beruhigte mich. Ein paar weitere Minuten vergingen — den Kreuzwegstationen wurde gewissenhaft nachgegangen —, als es wieder einen Donnerschlag tat, näher diesmal, so dass der Geistliche zögerte und Staub aus dem Deckengewölbe rieselte. »Das war nahe!«, rief ich aus.
Sam zog die Stirn kraus. »Ich kann mir das …«
»Pst!«, machte Major Lampret. Aber es passierte wieder: eine scharfe Explosion und ein Grollen, so laut, als wäre es direkt nebenan gewesen — oder war es das? Ich hörte fernes Gebimmel, und jemand in der Stadt kurbelte eine Sirene an — ein qualvoller, schauriger Ton, den ich noch nie gehört hatte.
Jetzt war das Regiment auf den Füßen, und der Geistliche am Pult fuchtelte mit den Händen, eine dringliche, aber unverständliche Geste, und Major Lampret brüllte: »Formiert euch! Formiert euch und raus mit euch, Jungs, wir werden gebraucht, aber nicht laufen, sonst verstopft ihr den Ausgang …«
Dann wurde die Kathedrale getroffen — die Granate explodierte mit einem ohrenbetäubenden Knall, und die hohen Buntglasfenster zerplatzten und flogen nach innen. Um uns herum prasselten grellbunte und rasiermesserscharfe Scherben. Ich sah, wie ein Mann in der Nähe des Pults vom Splitter eines Glasheiligen durchbohrt wurde — tödlich, wie es aussah —, und dann brach Panik aus, ungeachtet der gebrüllten Befehle eines Major Lampret. Erst stürzte ich auch zur Tür, dann drehte ich mich um, weil ich sehen wollte, was aus der bestrickenden Chorsängerin geworden war. Doch sie war fort — nur noch ein weißes Huschen mitten in einem Schwarm sich bauschender Chorhemden, als man in ein angrenzendes Zimmer floh.
Ich stolperte hinter Sam und Julian her und hatte den Ausgang fast erreicht, als mich ein Stoß von hinten (wahrscheinlich ein übereifriger Infanterist) zu Fall brachte, so dass ich mit dem Kopf an die herrlich geschnitzte Rückenlehne einer Bank prallte und das Bewusstsein verlor.
Ich war nicht lange besinnungslos — gerade lange genug, um von meinem Regiment getrennt zu werden.
Ich hob verwirrt den Kopf und spürte den Schmerz in der Schläfe. Abgesehen von den zertrümmerten Fenstern war die Kathedrale noch intakt; die Panik hatte das Gotteshaus so gut wie leergefegt — vorne kümmerten sich der Priester und ein paar andere Geistliche um den Verwundeten. Ich befingerte meinen Kopf da, wo er Bekanntschaft mit der Sitzbank gemacht hatte: Blut — nicht viel, aber Blut. Ich sah mich nach Sam um und nach Julian und sogar nach Lymon Pugh, doch sie waren fort, vermutlich mit allen anderen zum Lager zurück, um eine Antwort gegen diese jüngsten deutschen Gräuel vorzubereiten. Sie hätten mich natürlich mitgenommen, nur dass ich zwischen zwei Sitzbänken gelegen hatte und in der allgemeinen Aufregung leicht zu übersehen gewesen war. Ich überlegte und kam zu dem Schluss, unverzüglich Anschluss an mein Regiment zu suchen, um nicht wegen unerlaubten Entfernens von der Truppe oder als Deserteur bestraft zu werden.
Als ich aus der Kathedrale torkelte, verlor ich sofort die Orientierung. Der Artilleriebeschuss hatte schwere Schäden nebenan verursacht: Die Straße, auf der wir gekommen waren, war durch Trümmer blockiert und stand teilweise in Flammen. Stadtbewohner rannten planlos hin und her, manche mit blutigen Wunden oder Verbrennungen, und rot gestrichene Löschfahrzeuge, die von schnaubenden Pferden gezogen wurden, rasselten mit wild bimmelnden Messingglocken die offenen Straßen hinunter. Aber nur bestimmte Bereiche dieser riesigen Stadt waren betroffen — sie war so riesig, dass sie unberührt schien —, und nach kurzem Überlegen beschloss ich, mich nach Osten vorzuarbeiten, bis in Sichtweite der Eisenbrücke, auf der wir hermarschiert waren. In dieser Absicht folgte ich also einer Seitenstraße, die nicht unter dem Angriff gelitten hatte, wo die vier- und fünfstöckigen Betongebäude im Parterre in Läden aufgeteilt waren und die Geschosse darüber Balkone und Eisengitter hatten und mit Frühlingsblumen geschmückt waren. Die malerische Gasse verlief allerdings nicht gerade; sie wand sich wie eine Schlange, und als ich zur nächsten Kreuzung kam, wusste ich nicht, in welche Richtung ich gehen sollte.
Inzwischen eilten unausgesetzt Einwohner an mir vorbei. Nicht einer floh vor dem Artilleriebeschuss im Viertel der Kathedrale, und alle waren zu sehr mit ihren Problemen beschäftigt, als dass sie einen einzelnen versprengten Infanteristen bemerkt hätten. Hilflos und durcheinander stand ich da, als ein weißer Schlenker auf der anderen Straßenseite meinen Blick auf sich zog — ein Chorhemd, wie Sie sicher schon erraten haben, und anhatte es niemand anderes als die Frau mit dem Spirallockenkopf und den strahlenden Augen. Ohne auf die Kutschen und Fuhrwerke zu achten, stürmte ich über die Straße.
»Sie waren in der Kirche!«, sagte ich, als ich drüben war; und sie drehte sich um und blinzelte mich an, die kleinen Hände zu Fäusten geballt für den Fall, dass ich zum Problem wurde.
»Ja?«, sagte sie brüsk.
»Sind Sie … ähm … sind Sie verletzt?«
»Offensichtlich nicht«, erwiderte sie in einem Tonfall so kühl, dass ich annehmen musste, gelegentlicher Artilleriebeschuss durch die Deutschen gehöre inzwischen so zu ihrem Alltag wie Windböen im Sommer.
»Ich schon!«, brachte ich heraus. »Ich habe mir den Kopf verletzt.«
»Wie bedauerlich. Ich hoffe, Sie sind bald wieder gesund.«
Sie wandte sich ab.
»Warten Sie!«, sagte ich und machte eine vage Geste in Richtung Rauchwolken. »Was geht hier vor?«
»Man nennt es Krieg«, sagte sie wie zu einem Tölpel, der sich nach der Farbe des Himmels erkundigt (und alles, was Recht ist: So wird es sich angehört haben). »Die Deutschen haben Sperrfeuer eröffnet. Obwohl es jetzt aufgehört hat. Müssten Sie nicht bei Ihrem Regiment sein, Soldat?«
»Müsste ich; und wäre ich auch, wenn ich es finden könnte. Wie komme ich zu der großen Eisenbrücke?«
»Es gibt mehrere, aber zu der, die Sie meinen, geht es da lang.«
Ich bedankte mich und setzte hinzu: »Darf ich Ihnen meinen Schutz für den Heimweg anbieten?«
»Natürlich nicht«, sagte sie.
»Ich heiße Adam Hazzard«, sagte ich, wohl wissend, wie wichtig es ist, sich vorzustellen.
»Calyxa«, sagte sie widerwillig. Ich hatte diesen interessanten Namen noch nie gehört. »Gehen Sie zu Ihrem Regiment zurück, Adam Hazzard, und lassen Sie sich verbinden. Sie bluten ja.«
»Sie singen wunderschön.«
»Ha«, machte sie und ging davon, ohne sich noch einmal umzublicken.
Die Begegnung war kurz, aber erfreulich gewesen, und das unter so widrigen Umständen, und als ich auf die Brücke zulief, dankte ich — trotz meiner Beklemmung und trotz des Blutes, das über mein Gesicht rann, und trotz der Rauchwolken, die hinter mir aus der Stadt quollen — der Vorsehung, dem Schicksal, dem Zufall oder einer dieser heidnischen Gottheiten, dass sie uns beide zusammengeführt hatte.
»Sie haben ein chinesisches Geschütz«, sagte Sam.
Ich hatte mein Regiment eingeholt, und Sam und Julian hatten sich entschuldigt, mich nicht gesucht zu haben — ja, man habe mich nicht einmal vermisst, als man sich draußen vor der Kathedrale wieder gesammelt hatte. Ich machte das Chaos nach dem Artillerietreffer dafür verantwortlich und weniger meine Bedeutungslosigkeit. Zumal ein herzlicher Empfang auch den letzten Rest an Argwohn zerstreute.
Ich erwartete, dass man uns sofort in die Schlacht werfen würde, um die Deutschen für ihre Dreistigkeit zu bestrafen. Aber eine moderne Armee ist eine sesshafte Bestie und nur schwer zu bewegen. General Galligasken, ihr Oberbefehlshaber, war ein notorisch vorsichtiger Führer, der sich sträubte, seine Streitkräfte einzusetzen, solange er nicht auf alle Eventualitäten vorbereitet war und alle Vorbereitungen getroffen waren. Und diese Neigung frustriere die Exekutive, meinte Julian, mache Galligasken aber bei der Truppe zu einer populären Figur — die Soldaten wurden gut versorgt und ihr Leben nicht leichtsinnig aufs Spiel gesetzt. (Die Veteranen unter uns wussten Geschichten über seinen Vorgänger, General Stratemeyer, zu erzählen, der ein strenges Regiment geführt und Abertausende von Soldaten in sinnlosen Grabenkämpfen geopfert hatte. General Stratemeyer war im letzten Frühjahr getötet worden, als er aus seinem Lager geritten war, um einen Kommandeur der Kavallerie aufzusuchen — er nahm die falsche Abzweigung und kreuzte die Linie deutscher Plänkler, die aus dem Stegreif ein Übungsschießen daraus machten.)
Dank unseres Oberbefehlshabers marschierten wir also nicht unverzüglich in die Schlacht, sondern blieben im Lager, während Späher und Vorposten die gegnerischen Linien erforschten und mit Gefangenen zurückkamen, die mit nützlichen Informationen über Stärke und Absichten des Feindes herausrückten. Sam, der nach wie vor nur Gefreiter war, ließ seine Beziehungen spielen, bis er wohlunterrichtet war über den Status quo der militärischen Lage. Eine Woche nach dem Angriff auf Montreal kauerten wir, um einem neuerlichen Dauerregen zu entgehen, zu dritt im Zelt, und Sam erzählte uns von dem chinesischen Geschütz, derweil ein Frühlingszephir auf der Zeltmembran über unseren Köpfen spielte.
Ich wollte wissen, was das Chinesische an einem Geschütz sei und warum es so viel gefährlicher sein sollte als die normalen.
»Die Chinesen«, sagte er, »unternehmen schon seit vielen Jahren Feldzüge und produzieren einfach bessere Feldartillerie, besonders, was die Reichweite angeht. Und um ihre Kriegskasse aufzufüllen, exportieren sie ein paar von diesen Waffen. Chinesische Geschütze sind furchterregend, aber wahnsinnig teuer. Die Mitteleuropäer müssen ein Exemplar erstanden haben oder bauen sie nach.«
»Wir haben jede Menge Artilleriegeschütze«, protestierte ich, denn ich hatte sie ja herumstehen sehen.
»Viele und gut gearbeitete«, stimmte Sam zu. »Aber das chinesische Geschütz ist den unseren an Reichweite überlegen. Es trägt Granaten und Schrapnells tief ins feindliche Territorium. Ich denke, wir könnten ein ähnliches Geschütz auch auf traditionelle Weise bauen, aber das Ding wäre ein Monster und kaum zu transportieren. Das Geniale am chinesischen Geschütz ist, dass es sich rasch in sogenannte Untergruppen zerlegen lässt, die sich mit Pferdefuhrwerk oder Eisenbahn so leicht verfrachten lassen wie herkömmliche Geschütze.«
»Wir müssen dieses Geschütz erobern oder unschädlich machen«, sagte ich fest entschlossen.
»General Galligasken wird daran gedacht haben«, sagte Julian. »Obwohl gegen deine Schlussfolgerung so weit nichts einzuwenden ist.«
Sam überhörte Julians Sarkasmus und sagte: »Das werden wir machen oder zumindest versuchen, aber das wird nicht übers Knie gebrochen. Aber ich gehe davon aus, dass sich noch diese Woche etwas tut. Zügle deine Ungeduld, Adam — so wie du darauf aus bist, sie abzustrafen, sind die Deutschen darauf aus, dich vor die Flinte zu bekommen.«
Ich für mein Teil würde ein Exempel statuieren, erklärte ich, denn es sei feige, auf hilflose Zivilisten in Montreal zu schießen (und nicht zuletzt Calyxa an Leib und Leben zu gefährden). »Du wirst Schlimmeres erleben, bevor die Armee mit uns fertig ist«, meinte Sam; und wie die meisten Prophezeiungen aus seinem Mund, sollte sich auch diese voll und ganz erfüllen.
Am nächsten Tag hörte es auf zu regnen; ein paar Tage später waren die Wege trocken, und General Galligasken ritt höchstpersönlich durch das Heerlager, was wir als Zeichen eines bevorstehenden Angriffs deuteten.
Ich bekam den General flüchtig zu sehen. Ein breiter, unbefestigter Weg durchschnitt das gesamte Heerlager und verband etliche Exerzierplätze miteinander, und es war dieser breite Weg, den General Galligasken heruntergeritten kam. Zu beiden Seiten drängten sich die Infanteristen, schwenkten ihre Mützen und brüllten, als der General vorbeiritt. Ich war entschlossen, mir so ein Spektakel nicht entgehen zu lassen, und bahnte mir durch energischen Einsatz meiner Ellbogen einen Weg nach vorne, so weit zumindest, dass ich mit ein paar gut platzierten Sprüngen die ganze Prozession sehen konnte.
Der General sah überraschend jung aus. Er war kein Jüngling, aber auch kein angegrauter Veteran — bei den Feldzügen im letzten Jahr hätten die Deutschen besonders gut abgeschnitten, hatte Sam erklärt, und es seien zu viele angegraute Veteranen auf der Strecke geblieben. Viele junge Männer seien die Beförderungsleiter hinaufgefallen. General Bernhard W. Galligasken war einer von ihnen und machte eine wirklich gute Figur im Sattel, wie er so heiter auf das schwappende Meer an Infanteristen hinablächelte. Manche meinten, er sei eitel, und tatsächlich war seine Uniform maßgeschneidert und strahlte in all ihren Farben. Das blau-gelbe Kostüm stand ihm aber wirklich, und das lange Haar rieb sich auf fesche Weise am gesteiften Kragen. Der Alabastergriff seiner Porter-&-Earle-Pistole blitzte aus dem geschmeidigen Lederhalfter an der Hüfte, und an seiner Brust glänzte eine ansehnliche Menge geprägten Metalls, sichtbare Zeichen für die Schlachten, die er mitgemacht, und die Tapferkeit, die er in ihnen bewiesen hatte. Sein Hut war eine breitkrempige Extravaganz mit Pfauenfeder.
(Das chinesische Geschütz sprach zweimal während seines Auftritts, und eine der Granaten krepierte weniger als eine Viertelmeile abseits des Lagers; die Deutschen konnten nicht richtig nachjustieren, weil sie zu weit entfernt standen und die Einschläge nicht beobachten konnten. Es war ein Spiel mit dem Zufall, das wir alle verdrängten.)[31]
Diese Prozession von General Galligasken mit seinem Gefolge von Untergebenen und Standartenträgern war schon ein bisschen mehr Brimborium, als man daheim in Williams Ford für angemessen gehalten hätte; doch der General war nicht nur gekommen, um eine Schau abzuziehen. Er traf sich an diesem Abend mit seinen Bataillonskommandeuren, um Kriegsrat zu halten. Letzte Feinheiten wurden verhandelt, und wir wurden angewiesen, »auf unseren Waffen zu schlafen« und uns zum Abmarsch bereitzuhalten.
Noch vor Tagesanbruch zogen wir in den Krieg.
Anfangs war es ein Marsch »ohne Tritt«, also auch ohne strikte Formation; obwohl unser Regiment eingedenk seines »unblutigen« Zustands die stattliche Viererreihe einhielt. Wir kamen nur langsam voran, es war noch dunkel, die Wege feucht, so dass die Maultierkolonnen und Pferdefuhrwerke mit Morast zu kämpfen hatten. Als der Horizont perlmuttfarben anlief, schwoll in die Geräuschkulisse aus Marschtritt, Lederknarren, rasselnden Feldküchen und klimpernden Sporen der ungereimte, freudige Chorgesang der Vögel. Es war Frühling, und die Vögel nisteten, ohne zu wissen, dass vielleicht all ihr Mühen heute oder irgendwann von Artillerieoder Gewehrfeuer zunichtegemacht wurde.
Das Gelände, das wir durchquerten, war zur Zeit der Säkularen Alten bebaut gewesen, aber nur wenige Spuren dieser hemmungslosen Ära hatten überdauert; ein ganzer Wald war seitdem hier gewachsen, Ahorn, Birke, Kiefer, die Wurzeln fraglos mit Artefakten aus der Blütezeit des Öls verflochten und mit den Gebeinen ihrer Besitzer. Unsere Welt, hatte Julian einmal gesagt, sei nichts anderes als ein gigantischer Friedhof, der von der Natur zurückgefordert werde. Jeder Schritt, den wir tun, dröhne in den Schädeln unserer Vorfahren, und ich hatte das Gefühl, Jahrhunderte statt Erdboden unter den Füßen zu haben.
Kaum hatte die Sonne den Horizont blank geputzt, begann das Scharmützel, oder es hatte schon vorher begonnen, denn wir befanden uns ziemlich hinten im Zug, und das hügelige Gelände ringsherum verschluckte den Gefechtslärm. In Wahrheit kündigte sich das Gefecht ähnlich wie ein heraufziehendes Unwetter an: zuerst die Rauchglocke über dem hügeligen Gelände vor uns; dann das leise Grollen der Artillerie; dann das Knattern von Handfeuerwaffen und schließlich der beißende Geruch von Schießpulver. Als die Sonne aufging, nahmen diese Anzeichen eines Kampfgeschehens an Umfang und Heftigkeit zu, und dann bekamen wir zu sehen, was jeden Soldaten mutlos macht: Fuhren von Getöteten, die nach hinten transportiert wurden. »Da muss ja wie verrückt gekämpft werden«, sagte ich verhalten, als eine Dominion-Kutsche vorbeiholperte (wie diese behelfsmäßigen Ambulanzen genannt wurden). Die Insassen waren den Blicken entzogen, dafür war ihr Stöhnen und Brüllen umso deutlicher zu hören.
Dann marschierten wir über den nächsten Hügel, und unversehens lag das Schlachtfeld wie ein Spielbrett vor uns — viele Spielfelder wurden allerdings von Rauch verdeckt. Ich glaubte General Galligasken auf demselben Hügelkamm zu sehen, hier standen auch unsere schwersten Geschütze und krachten und prallten eins ums andere zurück, immer wieder. Da unten lag der erste feindliche Schützengraben.
Ich sah zum ersten Mal Deutsche.[32]
Beim Anblick ihres geballten Heeres konnte ich kaum an mich halten. Mein ganzes Leben lang hatte ich von den fürchterlichen und aggressiven Mitteleuropäern gehört, bis sie für mich zur Legende geworden waren, oft erwähnt, aber nie gesehen. Da unten waren sie leibhaftig, und selbst von hier oben und durch die Rauchschwaden und das Geschützfeuer hindurch bekam ich flüchtig die charakteristischen schwarzen Uniformen und blauen Helme zu sehen und die seltsamen Kreuz-und-Lorbeer-Fahnen.
Aus dieser Höhe erschienen ihre Stellungen uneinnehmbar: Ihre Gräben bildeten einen weiten Halbkreis, der innen mit lauter Lünetten, Redouten und Stacheldrahtverhauen gesprenkelt war und mit beiden Flanken an ein Flussufer stieß, das streng von feindlicher Artillerie bewacht wurde. Zurzeit trug eine amerikanische Division einen reichlich unverfrorenen, von seitlichem Ablenkungsgeplänkel begleiteten Frontalangriff vor, der sich aber, nach den vielen Verlusten zu urteilen, die sich vor den deutschen Gräben sammelten, nicht gut entwickelte.
Sam lehnte sich zu Julian und fragte nach Lehrerart: »Was siehst du?«
»Eine Schlacht«, sagte Julian mit brüchiger Stimme, sein Gesicht war von Natur aus blass, aber ich hatte es noch nie so blutleer gesehen.
»Das ist mir zu wenig! Reiß dich zusammen, Julian, und sag mir, was du siehst!«
Julian musste sich sichtlich anstrengen, seine Angst zu unterdrücken. »Ich sehe … na ja, einen konventionellen Angriff … mutig vorgetragen, aber ich begreife nicht, warum der General so viele Verluste in Kauf nimmt … wo ist die Strategie? Ich sehe nur brutale Gewalt.«
»Galligasken ist gerissener, als du denkst. Was siehst du nicht, Julian?«
Julian starrte ein bisschen länger, dann nickte er. »Die Kavallerie.«
»Und wo ist sie?«
»Woanders. Willst du damit sagen, er hat doch eine Strategie, die mit unserer berittenen Truppe zu tun hat?«
»Ich will es hoffen.«
Es stimmte, dass der Angriff kühn, aber nutzlos schien. Er erlahmte zusehends — eine unserer kampferprobten Divisionen war unter besonders heftigen Beschuss geraten, und der Kommandeur versäumte es, seine Truppen zu sammeln. Ein Standartenträger fiel; seine Fahne wurde nicht geborgen. Entsetzte Männer blieben regungslos liegen oder sprangen auf und rannten zurück, und es wäre vielleicht zu einer wilden Flucht gekommen, wenn unser Regiment nicht zur Verstärkung in den Kampf geschickt worden wäre.
Aus Rauch und Lärm kam mir ein Soldat mit zerschmettertem Arm entgegen. Der linke Unterarm war so gut wie abgetrennt — nur noch durch ein paar schleimige Fäden mit dem Ellbogen verbunden —, und der Mann drückte ihn mit der rechten Hand an den Leib wie ein Kind, das eine Tüte Süßigkeiten vor aufdringlichen Spielkameraden schützen will. Seine Uniform war blutdurchnässt. Er schien uns nicht zu sehen und öffnete immer wieder den Mund, ohne einen Laut von sich zu geben »Nicht hingucken, Mann!«, schimpfte Sam. »Augen nach vorne, Adam!«
Sam war der Einzige mit Kampferfahrung unter uns. Er rückte geduckt vor, das Pittsburgh-Gewehr im Anschlag. Der Rest von uns bewegte sich über die zernarbte Wiese wie Rindviecher, die zur Schlachtbank geführt werden (davon hatte mir Lymon Pugh erzählt). Unser Kompaniechef brüllte, ob wir lebensmüde seien, weil wir wie die Kletten aneinanderhingen; also gingen wir getrennte Wege, wenn auch widerstrebend. Unter diesen Umständen sehnt sich jeder normale Mensch nach der Nähe eines anderen, wenn auch nur, um sich (notfalls) hinter ihm verstecken zu können.
Eine Zeit lang schützten uns die nach Kordit und Blut stinkenden, dichten Rauchschwaden, die über dem Schlachtfeld hingen, obschon ringsherum feindliche Artilleriegranaten krepierten und manche von Schrapnellkugeln getroffen wurden. Doch als wir uns den feindlichen Linien näherten, flogen uns Salven von Gewehrkugeln um die Ohren, und es gab erste Verluste in unserer Kompanie. Ich sah zwei Männer fallen, einer war im Gesicht verwundet; einen unserer Männer aus der Vorausabteilung trafen wir als Leiche in einem Bombentrichter wieder — er war so weit über die blutige Erde verstreut, dass wir aufpassen mussten, nicht auf seine dampfenden Eingeweide zu treten. Das war so unwirklich, dass ich zu der Überzeugung gelangte, ich sei wahnsinnig oder die Welt sei es plötzlich geworden. Der Krieg in den Romanen von Mr. Charles Curtis Easton wurde nicht mit solcher Grausamkeit geführt. Mr. Eastons Krieg ließ Platz für Tapferkeit, Mut und Patriotismus und diese ganze Sippschaft von beruhigenden Tugenden. In unserem Krieg schien dafür kein Platz zu sein; es ging nur ums Töten oder Getötetwerden, wie der Zufall es wollte (oder die Umstände). Ich hielt mein Gewehr schussbereit und feuerte zweimal auf Schemen im Rauch — ich würde nie erfahren, ob ich getroffen hatte.
Meine Gedanken überschlugen sich, und ich machte mir kurz Sorge um Julian. Ich musste daran denken, wie wir Eichhörnchen und anderes Wild gejagt hatten daheim in Williams Ford, und wie Julian auf diesen Streifzügen seinen Spaß gehabt hatte, aber nicht am Töten. Er war eine von diesen zarten Seelen, die instinktiv vor dem Tod zurückschrecken und besonders davor, ihn herbeizuführen. Das war keine Feigheit, sondern eine bestimmte Art von Unschuld, eine bewundernswerte, wenn nicht angeborene Empfindsamkeit, an der man durchaus sterben konnte.
In diesem Moment kam ein Wind auf und riss einen Teil des Rauchschleiers über dem erlahmten, aber grimmigen Kampfgeschehen mit sich fort. Der nächste Windstoß brachte uns glasklare Sicht auf die vordersten Linien der deutschen Verteidigung — es war, als wäre ein Vorhang weggezogen worden. Aus der aufgeworfenen Brustwehr starrten unzählige Gewehrläufe, die jetzt, da sie ein klares Ziel vor sich hatten, hastig auf uns anlegten und Rauch spuckten.
»Runter!«, brüllte Sam, der einen Moment lang vergaß, dass er nicht Kompaniechef, sondern einfacher Gefreiter war. Nichtsdestoweniger war es ein beherzter Rat, dem wir alle folgten. Wir warfen uns hin; etliche fielen unfreiwillig und rührten sich nicht mehr. Die Kugeln sirrten wie Stechmückenschwärme, die einen Angriff flogen, so heißt es irgendwo bei Mr. Easton, und wo er Recht hat, hat er Recht. Wir umarmten den Boden, als sei die vertraute Metapher von Mutter Erde die lautere Wirklichkeit — trinkende Ferkel hätten nicht intimer mit ihrer Muttersau verbunden sein können.
Das galt für uns alle, nicht aber für Julian. Ich wagte einen Blick und war schockiert. Er stand noch da.
(Dieses Bild von Julian hat einen derart tiefen Eindruck bei mir hinterlassen, dass ich es manchmal noch in meinen Träumen sehe.) Gestern hatte er seine Uniform gewaschen und getrocknet, als wäre die bevorstehende Schlacht eine Soiree, und trotz der Unbilden des Marsches sah er jetzt so sauber und makellos aus wie ein Operettensoldat. Seine Stirn lag in Falten, als habe er es nicht mit einem barbarischen Gegner zu tun, sondern mit einem vertrackten Rätsel, dessen Lösung tiefes Nachdenken erfordere. Er hielt sein Gewehr schussbereit, legte aber nicht an und schoss auch nicht.
»Julian!«, brüllte Sam. »Um Gottes willen! Runter!«
Gott verlieh der Aufforderung nicht das geringste zusätzliche Gewicht. Julian war nicht empfänglich für Gott, war es nie gewesen. Jetzt schien er auch noch unempfänglich für Gewehrkugeln. Die Salven heulten und schlugen Dreckfontänen aus dem Boden, auch vor seinen Füßen, aber keine Kugel traf Julian. Inzwischen hatten Soldaten in der Nähe bemerkt, dass Julian wie ein Wachposten dastand, mitten im heißen Bleiregen; und wir warteten auf den scheinbar unvermeidlichen tödlichen Treffer, der schon viel zu lange ausgeblieben war.
Denn die deutschen Schützen schossen sich zusehends ein, und eine Kugel schnipste wie ein Finger nach Julians Uniformkragen. Eine andere riss ihm die Mütze vom Kopf. Er rührte sich nicht. Das Schauspiel war überwältigend, da und dort erhoben sich dünne Stimmen über den Gefechtslärm und riefen anerkennend oder verzweifelt: »Julian Commongold!« Er stand und blieb stehen — es war, als sei ein Engel in Gestalt eines Fußsoldaten auf die Erde gestiegen —, die grobstoffliche Welt konnte ihm nichts anhaben, und er war so immun gegen Geschosse wie ein Elefant gegen Flohbisse.
Dann streifte eine Kugel sein Ohr. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Das Ohrläppchen verspritzte nur wenig Blut; und Julian drehte den Kopf, als habe ihm ein unsichtbarer Adjutant auf die Schulter geklopft.
Diese Feindberührung brachte ihm mit einem Schlag zu Bewusstsein, in welcher Situation er sich befand. Er warf sich allerdings nicht zu Boden. Aber die krause Stirn, die rätselnde Miene verwandelten sich in einen Ausdruck von Ärger und Verachtung. Er hob das Gewehr und zielte in aller Ruhe auf die gegnerische Brustwehr und feuerte.
Obwohl Julian kein Wort gesagt hatte, reagierten die Männer in seiner Nähe, als habe er den Befehl zum Vorrücken gegeben. Unser Standartenträger, der höchstens zwölf Jahre alt war, sprang auf und rannte mit der Regimentsfahne voran. Alle Übrigen feuerten fast gleichzeitig und stürmten mit Gebrüll hinterher.
Der Gefechtsrauch bot Deckung genug, um ohne große Verluste bis dicht an die feindliche Verschanzung zu gelangen, und unser verwegener Sturmangriff war erfolgreicher als geplant. Im Nu waren wir mit den feindlichen Schützengräben überkreuz, feuerten unsere Pittsburgh-Gewehre leer oder warfen uns hin, um nachzuladen. Die Deutschen sahen aus der Nähe aus wie Amerikaner, abgesehen von ihren merkwürdigen Uniformen, und deshalb feuerte ich auf die Uniformen, halb überzeugt, nicht Menschen umzubringen, sondern ihre Kleidung, die ihren Inhalt aus einem fernen Land hierhergetragen hatte; und sollten ein paar lebendige Männer unter dieser Versklavung durch ihre Uniform leiden oder von Kugeln durchbohrt werden, die ihr gegolten hatten — nun ja, das war unvermeidlich und ging nicht auf meine Kappe.
Dieses private Vexierspiel war nicht mit Mut zu verwechseln, erfüllte aber denselben Zweck: Es stumpfte ab.
In dieser Hölle verlor ich Julian aus den Augen und hätte auch nicht mehr als diesen Gedanken für ihn erübrigen können. (Meine Erinnerung ist nicht viel mehr als eine Collage aus Lärm und Widerwärtigkeiten.) Die Schlacht entwickelte sich rasch oder dauerte ewig — ich weiß es ehrlich nicht —, und dann gewahrten wir ein neues, alarmierendes Geräusch. Artillerie? Nicht die scharfen Salven von Pittsburgh-Gewehren, sondern stakkatoartiges Geschützfeuer, sekundenlang anhaltend — dann aufs Neue.
Sam erklärte später, was geschehen war. General Galligasken hatte seine Kavallerie in einen Flügelangriff auf die feindlichen Stellungen geschickt — im Grunde kein ungewöhnliches Manöver; aber die Kavallerie hatte sich insgeheim im Gebrauch einer neuen Waffe geübt, die unsere Antwort auf das chinesische Geschütz war.
Bei dieser Waffe, die später »Grabenfeger« genannt wurde, handelte es sich um ein schweres Gewehr mit einem enormen Magazin in Größe und Form einer Kuchenplatte, das Kugeln in die Kammer befördert, von wo sie in rascher Folge abgefeuert werden — eine Salve, die so lange anhält, wie der Finger gekrümmt wird, bis das Magazin leer ist. Die Porter&-Earle-Werke hatten nur eine relativ geringe Stückzahl dieser Waffe aufgelegt, doch eine Reihe war Galligaskens Kavalleriedivision zugeteilt worden, für Aufgaben wie diese.
Beim Angriff auf die deutschen Flanken traf unsere Kavallerie auf erbitterten Widerstand; doch der deutsche Kommandant war durch Galligaskens Frontalangriff getäuscht worden und hatte Männer von rechts und links abgezogen, um die Mitte zu verstärken. Unsere Kavallerie erlitt zwar beträchtliche Verluste, bevor sie die deutsche Verteidigung durchbrechen konnte, aber dann kamen die Grabenfeger zum Tragen, und der unerwartete Kugelregen versetzte die gegnerischen Truppen in Panik. Immer mehr Deutsche gaben ihre Stellung auf. Bald darauf flohen sie mit Sack und Pack über den Fluss, an dem sie ihren Brückenkopf gebildet hatten. Viele ertranken und wurden ans Ufer gespült und lagen herum wie die Äste eines vom Blitz getroffenen Baums.
Letzten Endes war es eine vernichtende Niederlage für Mitteleuropa. Mehr als eintausend Deutsche wurden getötet und doppelt so viele gefangen genommen. Ein bisschen mehr als fünfhundert Amerikaner kamen ums Leben.
General Galligasken befahl, die fliehende Armee zu verfolgen; man nahm ein paar Versprengte gefangen und erbeutete ebenso viele Pferde und ein paar Wagenladungen Proviant, aber die eigentliche Kolonne konnte in den Wäldern und Hügeln untertauchen; Galligasken wollte nicht in einen Hinterhalt geraten und ließ es dabei bewenden. Die Schlacht sollte später »Schlacht von Mascouche« genannt werden. (»Mascouche« hieß eine Halde ganz in der Nähe.) Es war alles in allem ein mitreißender Sieg, auch wenn es uns nicht gelungen war, das chinesische Geschütz zu erbeuten; es hatte weit hinten im Rücken der Deutschen gestanden und war, noch bevor wir die Stellung ganz aufgerollt hatten, zerlegt und davongeschafft worden.
In den Nachwehen der Schlacht fand ich Sam und Julian wieder, beide mehr oder weniger unverletzt. Galligasken ließ ein neues Lager am Fluss aufschlagen, während Vorräte herangekarrt und Feldlazarette für die Verwundeten errichtet wurden. Als der Abend hereinbrach, lagen wir mit vollem Bauch in unseren Zelten und ruhten uns aus. Es war ein ungewöhnlich lauer und freundlicher Abend, süß wie Aprilbutter, und der Mond schien hell und unbekümmert um das vergossene Blut, das hier unten gerann.
Julian sagte sehr wenig an diesem Abend. Ich hatte Angst um ihn, obwohl er den Kampf überlebt und nur diesen kleinen Kratzer davongetragen hatte. Es schien, als habe er während der aufwühlenden Ereignisse des Tages etwas ähnlich Lebenswichtiges wie Blut verloren.
Als wir unser Bettzeug ausrollten, lehnte er sich herüber und flüsterte: »Ich weiß nicht, wie viele Menschen ich heute getötet habe, Adam.«
»Genug, um zum Sieg beizutragen«, sagte ich.
»Ist das ein Sieg? Was wir heute erlebt haben? War das nicht eher ein Feuer im Leichenhaus?«, sagte er. »Es ist bitter, einen Fremden zu töten — schlimmer ist es, abertausend Fremde zu töten.«
Eine rhetorische Übertreibung, gewiss; aber so flach, wie seine Stimme klang, sagte sie, dass seine Verletzung zu tief war für Worte. Und ich weiß, wovon ich rede. Einem Mitmenschen eine Kugel ins Herz oder ins Hirn zu feuern — selbst wenn er dasselbe mit dir machen will — erzeugt etwas, das man eine unvereinbare Erinnerung nennen könnte: eine Erinnerung, die auf dem Alltag schwimmt wie ein Ölfleck auf dem Wasser. Rüttele die Regentonne, zerstreue das Öl in zahllose Fleckchen, zerschlage es, verrühre es, und es wird sich nicht mit dem Wasser vermischen; und zum Schluss ist der schillernde Fleck wieder da, so abscheulich intakt wie eh und je.
»Wir werden nie wieder sein, was wir einmal waren«, flüsterte Julian.
Ich setzte mich entrüstet auf. »Ich bin immer noch Adam Hazzard. Adam Hazzard von Williams Ford hat sich nicht verabschiedet, Julian. Er ist einfach nur in den Krieg gezogen. Eines Tages zieht er woandershin. Vielleicht nach New York City.«
Julian schöpfte augenscheinlich etwas Trost aus meiner schlichten Philosophie, denn er nahm meine Hand und sagte mit zittriger Stimme: »Danke, dass du das gesagt hast, Adam.«
»Schlaf drüber«, riet ich ihm. »Vielleicht brauchen wir morgen keinen zu töten, und du kommst wieder zu dir.«
Doch ich fand nicht in den Schlaf, ebenso wenig wie Julian; wir waren erschöpft und lagen wach, während der Mond auf das Schlachtfeld schien, auf dem wir die Deutschen geschlagen hatten; und auf die Lazarettzelte mit ihren Abfällen an amputierten Gliedern und auf den mit Blut versetzten Fluss, der sein Wasser in den mächtigen Sankt Lorenz trug, der es dann irgendwann ins offene Meer entließ.
Wegen des humanen Führungsstils von General Galligasken brauchte die Laurentische Armee am folgenden Tag nicht zu kämpfen und auch nicht hinter dem Feind herzumarschieren; wir durften bleiben, wo wir waren, und begruben unsere Toten und bauten unsere Stellung aus für den Fall, dass die Deutschen ihren Brückenkopf zurückerobern wollten.
In knapp einem Monat würde dieses Land eine dampfende Gehenna sein, ein Paradies für Moskitos und Bremsen, die sich an Menschen- und Tierfleisch labten; und unsere Märsche, sollte es dazu kommen, würden ein unmenschlicher Härtetest werden. Die Lazarettzelte, wo sie noch nicht mit Verwundeten belegt waren, beherbergten schon eine ganze Reihe von Männern mit »Sommerdurchfall«, und es lauerte immer die Gefahr, dass Cholera ausbrach oder sonst eine ansteckende Krankheit. Unser Trinkwasser nahmen wir aus Flüssen, denn das aus den Armeefässern war abgestanden und muffig; wir hofften das Beste.
Doch das ruhige und milde Wetter hielt noch ein paar Tage an. Am Sonntagnachmittag nach dem Dominion-Gottesdienst (der nicht nur aus dem feierlichen Teil bestand) legte sich eine allgemeine Abgespanntheit über das Lager, und ich wanderte zwischen den Zelten umher wie ein Aristokrat, der durch seinen Park schlendert (obwohl aristokratische Parks im Allgemeinen besser riechen als Feldlager).
Ich spazierte also von einem Sonnenschein zum nächsten und summte vor mich hin, als ich etwas hörte, das mich stutzig machte.
Nun gibt es in einem Heerlager alle erdenklichen Geräusche: Pioniere, die aus unerfindlichen Gründen Bäume fällen; Hufschmiede, die mit Hammer und Amboss zu Werke gehen; Infanteristen beim Übungsschießen und jede Menge andere, nicht minder geräuschvolle Verrichtungen. Aber weil Sonntag war, unterblieben diese Tätigkeiten. Was ich gewahrte, war ein Geräusch, das sich aus der Entfernung anhörte, wie wenn ein Specht auf einen Baum klopft oder ein Trommler sich auf dem Rand seines Instruments vergebens an einem ungewöhnlichen Rhythmus versucht. Doch das Geräusch schien spröder, mechanischer als das; und als meine Neugier einmal geweckt war, konnte ich an nichts anderes mehr denken, als der Sache auf den Grund zu gehen.
Die Quelle des Geräuschs, wie ich bald herausfand, war höchstwahrscheinlich ein viereckiges Zelt auf einer ansteigenden Wiese, die sich weiter östlich zu einem ansehnlichen Hügel mauserte. Der Zelteingang war offen; also stelzte ich vorbei, die Hände auf dem Rücken, Gleichgültigkeit mimend, aber doch ein oder zwei beiläufige Blicke nach innen werfend. Aber ich konnte mit dem besten Willen nichts erkennen — meine Sicht wurde nicht bloß durch den Zeltschatten beeinträchtigt, sondern auch durch einen feinen Treibnebel aus Tabak- und Hanfrauch, der sich überschlagend in den Sonnenschein entwich, dass man meinen konnte, das Zelt sei lebendig und atme; und ich musste mehrmals vorbeikommen, um die wahre Ursache für so viel Rauch und Krach auszumachen: Es war ein Mann, der an einem zerbrechlich wirkenden Holztisch saß und mit einer Maschine zugange war.
Mein Bemühen, nicht aufzufallen, war nicht von Erfolg gekrönt, denn als ich das siebte oder achte Mal vorbeischaute, rief der geheimnisvolle Mann: »Schluss mit der Hampelei da draußen! Reinkommen oder Land gewinnen — eins von beiden.« Seine Stimme war rau, und er redete mit einem nasalen Akzent, der an Julian erinnerte.
»Ich wollte Sie nicht stören, tut mir leid«, sagte ich hastig.
»Gestört war ich schon, bevor Sie aufgetaucht sind; was noch lange nicht … Was starren Sie denn so?«
»Diese Maschine«, sagte ich, tat einen dreisten Schritt ins schattige Innere und widerstand der beinah unwiderstehlichen Versuchung, den Atem anzuhalten. Als sich meine Augen an die trübe Helligkeit gewöhnten, sah ich, dass der Mann mit Aschenbecher, Pfeife, Tabakbeutel und Flachmann bewaffnet war; Letzterer erklärte den Übergeruch von Alkohol in dieser schwindelerregenden Mischung aus Moschusdüften. Der Mann sah nicht aus wie ein Infanterist und schien tatsächlich ein Zivilist zu sein. Seine Sachen waren fadenscheinig und an etlichen Stellen ausgebessert, ließen aber auf Geschmack und Qualität schließen. Der Hut hatte eine schmale Krempe und war tief in die Stirn gezogen.
Doch das war nur eine flüchtige Analyse, denn ich fand die Maschine weit interessanter. Sie war nicht viel größer als ein großzügig bemessener Brotkasten und sah von außen so ausgeklügelt aus wie eine Taschenuhr von innen und war in schwarzem Emaille gehalten und mit ganz vielen runden, weißen Knöpfen mit einem silbernen Kragen besetzt, von denen jeder Einzelne mit einem schwarzen Buchstaben beschriftet war. Dahinter, am oberen Ende der Maschine, saß ein Blatt Papier fest um einen nudelholzförmigen Zylinder gespannt; auf dem Papier waren Buchstaben gedruckt.
»Das ist eine Schreibmaschine«, sagte der Mann. »Die gibt’s wohl nicht in dem Weiler, aus dem du kommst.«
Ich überhörte die Anspielung auf Williams Ford und sagte: »Sie meinen, das ist eine Druckerpresse? Machen Sie denn ein Buch?« (Ich wusste damals noch sehr wenig über die technische Seite der Herstellung von Büchern und fand, dass sie womöglich genauso gemacht wurden: von schmuddeligen Männern, die sie mit so einer Maschine Buchstabe für Buchstabe abschrieben.)
»Sehe ich aus wie ein Verleger? Du solltest nicht meine Gastfreundlichkeit benutzen, um mich zu beleidigen.«
»Ich heiße Adam Hazzard«, sagte ich.
»Theodore Dornwood«, murmelte er und wandte sich wieder seiner Tätigkeit zu.
»Eine bemerkenswerte Maschine«, bohrte ich weiter, »auch wenn es keine Druckerpresse ist. Was machen Sie damit? Schreiben Sie Schilder oder Hinweise?«
»Ich bin kein Verleger, ich bin kein Schildermaler, und ich bin auch kein Kompanieschreiber. Ich schaue auf zu diesen Leuten. Ich bin Schriftsteller.«
Jetzt war ich verblüfft — ich war noch nie einem Schriftsteller begegnet und auch noch niemandem, der sich dafür hielt. Ich bekam ganz große Augen und rief reichlich unbesonnen: »Ich auch!«
Mr. Dornwood bekam den Rauch aus seiner Pfeife in den falschen Hals und fing an zu husten.
»Das habe ich wenigstens vor. Ich meine, eines Tages Bücher zu schreiben wie die von Mr. Charles Curtis Easton — Sie haben bestimmt schon von ihm gehört.«
»Wer kennt ihn nicht? Seine Romane bevölkern die Bücherstände in der Hudson Street.«
»Wo ist die Hudson Street?« (Falls sie nämlich in Montreal war, hätte ich vielleicht etwas von meinem Sold investiert, um mit Mr. Eastons Büchern Schritt zu halten.)
»Manhattan«, sagte Mr. Theodore Dornwood mit einem wehmütigen Blick auf das Blatt in seiner Schreibmaschine.
»Dann sind Sie ein Schriftsteller aus New York?«
»Ich schreibe für den Spark.«
Der Spark war eine Zeitung in New York City. Ich hatte noch nie eine Ausgabe gesehen — nicht vom Spark und auch von sonst keiner Zeitung —, Julian hatte das Blatt ein- oder zweimal erwähnt und als beliebt, aber auch vulgär bezeichnet.
»Schreiben Sie gerade einen Bericht?«
»Nein! Ich verplempere meine Zeit mit einem x-beliebigen Infanteristen, der nichts Besseres zu tun hat, als hier aufzukreuzen; aber, ob du’s glaubst oder nicht, ich war tatsächlich bei der Arbeit, bevor du hier herumgeschnüffelt hast.«
Da Theodore Dornwood aus Manhattan kam, wollte ich schon fragen, ob er dort Julian Comstock begegnet oder der ihm über den Weg gelaufen sei; doch mir fiel ein, dass jede unbedachte Preisgabe von Julians richtigem Familiennamen seinem mörderischen Onkel zu Ohren kommen konnte.[33] Deshalb ließ ich Julians Namen unerwähnt und sagte: »Tja, ich wünschte. ich hätte so eine schöne Maschine. Besitzen alle New Yorker Schriftsteller eine?«
»Eine Handvoll privilegierte.«
»Wie funktioniert sie?«
»Du drückst die Tasten runter — so — siehst du? — und die Buchstaben werden auf das Papier gestempelt — vorausgesetzt, man lässt dir die nötige Ruhe zum Arbeiten.«
»Geht das nicht langsamer als mit der Hand?«
»Schneller, wenn du geübt bist, und das fertige Manuskript ist eine bessere Druckvorlage … Hazzard, wie war noch dein Name? Bist du der Soldat, der den Landeiern das Schreiben beigebracht hat?«
Der Unterricht, den ich Lymon Pugh gab, war so erfolgreich gewesen, dass noch ein paar andere Infanteristen dazugestoßen waren. Mir gefiel, dass Mr. Dornwood davon gehört hatte. »Der bin ich.«
»Und du schreibst auch?« Er inhalierte aus seiner Pfeife und gab eine Vesuvladung an Rauch von sich. Die beißende Luft im Zelt ließ mir allmählich Flügel wachsen, während Dornwood nichts dergleichen anzumerken war; der Mann hatte seine Laster so lange befriedigt, dass er inzwischen immun gegen sie war. (Er war nicht alt in dem Sinne, wie Sam Godwin alt war, aber er war mindestens zehn Jahre älter als ich — alt genug, um abgehärtet zu sein gegen seine schlechten Angewohnheiten.) »Woran arbeitest du gerade, Adam Hazzard?«
Ich errötete und sagte: »Na ja, ich halte Papier und Bleistift parat … aber ich habe keine Schreibmaschine mit Federn und Hebeln … ich mache mir von Zeit zu Zeit Notizen …«
»Keine Bescheidenheit zwischen Schreiberlingen«, sagte Dornwood. »Du erfindest Geschichten, oder?«
»Ja — von einem Jungen aus dem Westen, der von chinesischen Händlern gekidnappt und gegen seinen Willen aufs Meer gebracht wird, und als er seinen Wärtern entkommt, stößt er auf Piraten, aber die wissen nicht …«
»Verstehe. Und wie vielen Piraten bist du begegnet, Adam Hazzard?«
Die Frage überrumpelte mich. »Im richtigen Leben? Na ja — noch keinem.«
»Dann hast du sie aus der Entfernung beobachtet?«
»Eigentlich …«
»Bist du dir überhaupt sicher, dass es Piraten gibt — wenn du sie noch nie gesehen hast? Nein, sag jetzt nichts; aber dafür sag ich dir was: Warum schreibst du über Piraten, Adam, wo du in ein Abenteuer verstrickt bist, das mindestens so bedeutsam ist wie alles, was C. C. Easton sich jemals ausgedacht hat?«
»Was wollen Sie damit sagen — dass ich über den Krieg schreiben soll? Ich kenne ihn doch kaum.«
»Egal! Schreibe, was du weißt: Das ist ein ehernes Gesetz in unserem Metier.«
»Umso schlimmer für mich«, sagte ich benommen, »denn ich weiß herzlich wenig, wenn’s drauf ankommt.«
»Jeder weiß etwas. Die Schlacht von Mascouche zum Beispiel. Warst du nicht mittendrin?«
»Ja, aber es war meine erste.«
»Wäre es nicht eine vernünftige Übung, mit dem Bleistift festzuhalten, was an diesem Tag passiert ist? Nicht, was der Laurentischen Armee passiert ist — überlass das den Historikern —, ich meine, was dir passiert ist — was du ganz persönlich erlebt hast.«
»Wen interessiert das?«
»Es wäre auf jeden Fall eine Übung im Schreiben. Adam«, rief er, stand von seinem Hocker auf und warf mir in einer unerwartet jovialen Geste einen Arm um die Schultern, »warum verplemperst du deine Zeit hier oben? Ein Schriftsteller muss vor allen Dingen schreiben! Vergeude nicht kostbare Minuten, indem du auf meine Schreibmaschine starrst — oder schlimmer noch, sie anfasst —, jetzt, wo der Feind ruhig und das Wetter schön ist, hast du Zeit, deine literarischen Fertigkeiten zu schulen! Nimm deinen bescheidenen Bleistift, Adam Hazzard, und schreibe deine Erinnerungen an die Ereignisse der letzten paar Tage auf — und spare nicht mit Einzelheiten.«
Das leuchtete mir sofort ein — ich war Feuer und Flamme und machte mir Vorwürfe, nicht selbst darauf gekommen zu sein. »Wenn ich mit dem Aufsatz fertig bin, darf ich dann damit vorbeikommen?«
Er setzte sich, als bliebe ihm die Luft weg. »Vorbeikommen?«
»Mit meiner Beschreibung der Schlacht. Damit Sie mir sagen können, was ein erfahrener Schriftsteller anders gemacht hätte.«
Mr. Dornwood schob die Brauen zusammen, er war sichtlich verstört; dann sagte er: »Also gut … sagen wir nächsten Sonntag — wenn wir dann noch unter den Lebenden weilen.«
»Das ist sehr großzügig!«
»Ich bin ein weithin bekannter Heiliger.«
Ich wollte schnurstracks zu meinem Zelt und damit beginnen, Dornwoods Vorschlag in die Tat umzusetzen, als ich durch gut drei Dutzend Soldaten abgelenkt wurde, die das Zelt des Gefreiten Langers belagerten.
Langers, der Leser wird sich erinnern, war ein Passagier des Zuges mit dem Karibugeweih: ein Kolporteur, wie er sich gerne nannte, der religiöse Traktate über delikate Dinge an einsame Männer verkaufte, die ihr Vergnügen an den Illustrationen hatten — aus Gründen, die sich nicht unbedingt mit Pietät und Glauben vertrugen. Langers war durch die Rekrutierung aus der Bahn geworfen worden und jetzt nichts weiter als ein weiterer Infanterist. Doch seine unternehmerischen Instinkte hatten die Verwandlung überlebt und es schien, als sei er wieder im Geschäft — irgendeinem —, nach der Meute zu urteilen, die ihn umringte.
Ich fragte einen Soldaten, was los sei.
»Langers war zum Begraben eingeteilt«, sagte der Mann.
»Würde mich wundern, dass er deshalb so beliebt ist.«
»Er hat den toten Deutschen alles Mögliche abgenommen. Jacken und Helme, Abzeichen und Brieftaschen, Koppelschlösser und Lederhalfter …«
Feindliche Ausrüstungsgegenstände mussten dem Quartiermeister ausgehändigt werden, aber alles andere war vermutlich »vogelfrei« und gehörte dem, der es fand. Menschen sind häufig in der Versuchung, ein, zwei Andenken an ihre getöteten Feinde mitzunehmen — vorausgesetzt, ihr Magen macht diese Art von Schatzsuche mit. Doch Langers war weit über diesen verzeihlichen Impuls hinausgegangen. Er hatte den ehemaligen Brückenkopf der Deutschen mit einem mittleren Korb abgeerntet und alle Früchte fein säuberlich ausgestellt. Dutzende von Trophäen lagen in Reih und Glied auf einer Decke vor seinem Zelt; auf einem Schild stand: EVERY-THING $ 1.
Ich fand den Preis komisch. Ein paar Sachen waren offensichtlich mehr wert, wie zum Beispiel die Sammlungen deutscher Münzen, für die man in Montreal gutes Geld bekommen würde. Aber die meisten Sachen waren viel weniger wert. Fast alle Jacken hatten Schusslöcher; und das Glasauge, so lebensecht es war, hatte einen hässlichen Sprung. Der Soldat hinter mir klärte mich auf.
»Das heißt nicht, dass du einen Dollar bezahlst und nehmen kannst, was du willst. Überall liegt eine Nummer daneben — siehst du die Papierschnipsel? —, und Langers hat einen Topf mit genau solchen Schnipseln. Wenn du deinen Dollar zahlst, sagt er: ›Greif in den Topf‹, und das machst du und ziehst eine Nummer und kannst nachsehen, was du gekauft hast. Wenn du Glück hast, bekommst du vielleicht diese Gürtelschnalle mit der Meerjungfrau. Aber es kann auch so ein dusseliges Lederbeutelchen sein oder ein deutscher Stiefel mit einem amerikanischen Loch.«
»Ist das nicht Glücksspiel?«
»Quatsch«, sagte der Soldat. »Das macht nicht halb so viel Spaß.«
Ich war von klein auf vor Glücksspiel gewarnt worden, von meiner Mutter und vom Dominion Reader for Young Persons, obwohl das einzige Glücksspiel, das ich jemals zu Gesicht bekam, die unter abhängigen Arbeitern verbreitete Variante war, in der mit Würfeln oder Karten um Tabak oder Alkohol gespielt wurde. Diese Spiele endeten meist in Faustkämpfen und hatten mich nie gereizt. Doch dem Losverfahren des Gefreiten Langers war nicht so leicht zu widerstehen. Ich war neugierig auf die Deutschen und fand, ich sollte vielleicht das eine oder andere über die Leute erfahren, auf die ich geschossen und die ich manchmal auch getötet hatte. Etwas von ihnen zu besitzen schien mir ein fast religiöses Bedürfnis zu sein (man verzeihe mir diese kleine Ketzerei), ganz ähnlich dem Brauch primitiver Völker, das Herz ihrer Feinde zu verzehren — eine eher christliche Inszenierung desselben Motivs.
Also drängte ich mich nach vorne, nahm einen Comstock-Dollar heraus und legte ihn hin, damit ich in den Glückstopf des Gefreiten Langers greifen durfte. Ich zog die Nummer 32, die einem kleinen Lederranzen gehörte, der ziemlich abgewetzt und enttäuschend schmal war. Der Ranzen gehörte augenscheinlich nicht zu den wertvollen Dingen, und Langers lächelte zufrieden, als er den Dollar wegsteckte und mir den Ranzen aushändigte. Aber meine Enttäuschung verflog schnell; denn der Ranzen enthielt einen Brief, den vermutlich ein deutscher Soldat kurz vor seinem Tod verfasst hatte. Noch einmal: Einen Geldwert besaß der Ranzen nicht, und Langers hatte allen Grund zu frohlocken; doch als Andenken an das Leben eines Menschen und als Blick durchs Schlüsselloch der mitteleuropäischen Infanterie fand ich den Brief unheimlich interessant.
Ich faltete die beiden handgeschriebenen Seiten auseinander und versuchte mir den Deutschen vorzustellen, wie er dasaß und den Brief schrieb, ohne zu ahnen, dass die Zeilen erst einem leichenfleddernden Kolporteur in die Hände fallen würden, um dann in den Besitz eines Pächterjungen aus Williams Ford zu gelangen. In meinem Zelt starrte ich nahezu eine Stunde lang auf die beiden Seiten und philosophierte über Schicksal, Tod und andere bedeutungsschwere Dinge.
Lymon Pugh schaute vorbei und scheuchte mich aus meiner Grübelei. Ich zeigte ihm den Brief.
Er rätselte einen Moment lang, ehe er sagte: »Da muss ich wohl noch viel Unterricht nehmen, was?«
»Ist doch klar, dass du das nicht lesen kannst. Das ist Deutsch.«
»Deutsch? Sie reden das Geraspel nicht bloß, sie schreiben es auch auf?«
»So sind sie.«
»Aber Sie können doch alle Buchstaben, Adam. Können Sie das nicht entziffern?«
»Oh, ich kann die Buchstaben lesen — genau wie du, aber du hast bestimmt noch Probleme mit der Handschrift. Dieses Wort hier zum Beispiel: L-I-E-F-S-T-E; das sind lauter bekannte Buchstaben.«
»Und wie spricht man das?«
»Sieht aus, als würde es ›leafst‹ ausgesprochen. Oder ›leafstee‹, kommt drauf an, wie sie die Endvokale sprechen.«
»Das ist doch kein Wort«, sagte Lymon Pugh mit Verachtung.
»Ganz bestimmt kein englisches …«
»Wenn die Deutschen schon schreiben, dann sollen sie gefälligst anständig schreiben! Kein Wunder, dass wir sie verjagen müssen«, schimpfte Lymon. »Moment mal! Und wenn das gar nicht verstanden werden soll? Von uns, meine ich. Vielleicht ist das ein Code. Vielleicht ist das, was Sie da in der Hand halten, ein Schlachtplan, den ein General dem anderen schicken wollte.«
So weit hatte ich noch gar nicht gedacht. Die Vorstellung war beunruhigend, und ich beschloss, den Brief Major Ramsden zu zeigen. Major Ramsden sprach ein bisschen Deutsch; sein Vater war ein deutscher Seemann gewesen, der irgendwo an der amerikanischen Küste gestrandet war. Deshalb musste Ramsden die Gefangenen verhören.
Er lag dösend in seinem Zelt und genoss die Sonntagsruhe; er war überhaupt nicht erfreut über meinen Besuch, war aber bereit sich anzusehen, was ich mitgebracht hatte.
Er hielt den Brief halb seitwärts, schielte auf die Zeilen und folgte ihnen mit dem Finger und fing endlich an, vor sich hinzubrummen. Er sträubte sich derart gegen eine Übersetzung, dass ich mich schon fragte, ob er vielleicht ein Analphabet war — also Deutsch sprechen, aber nicht lesen konnte. Doch als ich darauf anspielte, erntete ich nur einen giftigen Blick und hakte nicht erst nach.
Über viele Jahre habe ich den Brief aufgehoben, und er liegt neben mir, wenn ich schreibe, und so sah er aus, obwohl die Tinte inzwischen verblasst ist und manche Buchstaben undeutlich geworden sind:
Liefste Hannie,
Ik hoop dat je deze brief krijgt. Ik probeer hem met de postboot vanuit Goose Bay te versturen.
Ik mis je heel erg. Dit is een afschuwelijke oorlog in een vreseleijk land — ijzig koud in de winter en walgelijk heet en vochtig in de zomer. De vliegen eten je levend, en de bestuurders hier zijn tirannen. Ik verlang er zo naar om je in mijn armen te houden![34]
»Was heißt das?«, fragte ich.
Major Ramsden zog die Stirn noch krauser und bedachte mich mit einem verdrießlichen Blick, bevor er sagte: »Es geht nur darum, wie sehr er unser Amerika hasst.«
»Er hasst Amerika?«
»Das tun sie doch alle — die Deutschen.«
»Weshalb hasst er uns?«
Major Ramsden schielte auf den Text.
»Wegen unserer Freiheiten«, sagte er.
Das war zufällig das Thema des heutigen Dominion-Gottesdienstes gewesen: unsere gottgegebenen Freiheiten, eine nach der anderen, und der instinktive Hass unserer Feinde auf sie. »Sagt er auch, welche Freiheiten ihn so aufregen? Die Freiheit der andächtigen Versammlung? Die Freiheit der hinnehmbaren Rede?« (Zur Zeit der Säkularen Alten hatte es nur »Versammlungsfreiheit« und »Redefreiheit« geheißen.)
»Alle, eine wie die andere.«
»Und was ist damit?«
Ich deutete auf das zweite Blatt, auf dem der Deutsche etwas gezeichnet hatte. Die Federskizze war unklar: Sie schien irgendein Tier darzustellen oder eine Süßkartoffel mit Flecken und einem Schwanz. Darunter stand:
Fikkie mis ik ook!
»Das heißt ›Alle Amerikaner sind Hunde‹«, erklärte der Major.
Ich konnte mich nur wundern, wie fanatisch die Mitteleuropäer waren, und was für einen verrückten Hass man ihnen eingeflößt hatte.
In den nächsten Monaten blieb unser Regiment vom Krieg verschont, aber nicht von seinen Konsequenzen. In einer Reihe allgemeiner Lagerversammlungen wurde uns erklärt, hinter dem Artilleriebeschuss von Montreal hätten nur ein paar deutsche Divisionen gestanden, und der Angriff sei kaum mehr als ein Ablenkungsmanöver gewesen. Der eigentliche Kriegsschauplatz liege östlich von Quebec City, dort, wo der Saguenay River in den Sankt Lorenz fließt. Dort kämpfe nämlich unsere Süßwasser-Flotte unter Admiral Bolen in einer offenen Schlacht gegen eine Flotte schwer bewaffneter Kanonenboote, die der Feind heimlich im Lake St. John zusammengezogen hätte. Wir hätten bereits etliche Schiffe bei dieser Begegnung verloren; und die brennenden Wracks, manche noch mit wehendem Sternenbanner (13 Streifen, 60 Sterne), wären den Sankt Lorenz hinuntergetrieben und hätten, Berichterstattern zufolge, an die mit brennenden Kerzen geschmückten Boote erinnert, die man in Japan zu Ehren der Toten aussetzte.[35] Der Feind baue seine den Sankt Lorenz überblickende Festung in der Nähe von Tadoussac weiter aus und schaffe seine beste Artillerie heran, darunter ein chinesisches Geschütz, um von dort aus den amerikanischen Schiffsverkehr zu zermürben und den amerikanischen Handel zu strangulieren. Es zeichne sich ab, dass der Feldzug von 2173 im Wesentlichen zwei Ziele habe: nämlich diese Festung zu schwächen und gleichzeitig je einen Verteidigungsgürtel um Montreal und Quebec City aufrechtzuerhalten.
Ein Großteil der Laurentischen Armee werde daher nach Osten verschifft, um die Landschlacht zu unterstützen. Doch eine Garnison müsse bei Montreal stationiert bleiben, und diese Verantwortung sollten Truppen mit weniger Fronterfahrung übernehmen, und dazu gehörte unser Regiment aus West-Rekruten.
Ich fand es schade, nicht an den Sommerkämpfen beteiligt zu werden. Aber Julian fand nur Spott für diese Regung und meinte, wir hätten noch mal Glück gehabt, und wenn diese Glückssträhne anhalte, könnten wir vielleicht aus dem Militärdienst entlassen werden, ohne noch mehr Blutvergießen zu erleben, als wir es schon in der Schlacht von Mascouche erlebt hätten, und das sei gut so. Doch mein Patriotismus (oder war es Naivität?) brannte mit hellerer Flamme als Julians, und bei dem Gedanken an all die Deutschen, die von anderen Soldaten getötet wurden, hatte ich gelegentlich das Gefühl, ich könnte zu kurz kommen.
Doch es gab nicht nur Schattenseiten, denn im Sommer würde man uns bestimmt manchen Urlaub in der City von Montreal gönnen, und ich war ziemlich gespannt, ob es mir gelingen würde, Calyxa wiederzusehen — und dann vielleicht auch ihren Nachnamen zu erfahren.
Dann traf uns eine Urlaubssperre, und zwar wegen eines Vorfalls, an dem Julian beteiligt war und der ein Leichentuch über das gesamt Lager breitete.
Ein fortschrittlicher Colonel, neulich aus New York City zugeteilt, hatte entschieden, unser Feldlager reiche zu nahe an die Brustwehr heran, und ich wurde eingeteilt, bei der Verlegung der betroffenen Zelte zu helfen. Nun hatten die Zelte inzwischen alle Eigenschaften von Heimstätten angenommen, als da waren: eine primitive Kochstelle, ein Rauchabzug aus getrocknetem Schlamm, Wäscheleinen und alle diese verwinkelten und verwickelten Kleinigkeiten, die zum Leben und Wohnen gehörten; folglich hatten wir bis spät in die Nacht gearbeitet, und ich hatte noch nicht viel geschlafen, als Sam mich am nächsten Morgen wachrüttelte.
»Steh auf, Adam«, sagte er. »Julian braucht deine Hilfe.«
»Was hat er jetzt wieder angestellt?«, fragte ich und rieb mir die Augen mit Händen, die noch sandig waren von der späten Arbeit.
»Nur das übliche leichtfertige Gerede. Aber Lampret hat Wind davon bekommen und Julian zu einer ›Unterredung‹ in sein Hauptquartier beordert.«
»Mit so was wird Julian doch alleine fertig. Ich möchte noch schlafen, wenn du nichts dagegen hast, und dann noch zum Fluss runter und mich waschen.«
»Waschen kannst du dich später! Du sollst nicht mit reingehen und Julian die Hand halten. Du sollst dich draußen verstecken und sie belauschen. Mach dir Notizen, wenn nötig, oder benutz einfach dein Gedächtnis. Dann kommst du zurück und erzählst mir, was los war.«
»Kannst du Julian nicht einfach fragen, wenn er zurückkommt?«
»Major Lampret ist ein Dominion-Offizier. Er hat die Befugnis, Julian jederzeit in eine andere Kompanie zu versetzen oder sogar an die Front zu schicken. Je nachdem, wie wütend Lampret ist, lässt er Julian nicht mal Zeit zum Packen — im schlimmsten Fall sehen wir Julian gar nicht wieder und wissen nicht mal, wohin man ihn geschickt hat.«
Das machte Sinn und war zum Fürchten. Ich sagte (als letzte sehnsüchtige Ausflucht): »Kannst du sie denn nicht genauso belauschen wie ich?«
»Einem dreckigen jungen Gefreiten, der die halbe Nacht zur Arbeit abkommandiert war, wird man es vermutlich nachsehen, wenn er zwischen Seilen und Fässern draußen an Lamprets Zelt eingedöst ist. Ich habe keine solche Entschuldigung, und mein Alter macht mich verdächtig. Komm hoch, Adam. Wir haben keine Zeit zu verlieren!«
Also raffte ich mich auf und erfrischte mich mit einem lauwarmen Schluck aus der Feldflasche, bevor ich hinüber zu Major Lamprets Hauptquartier pilgerte; das große viereckige Zelt stand ungefähr da, wo der Quartiermeister seine frischen Vorräte stapelte. Und in diesem Labyrinth aus Fässern, Kisten, Seilen und losem Zubehör sollte ich mich verstecken. Gestern erst hatten drei Konvois hier abgeladen, und der Quartiermeister hatte mehr als alle Hände voll zu tun, seine Schätze zu ordnen, zu lagern und zu verteilen. Mit dem Ergebnis, dass ich in dieses Tohuwabohu hineinschlendern konnte, um mich dann bis zu einem Proviantstapel vorzuarbeiten, das zufällig an Major Lamprets Zelt grenzte. Durch ein paar leise und wohlüberlegte Umbauten schuf ich mir eine Deckung unmittelbar an Lamprets Zeltwand, rollte mich zusammen und wartete …
Sam hatte mir allerdings nicht gesagt, wann die Unterredung zwischen Julian und Lampret anberaumt war, und mir wollten schon wieder die Augen zufallen, denn der Tag war warm und meine Uniform auch, und ein Fass mit gepökeltem Schweinefleisch zog einen Schwarm Fliegen an, die mich in Schlaf summen wollten, und die harzigen Kartonagen, die in der Sonne schwitzten, verströmten quälende Düfte. Meine Lippen klafften von Zeit zu Zeit auseinander, und ich hatte Angst, Stunden später hier gefunden zu werden, zufrieden träumend, während Julian längst nach Schefferville oder nach irgendwo weiter nördlich verschifft wurde. Ich benutzte diese unerfreuliche Aussicht als Folterinstrument, um ja nicht einzunicken; mir fiel jedenfalls ein Stein vom Herzen, als ich Julian über den Exerzierplatz kommen sah, mit erhobenem Kopf und tadelloser Uniform.
»Melde mich gehorsamst zur Stelle«, sagte Julian, als er ins Zelt trat. Ich konnte ihn nicht sehen, aber seine Stimme klang so unverfälscht, als hätte er an meinem Ohr geredet.
»Julian Commongold«, sagte Major Lampret. »Gefreiter Commongold — oder sollte ich Sie Pastor Commongold nennen?«
»Sir?«, fragte Julian.
»Wie ich höre, unterweisen Sie die Truppe in religiösen Fragen.«
Da ich keinen der beiden Gesprächspartner sehen konnte, will ich das Gespräch so niederschreiben wie den Dialog eines Theaterstücks — das heißt, ohne den Bonus der Beobachtung, also genau so, wie ich es erlebt habe:
JULIAN: »Ich bin mir nicht sicher, ob ich verstehe, was Sie meinen, Sir.«
LAMPRET: »Seien wir offen zueinander. Ich habe Sie schon eine ganze Weile im Auge. Sie sind nicht wie die anderen Männer, hab ich Recht?«
JULIAN (zögernd): »Kein Mensch ist wie der andere.« LAMPRET: »Zunächst einmal sind Sie gebildet und zweifellos belesen. Sie haben eine Meinung zu aktuellen Ereignissen. Und ich bin in der Welt herumgekommen, Gefreiter Commongold, und erkenne den Manhattan-Akzent, wenn ich ihn höre.«
JULIAN: »Ist das so ungewöhnlich?«
LAMPRET: »Ganz im Gegenteil. Jemand wie Sie taucht früher oder später in jedem Regiment auf — wenn kein Zyniker aus Manhattan, dann ein Militärjurist aus Boston oder ein Möchtegernsenator mit ländlicher Adresse. Ich versuche nur herauszufinden, was für ein Problem Sie sind. Aufgewachsen in New York, und Sie hatten dort zweifellos ein komfortables Leben, nach Aussehen und Gebaren … Wer war Ihr Vater, Julian Commongold? Ein aufstrebender Lumpenhändler? Ein Techniker, der Geld genug hatte, sich die Illusion von Wohlstand zu kaufen und eine Hochglanzbildung für seinen Sohn? Der tagsüber den Speichel seiner Überlegenen geleckt hat, um sie abends in der Abgeschiedenheit seiner Küche zu verfluchen? Haben Sie deshalb Ihre Familie verlassen und die Uniform angezogen? Oder waren Sie nur betrunken und sind im falschen Zug aufgewacht, wie ein überfälliger Schuljunge?«
JULIAN (kühl): »Der Herr Major sind sehr scharfsichtig.«
LAMPRET: »Wie dem auch sei … Vermutlich haben Sie zu den Jungen gehört, die auf dem Schulhof immer ihren Willen bekamen? Ein paar eindrucksvolle Worte, und jeder wollte Ihr Freund sein?«
JULIAN: »Nein, Sir — nicht jeder.«
LAMPRET: »Nein — da gibt es immer ein paar Unbequeme, die das Spiel durchschauen.«
JULIAN: »Der Major ist erstaunlich gut informiert über das Leben in New York City. Ich war in der Annahme, er hat die meiste Zeit in Colorado Springs verbracht.«
Das war eine gewagte und gefährliche Bemerkung. Die Dominion-Akademie in Colorado Springs hatte einige hervorragende Strategen und Taktiker hervorgebracht — aber auch ein Heer von Spionen und Informanten. Nach Sam war die Dominion-Militärakademie früher einmal eine echte Militärakademie gewesen, damals, als die Vereinigten Staaten noch eine Luftwaffe unterhielten — das heißt, ein Bataillon von Flugzeugen und Piloten.[36] Doch dieser Einrichtung erging es genauso wie dem Öl, obwohl es heißt, die Kampfflugzeuge seien dank einer strategischen Reserve noch in den ersten Jahren der Falschen Drangsal geflogen. Danach geriet die Luftwaffenakademie zunehmend unter den Einfluss des Dominions — genauer gesagt, unter den Einfluss seines Machtzentrums in Colorado Springs — und wurde letzten Endes so etwas wie eine institutionalisierte Liaison zwischen Dominion und Generalstab.
Dominion-Offiziere sind voll anerkannte Offiziere und befugt, Befehle zu erteilen. Aber ihre wahre Macht ist die Disziplin. Nur ein Dominion-Offizier kann jemanden wegen Gottlosigkeit oder Aufwiegelei vor Gericht bringen. Ein Soldat, der solcher Verbrechen überführt wird, kann bestenfalls mit unvorteilhafter Entlassung und schlimmstenfalls mit zehn Jahren Militärgefängnis rechnen.
Diese Macht wurde selten ausgeübt, denn die Beziehung zwischen Armee und Dominion war immer eine empfindliche gewesen. Dominion-Offiziere waren im Allgemeinen nicht sehr beliebt und wurden nicht selten als selbstgefällige und potenziell gefährliche Eindringlinge betrachtet. Ein guter Dominion-Offizier war aus Sicht der Soldaten jemand, der seinen Teil der Arbeit tat; der Pietät durch sein Beispiel förderte und weniger, indem er ihre Abwesenheit strafte; und dessen Sonntagspredigten kurz und bündig waren. Die Männer mochten Major Lampret, denn er drohte ihnen nur selten. Doch er war reserviert in ihrer Gegenwart und beobachtete sie aus der Entfernung. Major Lampret hatte etwas von einem satten Berglöwen aus Colorado: Er war lethargisch, aber muskulös und bereit zum Angriff, sobald sich sein Appetit meldete.
Hatte Julian Major Lamprets Appetit auf Abtrünnige und Besserwisser geweckt? Das war die Frage, die ich mir stellte, während ich in meinem Nest aus Seilen und Kisten lag und lauschte.
LAMPRET: »Sie sollten Ihren Tonfall überdenken, Gefreiter Commongold. Darf ich Ihnen eine Lektion in Staatsbürgerkunde erteilen? Es gibt drei Zentren der Macht in den Vereinigten Staaten von heute, nur drei. Das eine ist die Exekutive, die sich auf die Senatoren und die breite Schicht der Eigentümer stützt. Ein anderes ist das Militär. Und das letzte ist das Dominion of Jesus Christ on Earth. Sie sind wie die drei Beine eines Schemels: Jedes stützt die beiden anderen, und sie funktionieren am besten, wenn sie gleich lang sind. Aber Sie sind, soweit ich weiß, nicht begütert, Mr. Commongold, und Sie sind ganz bestimmt kein Kirchenmann, und die Armee hat Ihnen in ihrer unermesslichen Weisheit den niedrigsten Rang verliehen. Ihre Stellung befugt Sie nicht zu einer eigenen Meinung, geschweige denn, damit hausieren zu gehen.«
JULIAN: »Es gibt einen Spruch, Sir, dass Meinungen wie — wie …«
LAMPRET: »Sagen wir ›Nasen‹.«
JULIAN: »Nasen in dem Sinne, dass jeder eine hat.«
LAMPRET: »Ja, und wie Nasen sind manche Meinungen weniger edel als andere, und manche Nase wird da hineingesteckt, wo sie nichts zu suchen hat. Sie dürfen jedwede Meinung haben, Mister Commongold, aber Sie müssen sie für sich behalten, sofern sie die Pietät oder Kampfmoral der amerikanischen Truppen untergräbt.«
JULIAN: »Ich empfinde keine Sympathie für die Deutschen, Sir, und habe nicht die geringste Absicht, etwas zu untergraben.«
LAMPRET: »Ein halbherziges Dementi! Halten Sie mich für einen Abteilungsleiter, Gefreiter Commongold, der Entschuldigungen sammelt, um seine Autorität zu demonstrieren? Im Gegenteil. Ich bin Realist. Die Männer unter meinem Kommando sind im Großen und Ganzen ungebildet und beschränkt. Ich weiß das, und ich nehme das hin. Für diese Männer ist Religion kaum mehr als die vage Erinnerung an die Ermahnungen ihrer Mütter und die Aussicht auf eine bessere Welt. Aber sie hilft ihnen, und ich denke, dass Gott es so gewollt hat. Ich will nicht, dass meine Männer in die Schlacht ziehen und Zweifel an ihrer persönlichen Unsterblichkeit haben — es macht sie zu schlechteren Soldaten.«
JULIAN: »Nicht nach meiner Erfahrung. Ich habe neben solchen Männern gekämpft, und sie haben sich beispielhaft geschlagen. Der Major wird das nicht wissen, weil er nicht dabei war.«
Damit hatte er Lampret den Fehdehandschuh hingeworfen. Aus meiner Sorge um Julian wurde blanke Angst um ihn. Mit dem Major zu streiten war eine Sache, ihn herauszufordern eine andere. Dominion-Offiziere waren normalerweise vom Kampf freigestellt. Sie trugen Pistolen, keine Gewehre und waren nützlicher hinter der Front, wo sie sich um das seelische Wohl der Truppe kümmerten. Dominion-Offizieren hinter vorgehaltener Hand vorzuwerfen, sie seien feige und würden sich hinter Engelsflügelabzeichen und großem Filzhut verstecken, war schon schlimm genug, aber einen solchen Mann damit zu provozieren, grenzte an Gotteslästerung. Die Reaktion des Majors konnte ich natürlich nicht sehen; doch eine stählerne Stille drang aus dem Zelt, nur zu vergleichen mit der Hitze eines schwelenden Kohlenmeilers.
Dann hörte ich Papier rascheln. Major Lampret zitierte offenbar aus einem Dokument:
»›Der Gefreite Commongold wurde an mehreren aufeinanderfolgenden Sonntagen dabei beobachtet, auf dem Exerzierplatz hinter dem Versammlungszelt zu Soldaten gesprochen zu haben. Bei diesen Gelegenheiten redete er ungehemmt und in nicht geziemender Weise über die Heilige Schrift und andere Dinge, die in den Zuständigkeitsbereich des Dominions fallen.‹ Ist das korrekt?«
JULIAN (weniger laut, fraglos überrascht durch den schriftlich festgehaltenen Tatbestand): »Mehr oder weniger ja; bis auf …«
LAMPRET: »Haben Sie beispielsweise versucht, diesen Männern einzureden, es gebe keinen Beweis für einen göttlichen Schöpfungsakt, und der Garten Eden sei ein mythischer Ort?«
JULIAN (nach längerer Pause): »Vielleicht habe ich den Schöpfungsbericht mit anderen Mythologien verglichen …«
LAMPRET (wieder ablesend): »›Der Gefreite Commongold behauptete weiterhin, die Vertreibung des ersten Mannes und der ersten Frau aus dem Garten Eden könne auch auf unkonventionelle Weise verstanden werden. Er bekannte sich zu der Ansicht, der Hauptvorzug von Eden sei die relative Abwesenheit Gottes gewesen, der das erste Menschenpaar nach seinem Ebenbild erschaffen habe, um es dann ungestört seinem unschuldigen Treiben zu überlassen. Der Gefreite Commongold unterstellte auch, der Baum der Erkenntnis und seine verbotenen Früchte seien ein übler Scherz der Schlange gewesen, die den Garten ganz für sich alleine haben wollte; und Adam und Eva seien wahrscheinlich durch eine List daraus vertrieben worden, als Gott nicht hingeschaut habe, denn Gott, so der Gefreite, sei eine unverbesserlich unaufmerksame Gottheit, nach den Sünden und Gräueln zu urteilen, die sie ungestraft lasse.‹«
JULIAN (mit noch leiserer Stimme, da er inzwischen begriffen haben musste, dass Lampret einen Informanten in der Truppe hatte und dass es womöglich nicht bei einer Rüge bleiben würde): »Das war doch nur Spaß, Major Lampret. Wirklich nichts weiter als ein kurzweiliges Paradox.«
LAMPRET: »Kurzweilig für wen?« (Räuspern) »›Der Gefreite Commongold ließ ferner durchblicken, das Dominion, wiewohl es behaupte mit der Autorität der Heiligen Schrift zu sprechen, rede eher mit der Zunge der Schlange und säe ohne Not Furcht und Scham, wo vorher keine gewesen seien.‹ Haben Sie das tatsächlich gesagt?«
JULIAN: »Vermutlich ja … oder etwas, das man dafür gehalten hat.«
LAMPRET: »Der Bericht ist lang und eingehend. Er zitiert Apostasien, zu grotesk und zu zahlreich, um sie vorzulesen, gekrönt von Ihrer enthusiastischen Billigung der Alten und Ihrem diskreditierten Bekenntnis zur Evolutionstheorie. Muss ich noch mehr sagen?«
JULIAN: »Nein, natürlich nicht.«
LAMPRET: »Haben Sie auch nur den leisesten Zweifel, dass Ihre Auslassungen eine erhebliche Verletzung nicht nur des Anstands, sondern auch der klar verfassten Verhaltensregeln für Soldaten sind?«
JULIAN: »Keinen Zweifel, Sir.«
LAMPRET: »Sehen Sie ein, dass es eine fundamentale Aufgabe des Dominion of Jesus Christ ist, zu verhindern, dass gefährliche oder falsche religiöse Vorstellungen unter den Leichtgläubigen in Umlauf gebracht werden?«
JULIAN: »Und ob, Sir.«
LAMPRET (mit urplötzlich heiterem Tonfall): »Es ist nicht meine Aufgabe, Infanteristen grundlos ins Gebet zu nehmen. Ich habe mit Ihren Kommandeuren gesprochen, und alle sagen, Sie seien ein fähiger Soldat und unverzichtbar im Gefecht, soweit Sie sich bewähren durften. Manche meinen sogar, Sie hätten Führungsqualitäten, wenn Ihre Blauäugigkeit und Arroganz erst einmal abzublättern beginnt. Und die Männer scheinen Sie zu mögen — wenn sie Ihre Ideen mit Verachtung strafen würden, hätten wir uns nicht zu unterhalten brauchen, hab ich Recht?«
JULIAN: »Ja, Sir.«
LAMPRET: »Kommen wir zur Sache. Die atheistischen Lektionen müssen aufhören. Haben wir uns verstanden?«
JULIAN: »Sir, ja, Sir.«
LAMPRET: »Sie müssen ganz damit aufhören. Und keine Verunglimpfungen mehr: nicht des Dominion of Jesus Christ on Earth und auch nicht irgendeines anderen ordnungsgemäß verfassten Arms der Regierung. Verstanden?«
JULIAN (kaum hörbar): »Ja.«
LAMPRET: »Ich hoffe, Sie meinen es ernst — im Wiederholungsfall wäre ich nicht mehr so großzügig. Und vergessen Sie nicht, Gefreiter Commongold, es ist nicht Ihre Seele, um die ich mir Sorgen mache. Ich kann nicht Ihre Gedanken kontrollieren — die finden zwischen Ihnen und Ihrem Schöpfer statt. Meinetwegen können Sie sich so viele Ketzereien ausdenken, bis Ihnen der Kopf platzt. Aber ich kann und werde mich zwischen Ihre vulgären Witze und die Integrität der Laurentischen Armee stellen. Ist das klar? Unschuldige Männer dürfen nicht in die Schlacht geschickt werden, solange ihre unsterblichen Seelen auf dem Spiel stehen, nur weil Julian Commongold unbedingt in die Hölle will.«
JULIAN: »Ich verstehe, Sir. Ich denke, wir sehen uns dort.« (Pause) »In der Schlacht natürlich.«
Ich bin oft gefragt worden, ob Julian, als wir uns kennenlernten, Atheist oder Agnostiker gewesen sei.
Ich bin kein Philosoph, geschweige denn ein Theologe, und verstehe den Unterschied nicht. Ich verbinde allerdings gewisse Vorstellungen mit beiden Arten von Ungläubigen: Der Agnostiker ist ein vernünftiger Mensch, der sich höflich weigert, einen Kniefall vor irgendeiner Gottheit oder Ikone zu tun, sofern sie nicht sein volles Vertrauen hat; der Atheist hingegen, obwohl von denselben Prinzipien beseelt, kommt mit dem Vorschlaghammer.
Der Leser mag seine eigenen Schlüsse aus Julians späterer Karriere ziehen und aus den Überzeugungen, die er dort einbrachte. Und was diese biblischen Ketzereien betrifft, so müssen sie Major Lampret neu und alarmierend vorgekommen sein; aber ich hatte sie alle schon einmal gehört — ich war ein alter Kunde und abgestumpft. Julians Geschichten hielt ich gewissermaßen für den Beleg, dass er die Bibel sehr aufmerksam gelesen hatte, auch wenn seine Interpretationen viel zu fantasievoll waren. Ich bin kein engagierter Leser der Heiligen Schrift und halte es mit den vernünftigeren Teilen dieses Buches, also der Bergpredigt zum Beispiel, während ich die verwirrenden Passagen — mit dem siebenköpfigen Ungeheuer, der Hure Babylon oder dergleichen — den Gelehrten überlasse, die Freude an solchen Knobeleien haben. Dagegen las Julian die Bibel, als sei sie eine zeitgenössische Dichtung, die offen war für Kritik und sogar Korrekturen. Einmal, als ich ihn nach dem Zweck seiner ungewöhnlichen Neuinterpretationen fragte, sagte er zu mir: »Ich hätte gerne eine bessere Bibel, Adam. Ich wünsche mir eine Bibel, in der die Früchte vom Baum der Erkenntnis den Samen der Weisheit enthalten und das Leben für die Menschen schöner machen und nicht schlimmer. Ich wünsche mir eine Bibel, in der Isaac vom Opferstein aufspringt und Abraham an die Kehle fährt, um ihn für die elende, blutige Sünde des Gehorsams zu bestrafen. Ich wünsche mir eine Bibel, in der Lazarus stirbt und darauf besteht, dass er tot ist, anstatt jedem dahergelaufenen Messias nach der Pfeife zu tanzen.«
Das war so fürchterlich, dass ich das Thema sofort fallenließ; aber seine Worte warfen ein Licht auf die Beweggründe seiner Ausschweifungen.
Kurz nachdem Julian das Zelt von Major Lampret verlassen hatte, trat ich den Rückzug aus dem Durcheinander an Kisten und Fässern an. Da Julian nicht nach Scheffersville verschifft werden sollte, hatte ich keine Eile, mein Scherflein zu der Auseinandersetzung beizusteuern, die sicher schon im Gange war. Aber Sam sollte erfahren, dass ich seiner Bitte nachgekommen war, und so trödelte ich gemächlich zu unserem Zelt zurück; ich kam an, als sich die beiden noch in den Haaren lagen.
Die Lautstärke ließ mich abwarten. Julian wurde gerade aufgeklärt, wie wichtig es sei, keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen oder irgendeinen Streit zu provozieren, der geeignet war, die Exekutive aufhorchen zu lassen. »Wir sind verdammt weit weg vom Regierungspalast«, erwiderte Julian, als ich ins Zelt trat.
»Nicht so weit, wie du denkst«, sagte Sam wütend. »Und das Allerletzte, was du brauchen kannst, ist die Aufmerksamkeit des Dominions. Major Lampret ist kein Deklan Comstock, aber es hätte ihn ein Fingerschnippen gekostet, dich an die Front zu schicken — besonders jetzt, da General Galligasken oben am Saguenay kämpft und jeden Mann brauchen kann. Wenn das in deinen Kopf geht, dann benimm dich auch so.«
»Tu ich ja!«, versetzte Julian. »Und es tut verdammt weh! Ich stand eben vor einem Mann, der mir nicht das Wasser reichen kann, und ließ ohne Widerrede seine Anspielungen und höhnischen Bemerkungen über mich ergehen! Ich habe ihm in die Augen gesehen, Sam, und während er kläffte und winselte, habe ich nur gedacht: Der Mann ahnt ja nicht, was ich mit ihm anstellen könnte und wie rasch er auf die Knie fallen würde, wenn er es erführe! Ich bin nicht erzogen worden, um vor einem Armeepfaffen zu kriechen! Und trotzdem habe ich es getan — ich habe meinen Stolz hinuntergeschluckt und es getan —, aber das reicht dir wohl nicht!«
»Du hättest deinen Stolz ein bisschen früher schlucken und es dir zweimal überlegen sollen, bevor du Soldaten in Volksverhetzung unterrichtest! Darf ich dich erinnern, dass ich diese Mätzchen verboten hatte?«
»Verboten, mir?«
Julian stand auf und stand so kerzengerade, dass er einen Zoll größer schien, als er tatsächlich war.
»Dein Vater hat mich damit betraut, auf dich aufzupassen«, sagte Sam.
»Dann tu es! Tu, was man dir gesagt hat, und pass auf mich auf! Aber bemuttere und zensiere mich nicht, und zweifle nicht an meinem Urteilsvermögen! Das hat nie zu deinem Aufgabenbereich gehört! Tu, worum man dich gebeten hat, und tu es wie jeder andere intelligente Diener auch!«
Die Worte trafen Sam, als hätten sie wirklich Gewicht und Wucht. Sein Gesicht verzerrte sich, erstarrte dann zur Soldatenmaske. Er schien voller ungesagter oder unsagbarer Worte, und was er schließlich sagte, war: »In Ordnung, Julian — wie du willst.«
Die devote Antwort traf Julian mitten ins Herz. Seine Wut war wie weggeblasen. »Sam, es tut mir leid! Ich war einfach — na ja, die Worte waren schneller als ich. Du bist kein Diener für mich, du weißt das!«
»Mir kamen die ersten Zweifel.«
»Dann verzeih mir! Nicht mit dir bin ich unzufrieden — nicht mit dir!«
»Schwamm drüber«, sagte Sam.
Julian schien sich zu schämen und stürzte, ohne mich wahrzunehmen, aus dem Zelt.
Sam schwieg eine ganze Weile, so dass mir der Gedanke kam, ich könnte unsichtbar geworden sein; ich wollte mich eben räuspern, als er mich ansah und den Kopf schüttelte. »Er ist ein Comstock, Adam. Ein Comstock, wie er leibt und lebt, mit allen Vor- und Nachteilen. Ich vergesse das immer. Mache nicht denselben Fehler.«
»Keine Sorge«, sagte ich.
Bei der nächsten Sonntagsversammlung erregte Major Lampret Aufsehen, weil er mit seiner Predigt über »Nicht-hilfreiche Gedanken« namentlich Julian aufs Korn nahm. Er brandmarkte Julians Apostasien und zog über sie her und spottete über einen Gefreiten, der seine religiösen Ansichten zum Besten gab. Dann erfuhren wir, der Wochenendurlaub sei gestrichen, nicht nur für Julian, sondern für alle Männer unserer Kompanie, um Julian dafür zu bestrafen, dass er den Engeln auf den Schlips getreten hatte, und uns, dass wir so töricht gewesen waren, ihm dabei zuzuhören. Mit dieser Taktik sollte Julian bei seinen »Jüngern« unbeliebt gemacht und etwas von dem Wohlwollen, das die anderen ihm entgegenbrachten, neutralisiert werden. Und es funktionierte, zumindest eine Zeit lang. Männer, die sich der Möglichkeit beraubt sahen, ihren Sold in einem Bordell in Montreal zu vergeuden, ließen in Julians Gegenwart abschätzige Bemerkungen fallen, manche so bissig, dass Julian tief verletzt war, obwohl er mit keinem Wort darauf einging.
Aber das war noch nicht alles. Etwa um diese Zeit griff eine bestimmte Verleumdung von Major Lampret wie ein Lauffeuer um sich und war wochenlang in aller Munde: dass nämlich der Major ein Wolkenverkäufer aus Colorado Springs sei, der darauf bedacht war, selbst nicht in die Schusslinie zu geraten, weil von allen unsterblichen Seelen, die ihm anvertraut waren, die seine zu wichtig und zu kostbar sei, um sie dem Bleiregen auszusetzen. Mit anderen Worten: Major Lampret sei ein Feigling, der sich hinter seinem Quasi-Zivilstatus verstecke.
Die Quelle dieser Verleumdung war nicht auszumachen; das Gerücht sprang von einer Soldatengruppe zur nächsten, ohne dass jemand verantwortlich schien; aber ich bemerkte, dass Julian jedes Mal lächelte, wenn es ihm zu Ohren kam.
Ich war so sauer wie alle anderen, denn ich hatte vorgehabt, in Montreal Calyxa ausfindig zu machen, um sie näher kennenzulernen. Ich tröstete mich aber mit der Aussicht auf eine spätere Gelegenheit und nutzte die Zeit, um meinen Bericht über die Schlacht von Mascouche fertigzustellen und damit den Journalisten Mr. Theodore Dornwood aufzusuchen.
Dornwood hatte seine Zusage vergessen, und ich musste ihn erinnern, dass er eingewilligt hatte, meine Arbeit zu lesen; und schließlich ließ er sich erweichen und nahm mir die Blätter aus der Hand. Während er las, bewunderte ich wieder seine Schreibmaschine. Ich ließ mir Zeit, die Mechanik in Augenschein zu nehmen, ich drückte sogar ganz behutsam auf die Tasten und beobachtete, wie die geölten Hebel sich hoben und fielen und verspürte die berauschende Macht, Buchstaben zu erzeugen — auf dem leeren weißen Papier akkurate Druckbuchstaben und keine Bleistiftschnörkel erscheinen zu lassen. Ich wollte auch so eine Maschine haben. Sie waren bestimmt teuer. Aber ich würde meinen Sold sparen und mir irgendwann eine Schreibmaschine kaufen. Und wenn ich dafür bis Manhattan pilgern musste. Das schwor ich mir feierlich.
»Nicht schlecht, wirklich«, sagte Dornwood nachdenklich, als er mit Lesen fertig war.
So viel Lob hatte ich von ihm erwartet — eigentlich noch mehr. »Sie würden also sagen, es ist in Ordnung?«
»O ja.«
»Hat es Ihnen denn gefallen?«
»Kann man so sagen.«
»Würden Sie es auch gut nennen?«
»Doch, doch — es ist auf seine Weise ganz gut, wirklich.«
Ich lauschte dem Wort nach: »gut« aus dem Mund eines echten New Yorker Zeitungskorrespondenten, auch wenn ich ihn ein bisschen hatte schubsen müssen. Und nicht bloß »gut« — nein »ganz gut«. Ich war außer mir vor Stolz.
»Natürlich wirst du das eine oder andere noch lernen müssen«, fügte Dornwood ernüchternd hinzu.
»Wieso das?«, fragte ich. »Ich habe mich doch bemüht, alles so wahrheitsgetreu wie möglich zu beschreiben. Es kommen keine Elefanten vor und auch sonst nichts in der Art.«
»Deine Zurückhaltung ist bewundernswert — vielleicht sogar übertrieben.« Dornwood legte eine Pause ein, um seine Gedanken zu sammeln, und das muss keine leichte Aufgabe gewesen sein, gemessen am Schnaps, den er intus hatte (nach den leeren Flachmännern zu urteilen, die herumlagen), und gemessen am Aroma des Hanfrauchs, der das Zelt schwängerte. »Sosehr ich zu schätzen weiß, was du geschrieben hast — es ist klar, die Grammatik stimmt, es ist geordnet —, aber damit sich eine Zeitung dafür interessiert, müsste es erst noch aufgepeppt werden.«
»Wieso?«
»Na ja, hier zum Beispiel. Du sagst: ›Wir gingen ins Gefecht, der Gefreite Commongold ging festen Schrittes vor mir.‹«
»Genau so war es. Ich habe mir jedes Wort überlegt.«
»Du hast zu viel überlegt. Kein Leser will wissen, ob jemand festen Schrittes vor dir hergeht. Das reißt niemanden vom Stuhl. Besser, du sagst: ›Der Gefreite Commongold kümmerte sich nicht um die Schrapnells und Granaten, die ringsherum mit solch verheerender Wirkung explodierten, und marschierte wild entschlossen in das tobende Zentrum der Schlacht.‹ Siehst du, wie das Leben in die Sache bringt?«
»Ja, schon — aber auf Kosten der Genauigkeit.«
»Genauigkeit und Spannung sind Skylla und Charybdis des Journalismus, Adam.[37] Mein Rat ist, laviere zwischen beiden hindurch, aber wenn du schwankst, dann zur Spannung hin, sonst fällt deine Karriere ins Wasser. Und ›Gefreiter Commongold‹, der Rang hört sich lau an, der Name ist gut — also peppen wir ihn auf. Captain Commongold! Na, wie klingt das?«
»Nicht übel.«
»Lass mir die Blätter hier«, sagte Dornwood mit einem Blick auf die Schreibmaschine; sie war in letzter Zeit stumm geblieben, was vielleicht mit seinem Konsum an Feuerwasser zu tun hatte. »Ich werde weiter darüber nachdenken, und du bekommst nächste Woche noch ein paar Ratschläge mehr. Und sollte sich inzwischen militärisch etwas tun, Adam, dann wiederhole die Übung und schreibe so dramatisch, wie es die Fakten zulassen, und bring es wieder her. Wenn du das tust, wäre ich vielleicht bereit, dir zu zeigen, wie diese Schreibmaschine funktioniert, in die du so vernarrt bist, denn du bist ein fleißiger und nicht unbegabter Schriftsteller. Wie hört sich das an?«
»Fabelhaft, Mr. Dornwood«, sagte ich ahnungslos.
Den Saguenay hinauf wurde weiter gekämpft, und rings um Montreal blieb es relativ still. Sicher gab es das eine oder andere Scharmützel, denn die mitteleuropäischen Streitkräfte blieben in den Laurentischen Bergen versprengt und suchten dann und wann ein bisschen Zeitvertreib. Gehorsam hielt ich jeden Schusswechsel für Theodore Dornwood fest, meine Gegenleistung für seine Ratschläge; doch viel kam da nicht zusammen. Währenddessen konnte Julian sich bewähren, als er eine wichtige Artilleriestellung hielt, die unter schweren deutschen Beschuss geriet; und sein Ruf unter den Männern wurde zusehends besser — während der von Major Lampret zusehends schlechter wurde.
Aber was wirklich zählte, war, dass Lampret die Sperre aufhob und dass an den Wochenenden, an denen wir Urlaub nehmen durften, der Sommer Einzug hielt in Montreal.
»So«, sagte Lymon Pugh, die Ärmel hochgekrempelt, um seine schrecklich zernarbten und muskulösen Unterarme zu zeigen, die Fremden nicht selten Angst machten und auf die er mächtig stolz war, »nur wir zwei sind noch übrig.«
Wir waren in Montreal und hatten eben eine Taverne in der Guy Street betreten, weil Lymon sich betrinken wollte; hier gab es aber nicht bloß Alkohol, sondern auch etwas zum Beißen, und statt meinen Kummer in einem Eimer Bier zu ertränken, wie Lymon sich anschickte, wollte ich meinen mit einem Beefsteak ersticken. Was meinen Durst betraf, so hatte ich mir eine Schöpfkelle voll einfachem Wasser aus dem Keramikkrug an der Eingangstür genommen. Es war brackig und schmeckte nach Tabak (vielleicht hatte ein früherer Kunde den Krug für einen Spucknapf gehalten).
Nur wir zwei seien noch übrig, wiederholte Lymon — womit er meinte, dass sich Sam und Julian von uns getrennt hatten, um an diesem Freitagabend ihrem eigenen Vergnügen nachzugehen.
Der Sommer in Montreal war fürchterlich heiß und feucht. Die Bremsen, die von den Einheimischen Schwarze Fliegen genannt wurden, mussten vor kurzem geschlüpft sein, denn sie flogen die Straßen in Brigadestärke ab, auf der Suche nach jedem Quadratzoll nackter Haut. Der Himmel war heute bedeckt gewesen und die Luft dick wie Butter, und obschon wir frisch aus dem Lager kamen, waren unsere Hemden bereits durchgeschwitzt. Wir trugen, was immer wir an Zivilklamotten zurückbehalten oder kürzlich gekauft hatten, damit man uns nicht für Soldaten auf Streifendienst hielt und wir uns leichter unter die Einheimischen mischen konnten.
Als Soldat fühlte man sich nie ganz zu Hause in Montreal, ein Gefühl, das ich schon von früheren Aufenthalten kannte. Nicht dass uns die Menschen buchstäblich gehasst hätten — einmal waren sie von Deutschen besetzt gewesen, und die Erinnerung an diese unglückliche Zeit hielt an, und die Laurentische Armee war unterm Strich eine deutlich angenehmere Besatzung. Aber wir hatten nun mal das Sagen, dem Namen nach zumindest, denn Montreal stand unter Besatzungsrecht, und viele Bürger ärgerten sich über die Beschränkungen, die ihnen auferlegt wurden. Die katholische Geistlichkeit war besonders launisch und wehrte sich immer noch gegen die Interventionen des Dominions; und die Bürger, die von den Cree abstammten, waren dafür bekannt, Soldaten auf offener Straße zu provozieren, aus einem Groll heraus, der sich mir bis heute nicht restlos erschließt.
Doch es fiel nicht schwer, den schlimmsten Unfreundlichkeiten aus dem Weg zu gehen, und die Kehrseite der Medaille war die großzügige Gastfreundlichkeit der weniger politischen Einwohner von Montreal, einschließlich der Gastwirte und Barbetreiber. Unsere Taverne hieß Thirsty Boot, man hatte uns einen guten Tisch zugewiesen, und wir bestellten, was wir haben wollten, bei einer gut gelaunten Frau mit Schürze und waren ansonsten uns selbst überlassen.
»Ich möchte mal gerne wissen, wie die beiden ihre Zeit totschlagen«, sagte Lymon Pugh gerade. »Zum Beispiel, was Sam um alles in der Welt bei diesen verdammten Amischen will?«
»Amischen?«
»Du weißt doch — diese Männer mit Bart und schwarzem Hut, die er immer aufsucht, wenn wir hier sind.«
Lymon unterlag einem Irrtum. Die jüdische Religion war in Montreal erlaubt, und es gab hier eine ansehnliche Gemeinde sehr frommer Juden, an deren Gottesdiensten Sam teilnahm. Es stimmte, dass viele Männer in diesem Stadtteil einen Bart und breitkrempige schwarze Hüte trugen oder auch ganz kleine Kopfbedeckungen, die wie aufgeklebt aussahen. Aber das waren keine Amischen. »Ich denke, die Amischen leben in Pennsylvania oder Ohio«, sagte ich.
»Willst du damit sagen, das sind gar keine Amischen? Die sehen aber genauso aus.«
»Ich glaube, es sind Juden.«
»Oh! Dann ist Sam ein Jude? Er ist aber nicht so angezogen.«
Sam hatte bislang nichts über seine Religionszugehörigkeit verlauten lassen (aber auch nichts getan, um seine enge Verbindung zu den Juden von Montreal zu verschleiern), und ich brachte es nicht übers Herz, ihn jetzt einfach an den Pranger zu stellen. »Vielleicht ist er nur scharf auf ihre Küche. Juden haben ihre eigene Speisekarte, genau wie Chinesen.«
»Bei so viel Bärten würde mir der Appetit vergehen«, sagte Lymon, der (bildlich gesprochen) fromm war, wenn es ums Rasieren ging, »egal, was es zum Dinner gibt. Aber jedem das seine.«
»Julian trägt einen Bart«, hob ich hervor.
»Was, diese Fransen? Blond wie’ne Frauenperücke und auch so lächerlich. Apropos Julian Commongold, seine Macken machen mich auch verrückt. Er ist schon wieder in dieses Café rein oder wie das heißt, unten in den engen Straßen am Fluss. Hast du dir mal die Klientel angesehn, Adam? So zerbrechliche, elastische Typen — ich weiß nicht, was er an denen findet. Die Bude heißt Dorothy’s, und ich schwöre, ich weiß nicht, wer Dorothy ist — vielleicht die einzige Frau, die in dem Laden verkehrt.«
»Philosophen«, sagte ich.
»Was?«
»Julian hat Anschluss bei den hiesigen Philosophen gesucht, so wie Sam Anschluss bei den Juden gesucht hat.«
»Das sind Philosophen? Heißt das, dass Philosophen auch eine eigene Speisekarte haben und dass Julian eine Schwäche für philosophische Mahlzeiten hat?«
»Ja, so könnte man sagen, obwohl es Julian mehr ums Reden als ums Essen geht. Philosophen diskutieren über Zeit und Raum und über Sinn und Zweck der Menschheit; solche Themen sind Julians Leibgericht.«
»Und darüber kann man länger als ein paar Minuten reden? Ich glaube, über ›Raum‹ könnte ich nicht länger als ein, zwei Sekunden reden, dann wär mein Kopf restlos leergedacht. Jedenfalls habe ich zwei Philosophen mitbekommen, die das Café hinter Julian betreten haben, und die haben sich nur über ein Musical unterhalten, das hier anlaufen soll.«
»Ich weiß auch nicht alles«, gab ich zu, »aber Julian sagt, unter den Philosophen gibt es Ästheten, die sich mehr mit Kunst als mit der Bestimmung des Menschen befassen.«
»Sie schienen sich mehr mit dem Burschen zu befassen, der die romantische Hauptrolle spielt.«
»Ja, über so was, denke ich, unterhalten sich Ästheten.«
»Na ja, das geht alles über meinen Horizont«, meinte Lymon Pugh und rief nach einem neuen Krug Bier. »Und du auch, Adam, wenn ich das mal sagen darf — du bist mir auch ein Rätsel! Du kommst in eine Stadt so schön wie diese mit ihren ganzen sündigen Gelegenheiten und wanderst wie ein gottesfürchtiger Pilger von einer Kirche zur anderen, dabei ist nicht mal Sonntag.«
Das Thema war tabu, das ging nur mich etwas an. »Ich habe jemanden gesucht«, sagte ich. Seit Ostern fahndete ich nun schon nach Calyxa. Als ich bei dem Chorleiter in der Kathedrale vorstellig wurde, erklärte er mir, der Osterchor sei speziell für die Truppengottesdienste zusammengestellt worden. Die kircheneigenen Sängerinnen hätten sich geweigert, für Besatzer zu singen, und so habe er für fünfzig Cent Stundenlohn und ein warmes Mittagessen Ersatz anheuern müssen. Doch die Namen der Frauen habe er nicht festgehalten. Also hatte ich etliche große Kirchen abgeklappert, von denen es in Montreal schwindelerregend viele gab — ohne Erfolg. »Und du, Lymon? Da du unseren Zeitvertreib für so verrückt hältst, was schwebt dir denn so vor?«
»Na ja, mich erst mal zu besaufen …«
»Ein edler Vorsatz — zumindest mit Erfolgsgarantie.«
»Aber nicht bis zum Umfallen. Ich möchte schon noch steuern können. Und dann ab ins Shade Tree Hotel.« Das Shade Tree war eines dieser Etablissements, in denen »Frauen ihre Tugend für Geld verkaufen und man ihre Krankheiten als kostenlose Zugabe bekommt«, wie sich Major Lampret in einer Predigt ausgedrückt hatte. Ich fragte Lymon, ob er denn keine Angst habe, zurückzukommen, wie Lampret es mal ausgedrückt hatte, »ohne jene drei fundamentalen Güter eines jeden anständigen Mannes, als da sind: seine Gesundheit, seine Ersparnisse und seine Hoffnung auf Erlösung«?
»Die Frauen im Shade Tree sind sauber«, meinte Lymon allen Ernstes. »Und Angst habe ich davor, zurückzukommen, ohne dass ein fundamentales männliches Bedürfnis befriedigt wurde — das kann nämlich auch krank machen, krank oder stinksauer.«
Er hatte seine narbigen Hände zu Fäusten geballt, und ich sagte ihm, dass es vermutlich richtig sei, etwas zu vermeiden, was einen stinksauer mache. »Aber bevor du dich in ein solches Abenteuer stürzt, solltest du dich stärken. Nein, nein, nicht mit Schnaps. Bestell dir was zu essen.«
»Ein bisschen könnte ich vertragen«, gab er zu, und ich beobachtete mit stillem Stolz, wie er Schritt für Schritt entschlüsselte, was auf der Menütafel stand. Er war überrascht, dass »eggs« sich nicht mit »a« schrieb, obwohl es wie »aggs« ausgesprochen wurde — doch inzwischen hatte er sich mit den Ungereimtheiten der geschriebenen Sprache abgefunden.
Jeder von uns bestellte sich eine warme Mahlzeit, und wir aßen mit Appetit, während sich ringsherum ein reger Betrieb entfaltete. Lymon hatte ratzfatz seine Portion verputzt (gekochte Eier mit geschmorten Zwiebeln), als ihm auffiel, was ich für große Augen machte. »Du machst ein Gesicht, als wärst du in einen Hinterhalt geraten«, sagte er.
Gewissermaßen war ich das.
Sie saß schon eine ganze Weile da, nur ein paar Meter entfernt, verdeckt durch etliche einfach gekleidete Männer und Frauen, die mit an ihrem Tisch saßen. Wenn sie nicht aufgestanden wäre, hätte ich sie wahrscheinlich nicht bemerkt — sie ging durch den schwülen, brodelnden Raum voller Pfeifenrauch und Lichtkränze zu der kleinen Bühne hinüber — Calyxa!
Sie sah nicht aus wie in der Kathedrale. Wenn Calyxa im weißen Chorhemd unirdisch ausgesehen hatte, so war diese Calyxa voll und ganz von dieser Welt; sie trug ein schwarzes Männerhemd, das ihr eine Nummer zu groß war, und eine steife Jeanshose.[38] Ihre leichte, selbstbewusste Art zu gehen legte nahe, dass sie hier zu Hause war, und als sie die Bühne unter freundlichem Beifall bestieg, war ich mir sicher.
»Sieh nur! Die sieht aus wie ein Hydrant«, sagte Lymon Pugh. »Meinst du, die will für uns singen?«
»Hoffentlich«, sagte ich verärgert.
»Die Hose hat Hochwasser. Sonst ist sie hübsch, bis auf die Knöchel, sie hat nämlich keine.«
»Ich muss mir jetzt nicht deine Meinung über ihre Knöchel anhören! Was gehen dich ihre Knöchel an?«
»Sie hat richtige Stempel — und ob mich das was angeht, das geht uns alle an!«
»Geht keinen was an. Still jetzt!«
»Was ist los mit dir?«, fragte Lymon; doch dann hielt er zum Glück den Mund.
Calyxa begann tatsächlich zu singen, mit einer reinen, aber präzisen und erfreulich geschulten Stimme. Ohne Trillern und Trällern, ohne Tremolos und Theatralik oder burleskes Pfeifen, ohne den ganzen Firlefanz, der bei zeitgenössischen Sängerinnen gang und gäbe war. Nein, sie sang die Lieder, wie sie komponiert waren: schlicht und alle Nuancen aus den Worten und Melodien beziehend und nicht aus irgendwelchem Beiwerk.
Sie hampelte auch nicht herum beim Singen. Sie klatschte nur in die Hände, räusperte sich und fing an. Für manche zu dezent, nach den gelegentlichen Zwischenrufen angetrunkener Kritiker zu urteilen. Für mich war es Ausdruck ihres natürlichen Anstands — der in krassem Widerspruch zu den Liedern stand.
Sie sang fünf Lieder, von denen die meisten Strophen hatten, die im Zug mit dem Karibugeweih oder an ähnlich unrühmlichen Orten durchaus willkommen gewesen wären. Ich war bestürzt, wie man sich denken kann. Doch dann fiel mir Julians Doktrin vom sogenannten Kulturellen Relativismus ein, von deren Richtigkeit ich seitdem überzeugt bin. Denn diese Lieder, die mir aus dem Mund anderer so verdorben vorgekommen waren, wurden durch Calyxas Stimme geläutert. Calyxa musste unter Menschen aufgewachsen sein, die mit solchen Liedern und Gefühlen ihr tägliches Brot verdienten und sie überhaupt nicht als obszön oder ausschweifend betrachteten. Mit anderen Worten, ihre Unschuld war angeboren und nicht durch ihre vulgäre Umgebung kompromittiert worden — es müsse sich dabei, fand ich, um eine Art unzerstörbare Erbunschuld handeln.
Zwei Lieder hatten keinen englischen Text, was Lymon Pugh irritierte. »Die traut sich wirklich, ein deutsches Lied zu singen!«
»Nicht deutsch, Lymon. Französisch. Diese Sprache wurde hier jahrhundertelang gesprochen, hier und da spricht man sie heute noch.«
Lymon hatte offenbar angenommen, es gebe nur zwei Sprachen: Englisch und Fremdländisch. Er war entsetzt, dass es Sprachen wie Sand am Meer geben sollte, häufig (nicht immer) eine pro Land. »Kaum lerne ich eine zu schreiben, vermehren sie sich wie die Kaninchen! Ich sag dir was, Adam, alles hat einen Haken, einfach alles. Die Welt ist so hinterlistig wie der Glückstopf von Langers.«
»Meistens reicht Englisch, es sei denn, du reist ins Ausland.«
»Nein, danke, ich bin weit genug gereist — dieses Land ist mir schon fremd genug, auch wenn es Amerika heißt.«
Ich flehte ihn noch einmal an, den Mund zu halten, während Calyxa zu Ende sang.
Sie tat, als höre sie den Applaus nicht, trat mit einem Ausdruck stiller Zufriedenheit ab und kehrte zu ihrem Tisch zurück. Ich verzehrte mich danach, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, stand unversehens auf, als sie vorbeikam, wobei ich fast mein Essen vom Tisch gekippt hätte, und rief mit erstickter Stimme: »Calyxa!«
Ich muss wohl doch zu laut gewesen sein, denn sie zuckte zusammen, und es entstand eine kurze Pause im Lärmpegel, als erwarteten einige Stammgäste Handgreiflichkeiten.
»Muss ich Sie kennen?«, fragte sie, als sie ihre Fassung zurückgewonnen hatte.
»Wir sind uns Ostern begegnet. Ich war in der Kathedrale, wo Sie gesungen haben, bevor uns die deutsche Artillerie einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Erinnern Sie sich? Ich hatte mir den Kopf verletzt.«
»Oh«, sagte sie mit einem leisen Lächeln, woraufhin sich die Wachsamen unter den Gästen wieder entspannten, »der Soldat mit der kleinen Verletzung. Konnten Sie Ihr Regiment finden?«
»Ja sicher — vielen Dank.«
»Keine Ursache«, sagte sie und ging.
Ich hatte natürlich nicht erwartet, dass sie die Unterhaltung ausdehnen oder ihre Freunde meinetwegen versetzen würde. Aber diese Antwort war eine Enttäuschung.
»Die hat dich aber abblitzen lassen«, sagte Lymon Pugh und lachte in sich hinein. »Du verschwendest deine Zeit, Adam. Der Typ Frauen stellt sich nicht von jetzt auf gleich zur Verfügung. Komm mit zum Shade Tree, da hast du mehr Glück.«
»Nein.« Nicht, wenn das Ziel zum Greifen nah war.
»Tja, mach, was du willst. Ich bin verplant.«
Lymon Pugh erhob sich, nicht so sicher wie sonst, fand nach ein paar verstörten Ansätzen die Eingangstür der Taverne und ging.
Ich kam mir vor wie auf dem Präsentierteller — ich saß allein an meinem Tisch, während alle anderen mit Freunden gekommen waren; doch ich unterdrückte mein Unbehagen und bestellte eine zweite Mahlzeit, nicht um sie zu essen, sondern um mir die gute Laune der Kellnerin zu erhalten.
Calyxa schien sich bei ihren Gefährten wohlzufühlen. Von Zeit zu Zeit stiegen andere Sänger oder Musiker auf die Bühne, offenbar nach Absprache mit dem Betreiber der Taverne. Kein Sänger (ob Mann oder Frau) war so talentiert wie Calyxa, und bei keinem paarte sich das Vulgäre mit einer wie auch immer gearteten Unschuld. Calyxa unterhielt sich, wie mir schien, sehr nett mit ihren Freunden, lauter Männer und Frauen, alle so jung wie Calyxa — also in meinem Alter oder unwesentlich älter. Die Frauen waren ähnlich einfach gekleidet und zeigten ausnahmslos eine gewisse Nachlässigkeit, was ihre Frisur und andere weibliche Finessen betraf. Die Männer am Tisch katapultierten diese liebenswerte Einfachheit und Nachlässigkeit auf eine total andere Ebene und schienen geradezu stolz zu sein auf ihre ramponierten Hosen und Hanfhemden. Etliche trugen trotz der abendlichen Wärme Wollmützen, als brauchten sie etwas, woran sich in dramatischen Momenten der Unterhaltung zupfen oder rücken ließ. Ihre Gesten waren dramatisch, ihr Tonfall war knapp und eindringlich, und ihre Ansichten, obwohl ich nur ein paar Worte aufschnappen konnte, waren vehement und komplex, geradezu philosophisch.
Mir kam der entsetzliche Gedanke, Calyxa könne einen Freund, schlimmer noch einen Ehemann haben — und wenn, dann saß er vermutlich mit am Tisch. Ich wusste so wenig über sie! Ich begann sie eingehender zu beobachten.
Mir fiel auf, dass sie dann und wann einen Blick in Richtung Eingangstür warf, und dass jedes Mal, wenn sie es tat, ein Ausdruck von Angst über ihr Gesicht flog. Das war auch schon alles, was mir im Laufe einer Stunde auffiel, und ich konnte mir keinen Reim darauf machen und begann bereits die Hoffnung aufzugeben, jemals wieder ein Wort mit ihr zu wechseln, als uns eine Serie von unerwarteten Ereignissen auf überraschende Weise zusammenbrachte.
Die Kellnerin, die für meinen Tisch zuständig war, stand anscheinend mit Calyxa auf vertrautem Fuß. Die beiden steckten ab und zu die Köpfe zusammen. Nach einem dieser Wortwechsel trat wieder dieser Ausdruck größter Besorgnis in Calyxas Gesicht, und sie nickte todernst zu dem, was die Kellnerin ihr zugetragen hatte.
Es musste etwas Schreckliches gewesen sein; denn Calyxa blieb zwar auf ihrem Platz, stieg aber aus der lebhaften Unterhaltung der Tischgesellschaft aus und schien düsteren Gedanken nachzuhängen. Mehrmals rief sie die Kellnerin zurück, um sich mit ihr zu beraten; und bei einer dieser Gelegenheiten sahen beide zu mir herüber, und zwar so, dass es kein Zufall sein konnte. Ich konnte mir aber die Bedeutung dieser Manöver nicht erklären.
Dass sie eine Bedeutung hatten, sollte sich bald zeigen, denn die Kellnerin kam an meinen Tisch, zog den Stuhl heraus, auf dem Lymon gesessen hatte, und setzte sich.
Ich staunte über den kühnen Vorstoß. Zum Glück übernahm sie die Führung in dem Gespräch, das nun folgte. »Sie sind ein Soldat«, sagte sie energisch, aber nicht unfreundlich.
Ich nickte.
»Und Sie haben ein Interesse an Calyxa Blake?«
Endlich wusste ich ihren Nachnamen! (Allerdings aus zweiter Hand.) Ich überlegte kurz, ob Calyxa Blake meine Absichten missverstanden und ihre Befürchtungen der Kellnerin mitgeteilt hatte. »Nur das wohlmeinendste Interesse«, sagte ich aufrichtig. »Ich war beeindruckt, als ich sie habe singen hören, das war zu Ostern in einer der größten Kirchen von Montreal. Danach habe ich sie angesprochen. Ich hatte eine Kopfverletzung. Aber sie war freundlich zu mir. Dafür möchte ich mich bei ihr bedanken — na ja, eigentlich habe ich mich schon bedankt —, und so gern ich noch mehr mit … ähm … Miss Blake …« — hoffentlich lag ich richtig mit »Miss« — »… reden möchte, würde ich mich niemals aufdrängen. Wenn ich sie mit meiner ungeschickten Begrüßung aus der Fassung gebracht habe, bitte sagen Sie ihr, dass ich einfach nur aus allen Wolken gefallen bin, als ich sie erkannte.«
Das war eine hübsche Rede, und dazu aus dem Stegreif; ich war stolz auf mich.
Die Kellnerin saß da und musterte mich nur. Dann wiederholte sie: »Sie sind ein Soldat?«
»Ja, ein Soldat. Ich komme aus Athabasca und wurde unterwegs eingezogen.«
»Heißt das, Sie tragen eine Pistole? Ihr Soldaten seid doch immer bewaffnet.«
Ich war nicht im Dienst und trug keine Uniform, aber hierzulande hatte ein amerikanischer Soldat immer und überall seine Pistole dabeizuhaben. Ich trug sie unterm Hemd um die Taille geschnallt, wo sie kaum auffiel, denn ich wollte weder warnen noch provozieren; aber sie war in Griffweite. Ich nickte. »Hat sie Angst davor?«
»Nein.«
»Haben Sie denn Angst davor?«
Sie hätte beinah gelächelt. »Eine Pistole in solchen Händen macht mir keine Angst, nein. Wie heißen Sie gleich?«
»Adam Hazzard.«
»Warten Sie hier, Adam Hazzard.«
Ich war völlig aus dem Häuschen, nickte aber gehorsam. Nachdem sie die Handvoll Gäste bedient hatte, die bereits lauter als üblich nach ihr riefen, kehrte sie zu Calyxas Tisch zurück, wo die beiden noch mehr miteinander tuschelten, während ich nicht zu erröten versuchte angesichts der ungewöhnlichen Aufmerksamkeit, die sie mir zollten.
Es dauerte keine Viertelstunde — in deren Verlauf Calyxa auf die Eingangstür starrte, als rechne sie jeden Augenblick damit, dass der Leibhaftige hereinplatze —, bis die Kellnerin zu meinem Tisch kam und flüsterte: »Sie sollen schon mal nach oben gehen, Adam Hazzard.«
Ich hatte Angst, mein Interesse an Calyxa könne zu weit ausgelegt worden sein und man habe ein Stelldichein im Sinn — nun gehörte Calyxa aber nicht zu den Frauen, die sich von jetzt auf gleich zur Verfügung stellten. Ich bekam kein Bein mehr auf den Boden, doch das Gebaren der Kellnerin drängte auf Eile, und der schwermütige Ernst in Calyxas Gesicht schien dasselbe zu tun; und so nickte ich und sagte: »Wo oben?«
»Zweiter Absatz, dritte Tür rechts. Laufen Sie aber nicht gleich zur Treppe. Wenn ich weg bin, warten Sie noch ein bisschen. Es darf nicht auffallen.«
Ich war mit allem einverstanden. Die nächsten Minuten vergingen nur langsam; dann stand ich auf, eine Lässigkeit vortäuschend, die vielleicht eine Spur zu theatralisch war, so wie Calyxa die Augen verdrehte. Wie dem auch sei, kurz darauf war ich die trübe beleuchteten Stufen hinauf, fand das Zimmer und machte die Tür auf.
Das Zimmer war klein und enthielt lediglich einen Stuhl, ein paar Kisten mit Holzwolle, ein leeres Fass mit der Aufschrift SALT FISH und eine rostige Sturmlaterne. Mit Letzterer machte ich Licht. Es roch nach feuchtem, schimmeligem Holz. Das einzige Fenster überblickte (soweit der Schmutz es zuließ) die belagerten Verkaufsstände und von Fackeln erleuchteten Geschäfte der Guy Street. Ich konnte ein tintenschwarzes Stück Nachthimmel sehen, das von fernen Blitzen durchzuckt wurde; der böige Wind ließ die Markisen der Guy Street knattern, vermutlich stand ein Unwetter bevor. Feucht genug war die Stadtluft und schwülheiß dazu, besonders in diesem Obergeschoss. Ich überließ Calyxa den Stuhl und hockte mich auf eine Kiste und wartete, dass sie kam, und versuchte, nicht zu schwitzen.
Es vergingen keine zehn Minuten, da öffnete sie die Tür. Der Leser mag sich meine Aufregung und Neugier vorstellen, die ihr Besuch bei mir auslöste. Im Flurlicht war ihr Haar eine einzige ebenholzschwarze Lockenpracht. Sie setzte die Hände auf die Hüften und betrachtete mich.
»Evangelica meint, Sie wären harmlos«, sagte sie. »Sind Sie harmlos?«
»Evangelica« hieß vermutlich die Kellnerin. »Na ja, gefährlich bin ich jedenfalls nicht.«
»Sie heißen Adam Hazzard?«
Ich nickte. »Und Sie sind Calyxa Blake.«
»Adam Hazzard, ich weiß nicht, wer Sie sind — für mich sind Sie nur ein Soldat auf Urlaub —, aber ich brauche Hilfe und Evangelica meint, Sie würden mir den Gefallen tun, ohne eine allzu große Gegenleistung zu verlangen.«
»Selbstverständlich helfe ich Ihnen, egal in welcher Lage Sie sind, und als Gegenleistung verlange ich gar nichts.«
»Ein Bursche aus dem tiefen Westen. Wie Evangelica gesagt hat. Wie alt sind Sie?«
»Neunzehn«, sagte ich, was um weniger als einen Monat übertrieben war.
»Können Sie mit der Pistole umgehen, die Sie bei sich tragen?«
»Das sollte ich als Soldat, und das kann ich.«
»Haben Sie sie jemals benutzt? Auf jemanden geschossen, meine ich?«
»Ich habe auf viele Menschen geschossen, Miss Blake, deutsche Menschen, aber mit meinem Pittsburgh-Gewehr — und auch einige getroffen, da bin ich mir sicher. Und was meine Pistole betrifft, mit der habe ich bis jetzt nur auf Zielscheiben geschossen, aber ich weiß damit umzugehen. Wollen Sie, dass ich jemanden erschieße? Das ist ein bisschen viel verlangt … nicht, dass ich kneifen will … aber eine Erklärung wär schon vonnöten.«
»Die können Sie haben, wenn die Zeit reicht.« Sie blickte sich in dem engen Zimmer um.
»Da ist ein Stuhl, wenn Sie sich setzen wollen.«
»Und ob ich mich setzen will, aber so, dass ich aus dem Fenster sehen kann.«
Sie schleifte den Stuhl ans Fenster. Sie brauchte keine Hilfe — Calyxa war ein großes Mädchen, offensichtlich gewöhnt, solche Sachen alleine zu meistern. Sie setzte sich so, dass sie aus dem Fenster blicken konnte, während wir redeten (ich sah sie meistens im Profil). »Das ist unangenehm«, sagte sie.
»Sie können sich auch auf eine Kiste setzen, wenn das bequemer ist.«
»Ich meine unser Gespräch.«
»Tja, das liegt daran, dass wir uns so gut wie gar nicht kennen … obwohl ich seit Ostern viel an Sie gedacht habe.«
»Haben Sie das? Warum gerade an mich?«
»Wie meinen Sie das?«
»Von all den Frauen im Chor, was habe ich, was die anderen nicht haben? Die meisten Soldaten, die ich getroffen habe, sind mehr an Huren als an Chorsängerinnen interessiert.«
»Um ehrlich zu sein, ich weiß es selbst nicht. Ich fand Sie einfach … außergewöhnlich.« Ich bekam fast nichts mehr heraus, so funkelten mir die Ohren.
»Wie kindisch. Aber das macht nichts.« Sie musterte wieder die Straße. »Ich sehe sie nicht … schwer zu sagen in dem Duster …«
»Wen erwarten Sie?«
»Ein paar Männer, die mir übel mitspielen wollen.«
»In dem Fall tue ich alles, was in meiner Macht steht, um Sie zu beschützen! Wer sind die Schurken?«
»Meine Brüder«, sagte sie.
Wir redeten noch fast eine Stunde in diesem engen Zimmer. Sie erzählte mir mit bewundernswerter, wenn auch erstaunlicher Offenheit, dass sie erst drei Jahre alt gewesen sei, als ihre Eltern starben, und dass ihre Brüder Job und Utty (Uther) Blake, beide sogenannte Buschläufer, sie aufgezogen hatten.[39]
Calyxa war ein Mädchen und ihnen folglich nur zur Last gefallen — nie, dass sie mal nachsichtig oder nett zu ihr gewesen wären. Dann war sie ihrer Willkür unverhofft entkommen, als Job und Utty ins Gefängnis wanderten; Calyxa wurde in einem kirchlichen Internat in Quebec City untergebracht, wo sie lesen und schreiben lernte. Die Schule war kein Paradies, aber drei regelmäßige Mahlzeiten am Tag hatten sie aufblühen lassen, und sie hatte immerhin einen Zugang zur Welt des Lernens gefunden. Ihre angeborene Neugier und ihre Lebhaftigkeit waren beansprucht worden — und dann wurden ihre Brüder vorzeitig entlassen, und Calyxa wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen, wieder in ihre Obhut zu kommen.
Aber das Gesetz war unerbittlich, und man gab sie den beiden zurück. Zu ihrem Entsetzen betrachteten Job und Utty sie nicht mehr als nutzlose Belastung, sondern hatten einen Plan ausgeheckt, demzufolge sie an ein Bordell in Montreal verkauft oder, wenn das nicht klappte, an eine andere Guerillabande verschachert werden sollte.
Das passte ihr ganz und gar nicht, und sie beschloss Reißaus zu nehmen, ehe der Handel spruchreif wurde. Zum Glück hielten ihre Brüder sie noch immer für ein Kind, zumindest was ihren geistigen und seelischen Entwicklungsstand betraf, und gingen wie selbstverständlich davon aus, sie könnten sie durch entsprechende Einschüchterungen gefügig machen. Sie irrten sich. Während sie im Kerker geschmachtet hatten, war ihre Calyxa tüchtig herangereift. Sie war nicht nur gescheit genug, sie auszutricksen, sie war auch klug genug, sich für reuig, lammfromm und gehorsam auszugeben und ihre Brüder bis zur Arglosigkeit einzulullen. Als Job und Utty sie in der Wildhütte zurückließen, von wo sie ihre Herbstfallen aufrollten — der Abgeschiedenheit und ein paar zünftigen Drohungen vertrauend, die Calyxa hindern würden, auf dumme Gedanken zu kommen —, erkannte sie ihre Gelegenheit und packte sie beim Schopf.
Sie klaubte das bisschen Proviant zusammen, das sie finden konnte, steckte den Kompass ein, den sie Utty gestohlen hatte, und machte sich auf den Weg nach Montreal. Sie sprach nur ungern über den mörderischen und einsamen Fußmarsch, an dessen Ende sie völlig erschöpft und ausgehungert hier angekommen war. Nach ein paar Nächten in den Straßen von Montreal war ihr klargeworden, dass sie jetzt ihr Leben selbst in die Hand nehmen musste; und sie fing an zu singen — erst für Pennys auf den Bürgersteigen und dann in Tavernen. Singen gelernt hatte sie im Internat, die Geistlichen hatten ihr Talent entdeckt und gefördert.
Inzwischen kam sie gut zurecht und hatte bessere Gesellschaft als die von Job und Utty Blake. Doch die Flucht vor ihren Brüdern würde erst dann zu Ende sein, wenn die beiden nicht mehr lebten, denn sie schäumten vor Wut über den Verlust, den sie erlitten hatten. Calyxa hatte ihnen Calyxa gestohlen, und sie wollten sie zurückhaben und sie für ihre Dreistigkeit bestrafen.
Calyxa war entschlossen, es nicht so weit kommen zu lassen. Im Winter war nicht viel zu befürchten, denn die Blakebrüder verbrachten ihn im Einflussbereich des deutschen Gouverneurs der Saguenay-Region, wo sie wilderten und soffen und sich bei den Mitteleuropäern als Spione verdingten. Doch im Sommer wurden sie unternehmungslustiger und kamen häufig nach Montreal, um Felle zu verkaufen oder ihr Geld zu verspielen. Drei Sommer hatte Calyxa nun schon in der Angst verbracht, die beiden könnten ihren Aufenthaltsort entdecken. Sie verließ sich auf Freunde, die Bescheid wussten und Augen und Ohren offen hielten; und die Brüder waren bereits zweimal wieder abgezogen, ohne auch nur das Geringste über Calyxa in Erfahrung gebracht zu haben, und Calyxa hatte viele Aufpasser, die eine zufällige Begegnung der Geschwister zu verhindern wussten.
Heute Abend hatte Calyxa allerdings das denkbar Schlimmste erfahren. Evangelica wusste von einem Freund, dass Job und Utty wieder in der Stadt waren und Anhaltspunkte dafür hatten, dass ihre Schwester hier lebte. Sie hätten Witterung aufgenommen und bereits herausgefunden, dass Calyxa im Thirsty Boot verkehrte — und sie seien eben jetzt unterwegs hierher.
»Dann sollten Sie schleunigst nach Hause gehen und sich verstecken«, sagte ich. »Ich werde Sie begleiten, wenn das Ihr Wunsch ist.«
»Das wäre genau das Falsche, nein. Job, der Klügere von beiden, wird sich überlegt haben, die Taverne zu beobachten, statt hier hereinzuplatzen und sich Probleme einzuhandeln. Die beiden sind Jäger, Adam Hazzard, und wissen, wie man sich anpirscht, selbst wenn die Beute Wind bekommen hat. Wenn sie wirklich noch nicht wissen, wo ich wohne, brauchen sie mir nur zu folgen und so lange zu warten, bis keiner da ist, der den Einbruch bezeugen kann.«
»Dann leben Sie also allein?«
»Ja.«
»Kein Mann, der Ihnen zur Seite steht?«
»Nein, aber was soll das?«
»Na ja, das vergrößert das Risiko. Was wollen Sie tun, wenn Sie nicht nach Hause können?«
»Hierbleiben. Ich muss mich hier verstecken. Evangelica will mich warnen, wenn Job und Utty reinkommen. Selbst dann dürfte mir noch nichts passieren — solange die beiden nicht das Haus auf den Kopf stellen. Deshalb hätte ich Sie gerne bei mir — Sie und Ihre Pistole.«
»Sind Ihre Brüder bewaffnet?«
Zivilisten durften im Stadtbereich keine Waffen tragen, und die meisten hielten sich daran. Nicht so ihre Brüder, erklärte Calyxa. Beide seien erfahrene Pistolenschützen und würden lauthals prahlen, wie viele Männer sie schon getötet hätten. Das brachte mir wieder den Ernst der Lage zu Bewusstsein, und ich riet ihr, noch einmal aus dem Fenster zu blicken, um sich zu vergewissern, dass sich die beiden nicht unbemerkt angeschlichen hatten.
Es verstrich jedoch so viel Zeit, dass unsere Wachsamkeit allmählich nachließ; ihr Spiralfederhaar im Licht der Sturmlaterne bewundernd, schöpfte ich eben wieder Mut, als sie vom Stuhl aufsprang und sagte: »Oh, Mist!«[40]
»Kommen sie?«
Sie nickte. Ich stürzte ans Fenster und konnte eben noch zwei stämmige Burschen sehen — einen geflickten Wollmantel und ein dunkles Wolljackett mit gelb blitzenden Knöpfen (vielleicht ein Kolani) —, die im Fackellicht über die Straße kamen, um unter uns zu verschwinden, genau da, wo der Eingang des Thirsty Boot lag.
»Löschen Sie das Licht!«, sagte Calyxa. »Warten Sie! Erst noch das Fenster aufmachen.«
»Warum das denn?«
»Für den Fall, dass wir rasch hier rausmüssen.«
»Da draußen ist nur die Straße, und die liegt zwei Etagen unter uns.«
»Unsere letzte Zuflucht«, sagte sie.
Wir kauerten in dem dunklen Zimmer und ahnten nichts Gutes. Die Hitze war drückend. Ich konnte das herannahende Unwetter riechen — ein schwerer, salziger Geruch —, und mein Körpergeruch war auch nicht gerade frisch, obwohl ich mich heute früh gewaschen hatte. Vielleicht konnte Calyxa sich auch riechen — ich konnte es jedenfalls, und ihr Geruch war nicht unangenehm — für mich roch sie warm und aufregend —, aber lassen wir das.
Ihre Brüder blieben vorerst im Parterre, tranken vermutlich und machten sich mit den Gegebenheiten vertraut. Doch sie waren mit einer festen Absicht gekommen, und die ließ sich nicht einfach vertagen. Wir vernahmen Schritte auf der Treppe … es war Evangelica, die nette Kellnerin, die heimlich raufkam, um uns zu warnen.
Sie klopfte hauchzart an die Tür. »Sie kommen rauf!«, flüsterte sie. »Arnaud und der Barkeeper haben ihnen gedroht, aber die Blakes haben ihre Pistolen gezogen, und alle kuschen. Sie wollen alle Zimmer durchsuchen — ich muss wieder runter! Seht euch vor.«
»Ist Ihre Waffe geladen, Adam Hazzard?«, fragte Calyxa mit fester Stimme.
Ich nahm sie heraus und vergewisserte mich.
»Geben Sie her«, sagte sie.
»Was wollen Sie damit?«
»Ich kann doch nicht von Ihnen verlangen, dass sie meine Brüder erschießen.«
»Ich schieße, wenn es sein muss — hoffe aber, dass es nicht dazu kommt.«
»Sie tun es, wenn es sein muss — ich, weil es mir Freude macht.« (Sie spielte die Blutrünstige, um meine Gefühle zu schonen: Mir wurde warm ums Herz.) »Geben Sie her«, wiederholte sie.
»Kommt nicht infrage.«
»Na gut, werden Sie denn schießen? Sie totschießen, meine ich? Versprochen?«
»Beim ersten Anzeichen von …«
»Anzeichen gibt es genug, Adam! Die gehen über Leichen! Du musst schießen, sobald du ihren Schatten siehst — du musst schießen, um zu töten, nicht um zu verwunden —, oder wir sind jetzt schon verloren!« (Sie duzte mich!)
»So grausam können sie nicht sein.«
»Mein Gott, Adam! Gib mir das Schießeisen, ich flehe dich an.«
»Nein — wenn Blut fließt, dann soll es mein Gewissen belasten und nicht deins.«
»Gewissen!«, jammerte sie. »A quel genre d’idiot j’ai affaire? Wenn du mir nicht die Pistole gibst, bleibt nur noch das Fenster...«[41]
»Wir brauchen nicht in den Tod zu springen!«
»Wer hat was von Springen gesagt? Wir können höchstens abstürzen. Schnell, Adam, ich höre sie auf der Treppe … zieh die Stiefel aus!«
Ich gehorchte aufs Wort, denn sie schien einen Plan zu haben. Was mir daran nicht gefiel, war das Fenster. »Warum ziehe ich mir eigentlich die Stiefel aus?«
»Bloße Füße sind nicht so rutschig. Steck die Pistole weg, damit du freie Hände hast. Mir nach!«
Es war dunkel im Zimmer, und ich blieb so dicht wie möglich hinter ihr, stieß mir aber trotzdem den Zeh (vermutlich am Fass). Dann riss sie das Fenster auf und ließ einen Schwall Regen und einen Blitzschlag mit Donnergrollen herein. Das Unwetter, das sich über Tag angekündigt hatte, war jetzt über uns. Es rollte und grollte unaufhörlich, und der Sturm heulte unbarmherzig. Ungläubig sah ich zu, wie Calyxa ihren Oberkörper aus dem Fenster schob und sich wand und krumm machte, bis sie draußen stand, die Zehen um den schmalen Sims gekrallt. Dann packte sie die Traufe und zog sich nach oben.
Schließlich tauchte ihr hübsches Gesicht wieder auf, verkehrt herum oben im Fenster. »Los, Adam! Gib mir die Hand.«
Es war peinlich, sich in so einer Situation von einem Mädchen helfen zu lassen, aber es war noch peinlicher, von einem Blakebruder erschossen zu werden oder in den sicheren Tod zu stürzen; also packte ich ihre Hand, setzte meine bloßen Füße quer auf den triefnassen Fenstersims und versuchte, nicht an die Straße zu denken oder den Blitz, der sich am Himmel verzweigte und die Blitzableiter der zahllosen Kirchturmspitzen befingerte.
»Jetzt pack in die Rinne und zieh dich rauf!«
Ich war mir nicht sicher, ob ich das fertigbrachte — ich war überzeugt, dass ich es nicht fertigbrachte —, doch ein paar Atemzüge später lag ich neben Calyxa auf dem mit Mönchund-Nonnen-Ziegeln gedeckten Dach des Thirsty Boot. Wir lagen in einem waghalsigen Winkel und drohten ins Leere zu rutschen. Regenwasser spülte ungehemmt über uns hinweg. Aber wir waren für diesen Bruchteil eines Augenblicks in Sicherheit: Wenn man das Wort so strapazieren darf.
Ich drehte mich zu Calyxa, weil ich etwas sagen wollte (was, weiß ich nicht mehr) — ihr Gesicht war nur ein paar Zoll von meinem entfernt —, doch sie legte den Finger an die Lippen. »Deine Pistole?«, flüsterte sie.
Ich holte sie wieder heraus. Eine moderne Porter-&-Earle-Armeepistole; ich war mir so gut wie sicher, dass ihr das Wetter nichts anhaben konnte.
»Ziele damit«, sagte sie,
»Worauf?«
»Zwischen deine Füße!« Wo das Dach aufhörte, meinte sie: auf die Regenrinne, an der wir uns eben hochgezogen hatten. Ich kam ihrer Laune nach, stützte meine Rechte mit der Linken ab und stemmte meine Füße gegen die Ziegel, um nicht abzurutschen. So warm der Tag gewesen war, der Regen schien sich aus irgendeiner eisigen Höhe zu stürzen, und ich musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht zu zittern. »Vielleicht kommen sie gar nicht auf die Idee, mich hier oben zu suchen«, sagte Calyxa. »Wenn doch, dann musst du sofort abdrücken, wenn jemand über den Rand will. Mit anderen Worten, sobald du einen Kopf siehst, puste ein Loch rein. Jetzt sei still!«
Ich hatte kein Problem damit, die Nacht schon eher — sie war entsetzlich laut. Der Regen hatte die Geschwindigkeit von Artilleriefeuer und zerbarst auch so auf dem Dach. Die Dächer dieser Montreal-Gebäude waren unregelmäßig — das war nicht die Handschrift der Säkularen Alten, die einer strengen Symmetrie folgte. Sie waren vielmehr oberflächlich und konzeptlos den skelettierten Resten älterer Gebäude übergestülpt worden. Wasser gurgelte durch ein Labyrinth aus Abzugsrohren und Schrägen, stürzte kaskadenartig in gemauerte Zisternen und Rückhaltebecken und strömte in glitzernden Wellen über die Dachpfannen. Als hätten wir uns vor einer Überschwemmung aufs Dach gerettet, wenn man vom Lärm absah.
Doch Calyxa lauschte angestrengt auf Geräusche aus dem Zimmer, das wir eben erst verlassen hatten. Sie hielt eine Hand ans Ohr, und ich lauschte in dieselbe Richtung, allerdings ohne Erfolg — oder mit zu viel Erfolg, denn ich bildete mir laufend ein, Schläge, splitterndes Holz und dergleichen zu hören, und rechnete jeden Moment mit einem wutschnaubenden Blakebruder. Plötzlich versteifte sich Calyxa und bekam große Augen. »Achtung, Adam!«
Ich konzentrierte mich auf die Dachtraufe, mein Herz hämmerte im Gefechtstempo. Das Regenwasser in meinen Augen verflüssigte die Details. Ich sah das Ende der letzten Dachpfannen und den Rand der Dachrinne und das Hochhaus auf der anderen Seite der Guy Street und einen Abschnitt der Straße tief unten. Es tat ein Geräusch, wie wenn ein Fenster aufschlägt und gegen einen Widerstand knallt. Calyxa holte erschrocken Luft, und ich hätte es fast vergessen.
Sekunden vergingen. Es schüttete; es krachte, und Blitze krakelierten die blinde Glasur der dicht gedrängten Wolken.
Dann rührte sich etwas an der Dachtraufe zu meinen Füßen, ein Paar Fingerknöchel, vier rechts, vier links, packten über den Außenrand der Rinne. Das war der »Dachhorizont«, schoss es mir durch den Kopf, und schon ging ein haariger Mond auf.
Der Mond war ein Blakebruder, der den vermutlichen Fluchtweg seiner Schwester erforschte. Vielleicht hatten die beiden ihre Meinung über Calyxas geistige und körperliche Fähigkeiten inzwischen geändert. Nach dem Kopfhaar zu urteilen, hatte ich es auf jeden Fall mit einem Blake zu tun:
Das Haar auf diesem unwillkommenen Mond war so gekräuselt wie das von Calyxa, aber wild durcheinander und so ölig, dass es die Blitze mit tintenblauen Spitzlichtern belohnte. Dem Kopfhaar folgte eine Stirn, die, so abschüssig und pockennarbig, wie sie war, den Vergleich mit dem Mond nicht zu scheuen brauchte; dann folgten die Augen, gelb umrandet und rot geädert — sie begegneten den meinen und verengten sich, wie bei einer Wildkatze, die ihre nächste Mahlzeit in Sprungweite weiß.
»Schieß!«, schrie Calyxa.
Ich kann mir nicht vorstellen, einer Aufforderung nachgekommen zu sein, die von mir verlangte, einen anscheinend unbewaffneten Mann in einem so verletzlichen Moment zu erschießen (selbst dann nicht, wenn er mein Feind war) — es kann nur sein, dass Calyxas Stimme so in meinen Finger gefahren ist, dass er vor lauter Schreck abgedrückt hat. Ich spürte den Rückstoß. Das Geräusch gesellte sich zu den plärrenden Donnerschlägen. Da wo eben noch der Kopf gewesen war, spritzte ganz kurz eine rot-weiße Fontäne (aus Knochen und Blut vermutlich); ein Schrei zerriss das Unwetter, und unter uns tat es fürchterliche dumpfe Schläge, als der Verletzte (von seinem Bruder wahrscheinlich) ins Zimmer zurückgezogen wurde.
Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen — das war etwas ganz anderes, als auf deutsche Uniformen hinter einer Brustwehr zu schießen, doch Calyxa hatte ihre Geistesgegenwart bewahrt. Sie packte meine freie Hand und riss daran. »Jetzt lauf!«, sagte sie.
Sie machte es mir vor und krabbelte die Dachschräge hinauf, wobei ihre bloßen Füße einen Zoll zurückrutschten, wenn sie zwei gewonnen hatten. Ich schlingerte hinterher. Schließlich erreichten wir den Dachfirst, wo sich eine Reihe primitiver Schornsteine gegenseitig stützten wie arthritische Vorposten auf einem Hügelkamm. Ich warf einen Blick zurück auf die Dachrinne und sah eine Hand, die eine Pistole schwenkte und sie blind abfeuerte. Eine Kugel streifte den Schornsteinziegel direkt neben meinem Kopf, und Calyxa zerrte mich voran, so dass wir auf der anderen Dachschräge hinunterschlitterten — in den sicheren Tod, wie ich dachte; doch die Schräge schloss sich unmittelbar an die nächste an, so dass wir in einer Art Flussbett aus Mönch-und-Nonnen-Ziegeln landeten, durch das wir noch ein paar Meter weiterplantschten. Dann sprang Calyxa ungeachtet der gähnenden Leere über einen schmalen Spalt zwischen zwei Gebäuden, und wieder folgte ich ihrem Beispiel. Mit Mut hatte das wenig zu tun — jeder Regentropfen war wie ein Schuss zwischen die Schulterblätter.
Ich will nicht auf alle die mühseligen Kletterpartien und schwindelerregenden Abstiege, gefährlichen Rutschpartien und schmerzhaften Beinahe-Katastrophen eingehen, die uns in die Quere kamen, als wir in dieser stürmischen Nacht über die finsteren Dächer von Montreal flohen. Nach einiger Zeit wurden wir ruhiger und vorsichtiger. Es sah nicht so aus, als würden wir verfolgt — immerhin hatte ich einen der Blakebrüder, wenn nicht getötet, so doch schwer verletzt, und der andere würde seinen hilflosen Bruder wohl kaum zurücklassen, um uns über die mit Dachpfannen gedeckten Schrägen der Stadt zu jagen, und sicher nicht in einem Unwetter, dass man Trichterwolken den Sankt Lorenz hinuntertreiben sah. Es soll genug sein, wenn ich sage, dass wir zu guter Letzt auf eine eiserne Feuertreppe stießen, mehr als eine Meile vom Thirsty Boot entfernt (die Richtung bleibt mir schleierhaft), und dass meine bloßen Füße beim Abstieg blutige Abdrücke auf den rostigen Leitersprossen hinterließen. »Wohnst du hier irgendwo?«, fragte ich Calyxa atemlos.
Der Regen hatte sie durchnässt — an ihr war alles glatt oder baumelte, nur nicht ihr Haar, das o Wunder seine ganze lockige Tiefe behalten hatte. Das Männerhemd klebte so an ihrem Leib, dass es taktlos gewesen wäre, noch länger hinzusehen. Sie hatte ihre Schuhe mit den Schnürsenkeln zusammengebunden und trug sie wie einen klobig-primitiven Schmuck um den Hals gehängt. Sie zog sie geschickt wieder an und musste sich vornüberbeugen, um sie zu schnüren. Ich hatte diese Möglichkeit nicht, weil meine Stiefel oben im Thirsty Boot lagen.
»Nicht weit von hier«, sagte sie und richtete sich auf.
»Darf ich dich denn diesmal nach Hause bringen?«
Sie brachte trotz der schrecklichen Umstände ein Lächeln zustande. »Ich will dich nicht barfuß im Regen stehen lassen, Adam Hazzard«, sagte sie. »Nicht in so einer Nacht.«
Es gibt eine Form des städtischen Lebens, habe ich entdeckt, in der sich Armut und Luxus vermischen und das eine nicht mehr vom anderen zu unterscheiden ist. Das galt für die Wohnung von Calyxa Blake. Sie bewohnte etliche Zimmer in einem Gebäude, das sein anonymer Eigentümer in dunkle, aber bezahlbare Einheiten aufgeteilt hatte. Die Zimmer waren klein, die Fenster winzig, die Decke gefährlich niedrig. Sie konnte nicht viel ausgegeben haben für die Einrichtung, sie war schäbig, fadenscheinig, mit Kerben und gesplitterten Kanten — am Bordstein von Montreal hatte ich bessere Möbel stehen sehen.
Aber so bescheiden die Bücherregale waren, die Bretter bogen sich unter der Last — hier standen fast so viele Bücher wie im Duncan-und-Crowley-Landgut daheim in Williams Ford. Das schien mir ein Schatz, der respektabler war als irgendein schönes Sofa oder ein Plüschbänkchen für die Füße — der so viel wert war wie alles, was Calyxa sich ringsherum versagt hatte.
Wir hinterließen kleine Pfützen, wenn wir stehen blieben, und der Sturm schlug unverdrossen mit seinen Schwingen gegen die Fenster dieser gemütlichen, wenn auch dürftigen Zuflucht. Sowie Calyxa die verschiedenen Riegel vorgeschoben und die nächstbeste Lampe entzündet hatte, fing sie an, sich unbefangen ihrer triefnassen Kleidung zu entledigen. Meine Ohren brannten, und ich sah beiseite. »Du auch«, sagte sie. »Keine Ausnahmen für Jungs aus dem prüden Westen — du machst noch alles nass hier.«
»Ich habe nichts anderes dabei!«
»Ich suche dir was raus. Zieh dich schon mal aus — wenn du sie anlässt, trocknet die Hose nicht.«
Diese außergewöhnliche Feststellung war unbestreitbar richtig; und ich machte, was sie vorschlug, während sie in ein anderes Zimmer ging. Als sie zurückkam, trug sie ein chinesisches Kostüm, das mit lauter fantastischen Drachen bestickt war, und brachte für mich ein ähnliches Kostüm und ein Handtuch mit.
Ich trocknete mich bereitwillig ab, scheute aber vor dem Kostüm zurück. »Ich glaube, das ist nur für Frauen.«
»Das ist Seide. Alle Chinesen, die etwas auf sich halten, tragen einen Kimono, auch die Männer. Man kann sie unten an den Docks kaufen — billig, wenn die Boote kommen und wenn du den richtigen Verkäufer kennst. Zieh das bitte an.«
Ich gehorchte, kam mir aber doch ein bisschen lächerlich vor. Dabei bot der Kimono, wie Calyxa das Kostüm nannte, ausreichend Bedeckung und war bequem und warm. Solange kein Blakebruder die Tür eintrat und mich erschoss, wollte ich zufrieden sein, denn in so einem Kostüm zu sterben konnte unangenehme Fragen aufwerfen.
Calyxa machte Feuer im Herd und setzte einen Kessel auf. Während sie in der Küche werkelte, besah ich mir ihre Bibliothek. Ich hielt nach einem Titel von Mr. Charles Curtis Easton Ausschau, den ich noch nicht kannte. Doch Calyxa hatte einen anderen Geschmack. Nur wenige Bücher waren Romane, und noch weniger trugen das Prüfsiegel des Dominions. Die Autorität des Dominions schien im Westen gefestigter als im Grenzland, das so oft den Besitzer gewechselt hatte. Titel und Autoren waren mir völlig fremd. Französisch konnte ich sowieso nicht entziffern, und von den englischen Titeln griff ich mir American History Since the Fall of the Cities von Arwal Parmentier heraus. Das Buch war in England erschienen — ein Land, das zwar nur dünn besiedelt war, aber auf eine lange Geschichte zurückblicken konnte und dessen Bündnis mit Mitteleuropa eher von Formalien denn von Überzeugung geprägt war. Ich ging mit dem Band näher ans Licht, schlug ihn irgendwo auf und las diesen Abschnitt:
Der Aufstieg der Aristokratie sollte nicht allein als Folge der natürlichen Verknappung von Öl, Platin, Iridium und anderen Ressourcen der Technologischen Blütezeit verstanden werden. Der Trend zur Oligarchie zeichnete sich bereits vor der Krise ab und trug mit zu ihr bei. Noch vor dem »Niedergang der Städte« war die Weltwirtschaft zu dem geworden, was unsere Bauern eine »Monokultur« nennen, stromlinienförmig und vergleichsweise effizient, jedoch ohne die Vielfalt, die früher durch Staatsgrenzen und lokale Bewirtschaftung gefördert wurde. Lange bevor Seuchen, Hungersnot und Kinderlosigkeit die Bevölkerungszahl so drastisch reduzierte, begann sich der Reichtum bereits in den Händen einer Minderheit von einflussreichen Eigentümern zu konzentrieren. Als die Verknappung kritisch wurde, begegnete man ihr folglich nicht mit bedächtigen oder wohlüberlegten Maßnahmen, sondern mit einer entschlossenen Machtergreifung seitens der Oligarchen und einem Rückzug in religiösen Dogmatismus und klerikale Autorität seitens einer verängstigten und entrechteten Masse.
Mir war sofort klar, warum dieses Buch nicht das Prüfsiegel bekommen hatte, und ich wollte es eben zurückstellen, als Calyxa hereinkam, in jeder Hand eine Tasse Tee. »Du liest, Adam Hazzard?« Sie schien überrascht.
»Und ob — so oft ich kann.«
»Tatsächlich! Hast du Parmentier gelesen?«
Ich gab zu, nicht das Vergnügen gehabt zu haben. Mit politischer Philosophie hätte ich mich noch nie beschäftigt, erklärte ich.
»Schade. Parmentier nimmt kein Blatt vor den Mund. Alle meine Freunde haben ihn gelesen. Wen liest du denn?«
»Ich bewundere die Bücher von Mr. Charles Curtis Easton.«
»Noch nie gehört.«
»Er schreibt Romane. Vielleicht kann ich dich eines Tages mit seinem Werk bekanntmachen.«
»Vielleicht«, sagte Calyxa, und wir setzten uns aufs Sofa. Sie nippte an ihrem Tee und kam mir recht entspannt vor — immerhin hatte sie zugesehen, wie ich ihrem mordlustigen Bruder ein Loch in den Kopf geschossen hatte, und war den lieben langen Abend auf den Dächern von Montreal herumgesprungen. Dann setzte sie ihre Tasse ab und sagte: »Schau mal auf deine Füße — der ganze Teppich ist voll Blut.«
Ich bat um Entschuldigung.
»Es geht mir nicht um den Teppich! Komm, lehn dich zurück und leg die Füße aufs Handtuch.«
Ich tat, was sie wollte, und sie ging etwas holen — sie kam mit einer Salbe zurück, die nach Alkohol und Kampfer roch und erst brannte und dann Linderung brachte. Sie untersuchte meine Füße gründlich und umwickelte jeden mit einer fusseligen Binde. »Und du hast deine Stiefel zurückgelassen?«, sagte sie.
»Ja.«
»Das war nicht klug. Armeestiefel. Job kann sich denken, dass ich mit einem amerikanischen Soldaten zusammen war, und das macht alles nur noch schlimmer.«
Dass man dem einen Bruder in den Kopf geschossen hatte, musste den anderen so wütend gemacht haben, dass die Armeestiefel ein Fliegendreck dagegen waren; trotzdem nahm ich Calyxas Sorge ernst. »Nichts gegen deine Familie, Calyxa, aber ich wünschte allmählich, ich hätte sie beide erschossen.«
»Das wünschte ich auch, aber wir hatten keine Gelegenheit. Deine armen Füße! Morgen früh wirst du noch einmal verarztet, und dann besorge ich dir anderes Schuhwerk; du musst ja noch zu deinem Regiment zurück.«
So weit hatte ich noch gar nicht gedacht; die Aussicht war entmutigend, aber Calyxa wechselte das Thema. »Adam Hazzard, vielen Dank für alles, was du heute für mich getan hast. Zuerst habe ich an deinen Beweggründen gezweifelt, aber Evangelica hatte Recht — du bist genau so einfach, wie du ausschaust. Ich möchte dich belohnen«, und sie legte mir den Arm um die Schulter und zog meinen Kopf zu sich heran und küsste mich leise auf die Wange, »und zwar auf die bestmögliche Weise, aber das geht im Moment leider nicht …«
Meine Haut prickelte noch, wo Calyxas Lippen sie berührt hatten. »Du brauchst mir nichts zu erklären! Ich würde nie versuchen, dich vom Weg der Tugend abzubringen, nur weil ich dir geholfen habe!« (Und ich zupfte meinen Kimono zurecht, um den Beweis des Gegenteils zu kaschieren, den meine männliche Natur soeben antrat.)
»Das ist es nicht. Ich will mich wirklich bedanken, Adam. Es würde mir genauso viel Spaß machen wie dir. Verstehst du? Aber der Zeitpunkt ist nicht günstig.« »Natürlich nicht, die Schießerei und alles.«
»Was ich meine …«
»Es reicht, dass ich hier sitzen und mit dir reden kann. Ich wollte deine Freundschaft, und nun hab ich sie — das ist meine Belohnung.«
»J’ai mes règles, espèce de bouseaux ignorant!«, sagte sie ein wenig ungehalten, und ich fasste die Worte als weitere explosive Dankesbezeugung auf. Ich erwartete nichts von ihr, ließ aber durchblicken, dass ich einen zweiten Kuss begrüßen würde … und bekam ihn und erwiderte ihn und war so glücklich wie noch nie, trotz blutiger Gewalt und halsbrecherischer Flucht über die Dächer von Montreal. So ist die Liebe in Kriegszeiten.
Ich schlief auf dem Sofa. Am Morgen weckte Calyxa mich und besah sich noch einmal meine Füße und meinte, die Verletzungen, die ich mir an den scharfen Dachziegeln zugezogen hätte, seien doch nicht so schlimm, wie sie ausgesehen hatten; sie verband die Füße neu und fügte für jeden Fuß noch eine Lage Leder als Sohle hinzu und darüber noch einen Fußwickel, so dass ich draußen gehen konnte, ohne mich neu zu verletzen. »Das müsste halten, bis wir da sind, wo wir hinwollen«, sagte sie.
Sie wollte die Bandagen durch richtiges Schuhwerk ersetzen und herausfinden, wie das gestrige Drama im Thirsty Boot ausgegangen war; sie kannte offenbar eine Adresse, die beides befriedigen würde. Um ihr Gesicht zu verbergen, falls sie einem ihrer Brüder über den Weg lief, setzte sie einen riesigen Sonnenhut auf; untergehakt traten wir in den strahlenden Morgen hinaus.
Das nächtliche Unwetter hatte die Luft geläutert, und der Sturm hatte sich in eine angenehme Brise verwandelt. Abgesehen von der Gefahr, in der wir schwebten, und meinen wehen Füßen hätte unser Spaziergang himmlisch sein können, wenn er nicht so jählings zu Ende gewesen wäre. Der Laden, eine Gerberei mit Schuhgeschäft im Souterrain, in einer Straße, die ich nicht kannte, hatte (wie alle Geschäfte) sonntags geschlossen. Calyxa pochte laut an die Tür. »Ich kenne den Besitzer«, sagte sie.
Der Mann, der aufmachte, hatte einen Bart und war nervös und hätte gestern Abend durchaus mit an Calyxas Tisch sitzen können — aufgefallen wäre er nur durch seine Kleidung, auf die er besondere Sorgfalt verwandte. Er sah Calyxa neugierig an und mich mit Abscheu und Ekel. »Emil, lass uns rein, bevor ich Wurzeln schlage«, sagte sie. Er winkte uns widerstrebend hinein.
Der Kellerraum war geschwängert mit dem Geruch von Gerbsäure und Leim, aber es waren etliche sehr hübsche Stiefel ausgestellt. »Kannst du bei meinem Freund maßnehmen?«, fragte Calyxa.
»Für dich immer«, sagte Emil gedehnt, »das weißt du, aber sicher nicht …«
»Er braucht etwas Geschmeidiges und Robustes an den Füßen. Er hat mir einen Gefallen getan und dabei seine Stiefel verloren.«
»Bekommt er die Stiefel nicht von den Herren Militärs? Tu es folle d’amener un soldat américain ici!«
»Il m’a sauvé la vie. On peut lui faire confiance. En plus, il n’est pas très intelligent. S’il te plaît, ne le tue pas — fais-le pour moi!«
Der Wortwechsel, was immer er zu bedeuten hatte, schien Emil ein wenig milder zu stimmen, und er maß meine Füße; als er damit fertig war, fahndete er unter den vorgefertigten Stiefeln nach der richtigen Größe und zeigte mir schließlich ein schönes Paar Hirschlederstiefel, wadenhoch und goldbraun.
»Das hat mit deinen barbarischen Brüdern zu tun«, sagte Emil zu Calyxa. »Ich habe gehört, was gestern Abend im Thirsty Boot passiert ist.«
Calyxa horchte auf. »Was weißt du über Job und Utty?«
»Job wurde schlimm angeschossen. Er hat viel Blut verloren, aber sein Schädel blieb heil, und soviel ich gehört habe, wird er durchkommen. Utty drohte, ein paar Leute zu erschießen, nur um Eindruck zu machen, aber Jobs Zustand hat ihn abgelenkt. Sie sind von der Taverne zur Charité — ich denke, Job ist noch da, es sei denn, er war so anständig, diese Nacht zu sterben. Mehr weiß ich nicht, nur dass die Militärpolizei da war und einen Haftbefehl für die beiden hatte.«
Sie lächelte wie bei erfreulichen Neuigkeiten; nur dass die Blakebrüder früher oder später wiederkommen würden, wütender denn je — ich hatte Angst um Calyxa.
Die Stiefel waren teuer, auch dann noch, als Emil sich zu einem Rabatt bewegen ließ. So viel Geld wollte ich eigentlich nicht ausgeben — ich sparte schließlich für eine Schreibmaschine —, wollte mich aber vor Calyxa nicht blamieren und brauchte die Stiefel; also zahlte ich das Lösegeld.
Und es sollte mir nicht leidtun. Die Hirschlederstiefel waren Balsam für meine Füße. Noch nie hatten mir Stiefel so gutgetan. Die Männer meiner Kompanie würden neidisch sein, mich verspotten und einen eitlen Fatzken nennen, aber ich wollte das klaglos ertragen, denn die Stiefel waren himmlisch bequem und erinnerten mich an Calyxa.
Wir wanderten noch ein bisschen weiter, doch der Tag schritt rasch voran, und ich musste ins Lager zurück. Wir trennten uns an der großen Eisenbrücke. Calyxa fragte, ob ich nächstes Wochenende wiederkomme. Ich würde alles daransetzen, sie wiederzusehen, sofern die militärische Situation es zulasse, versprach ich. Und dass ich bis dahin ohne Unterlass an sie denken wolle.
»Hoffentlich kommst du.«
»Ich komme.«
»Und vergiss die Pistole nicht«, sagte sie; dann küsste sie mich wieder und wieder.
Ich hielt mein Versprechen und kam diesen Sommer viele Male nach Montreal zurück und lernte Calyxa näher kennen und die Stadt, in der sie lebte. Ich will den Leser nicht mit der Beschreibung all dieser Begegnungen langweilen (manche waren ohnehin zu intim, um hier Eingang zu finden), will aber sagen, dass wir nicht weiter von den Blakebrüdern belästigt wurden — jedenfalls nicht diesen Sommer.
Das Lagerleben war eine Zeit lang unbeschwert. Meine Füße heilten rasch dank leichter Arbeit und jener Stiefel aus geschmeidigem Hirschleder. Die deutschen Ausfälle wurden seltener, und die einzigen Kampfhandlungen in der Gegend fanden vorerst zwischen unseren Spähtrupps und ein paar feindlichen Vorposten statt. Vom Saguenay-Feldzug hörte man nur Widersprüchliches: ein großer Sieg — eine große Niederlage — viele Mitteleuropäer getötet — viele Amerikaner fanden ein frühes Grab —, aber nichts konnte bestätigt werden, weil der Nachrichtenverkehr so schleppend war und der Führungsstab so abgeneigt, Informationen mit den einfachen Soldaten zu teilen. Doch um das Erntedankfest herum bekamen wir einen deutlichen Hinweis, dass es nicht gut stand um die amerikanische Sache. Ein neues Regiment aus Einberufenen und Rekruten traf im Lager ein — weiche, naive Pächterjungs, wie ich sie jetzt sah, die meisten von den Landgütern und Eigentumsfarmen in Maine oder Vermont. Sie waren im Eilverfahren darauf vorbereitet worden, bei Montreal in Garnison zu liegen und die hiesige Abwehr zu unterstützen; dadurch wurden diejenigen von uns, die Kampferfahrung hatten, entlastet, um an einem Winterfeldzug teilzunehmen — von allen militärischen Unternehmungen das Gefürchtetste.
»Das ist nicht die Handschrift von Galligasken«, sagte Sam, als unsere Befehle verkündet wurden. »Das kommt direkt aus dem Regierungspalast. Das riecht nach Deklan Comstock. Die Nachricht einer Niederlage hat ihn derart aufgebracht, dass er alle Streitkräfte in eine strategisch absurde Vergeltungsmaßnahme schickt — ich mache jede Wette.«
Befehl war Befehl. Wir packten unseren Tornister, schulterten das Pittsburgh-Gewehr, eine ganze Division von uns, und wurden zum Hafen gekarrt, wo wir in Dampfschiffe verladen wurden, die uns den Sankt Lorenz hinunter zum Saguenay River bringen sollten. Es blieb keine Zeit, um Calyxa Lebewohl zu sagen, also schrieb ich ein paar hastige Zeilen auf Feldpostpapier und steckte sie am Kai in den Briefkasten: Ich müsse für unbestimmte Zeit an die Front, ich würde sie lieben und ständig an sie denken und hoffe, ihre Brüder würden sie nicht aufspüren und umbringen. Sie solle gut auf sich aufpassen.
Die Schiffe, mit denen wir fuhren, verbrannten mehr Holz als Kohle, und ihr Qualm hing über dem Fluss und folgte uns im Wind, ein beißender, erdiger Geruch.
Ich war noch nie mit einem Schiff gefahren. Der River Pine zu Hause in Williams Ford war zu schnell und zu flach für größere Boote. Natürlich hatte ich schon Schiffe gesehen, besonders seit unserer Ankunft in Montreal, und mich hatte ihre plumpe Anmut fasziniert und wie sie mit dem launigen und oft stürmischen Sankt Lorenz zurechtkamen. Kein Wunder, dass ich viel Zeit an der Reling dieses kleinen Schiffes verbrachte, wo ich Julians »Relativistische Illusion« erfuhr, bei der das Schiff stillstand und sich das Land ringsherum bewegte, sich gen Westen windend wie eine Riesenschlange mit einem Krieg im Schwanz.
Wir hatten Wollmäntel bekommen, die uns vor der Witterung schützen sollten, doch der Tag war schön und sonnig, obwohl der Herbst die Landschaft im Sturm eroberte. Wir näherten uns den großen Befestigungsanlagen von Quebec City und ließen sie hinter uns und folgten der nördlichen Fahrrinne, vorbei an der Île d’Orleans, bis der Fluss viel breiter wurde und allmählich den Geruch von Salz annahm. Das Laubwerk entlang des Nordufers war erdbraun und scharlachrot; vom Wind entblätterte Bäume zeichneten filigrane Skelette an den graublauen Himmel, und über den Wald fegten dunkle Krähenschwärme. Der Herbst ist die einzige Jahreszeit, die einen Widerhaken im menschlichen Herzen hat, hatte Julian einmal gesagt (oder zitiert). Diese bizarre Metapher ging mir jetzt durch den Kopf — die einzige Jahreszeit mit einem Widerhaken im Herzen — und weil Herbst war und das Land so weit und verwaist, und weil die Luft so kalt war und nach Holzfeuer roch, schienen die poetischen Worte einen Sinn zu haben. Man konnte es spüren.
Dann tauchte Julian neben mir auf und packte mit beiden Händen die Reling; die anderen Soldaten irrten ziellos umher oder suchten unter Deck ihr Glück in der Messe. »Letzte Nacht habe ich geträumt«, sagte er, das Licht der tiefen Sonne im Gesicht, während der Wind in seinem Haar zauste, das unter der Mütze hervorquoll. »Ich war auf einem Schiff.«
»So eins?«
»Ein schöneres, Adam. Ein Dreimastschoner, wie sie die Narrows nach Manhattan heraufsegeln. Als ich ein Kind war, nahm meine Mutter mich immer wieder mit an die 42ste Straße, um diese Schiffe zu sehen. Ich stellte mir vor, sie kämen von weit her — von den Mittelmeer-Republiken oder von Japan oder Ecuador, wie es mir in den Sinn kam —, und behauptete, diesen Schiffen hafte etwas vom Flair dieser Länder an — ich machte mir vor, dieses Flair riechen zu können, einen Hauch von Gewürz über dem Gestank nach Kreosot und fauligem Fisch.«
»Das müssen sehr schöne Schiffe gewesen sein«, sagte ich.
»Aber in meinem Traum lief das Schiff aus und nicht ein. Es verließ den Hafen von New York. Die Segel blähten sich gerade — sie ›nahm den Knochen zwischen die Zähne‹, wie die Seeleute sagen, und passierte die alte Verrazano-Brücke. Ich wusste, dass ich irgendwohin fuhr … aber nicht an einen sicheren Ort, sondern irgendwohin, wo ich noch nicht gewesen war, wo ich mich vielleicht verwandeln würde, in jemand anderen.« Er lächelte einfältig, obwohl etwas Ruheloses in seinem Blick lag. »Siehst du einen Sinn darin?«
»Eher nicht«, sagte ich. Ich glaubte nicht an prophetische Träume, so wenig, wie Julian an Flaxies Himmel glaubte; aber er klang so schwermütig, dass mir der Gedanke kam, der Traum könne wieder eine poetische Metapher sein, wie die mit dem Haken im Herzen — diese Art Rätsel, die mit ihrem Unsinn nahe an den Tränenkanälen vorbeischrammen.
Bei Einbruch der Dunkelheit fuhren wir am deutschen Fort bei Tadoussac vorbei. Es war von amerikanischen Truppen erobert worden, und unter den Soldaten an Deck kam eine Hurra-Stimmung auf, als sie über den zernarbten und kaputten Mauern hoch oben auf der Landspitze die Dreizehn Streifen und Sechzig Sterne wehen sahen. Weniger erfreulich war der Schiffsfriedhof am schroffen Ufer. Halb gesunkene, vom Artilleriefeuer entkernte Rümpfe, bewachten Inseln aus verkohlten Trümmern, die von der Strömung umzingelt wurden. Hier war erbittert gekämpft worden, an Land und auf Wasser, ein schrecklicher und bedrückender Ort im schwindenden Tageslicht.
Kurz darauf erreichten wir die felsige Mündung des Saguenay River, und unsere Flottille von Truppentransportern dampfte den Fjord[42] hinauf; die holzbefeuerten Maschinen liefen auf Hochtouren, schafften aber nicht mehr als ein paar Knoten gegen die Strömung. Die meisten von uns versuchten in den schmalen Kojen zu schlafen, die man uns zugeteilt hatte. Aber wir hielten unsere Waffen am Körper und hörten gegen Morgen die fernen Geräusche des Krieges.
Man setzte uns zur Belagerung von Chicoutimi ab, und wir verbrachten drei Wochen in den Schützengräben.
Die Kompanien unseres Regiments wurden dicht beisammengehalten, damit wir nicht demoralisiert wurden von den Berufsinfanteristen, die sich im Laufe des Sommers unter schrecklichen Verlusten von Tadoussac nach hier durchgekämpft hatten. Es war ein schlecht vorbereiteter und mörderischer Feldzug gewesen, und der Führungsstab war nicht von den Auswirkungen seines »Worfelns«39 verschont geblieben. Man sah kaum einen Offizier vor Chicoutimi und so gut wie keinen in Sams Alter. Jungs in meinem Alter hatten Befehlsgewalt und wurden überstürzt befördert; Kommandeurszelte waren zu Kindergärten geworden, aus denen man ins Grab versetzt wurde.
Die »Belagerung« war in Wahrheit ein Patt. Unsere Schützengräben waren auf ihre Schützengräben gestoßen, und wir konnten nichts anderes tun, als die Bilanz des täglichen Tötens auszugleichen. Wir kontrollierten den Saguenay bis hinauf zum River-of-Rats, doch die Mitteleuropäer hatten Chicoutimi fest im Griff, und ihre Nachschublinien, die bis zum Schienenkopf am Lake Saint John reichten, waren uneinnehmbar. Dort hatten die Statthalter Farmen, Mühlen, Bergwerke, Raffinerien, kleine Werften und ein florierendes Gemeinwesen von Arbeitern und Besitzern geschaffen. Egal, was für ein Artilleriegeschütz wir flussauf schleppten, um sie damit anzugreifen, sie konnten eine gleichwertige Waffe flussab schicken, um uns zurückzuwerfen. Und da sie uns an Zahl überlegen waren, mussten wir ständig auf der Hut sein, dass sie uns nicht in den Rücken fielen.
Zu allem Überfluss brach der Winter herein. Die kalte Witterung hatte bereits die Schwarzen Fliegen vertrieben (das einzig Gute daran). Unsere Linien liefen durch Ödland, kein Baum, kein Strauch, kein Grashalm. Wir hatten unsere Gräben und Vortriebe ausgehoben, der Boden hier war voller Trümmer aus der Blütezeit des Öls — Backsteine, zerbrochene Fundamente und diese teerigen Krümel, mit denen die Alten ihre Straßen pflasterten. Unsere Grabwerkzeuge förderten von Zeit zu Zeit menschliche Knochen zutage. Die Knochen waren nicht zu gebrauchen[43], aber die Backsteine waren zum größten Teil noch intakt und konnten mit eingebaut werden. Ein paar Ehrgeizige mauerten daraus richtige Befestigungen mit Schlamm als Mörtel, aber solche Barrikaden waren ein zweischneidiges Schwert: Sie boten Schutz gegen Gewehrfeuer, konnten aber einstürzen, wenn in der Nähe eine Artilleriegranate einschlug. Handwerkliches Können war gefragt, und Männer, die sich aufs Mauern verstanden, standen hoch im Kurs, zumindest bis der Boden überfror und sowohl das Ausbuddeln von Steinen als auch das Mörteln unmöglich wurde. Solcherart sind die leiseren Kriegskünste.
Außer Marschverpflegung gab es nichts zu essen, und das war einfach zu wenig. Es fiel auch schwer, sich warm zu halten. Es gab Tage, an denen wir nichts zu verbrennen hatten als faulige Holzreste und Asphalt. Und nachts gab es keine Entspannung, denn die Deutschen liebten es, uns während der Dunkelheit mit Granaten zu beschießen, und unsere Artillerie-Kompanien waren genötigt, das Feuer zu erwidern. Nach drei Wochen hatten Schlafmangel, dauernde Kälte und unzureichende Rationen Automaten aus uns gemacht, die durch gefrorene oder matschige Gräben schlurften und Befehlen folgten, die von irgendwelchen entfernten Verrückten oder hiesigen Kommandeuren in unserem Alter ausgegeben wurden. Major Lampret war bei uns; hinter seinem Rücken der Drückebergerei bezichtigt, hatte er, um nicht alle Glaubwürdigkeit zu verlieren, wohl oder übel an die Front gemusst; er hielt an drei Sonntagen Gottesdienste ab, die jeden Sonntag weniger gut besucht waren als am Sonntag zuvor. Seine Rivalität mit Julian brodelte immer noch, und ich denke, dass er zutiefst bedauerte, den Gefreiten Commongold nicht bei der erstbesten Gelegenheit degradiert oder unter Arrest gestellt zu haben; doch Julian war gut gelitten bei den Männern, und Lampret konnte nichts gegen ihn unternehmen. Sam wusste, dass es unter uns jemanden gab, der für Lampret spionierte, und hatte den Gefreiten Langers in Verdacht, unseren rührigen Kolporteur, der bei verschiedenen Gelegenheiten gesehen worden war, wie er sich mit Lampret unterhielt; und Langers’ Charakter war nicht gerade angetan, den Verdacht zu entkräften. Doch Langers passte auf, und man sah weder Geld noch Sachwerte den Besitzer wechseln.
Das letzte Lagertreffen, das Major Lampret abhielt, war besser besucht, aber auch nur, weil wir hinbeordert wurden. Wir standen im Kreis auf freigeräumtem Boden, der Himmel war bewölkt, Schnee rieselte auf uns herab, als uns eine bittere Meldung erreichte. General Galligasken sei von feindlichen Granatsplittern getroffen worden, obwohl sein Hauptquartier außer Reichweite der konventionellen Artillerie lag — vielleicht sei ein chinesisches Geschütz verantwortlich. Der General lebe noch, sei aber zur Notversorgung nach Tadoussac geschafft worden und werde wahrscheinlich einen Arm verlieren, wenn er durchkomme. Er werde durch einen neuen General namens Reddick aus New York City ersetzt. Eine Schachfigur der Exekutive, flüsterte Sam, und ein Lakai des Dominions. Das waren schlechte Nachrichten.
Es sollte noch schlimmer kommen. Reddick befahl in seinem Enthusiasmus einen Großangriff im Morgengrauen. Wir sollten auf den Waffen schlafen und auf alles gefasst sein.
Der Quartiermeister gab frische Munition aus und eine doppelte Ration — eine erfreuliche Abwechslung, auch wenn dieses »letzte Abendmahl« nur wenig dazu beitrug, die gedrückte Stimmung zu zerstreuen. Da war die Ankunft einer Division Kavallerie schon eher dazu angetan, uns aufzumuntern — Männer, die mit Grabenfegern bewaffnet waren, wie sie sich in der Schlacht von Mascouche so bewährt hatten. Vielleicht waren wir doch nicht dem Untergang geweiht. Ein Strohhalm, an den wir uns klammerten.
Der Himmel hatte sich rot gefärbt, als alle unsere Hörner erschollen und alle unsere Artilleriegeschütze gleichzeitig feuerten, um den Beginn des Angriffs zu signalisieren.
Wir formierten uns in Regimentern, unseres gehörte zur vordersten Linie. Ich fragte Sam, welche Strategie das sein könnte, aber er wusste es nicht. Die Armeen waren so groß, dass man als Einzelner den Überblick verlor, und diese Schlacht wurde von einem Führungsstab im Hintergrund dirigiert. Man hatte Telegrafenleitungen verlegt, damit Reddick sich besser mit Feldkommandeuren verständigen konnte, und es gab Kuriere zu Fuß und zu Pferd. Das alles sei aber ein zu schwerfälliger Apparat, um eine massive Schlacht zu koordinieren, meinte Sam, ein Geschehen, das ständig im Fluss sei. Folglich läge die Initiative hauptsächlich bei den Regimentskommandeuren. Julian fragte pointiert und laut, ob Major Lampret sich wohl herablasse, höchstselbst an der Schlacht teilzunehmen, oder ob er das Geschehen lieber von hinten beaufsichtige, spirituell sozusagen. Lampret schnappte die Äußerung auf — was zweifellos beabsichtigt war — und verkündete der Mannschaft, sich mit einem Gewehr zu bewaffnen, falls eines übrig sei. Das brachte ihm ein paar vereinzelte Beifallsrufe ein; sein Gesicht war allerdings kreidebleich, als er das Angebot machte, und er durchbohrte Julian mit einem langen Blick.
Dann waren wir mittendrin. Ich will dem Leser die grässlichen Einzelheiten dieses furchtbaren Morgens ersparen und nur so viel sagen, dass es keine Stunde dauerte, bis unsere Kompanie auf die Hälfte reduziert war; und ich bekam so viel zu sehen, was eigentlich ins Innere des menschlichen Körpers gehört, dort aber nicht geblieben war, dass ich jede Abscheu vergaß und zu einem gefühllosen, funktionierenden Etwas wurde. Der Gefechtslärm war buchstäblich ohrenbetäubend, und ohne die geniale Choreographie für Fahnenträger und Hornsignale hätten wir jede Ordnung vergessen und nur noch ums nackte Überleben gekämpft.
Hier wie in Mascouche waren es die Grabenfeger, die den Ausschlag gaben. Die schweren Gewehre waren deutlich herauszuhören — jenes vernichtend langgezogene Husten, das die deutschen Truppen fürchten gelernt hatten. Sobald diese Waffen zum Einsatz kamen, begann die Laurentische Armee überraschend schnell vorzurücken, obwohl mir immer noch nicht klar war, welches Ziel wir eigentlich verfolgten. Doch General Reddick befahl, den fliehenden Feind zu verfolgen, und wir mussten wohl oder übel gehorchen.
Die Schlacht verließ das mit Kratern übersäte Niemandsland aus Gräben und Schanzen, während sich die Mitteleuropäer in ihre vorbereiteten Stellungen im welligen Waldland zurückzogen. Der Befehl zur Verfolgung tönte aus allen Himmelsrichtungen, und nach Sam, der eine leichte Oberschenkelwunde davongetragen hatte und die Blutung mit einem Baumwolltaschentuch stillte, war unsere Kavallerie wahrscheinlich dazu ausersehen, die deutsche Armee seitlich zu umgehen, um sie dann völlig aufzureiben. In diesem Sinne bekam unser Regiment Befehl, in den Wald vorzudringen, um dem Feind keine Ruhe zu gönnen und alle zurückgelassenen Vorräte oder Tiere einzusammeln und alle Versprengten zu töten oder gefangen zu nehmen.
Es war ein kühner Plan, und wir hätten sicherlich eine hilfreiche Rolle gespielt, wenn da nicht diese folgenschwere Gewehrkugel gewesen wäre.
Unser Kompaniechef war Captain Paley Glasswood, vormals Schalterangestellter in New York City, mindestens zehn Jahre jünger als Sam Godwin und etwa so alt wie Major Lampret und ranghöher als die meisten von uns. Gegenwärtig führte er uns durch heftiges, aber (wie es damals schien) wirkungsloses Feuer von Heckenschützen in den Wald hinein und über einen Fluss und die Biegung eines sanft gewölbten Hügelkamms entlang in ein bewaldetes Tal hinab — ohne jede Feindberührung; und so marschierten wir mehr als zwei Stunden lang, geduldig, aber ratlos, ehe der Captain stehen blieb und theatralisch sagte:
»Ich bin müde, Jungs, und die Sterne sind schrecklich hell.«
Dann setzte er sich ächzend und brabbelnd auf einen umgestürzten Baumstamm.
Dabei blieben noch Stunden bis zur Abenddämmerung; auch wenn der Tag etwas düster war und hin und wieder eine Handvoll Schnee versprühte, konnte sich keiner von uns einen Reim darauf machen, wie das mit den Sternen gemeint war. Sam ging nach vorne zu Captain Glasswood und fragte ihn, was los sei, bekam aber keine Antwort. Dann beäugte er die linke Seite von Captain Glasswoods Kopf und verzog das Gesicht. »Oh, verdammt! Komm her, Adam — hilf mir, wir müssen ihn hinlegen.«
Der Captain erhob keinen Widerspruch, als wir ihn unter einem Baldachin knarrender Kiefern auf den kalten Waldboden streckten. Sein Blick war glasig, und eine Pupille hatte die Größe eines Comstock-Dollars. Als ich ihn zu Boden bettete, sah er mich feierlich an. »Oh, Maria, nicht wieder heulen«, sagte er verärgert. »Ich war seit Dienstag nicht mehr im Lucille’s.«
»Was ist mit ihm?«, fragte ich.
Sam, der eben den Kopf des Captains abgelegt hatte, zeigte mir seine Hände mit den Streifen von geronnenem Blut. »Er wurde getroffen«, sagte er voller Abscheu.
»Wo?«
»In den Kopf. Mitten ins Ohr, wie es aussieht.«
Ins Ohr. Mein Gott! Ich schauderte bei dem Gedanken, als wäre alles, was ich heute erlebt hatte, weniger schlimm gewesen. »Ich habe aber kein Gewehrfeuer gehört.«
»Es muss schon im Gefecht passiert sein oder direkt danach. Vielleicht hat ihn einer von diesen Scharfschützen erwischt.«
»Vor so langer Zeit? Das muss er doch gemerkt haben.«
»Die Wunde hat nicht stark geblutet, ich meine, äußerlich. Und die Kugel sitzt im Gehirn, Adam. Leute mit einer Kugel im Gehirn verlieren alle möglichen Empfindungen, und manchmal wissen sie nicht mal, dass sie getroffen wurden. Er zum Beispiel, ich glaube, er weiß es noch gar nicht. Und daran wird sich auch nichts mehr ändern, Adam. Er liegt nämlich im Sterben.«
Ich hatte Angst, Captain Glasswood könne etwas von dieser unseligen Diagnose mitbekommen und sich aufregen, doch Sam hatte Recht; falls er etwas verstanden hatte, berührte es ihn nicht. Der Captain schloss lediglich die Augen und rollte sich seitlich zusammen wie jemand, der es sich auf einer weichen Matratze bequem macht. »Kannst du mir nicht eine Decke aus der Truhe holen?«, fragte er sehnsüchtig. »Mir ist kalt, Lucille.«
Dann stieß er einen einzigen Schrei aus und hörte auf zu atmen.
Von unserer Kompanie waren keine zwanzig Männer übrig, und wir hatten soeben unseren einzigen Kommandeur verloren. Es gab selbstverständlich noch Lampret, aber Lampret war ein Dominion-Mann ohne Kampferfahrung. Und momentan war Lampret nicht hilfreicher als ein Holzstöckchen, wie er dastand und auf Captain Glasswoods Leiche starrte, als sei sie wie ein giftiger Pilz aus dem Boden geschossen. Die Männer der Kompanie richteten in stummer, intuitiver Einhelligkeit ihren Blick auf Julian. Und Julian blickte auf Sam, womit er ihm Respekt und Gefolgschaft der einfachen Soldaten sicherte.
»Stellt eine Wache auf«, sagte Sam, als er begriffen hatte, wer jetzt die Bürde der Verantwortung trug. »Ich denke aber, wir sind so weitab vom Schuss, dass wir Captain Glasswood begraben können, ohne feindliches Feuer auf uns zu ziehen. Zurückbringen können wir ihn jedenfalls nicht, und einfach liegen lassen sollten wir ihn nicht.«
Der Boden war allerdings steinhart gefroren, so dass es unmöglich war, den Captain richtig zu begraben; also scharrten wir einen flachen Graben aus dem dicken fauligen Teppich aus Kiefernnadeln, wälzten den Captain hinein und schaufelten ihn zu. Sehr lange würde ihn das nicht vor wilden Tieren schützen, aber es war immerhin eine christliche Geste. Wir mussten nachhelfen, damit Major Lampret in die Gänge kam und mit brüchiger, zittriger Stimme ein passendes Gebet sprach. Julian schien vom Tod berührt und machte nicht eine einzige despektierliche Bemerkung über Gott. Der Tod des Captains hatte uns allen zugesetzt — seltsam genug in Anbetracht der vielen Tode, die wir heute mitbekommen und geschluckt hatten. War die Einsamkeit des Waldes schuld? Oder lag es an den Wolken, aus denen eisige Schneekörnchen rieselten? Oder daran, dass es weit und breit keine Banner und Hornsignale gab?
Wir hatten jetzt ein gewaltiges Problem — obwohl Sam das so nicht sagte —, weil wir nämlich Captain Glasswood eine kluge Strategie unterstellt hatten, als er uns weg vom Schlachtfeld und tief in die Wildnis geführt hatte. Und weil diese Strategie, falls sie jemals existiert hatte, einem zerstörten Hirn entsprungen und mit ihm dahingeschieden war.
Mit anderen Worten — Worte, die ich nur ungern aussprach, selbst in der Abgeschiedenheit meiner Gedanken —, wir steckten rat- und orientierungslos irgendwo in der Wildnis des oberen Saguenay.
An Gefechtslärm konnten wir uns kaum noch erinnern. Entweder waren die Deutschen aus ihren Gräben verjagt worden, verjagt auch alle Versprengten, und der Krieg hatte wieder einmal Pause, oder wir waren schlicht und einfach außer Hörweite geraten. Letzteres war am wahrscheinlichsten, denn wir hatten viele bewaldete Hügelkämme überquert, die Geräusche auf unvorhersehbare Weise dämpfen oder verstärken konnten. Es sei das Beste, erklärte Sam der Kompanie kurz nach dem letzten Gebet für Captain Glasswoods Seele, zu unseren Linien zurückzukehren. Nur dass wir vielleicht nicht auf dem kürzesten Weg zurückkehren würden, solange wir »keine festen Orientierungshilfen« hätten, und dass wir uns in der Zwischenzeit wie ein Spähtrupp zu verhalten und uns Stellungen und Verteidigungsanlagen der Deutschen zu merken hätten, sofern wir über die eine oder andere stolpern würden. Sam wollte versuchen, uns auf demselben Weg zurückführen. Ob er wirklich so erfahren war oder uns nur bei Laune halten wollte, war schwer zu sagen.
Wir marschierten noch stundenlang, und bei Einbruch der Dunkelheit schienen wir unseren Linien um keinen Deut näher zu sein. Sam äußerte sich nicht dazu. Feuer zu machen wagten wir nicht. Nach einer Notration — unser Proviant ging zur Neige — suchten und improvisierten wir Schutz vor der Witterung und wickelten uns in unsere Decken, um zu schlafen … was einige wohl auch konnten, obwohl die kahlen Äste der Bäume knarrten wie das Spantenwerk eines Geisterschiffes und der Wind wie Meeresrauschen klang.
»Ich habe das Gefühl«, sagte Lymon Pugh, »dass wir ziemlich tief in der Tinte sitzen.« Niemand widersprach ihm.
Lymon Pugh war so ausgezehrt wie wir alle (wir hatten einfach zu lange in den Gräben gehockt), nur seine muskulösen, von Messern zernarbten und mit Rinderblut tätowierten Unterarme machten noch was her, auch wenn sie fast in den dicken Ärmeln seiner Wolljacke verschwanden. Ihn zur Seite zu haben beruhigte ungemein. Wir pilgerten hinter Sam her, der den Pfadfinder spielte. Im Wald ging es schon eine Weile bergan, und wir schwitzten trotz der frostigen Kälte.
Der Tag war kalt, aber der Himmel zum Glück nicht bedeckt, und so konnte uns die Position der Sonne helfen, die Himmelsrichtungen zu bestimmen. Wir wussten, wir waren östlich des Saguenay und wahrscheinlich ein gutes Stück nördlich von unseren Linien. Dass wir noch frei herumliefen, hatten wir der Tatsache zu verdanken, dass dieser Teil des Landes unbewohnt war. Doch lange ließ sich die Zivilisation nicht mehr meiden, es sei denn, wir würden uns hier niederlassen, doch leider gab es hier so gut wie nichts mehr zu futtern — selbst Kleinwild war vom Krieg vertrieben oder von hungrigen deutschen Soldaten verputzt worden. Der Wald wurde immer steiler. Oben angekommen, hob Sam die Hand und gab uns flüsternd zu verstehen, jedes Geräusch zu vermeiden.
Einzeln oder zu zweit duckten wir uns an den Scheitel des Hügels und sahen einen langen, sanft abfallenden Hang hinunter, an dem eine Eisenbahntrasse (die deutsche Schmalspur) schräg heraufführte, um uns nur knapp zu verfehlen. Es sprach viel dafür, dass wir es mit der Trasse zwischen Chicoutimi und den mitteleuropäischen Besitzungen am Lake St. John zu tun hatten. Oder die Trasse hatte die felsige Atlantikküste im Visier — die deutschen Besatzer hatten Jahrzehnte Zeit gehabt, Scharen von Schienensträngen quer über Labrador zu verlegen.
Für uns war es wichtig, dass die Trasse mit Chicoutimi verbunden war; wir konnten das Städtchen erkennen, es lag jenseits einer verschleierten Winterwildnis, nicht mehr als ein verschwommener, schmutziger Fleck am blauen Band des Saguenay. Und das bedeutete, wir hatten die Orientierung zurückgewonnen — auch wenn wir noch sehr weit von unserem ersehnten Ziel entfernt waren. Der Weg, der vor uns lag, war nicht zu verfehlen: Wir brauchten lediglich dem Schienenstrang zu folgen, bis wir auf freundlicheres Territorium wechseln konnten. Uns fielen gleich mehrere Steine vom Herzen, denn das, was jetzt noch vor uns lag, war keine allzu große Strapaze mehr. In Gedanken waren wir schon bei unserem alten Regiment und machten uns über das warme Abendessen her.
Doch die Heimkehr musste noch ein paar Augenblicke warten. Sam bat sich strikte Ruhe aus. Er nickte gen Osten und machte uns auf die Dampfspur aufmerksam, die über den verschneiten Pässen hing — ein Zug näherte sich. »Bleibt in Deckung, bis er vorüber ist, ich meine jeden einzelnen von euch, kapiert?«
Wir waren nur ein paar Meter von der Stelle entfernt, wo die Trasse ihren Scheitelpunkt erreichte, um sich dann allmählich in Richtung Chicoutimi abzusenken; gleich würde der Zug dicht an uns vorüberrattern. »Sollten wir nicht schießen, wir sind schließlich Soldaten?«, fragte Lymon Pugh.
»Und wenn es kein militärischer Zug ist?«, sagte Sam. »Was bringt es, auf unbewaffnete Zivilisten zu schießen, selbst wenn es Deutsche sind? Außerdem kann der Schuss nach hinten losgehen; das Gewehrfeuer würde uns ein für alle Mal verraten.«
Niemand protestierte. Wir hatten ohnehin nicht mehr viel Munition, auch weil wir zu oft auf (leere) Eichhörnchennester geschossen hatten in der vergeblichen Hoffnung, wir könnten uns ein bisschen Frischfleisch vom Baum holen. Wir kauerten dicht beisammen zwischen Felsblöcken und dürren Winterbüschen, bis wir hören konnten, wie der deutsche Zug ratternd bergan keuchte. Ich war gespannt, wie so ein mitteleuropäischer Zug aussah, gesehen hatte ich nämlich noch keinen.
Endlich keuchte er in Sicht — insoweit die Funktion die Form diktiert, unterschied er sich nur wenig von einem amerikanischen Zug, ansonsten sah er dagegen ausgesprochen wohlgestaltet, ja beinah edel aus, und die Lokomotive war in einem ungewöhnlichen Blaugrau gestrichen. Wenn der Zug etwas Beängstigendes hatte, dann war es nicht sein Äußeres, sondern sein Tempo, er fuhr langsam, schlimmer noch, immer langsamer. Es sah wahrhaftig so aus, als wolle er jeden Moment stehen bleiben.
Wir hoben die Köpfe, obwohl Sam uns gewarnt hatte. Es war ein Militärzug, so viel stand fest. Die Lokomotive zog nur zwei Waggons, auf beiden prangte das Kreuz-und-Lorbeer-Emblem der westeuropäischen Streitkräfte. »Wir hätten die Schienen rausreißen sollen«, flüsterte mir Lymon Pugh zu, »damit das Ding — ich meine, was in den Waggons ist — nicht nach Chicoutimi kommt.«
»So viel Zeit war nicht«, sagte ich, »auch wenn wir dran gedacht hätten. Vielleicht können wir das Gleis später noch kaputt machen; jetzt pass auf, Lymon, ich glaube, der Zug fährt nur bis hier.«
Auf so eine Situation waren wir nicht vorbereitet. Sam winkte, uns von diesem rätselhaften Zug zu entfernen, ohne ihn aus den Augen zu verlieren. Also duckten wir uns am Hügelkamm entlang … Warum waren die Deutschen auf diesen Hügel unweit von Chicoutimi gekommen und hielten ausgerechnet da, wo wir gerade waren? Uns fiel keine plausible Erklärung ein.
In einem kahlen Birkengehölz gebot Sam uns Einhalt; der mulchige Boden war bestens geeignet, uns gegen zufällige Entdeckung zu tarnen. Wir beobachteten den Zug in atemloser Erwartung. Jemand äußerte allen Ernstes die Vermutung, die Deutschen seien vielleicht unseretwegen hier; doch Sam hielt dagegen, ein versprengter Haufen amerikanischer Fußsoldaten sei den Deutschen nie und nimmer so viel Aufhebens wert.
Major Lampret befreite sich aus seiner lähmenden Angst und sagte: »Wir sollten uns so weit wie möglich von diesem Ding entfernen. Wir bringen uns unnötig in Gefahr — warum ziehen wir uns nicht zurück?«
»Wir sind hier so sicher wie sonst wo«, sagte Sam gelassen. »Hauptsache, man sieht uns nicht. Rühren Sie sich nicht vom Fleck.«
»Erdreisten Sie sich nicht, mir Befehle zu erteilen«, sagte Lampret.
Offensichtlich war Major Lamprets Rückgrat nachgewachsen; aber jetzt war nicht der Zeitpunkt, um über die Befehlsstruktur im amerikanischen Militär zu diskutieren, dachte ich. Die anderen mussten auch so denken, denn sie gaben ihm durch kurze Zischlaute zu verstehen, er solle still sein. »Wahrscheinlich könnten wir alle nach Hause fliegen, wenn wir Engelsflügel hätten«, murrte jemand.
Lampret gab nach, weil er keine Meuterei wollte; zu Sam sagte er leise: »Im Lager werden wir uns über Insubordination unterhalten.«
»Guter Zeitpunkt«, sagte Sam, und Lampret überließ sich wieder seiner Angst.
Inzwischen stand der deutsche Zug, und die Ventile der Lokomotive ließen geräuschvoll Dampf entweichen; aus dem letzten Waggon kletterten ein paar mitteleuropäische Soldaten. Sie waren augenscheinlich interessiert an einer kleinen Lichtung auf der Westseite der Trasse — eine Granitflanke, die mit Kieselsteinen und spröden Krautbüscheln bedeckt war. Die Deutschen nahmen diesen flachen Bereich peinlich genau unter die Lupe, beschatteten die Augen und spähten in Richtung des fernen Saguenay und besprachen sich in ihrem Kauderwelsch. Dann kehrten sie zum Zug zurück und rollten die Tür eines der beiden Güterwaggons auf.
Die Öffnung ließ einen Sonnenstrahl ins Innere — die Ladung des Waggons verschlug uns den Atem: ein chinesisches Geschütz.
Sam teilte zwei Männer ein, die feindlichen Soldaten zu zählen, die aus dem Zug stiegen und Vorbereitungen trafen, das Geschütz zusammenzubauen. Was die Deutschen vorhätten, fragte ich Julian.
»Das liegt doch auf der Hand, Adam. Sie richten eine Artilleriestellung ein.«
»Was — hier? So weit vom Kampfgeschehen?«
»Du vergisst die enorme Reichweite. Darin liegt ja der Vorteil: Das chinesische Geschütz kann weit weg von den kämpfenden Linien stationiert werden und trotzdem eine äußerst wirksame Waffe sein. Der Nachteil ist, dass es so wuchtig und unhandlich ist, dass es von einem ganzen Konvoi an Pferdewagen oder eben mit dem Zug transportiert werden muss.«
Beide Güterwagen waren jetzt offen; nach dem, was wir zu sehen bekamen, würden Montage und Inbetriebnahme des Geschützes keine leichte Aufgabe für die deutschen Soldaten sein. Die Basis mit Schwenk- und Kippvorrichtung nahm einen Waggon und der teleskopartig zerlegte Lauf den anderen in Beschlag. Der Zug hatte außerdem zwei Maultiere mitgebracht, deren Kräfte wohl unverzichtbar waren, sowie Winden und Hebebäume und anderes Gerät. Es gab außerdem noch eine Reihe von Kisten, auf denen BOMBE stand, ein Wort, das selbst Lymon Pugh aus dem Deutschen übersetzen konnte.
Wir zählten etwa fünfzehn Artilleristen, wie viele Männer sich noch an Bord der Lokomotive befanden, entzog sich unserer Kenntnis.
»Zahlenmäßig sind wir ihnen überlegen«, bemerkte Julian.
»Vielleicht«, sagte Sam. »Aber sie sind deutlich besser bewaffnet.«
»Aber das Überraschungsmoment ist auf unserer Seite.«
»Willst du damit sagen, wir sollen die deutsche Artillerie angreifen?«
»Ich will damit sagen, dass wir — wenn irgend möglich — verhindern müssen, dass solche Granaten auf amerikanische Soldaten abgefeuert werden.«
Das war eine kühne, aber aufrüttelnde Erklärung, und sie gefiel einigen in unserer Kompanie, die es den Deutschen nur zu gerne heimzahlen wollten, dass sie uns mit ihrem Krieg belästigten und Captain Glasswood feige durchs Ohr in den Kopf geschossen hatten. Sam lächelte. »Gut gesagt. Aber wir müssen einen klaren Kopf bewahren. Was würdest du tun, wenn du das Kommando hättest?«
»Den Zug kapern«, sagte Julian.
Die Kompanie drängte sich im Kreis, manche mit einem Grinsen im Gesicht, nur Major Lampret sah düster drein und schüttelte den Kopf.
»Das ist ein Ziel«, sagte Sam geduldig, »noch kein Plan. Wie sieht dein Plan aus?«
Julian überlegte kurz, besah sich den Zug und die Gegend ringsum. »Auf diesem Vorsprung gehen die meisten von uns in Stellung; von da aus kann man den Kamm des Hügels überblicken — wo die hohen Bäume stehen, siehst du? Da haben wir gute Deckung und freie Schusslinie, was wichtig ist, denn wir dürfen keine Munition verschwenden; von da aus können wir jeden treffen, solange er nicht in Deckung geht.«
»Hier kommt das Überraschungsmoment ins Spiel«, sagte Sam.
»Und ein Ablenkungsmanöver! Wir könnten zwei Leute hierlassen, die irgendetwas veranstalten, was die Aufmerksamkeit der Deutschen in genau die falsche Richtung lenkt.«
Die beiden diskutierten die Idee ausführlich, und andere Männer steuerten Bemerkungen bei. Dann sagte Sam: »Es könnte funktionieren. Ja, ich denke, es klappt, wenn wir exakt so vorgehen. Aber dann hätten wir einen Zug mit einem chinesischen Geschütz an Bord — was dann?«
»Wir bringen das Geschütz nach Chicoutimi«, sagte Julian.
»Wozu?«
»Das hängt vom Stand des Gefechts ab. Führt die Trasse zufällig durch ein Gebiet, das von unseren Truppen gehalten wird, übergeben wir ihnen das Geschütz und lassen uns als Helden feiern. Andernfalls müssen wir das Ding zerstören, bevor es den Deutschen wieder in die Hände fällt.«
»Wie zerstören?«
»Indem wir eine Zündschnur an das Bombengehäuse legen und alles in die Luft jagen. Wir könnten auch den ganzen Zug in eine Art Bombe verwandeln — ihn in Brand stecken und mit Volldampf nach Chicoutimi schicken.«
»Das sind ja verlockende Aussichten.«
»Wir können da abspringen, wo wir unseren Linien am nächsten sind, und uns auf den Heimweg machen.« Julian lächelte. »Auf alle Fälle bleiben uns ein paar Stunden Fußmarsch erspart.«
Dieser bescheidene Hinweis gab den Ausschlag. Wir alle hatten das Laufen gründlich satt, und allein die Vorstellung, mit einem gekaperten Zug nur ein Stück weit voranzukommen, tat unseren Füßen schon gut.
Alle waren mit dem Plan einverstanden, stillschweigend zumindest, bis auf Major Lampret, der uns für geistesgestörte Meuterer hielt, weil wir ohne seine Zustimmung kämpfen wollten — und wenn wir es täten, würde das »Konsequenzen« haben, falls wir nicht allesamt an unserer eigenen Dämlichkeit zugrunde gingen. Doch Lamprets Glaubwürdigkeit war derart untergraben worden, dass es keine Überwindung kostete, ihn zu überhören.
Ich war für den Angriff. Als er gebilligt wurde, war ich lediglich enttäuscht, dass Lymon Pugh und ich für das Ablenkungsmanöver vorgesehen waren.
Ich fragte Sam, was er von mir und Lymon erwarte.
»Ihr wartet hier, bis wir in Position sind. Ich gebe euch ein Zeichen, dann legt ihr los.«
»Womit?«
»Macht irgendwelchen Krach — aber nichts Bedrohliches, nur damit sie hersehen. Es muss nichts Ausgefallenes sein — wir eröffnen sofort das Feuer.«
Die Deutschen begannen eben, ihre Maultiere anzuschirren, also mussten wir uns beeilen. Lymon und ich sahen zu, wie unsere Kameraden geduckt und mit schussbereiter Waffe zu besagtem Vorsprung ein paar hundert Meter östlich davonhuschten.
Lymon sagte: »Du fängst am besten an, Adam. Ich habe keine Ahnung, wie man deutsche Soldaten ablenkt, ohne auf sie zu schießen. Ruf doch was in ihrer Sprache.«
»Würde ich ja, aber die spreche ich nicht.«
»Du hast doch den Brief, den du Langers abgekauft hast. Ich habe gesehen, wie du ihn immer und immer wieder gelesen hast.«
»Ohne ein Wort zu verstehen. Und die Aussprache kann ich nur raten, weil ich ab und zu was von deutschen Gefangenen aufgeschnappt habe. Das kauft mir keiner ab.«
»Die müssen dir das nicht abkaufen — Sam will doch nur, dass sie zu uns rübersehen. Da! Sam winkt schon … ich glaube, die Zeit ist reif … los, Adam, nun ruf was!«
Ich war durcheinander, weil alles so schnell ging, und mir fiel nichts Besseres ein, als Lymon Pughs Vorschlag zu folgen.
Ich räusperte mich.
»Lauter!«, sagte Lymon. »Verschaff dir Gehör!«
Ich legte die Hände an den Mund und schrie: »Liefste Hannie!«
»Was heißt das?«, fragte Lymon.
»Weiß ich nicht!«
»Sie können dich nicht hören. War da nicht was mit Amerikanern, die nicht besser als Hunde sind?«
Ich überlegte fieberhaft. »Fikkie mis ik ook«, schrie ich so laut, dass ich meinte, die sperrigen Silben müssten kleine Widerhaken haben. »Liefste Hannie! Fikkie mis ik ook!«
Das war die Zauberformel. Einen zerbrechlichen Augenblick lang — für ein winziges Stückchen Zeit, das so wenig Bewegung zuließ, wie einer Fliege im Bernstein gestattet war — blickte jeder deutsche Soldat in meine Richtung, und alle trugen den gleichen Ausdruck im Gesicht: von Verwirrtheit, die an Verstörtheit grenzt.
Dann löste sich die erste Salve aus unseren Gewehren.
Zum Schluss hatten wir eine Lokomotive mit zwei Güterwagen und ein chinesisches Geschütz erbeutet, drei Gefangene gemacht und ein verstreutes Dutzend mitteleuropäische Soldaten getötet. Unsere Gefangenen, ein Artillerist und zwei Zivilisten — die beiden waren Ingenieure und zeigten sich nicht kooperativ — mussten an Händen und Füßen gefesselt werden.
Alles, was die Deutschen aus dem Zug geholt hatten, schafften wir wieder hinein. (Kein schweres Teil des chinesischen Geschützes war aus seiner Verankerung befreit worden.) Du liebe Zeit! Da hatten wir vielleicht einen Fang gemacht — nun mussten wir ihn nur noch in amerikanische Hände bringen. Zum Glück hatte sich ein Kamerad — ein langhaariger Mechaniker namens Penniman vom Lake Champlain — intensiv mit Eisenbahnen befasst und kannte sich so gut mit der Theorie von Dampfmaschinen aus, dass ihm die Steuerung trotz unverständlicher Beschriftung nicht weiter schwerfiel. Derweil er Druck in den Kesseln aufbaute, grasten wir die Umgebung nach deutschen Waffen und Munition ab. Dann kletterten Julian und ich zu Sam in den Führerstand der Lokomotive, während sich die anderen ein Plätzchen in den beiden schwer beladenen Güterwaggons suchten.[44]
Alles schien perfekt gelaufen und hätte ein vollkommener Triumph sein können, wenn sich nicht ein einziger deutscher Soldat »tot gestellt« und sein Gewehr unter seinem anscheinend leblosen Körper verborgen hätte. Gerade als Penniman die Bremse löste und sich der Zug in Bewegung setzte, schnappte der renitente Mitteleuropäer seine Waffe und feuerte auf uns. Kugeln pfiffen durch den Führerstand, und Penniman wurde leicht verletzt. Sam fluchte und riss sein Gewehr hoch. Er lehnte sich um den Tender herum und schoss dreimal. Ich steckte den Kopf lange genug nach draußen, um zu sehen, wie sich der deutsche Gewehrschütze in ein dichtes Gehölz aus kahlen Bäumen zurückzog.
Vermutlich wären wir ohne weiteren Zwischenfall weitergerollt, denn der Artillerist wäre uns wohl kaum gefolgt, wäre da nicht die Tür des letzten Waggons aufgerollt und hätte einen wild drauflosschießenden Major Lampret ins Freie gespuckt. »Zieh die Bremse!«, schrie Sam wütend, und Penniman bremste. Die Lokomotive blies Dampfwolken in die kalte Luft.
Zwischen mir und Lamprets Alleingang trieben Dunstschleier ihr Unwesen. Der Major hatte wohl seinen Mut beweisen wollen, den man in letzter Zeit ernstlich infrage gestellt hatte. Vielleicht hatte er sich gute Chancen ausgerechnet, auf diese Weise seinen Führungsanspruch zurückzuerobern: er allein gegen einen verzweifelten Mitteleuropäer. Oder seine Beweggründe waren aufrichtig und patriotisch, hier aber völlig fehl am Platze. Wie dem auch sei, seine Demonstration von Tapferkeit oder Dummheit nahm kein gutes Ende. Der deutsche Infanterist schoss zurück und zwar gezielt und nicht drauflos wie der amerikanische Angreifer. Der Major wurde getroffen und sackte zu Boden.
Und nun musste ich über Julian staunen, der aus dem Führerstand stürzte und zu Major Lampret rannte.
Sam war nicht minder erstaunt, riss aber geistesgegenwärtig sein Gewehr hoch und brüllte: »Schießt auf den Feind! Gebt ihm Deckung!« Andere Kameraden folgten seinem Beispiel, obwohl keiner von uns bereit war, sich so den feindlichen Kugeln auszusetzen wie Julian.
Ich schoss auch, war aber teilweise wie gelähmt, als ich Julian im Zickzack auf den Getroffenen zustürzen sah — den Mann, der ihm mit Gefängnis gedroht hatte. Als Julian den Major erreichte, zögerte er nicht, sondern packte Lampret unter den Achseln und begann ihn zum Zug zurückzuschleifen. Die feindlichen Kugeln schlugen rings um die beiden Fontänen gefrorener Erde aus dem Boden — jede kam ihrem Ziel ein bisschen näher. Dann hörte man aus dem dichten Gehölz den Aufschrei des Mitteleuropäers, sah ihn die Arme hochwerfen und vornüberfallen. Diesmal war sein Tod nicht vorgetäuscht.
Mehrere Kameraden sprangen aus dem Zug und halfen Julian. Bald war der Major an Bord; es hatte ihn schlimm erwischt — die Kugel des Artilleristen hatte die Schulter durchschlagen und vorne und hinten hässliche Wunden hinterlassen —, aber er konnte frei atmen, und wenn er rasch in ärztliche Obhut kam, hatte er vermutlich gute Chancen, wieder gesund zu werden.
Falls es Major Lampret darum gegangen war, seinen Mut zu beweisen, hatte er Pech gehabt. Ich fand, es war tapfer von ihm, dem deutschen Soldaten nachzusetzen. Aber Julians Tapferkeit war von einem anderen Kaliber, zumal es ihm darum gegangen war, das Leben eines Menschen zu retten, den er verachtete; und das brachte ihm die Bewunderung der anderen Männer ein, während man für den schwer verwundeten Lampret nur das übliche Mitleid empfand.
Lampret blieb bewusstlos, zum Glück, denn Neid und Missgunst hätten ihn auf der Stelle umgebracht.
Die Schießerei und die Verletzung von Major Lampret verlieh unserer Talfahrt, die so glorreich hätte sein können, etwas Düsteres, ein Gefühl, das noch verstärkt wurde durch die Landschaft ringsum; unser Zug rollte aus dem Winterwald in wahrhaft höllische Gefilde hinaus: aufgewühlte und gefrorene Krater; Stacheldrahtverhaue, in denen Leichen hingen, und verkohltes Fachwerk ausgebrannter Bauernhäuser. Während unserer Abwesenheit hatte hier ein fürchterlicher Kampf getobt.
Wir begannen unsere Möglichkeiten durchzuspielen. Von hier lief die Eisenbahntrasse geradewegs zu dem befestigten Städtchen Chicoutimi, das, soweit wir wussten, noch in Feindeshand war. Aber Julian fand unter den Dingen, die im Führerstand der Lokomotive zurückgeblieben waren, ein kleines Schweizer Perspektiv, hob es ans Auge und blickte in Fahrtrichtung — ich fand, er sah heroisch aus, wie er so dastand mit dem kleinen Fernrohr am Auge, in seiner kampfgeprüften Uniform, das lange Haar im Fahrtwind flatternd. Nach einer Weile begann er zu lächeln. Das Lächeln wurde breiter. Dann gab er das Perspektiv an Sam weiter. »Geradeaus, Sam — der Kirchturm auf dem Hügel.«
»Schwer auszumachen bei dem Dunst.« Das Tal, durch das wir ratterten, war stellenweise neblig, und eine bleierne Bewölkung hatte den blauen Himmel vergrault. »Aber das muss der Kirchturm sein, lauter Löcher, lauter Einschläge — ist so verschwommen.«
»Das Rändelrad an der Seite«, sagte Julian, »stell mit dem Daumen scharf.«
Sam fummelte und fluchte. »Die Schweizer sind so schlau, dass sie über ihre eigenen Füße stolpern. Ich glaube nicht … ah! Da.«
Dann lächelte auch Sam.
»Was siehst du?«, fragte ich ungeduldig. »Nun mach kein Geheimnis daraus!«
»Nur eine Fahne auf dem Kirchturm.«
»Und was ist so Besonderes daran?«
»Gar nichts. Bloß dass sie dreizehn Streifen und sechzig Sterne hat.« Er setzte das Perspektiv ab, strich versöhnlich darüber und sagte: »Unsere Truppen haben Chicoutimi eingenommen.«
Wir mussten nur noch das Tempo verringern und mit unserer stolzen Prise nach Chicoutimi hineindampfen.
Amerikanische Truppen würden aber einen deutschen Militärzug aus östlicher Richtung nicht gerade bejubeln, gab Sam zu bedenken. Zwei vorgeschobene Posten hatten bereits verstört reagiert und auf uns geschossen. Was wir dringend brauchten, war ein überzeugendes Signal unserer Freundschaft.
»Major Lampret ist ein Dominion-Offizier«, sagte Julian. »Haben die nicht immer eine amerikanische Fahne dabei, für Begräbnisse und Andachten?«
Wir hielten an einem abgeschiedenen Ort, damit Julian die Fahne holen konnte, die Major Lampret gefaltet in einer eigens dafür vorgesehenen Hemdtasche trug (wir hörten das Hurra, als die Männer in den Güterwaggons erfuhren, dass Chicoutimi gefallen war).
Julian kam zurück, stieg aber nicht wieder in den Führerstand. Er fischte einen verkohlten Ast vom Boden, band die Fahne daran, kletterte vorne auf die Lokomotive und setzte sich auf einen Eisensockel direkt unter der Laternenlinse.
»Langsam anfahren!«, rief er über die Schulter.
Die Lokomotive tat einen kleinen Satz, als Penniman die Bremse löste, und Julian wäre fast aufs Gleis gestürzt; dann nahm der Zug wieder Fahrt auf.
Und so rollten wir ins frisch eroberte Chicoutimi hinein. Seit eben fiel wieder feiner Schnee; der Nachmittag war bühnenreif, so wie er die Kulissen von Sonne und Wolken wechselte. Den ganzen Weg bis in den Bahnhof hinein blieb Julian unsere patriotische Galionsfigur. Seine Uniform war zerrissen und schmutzig und sein Gesicht alabasterweiß vor Kälte, aber er konnte das Grinsen nicht lassen und schwenkte die Sechzig Sterne und Dreizehn Streifen vor Hunderten von Infanteristen und Kavalleristen, die von allen Seiten herbeiströmten. Die Lokomotive passierte den Korridor aus staunenden Soldaten, ehe sie endlich mit einem Zischen zum Stehen kam. Dann rumsten die Türen der beiden Güterwaggons zurück, und es brandete ein Jubel auf, denn wer nicht sehen konnte, was wir erbeutet hatten, bekam es im selben Augenblick zu hören …
Im Laufe des Monats sollte uns die Geißel der Cholera einholen. Viele tapfere Männer, die den ganzen verdammten Saguenay hinauf Verletzungen und Entbehrungen überlebt hatten, wurden nun dahingerafft. Der Gestank, die Unannehmlichkeiten und der oft tragische Verlauf dieser Krankheit vergällte uns allen, ob krank oder nicht krank, das Leben, und irgendwann erwischte es die meisten von uns, obwohl man nicht daran sterben musste. Ich bin zum Beispiel auch nicht gestorben — und ich war so krank wie alle anderen Kranken.
Das menschliche Hirn löscht die Perioden hohen Fiebers aus dem Gedächtnis, und ich kann mich kaum an den Januar oder Februar 2174 erinnern. Als ich wieder zu mir kam, wunderte ich mich natürlich, wie ausgezehrt und schwach ich war, aber vor allem darüber, dass ich ohne mein Wissen von Chicoutimi nach Tadoussak und von da nach Montreal ins Soldiers’ Rest verlegt worden war. Ich erfuhr, dass viele Männer, die ich kannte und gemocht hatte, an der Cholera gestorben waren, und das machte mich traurig. Doch es gab auch gute Nachrichten. Auch Sam, Julian und Lymon Pugh hatten die Krankheit überstanden und befanden sich im selben Hospital wie ich. Von uns vieren hatte Julian es am schwersten gehabt; die Ärzte meinten, sein Leben habe an einem seidenen Faden gehangen; doch inzwischen konnte er wieder aufrecht sitzen und sein Genesungssüppchen löffeln. Sam und Lymon waren dagegen so gut drauf, dass man sie schon in wenigen Tagen entlassen wollte.
Und es strahlte noch ein Licht am Horizont, das geeignet war, meine Stimmung zu heben. Die Aussicht, aus der Laurentischen Armee entlassen zu werden. Nach der Rekrutierungsnovelle von 2172 war der unfreiwillige Kriegsdienst auf ein Jahr beschränkt (obwohl ein Aristokrat einen Abhängigen für die Dauer des Krieges zur Verfügung stellen konnte); nun wurden wir zwar eifrig umworben, uns freiwillig zu melden, widerstanden aber mannhaft dieser Versuchung (mit Ausnahme von Lymon Pugh, der sich trotz Krieg in der Armee wohler fühlte als in einem Abpackbetrieb für Rindfleisch). Das bedeutete, Sam, Julian und ich konnten dieser ganzen Region schon Ostern den Rücken kehren und uns auf den Weg nach New York City machen — als Zivilisten! —, so wie wir es vorgehabt hatten, als wir aus Williams Ford geflohen waren.
Während meiner unfreiwilligen Muße las und schrieb ich viel. Ich schrieb meiner Mutter in Williams Ford, wie schon etliche Male zuvor, jedes Mal peinlich bedacht, Julian oder Sam oder unseren genauen Aufenthaltsort auszusparen; es war gut möglich, dass die Post irgendwann einmal von einem verbissenen Dominion- oder Regierungsspitzel abgefangen wurde, der immer noch Jagd auf den Neffen des Präsidenten machte. Die schmerzliche Kehrseite der Medaille war, dass ich nie eine Antwort von meiner Mutter bekam; aber ich gab mir alle Mühe, ihr so regelmäßig wie möglich zu schreiben und ihr zu versichern, dass ich gesund und wohlauf sei.
Ich schrieb auch Calyxa Blake und gestand ihr meine Liebe und dass ich mich sehne, sie wiederzusehen. Sie schrieb zurück, aber ihre Briefe waren merkwürdig kurz, wenngleich nicht unfreundlich. Etwas daran machte mir Sorge, und ich schwor mir, Calyxa sofort nach meiner Genesung aufzusuchen.
Aber das würde noch dauern; und so machte ich mich an die Schilderung der Ereignisse des Winters — unsere Fahrt den Saguenay hinauf, die Belagerung von Chicoutimi, die Eroberung des Städtchens und wie wir das chinesische Geschütz erbeutet hatten. Ich gab mir Mühe, die Prinzipien zu beherzigen, die mir der Korrespondent Theodore Dornwood beigebracht hatte: Halte dich an die Wahrheit, aber dramatisiere, sobald sie dir Spielraum lässt. Ich arbeitete mehrere Tage daran, las das Geschriebene und schrieb es um, bis ich mit dem Ergebnis zufrieden war. Dann überlegte ich, wie ich die Seiten zu Mr. Dornwood bekam, sofern er noch irgendwo in der Nähe von Montreal war. Mr. Dornwood hatte meine vorletzten Anstrengungen gelobt, und ich war — wenn ich ehrlich bin — ein bisschen süchtig nach seinen Schmeicheleien geworden, die immerhin aus dem Mund eines Kriegsberichterstatters kamen.
Schließlich bot sich Lymon Pugh als Mittelsmann an.
Er war der Gesündeste von uns und kam am Tag seiner Entlassung auf mein Zimmer und setzte sich zu mir ans Bett. Wir plauderten über dies und das. Dann sah er, worin ich las, und wollte mehr darüber wissen.
Es war A History of Mankind in Space. Ich hatte das ramponierte und sehr alte Buch seit Williams Ford mit mir herumgetragen, die meiste Zeit am Boden des Tornisters. Es war nicht schwer — die sperrigen Buchdeckel waren schon vor Monaten abgefallen. Es war nur noch ein Bündel von Seiten, die ich mühsam mit Nadel und Faden zusammengeheftet hatte. »Ein altes Buch«, sagte ich zu Lymon.
»Wie alt?«
»Über hundert Jahre. Es ist aus den letzten Tagen der Säkularen Alten.«
Lymons Augen weiteten sich. »So alt! Haben die damals auf Englisch geschrieben, oder hatten sie eine eigene Sprache?«
»Es ist auf Englisch, obwohl — manche Wörter sind schon seltsam oder werden seltsam gebraucht. Da, schau mal rein.«
In jüngster Zeit hatte Lymon Interesse an Büchern gezeigt, denn er bekam jetzt so viele Wörter heraus, dass er Lust aufs Weiterlesen bekam — Bücher, die früher stumme Gegenstände gewesen waren, waren plötzlich voller Stimmen, die allesamt nach Aufmerksamkeit verlangten. Im Laufe des Unterrichts hatte ich Lymon Kapitel aus Against the Brazilians von Mr. Charles Curtis Easton vorgelesen, das ebenfalls in meinem Tornister überlebt hatte; sowie er von der Handlung gefesselt wurde, hatte ich ihm das Buch ausgeliehen — zum Weiterlesen, versteht sich.[45]
Doch A History of Mankind in Space schien ihn zu bedrücken, während er darin blätterte und sich die Fotografien besah. Seine Züge spiegelten Ratlosigkeit wider. »Hier scheint zu stehen, dass Menschen zum Mond geflogen sind«, kam es leise über seine Lippen.
»Genau das steht da.«
»Und das ist nicht bloß Fantasie?«
»Das Buch sagt Nein. Ich habe keine Ahnung, ob wirklich Leute auf dem Mond waren. Die Säkularen Alten haben es jedenfalls geglaubt, und Julian glaubt es auch.«
Die Welt stehe auf dem Kopf, meinte Lymon, wenn Mondbesuche als Wirklichkeit betrachtet und Mr. Eastons unverblümte Schilderungen von Kriegen und Piraten als simple Fabulierkunst abgetan würden (was nach Julian in manchen Kreisen der Fall war). »Das ist kein Dominion-Buch, richtig?«
»Nein. Als es gedruckt wurde, gab es noch kein Dominion.«
»Nicht so laut — du bringst uns noch in Schwierigkeiten.«
»Das sind Fakten, Lymon. Selbst das Dominion gibt zu, erst seit der Falschen Drangsal zu existieren. Davor waren alle Kirchen selbstständig und nicht organisiert; sie hatten nur wenig Einfluss auf die Regierung und auch sonst keine Möglichkeit, eine Christliche Welt unter der direkten Regierung des Himmelreichs zu verwirklichen.«
»Das will das Dominion erreichen?«
»Das ist das eigentliche Ziel — die Welt noch vor der Wiederkunft von Jesus Christus zu einigen.« Was Lymon hätte wissen müssen, wenn er nicht bei so vielen Wortgottesdiensten gepennt hätte.
»Ich kenn mich nicht so aus mit kirchlichen Dingen«, sagte Lymon und rieb sich mit der Linken über den rechten narbigen Unterarm. »Meinst du, wir sind jetzt so weit, wo Chicoutimi gefallen ist und das alles?«
»Da muss das Dominion noch ein bisschen mehr von der Welt erobern als Labrador, damit aller Streit ein Ende hat. Ich glaube kaum, dass wir beide noch die globale Herrschaft des Christentums erleben werden.«
Lymon nickte sichtlich erleichtert und meinte, er hätte nichts gegen eine Christliche Regierung — im Gegenteil, er wolle ja vom Himmel regiert werden —, er mache sich nur Sorge, der Himmel könne Typen wie Major Lampret als Mittelsmänner einsetzen.
Was denn aus dem schwer verletzten Major geworden sei, wollte ich wissen.
Er hätte sich erholt und auch die Cholera überstanden, sagte Lymon, sei aber zurück nach Colorado Springs. Seine Erlebnisse am Saguenay hätten ihn so aus der Bahn geworfen, dass er — nach Lamprets eigenen Worten — dringend Abstand brauche, um mit sich und der Welt ins Reine zu kommen.
»Da freut sich wenigstens Julian«, sagte ich. »Lymon, wo du jetzt entlassen wirst und ich noch ans Bett gefesselt bin, kannst du mir da einen Gefallen tun?«
»Ja sicher — worum geht es?«
»Ich habe zwei dringende Sachen für zwei Leute in Montreal.« Ich klaubte sie unter dem Bett hervor. »Das hier ist ein Brief, den du bitte persönlich an Calyxa Blake übergibst. Die Adresse steht auf dem Umschlag — kannst du sie entziffern?«
»Glaub schon.«
»Dieses Bündel Papier ist für Mr. Theodore Dornwood, falls er noch in der Nähe ist und du ihn findest.«
»Dornwood, ist das dieser Zeitungsschreiber? Das könnte schwierig werden. Als wir stromauf sind, soll er das Regiment verlassen haben; jetzt soll er in einer billigen Mietwohnung sitzen und zwischen Besäufnissen und Ausschweifungen lauter Lügenmärchen nach Manhattan schicken. Wenn du willst, versuche ich ihn ausfindig zu machen, für dich immer, Adam.«
Der Leser kann sich vielleicht vorstellen, wie ungeduldig und bange ich auf Lymons Rückkehr wartete, denn was ich ihm anvertraut hatte, lag mir sehr am Herzen — der Brief und auch das Manuskript. Letzteres enthielt alles, was ich über den Saguenay-Feldzug geschrieben hatte. Der Brief war von noch größerer Tragweite, denn darin erklärte ich Calyxa meine Absicht, ihr einen Heiratsantrag zu machen, wenn sie die Zeit fände, mich im Soldiers’ Rest zu besuchen.
Doch Lymon kehrte an diesem Nachmittag nicht zurück und auch nicht am Abend. Wir lagen zu dritt auf dem Zimmer, und um mein wachsendes Unbehagen zu zerstreuen, fing ich an, mit den beiden anderen Patienten zu plaudern. Der eine war ein Pächterjunge wie ich, aber von einem südlichen Landgut, wo er schlimm hatte schuften müssen in der tropischen Hitze. Er war nördlich von Quebec verwundet worden, und der ganze rechte Arm, obwohl äußerlich unversehrt, war nur mehr ein nutzloses Anhängsel. Der andere Kamerad war ein Kavallerist mit üppigem Schnauzbart und kahl rasiertem Schädel, der partout nicht damit herausrücken wollte, wie er sich die Verletzung zugezogen hatte, derentwegen sein Bauch bandagiert war. Keiner von beiden war besonders gesprächig, weil beide unter Schmerzen litten; aber der Kavallerist besaß eine Schachtel mit Dominosteinen, und wir spielten ein, zwei Stunden lang um enorme Vermögenswerte. Danach fragte ich die Krankenschwester, ob es im Hospital noch irgendwelchen Lesestoff gebe, denn ich konnte A History of Mankind in Space und Against the Brazilians fast auswendig. »Ich glaube, da müsste etwas sein«, meinte sie. Doch alles, was sie auftreiben konnte, war ein schmales Bändchen mit Geschichten von Mrs. Eckerson. Mrs. Eckerson war eine klassische Autorin des 19. Jahrhunderts, durchaus auf der Höhe des Zeitgeschmacks und von der Dominion-Druckerei vor dem Vergessen bewahrt; nur dass sie hauptsächlich für junge Mädchen schrieb und das Buch Erinnerungen an meine Schwester Flaxie weckte. Auf jeden Fall las ich, bis mir die Augen zufielen; und meine Nachttischlampe war die einzige, die noch brannte, bevor ich sie ausblies.
In der Früh kam ich in den Genuss des hospitaleigenen Hygienebades — eine vorgeschriebene, von Schwestern beaufsichtigte und die männliche Würde zutiefst verletzende Tortur —, und als ich zum Bett zurückkehrte, wartete Lymon Pugh auf dem Besucherstuhl. Er war allein.
»Na«, sagte ich, »hast du Mrs. Blake und Dornwood angetroffen?«
»Ja«, sagte er mit sichtlichem Unbehagen.
»Nun mach kein Geheimnis draus! Raus damit.«
Er räusperte sich. »Diesen Theodore Dornwood konnte ich ausfindig machen. Es stimmt, was man über ihn hört, Adam. Er wohnt in einer Hütte unten an den Docks, in einem besseren Stall. Liegt in einem gelben Bett, trinkt Whisky und raucht von morgens bis abends Hanfzigaretten. Die ›Schreibmaschine‹, von der du immer redest, steht noch da und sieht ziemlich unbenutzt aus.«
»Seine schlechten Angewohnheiten gehen mich nichts an. Hat er meinen Bericht über den Saguenay-Feldzug angenommen?«
»Erst wollte er nichts von mir wissen — er ist bärbeißig, wenn er betrunken ist, und hat mich eine Syphilis-Halluzination genannt, ich sei absurd und solche Sachen. Normalerweise lasse ich mir so was nicht gefallen, aber ich habe weggehört, Adam, um deinetwillen, und als er deinen Namen hörte, wurde er ein bisschen zugänglicher. Seine ›Muse aus dem Westen‹ hat er dich genannt, was immer das heißt. Und als ich ihm das Papierbündel zeigte, da haben seine Augen richtig geleuchtet.«
Das Lob kitzelte meine Eitelkeit, und ich wollte wissen, ob Mr. Dornwood noch mehr gesagt hatte.
»Na ja, er nahm die Blätter aus der Tüte und fing an, sie zu lesen, und dann überflog er die letzten Seiten und grinste. ›Hervorragend‹, sagte er. Das sei eine hervorragende Arbeit.«
»Mehr nicht?«
»Wenn er noch etwas gesagt hat, dann nicht zu mir — er scheuchte mich weg, kein Dank, nichts. Aber dein Päckchen muss ihn aufgemuntert haben, denn beim Weggehen konnte ich hören, wie die Maschine an einem Stück geklappert hat.«
»Ich werde ihn aufsuchen, sobald ich kann«, sagte ich und war mit Lymons Rapport über Dornwoods Begeisterung zufrieden, auch wenn ich mir ein paar schmeichelhafte Einzelheiten gewünscht hätte. Dann trat ich in den bedrohlichen Schatten einer weit bedeutsameren Frage: »Und hast du den Brief zu Mrs. Blake gebracht?«
»Na ja, ich bin zu der Adresse, die draufstand.«
»Und?«
»Sie war nicht zu Hause, und zwar schon länger nicht mehr, wie ich von Nachbarn hörte. Also hab ich mich im Thirsty Boot erkundigt. Das war nicht ganz einfach, denn die Leute sind generell nicht gut zu sprechen auf amerikanische Soldaten, aber ich weiß jetzt, was aus ihr geworden ist.«
An dieser kritischen Stelle hielt er inne, als müsse er sich die Worte zurechtlegen, und ich sagte: »Nun mach schon. Egal, was es ist, raus damit!«
»Nun ja, ich habe sie gefunden, da wo sie jetzt wohnt; und ich hab ihr den Brief gegeben — das sind die wesentlichen Punkte der Geschichte.«
»Kann es auch ein bisschen mehr sein? Wie hat sie reagiert?«
»Sie hat darüber nachgedacht. Den Brief hat sie sogar zweimal gelesen. Dann meinte sie: ›Richten Sie Adam aus, ich fände seinen Vorschlag interessant …‹«
»Interessant!«
Sie hatte meinen Heiratsantrag nicht angenommen, aber sie hatte ihn auch nicht abgelehnt — an diesen Strohhalm klammerte ich mich.
»Interessant, meinte sie, aber im Moment leider nicht praktikabel.«
»Nicht praktikabel!«
»Ich glaube, es liegt an dem Ort, wo sie sich zurzeit aufhält.«
Ich musste daran denken, dass ihre niederträchtigen Brüder vorgehabt hatten, sie an ein Bordell zu verkaufen, und wurde von der Vorstellung gegeißelt, sie könnten ihren Plan wahrgemacht haben. »Lymon, ich bin stark genug für die Wahrheit — wo, um Himmels willen, ist sie, dass sie nicht einfach herkommt und mit mir redet?«
Lymon wurde rot und senkte den Blick. »Na ja …«
»Lymon, sag es!«
»Sie ist — bitte, trage es mit Fassung, Adam — sie ist im Gefängnis.«
Ich organisierte eine Zusammenkunft von Sam, Julian, Lymon und mir, um ungeachtet der Hausordnung des Soldiers’ Rest eine Strategie zu entwerfen. Gegen den Protest der Krankenschwestern trafen wir uns in Julians Zimmer und kamen schnell überein, dass wir Calyxa befreien mussten; mein Vorschlag, sofort das Hospital zu verlassen und das Gefängnis zu stürmen, wurde allerdings abgeschmettert. Es sei unklug, sagte Sam, ein Ziel anzugreifen, bevor man verlässliche Informationen über seine Stärken und Schwächen und die Gemütslage seiner Verteidiger eingeholt habe. Ich musste ihm Recht geben; andererseits war es eine Zumutung, müßig herumzusitzen, während Calyxa ihrer Freiheit beraubt war.
Sam war inzwischen so gesund wie Lymon, und beide erklärten sich bereit, das Gefängnis auszukundschaften. Ich würde unterdessen hier bei Julian bleiben, der zwar noch nicht auf dem Damm, aber trotzdem lebhaft an unserem Coup interessiert war.
Zum Abschluss unseres Treffens schüttelte ich allen Beteiligten die Hand — ich war zutiefst gerührt und musste ganz schön schlucken. »Einmal Freunde zu haben, die meinetwegen — trotz grundverschiedener gesellschaftlicher Stellung — Kopf und Kragen riskieren, hätte ich mir nie träumen lassen. Ihr sollt wissen, dass ich im umgekehrten Fall dasselbe für euch tun würde.«
»Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben«, sagte Sam. »Noch ist nichts erreicht.«
Sam war genauso gerührt, ich war mir sicher.
Als Sam und Lymon fort waren, blieb ich noch eine Zeit lang bei Julian sitzen. Julian kam mir gebrechlicher vor, als mir lieb war. Seine Haut war kalkweiß und klebte förmlich an den Wangenknochen, er hatte viel Gewicht verloren, und stämmig war er nie gewesen. Irgendetwas an seinen Augen schien mir anders als früher — als hätten sie eine unerfreuliche Erkenntnis aufgenommen, die ihre Farbe stumpfer gemacht hatte. Vielleicht lag es an der Cholera oder am Krieg im Allgemeinen und an dem ganzen Sterben, das er gesehen hatte. Es machte mich nervös, und ich bedankte mich wieder für seine Gefälligkeit, wobei ich mit ihm redete, als sei er ein Aristokrat und ich ein Pächterjunge … was wir natürlich waren; aber das hatte nie eine Rolle gespielt zwischen uns.
»Beruhige dich, Adam«, sagte er. »Ich weiß doch, wie gern du diese Frau aus Montreal hast.«
»Mehr als gern«, vertraute ich ihm an, und dass ich sie heiraten wolle.
Er grinste. »Wenn das so ist, müssen wir sie erst recht aus dem Kerker befreien! Unvorstellbar, dass mein bester Freund eine Inhaftierte heiratet.«
»Zieh mich nicht auf damit, Julian — das ertrag ich nicht. Ich liebe sie so sehr, dass ich meine Gefühle nicht beschreiben kann, ohne rot zu werden.«
»Es muss herrlich sein, so für eine Frau zu empfinden«, meinte Julian versöhnlich.
»Ist es auch; aber es herrscht nicht nur eitel Sonnenschein. Bestimmt läuft dir eines Tages die Richtige über den Weg, und du empfindest dasselbe, was ich für Calyxa empfinde.«
Ich glaube, er war froh über meine Worte, denn er sah beiseite und lächelte. »Nichts ist unmöglich«, hörte ich ihn sagen.
Der »Zapfenstreich« stand kurz bevor, und die Schwestern rückten in Truppenstärke an, um unserer Unterhaltung ein Ende zu machen. Ich sagte Julian, er brauche seinen Schlaf. »Du auch, Adam«, erwiderte er. »Du musst nicht die ganze Nacht wachliegen und grübeln. Schlafe zuversichtlich — das ist ein Befehl.«
»Den der eine Gefreite dem anderen erteilt?«
»Aber ich bin doch kein Gefreiter mehr — hat Sam dir das nicht erzählt? Sam und ich sind in Abwesenheit unserer fünf Sinne befördert worden.«
Das konnte man als Versuch des Führungsstabs sehen, Sam und Julian zum Bleiben zu bewegen — oder einfach auf die schrecklichen Verluste zurückführen, die die Laurentische Armee während des Saguenay-Feldzugs erlitten hatte; wie dem auch sei, Sam war jetzt Colonel und Julian war Captain — Captain Commongold —, gerade so, wie Theodore Dornwood ihn erfunden hatte.
Ich stand auf und wollte salutieren, doch Julian winkte ab: »Lass das, Adam — ich brauche einen Freund und keinen Untergebenen. Außerdem scheiden wir bald aus der Armee aus und sind wieder, was wir vorher waren.«
So wie er das meinte, hatte er Recht; in anderer Hinsicht würden wir beide aber nie wieder das sein, was wir vorher waren: Wir waren keine Jungs mehr — wir hatten einen Krieg überlebt und waren jetzt Männer.
Am nächsten Morgen kehrten Sam und Lymon von ihrem Erkundungsgang zurück.
Die gute Nachricht war, dass man Calyxa in ein Militärgefängnis gesperrt hatte. Das war ein Segen, denn die militärische Gerichtsbarkeit war flexibler als die zivile. Sie war keiner Straftat überführt und hatte keine bestimmte Freiheitsstrafe zu verbüßen — sie befand sich lediglich in »Untersuchungshaft«, was bedeutete, dass es nur einer offiziellen Anweisung bedurfte, sie wieder auf freien Fuß zu setzen.
»Was soll sie denn verbrochen haben?«, fragte ich.
»Sie wurde zusammen mit anderen Unruhestiftern festgenommen«, sagte Sam, »als sie durch die Straßen marschiert sind mit Spruchbändern wie Alle Soldaten raus aus Montreal. Sie nennen sich Parmentieristen nach irgendeinem europäischen Philosophen.«
»Es kann doch nicht verboten sein, ein Spruchband zu tragen, nicht mal unter Besatzungsrecht.«
»Sie sind nicht wegen der Parolen verhaftet worden. Der Mob stieß auf zwei skrupellose Hinterwäldler, die irgendeinen Groll auf die Typen hatten, und es kam zu einer Schießerei. Und bei deiner Calyxa fand man eine kleine Pistole, die wahrscheinlich noch gequalmt hat.«
Die Hinterwäldler hießen vermutlich Job und Utty Blake, was Sam aber nicht bestätigen konnte, da er seine Nachforschungen auf Calyxa beschränkt hatte. »Lässt man sie denn frei?«, wollte ich wissen.
»Nur auf Befehl aus dem Hauptquartier … und da liegt das Problem, denn die Führung der Laurentischen Armee wird zurzeit umgestellt, und da bleiben Bagatellfälle schon mal liegen. Es kann Monate dauern, bis wieder Normalität einkehrt.«
»Monate!«
»Wir werden sie da rausholen, keine Frage. Das aber könnte ein paar heikle Manöver erfordern und vielleicht ein paar verzeihliche Winkelzüge. Was haltet ihr von folgendem Plan?«
Es war ein fabelhafter Plan, den ich nicht vorab, sondern im Zuge seiner Ausführung schildern will. Er erforderte allerdings, dass wir zusammenarbeiteten, wobei Julians Gesundheitszustand noch ein Unsicherheitsfaktor war. Die Krankenschwestern weigerten sich, ihn vorzeitig zu entlassen, konnten ihn aber nicht mit Gewalt daran hindern, das Hospital zu verlassen … Also stand er aus dem Bett auf und verlangte — noch ein bisschen wackelig — nach seiner Uniform, die ihm gleich darauf ausgehändigt wurde. Er war blass und gefährlich dünn, doch mit jedem Schritt in der Sonne schien es ihm besser zu gehen. Der Frühling war noch jung, Ostern erst in einer Woche, doch in Montreal war es erfreulich warm, es wehte ein leichter Wind, und der Himmel war wolkenlos. Wir suchten eine Taverne auf und mieteten ein Zimmer, in dem wir unsere Siebensachen unterbrachten und auf Lymon Pugh warteten, der noch einmal Theodore Dornwood aufsuchte.
Nicht um Dornwood ging es uns, sondern um seine Schreibmaschine. Mr. Dornwood sei nicht gerade erbaut gewesen, sagte Lymon nach seiner Rückkehr; doch er, Lymon, habe sich sozusagen auf den Notstand berufen und seine Muskeln spielen lassen, bis der Journalist schließlich eingelenkt habe.
»Es war pures Glück, dass ich ihn noch erwischt habe«, sagte Lymon. »Er war beim Packen. Meinte, die Zeitung hätte ihn nach Manhattan zurückgerufen.«
»Hast du bekommen, was du wolltest?«, fragte Sam.
»Hier.«
Lymon Pugh faltete ein Blatt Papier auseinander und strich es auf dem Tisch glatt.
»Das ist nicht genau der Text, den ich haben wollte«, sagte Sam.
»Dornwood wollte ihn nicht schreiben — ich musste mir jeden Buchstaben suchen. Und so genau konnte ich mich auch nicht mehr erinnern.«
Die getippte Nachricht sah ungefähr so aus:
HAUPTquaRTIR der LAURENSCHEN ARMEE
aN DAS ARMEE GEFÄNGNIS MONTReALL
BitTE ÜBERGEBEN sIE dem ÜBERBRINGER dieser
NACHRICHT
die GEFANGENE
naMENS Calixa BLAKE
eine Atletische frau
Mit Krausen Schwarzem haar &
DiKEN KNÖsCHELN
Auf befel fon Colonel SAM SAmSON
gezeichnet
»Geht das denn so?«, fragte Lymon besorgt. »Ich hätte ›Colonel‹ anders geschrieben, habe es aber genauso getippt, wie du gesagt hast, Sam. Diese Maschine ist eine Nervensäge, Adam, ich weiß nicht, warum du so verrückt danach bist. Ich habe mehr als eine halbe Stunde gebraucht, um mir die Buchstaben rauszupicken. Schriftsteller sind genauso arme Schweine wie Rindfleischentbeiner, wenn sie den ganzen Tag vor so einem Ding hocken.«
»Schreibfehler sind nicht wichtig«, sagte Sam. »Die Nachtschicht im Gefängnis besteht höchstwahrscheinlich aus Analphabeten. Gedruckte Buchstaben und mein Rang sind die halbe Miete.« Um sie noch mehr zu beeindrucken, hatte Sam blaue Tinte gekauft, die er jetzt auf eine Stoffserviette kippte; dann nahm er einen Comstock-Dollar und drückte ihn mit dem Konterfei von Julians Onkel in die Tinte und benutzte die Münze als eine Art Stempel oder Siegel. Jetzt sah das Schreiben tatsächlich sehr amtlich aus; hätte ich nicht lesen können, hätte ich mich davon täuschen lassen.
Jetzt mussten wir nur noch abwarten. Wir bestellten vier Portionen Schweinebraten mit Feuerbohnen, um uns für den Abend zu stärken und Julians weiterer Genesung Vorschub zu leisten. Wer Alkohol wollte, trank Bier oder Wein. Ich trank wie üblich gewöhnliches Wasser, kippte aber auf Sams dringenden Rat ein klein wenig Rotwein hinein, um den mikroskopischen Krankheitserregern, die sich darin tummelten, »in die Suppe zu spucken« (denn die Cholera hatte Montreal nicht ausgespart). Es war eine medizinisch hygienische Vorsichtsmaßnahme, die auch dann keine Sünde gewesen wäre, wenn sie mich, was nicht der Fall war, ein bisschen beschwipst gemacht hätte — falls die Engel meine Sicht der Dinge teilten.
Lange nach Sonnenuntergang, als die Straßen verwaist waren und nur noch die Nachtfackeln brannten, verließen wir die Taverne und gingen geschlossen zu dem Gefängnis, in dem Calyxa zu Unrecht eingesperrt war.
Es war ein Gebäude mit dicken, uralten Mauern. Im Obergeschoss wohnten Personal und Leitung, im Parterre und im Kellergeschoss befanden sich die Zellen. Vielleicht hatte das Gebäude früher zivilen Zwecken gedient; die Laurentische Armee hatte es jedenfalls beschlagnahmt und mit ihren Fahnen geschmückt und vor der rostigen Eisentür Wachen aufgestellt. Unser einziger Vorteil, meinte Sam, liege im sicheren Auftreten. Wir sollten uns wie Männer benehmen, die einen notwendigen, aber unspektakulären Auftrag zu erledigen hatten. Also kein Flüstern, keine Worte hinter vorgehaltener Hand, keine verstohlenen Blicke, sondern die Rolle »voll ausspielen«. Colonel Sam ging selbstverständlich voran, das Rangabzeichen frisch aufs Schulterstück des Uniformmantels genäht (der sich jetzt, da die Wärme des Tages verflogen war, als sehr nützlich erwies), während »Captain Commongold« als sein Adjutant und Lymon und ich als einfache Soldaten auftraten.
Die Torwachen warfen einen Blick auf Sams Rangabzeichen und einen zweiten auf das gefälschte Schriftstück und ließen uns durch. Wir kamen in einen Vorraum, wo uns ein schläfriger Wachoffizier über seinen Schreibtisch hinweg in Augenschein nahm.
Er war überrascht, zu so später Stunde noch Besuch zu bekommen, und machte gute Miene zum bösen Spiel. »Um welche Angelegenheit handelt es sich?«
Sam nickte knapp und überließ ihm das Schriftstück, das Lymon auf der Schreibmaschine von Mr. Dornwood getippt hatte.
Der Wachoffizier überflog es. Er war hager, nicht viel älter als ich und ließ sich einen Bart stehen. Er gab Sam das Schreiben zurück und sagte: »Ich habe meine Brille verlegt, Colonel — am besten, Sie lesen mir vor.«
Sam las vor.
»Das ist eine ungewöhnliche Zeit für eine Übergabe«, sagte der Mann.
»Ob ungewöhnlich oder nicht, ist mir egal«, sagte Sam. »Ich mache nur meinen Job, und wenn Sie Ihren befehlshabenden Offizier wecken wollen, bevor ich es selbst tue, dann tun Sie es, und zwar schnell.«
»Ich weiß nicht, ob das nötig ist … solange Sie die Übergabe mit Ihrer Unterschrift bestätigen.«
»Selbstverständlich werde ich das! Wo ist die Gefangene?«
Der Wachoffizier blieb sitzen und rief einen seiner Untergebenen von der Außenwache herein: »Packard, bring die Männer in den Keller. Und nimm die Schlüssel mit.«
Wir folgten Packard treppab in das trüb erhellte und stinkende Kellergeschoss mit lauter vergitterten Zellen — eine Hölle von Menschenhand, mit dem Unterschied, dass es zu dieser Stunde hier unten eher kalt als heiß war. Ich sah mich nach Calyxa um, aber was ich fand, waren die unglücklichen Gesichter von Job und Utty Blake.
Die zwei Schurken teilten sich eine Zelle. Unsere Schritte hatten sie aufgeweckt, und sie starrten uns mit schläfrigem Argwohn an. Das mussten sie sein, die Blakebrüder — bis jetzt hatte ich zwar nur einen gesehen und von ihm auch nur die obere Stirnhälfte. Aber der da war Job; und sollte er mich erkennen — die Laterne des Wachmanns warf immerhin einen trüben Schein auf uns —, so zeigte er es nicht.
Beide Brüder hatten buschiges Kraushaar, das Wahrzeichen der Blakes; nur dass Jobs Wahrzeichen durch unsere flüchtige Begegnung über dem Thirsty Boot verändert worden war. Über der Stirn zog sich eine breite, vernarbte und verschrumpelte Schneise ins Haupthaar, wo die Kugel seine Schädeldecke gefurcht hatte. Ich kann nicht sagen, dass ich stolz auf die Verletzung war, die ich dem Mistkerl beigebracht hatte … aber ich zerfloss auch nicht vor Mitleid.
Nur keine falsche Reaktion, es wäre zu peinlich gewesen, wenn er mich erkannt hätte. Nach wenigen Metern kamen wir an eine viel größere Zelle, so groß wie ein mittleres Zimmer, in der mehrere Leute einsaßen — die »Parmentieristen«, unter denen auch Calyxa war. Sie sprang auf die Füße, als sie mich sah, doch ich machte eine warnende Geste, und sie sagte kein Wort.
»Da ist sie«, sagte der Wachmann und zeigte auf Calyxa.
»Schließen Sie auf«, verlangte Sam.
Im trüben Schein seiner Laterne fummelte der Mann mit dem Ring voller Schlüssel herum. Währenddessen trat Calyxa vor und stellte sich so, dass wir unbemerkt flüstern konnten.
»Was willst du, Adam?«, fragte sie unerwartet kühl.
»Was ich will! Hast du den Brief nicht bekommen?«
Ihre Kumpane — manche Gesichter kannte ich aus der Tischrunde im Thirsty Boot — machten keinen Hehl aus ihrer Neugier auf den mitternächtlichen Besuch, blieben aber auf Distanz, nachdem Calyxa sie angefunkelt hatte.
»Doch«, sagte sie. »Ich habe ihn bekommen und gelesen. Du willst mich heiraten, hast du gesagt.«
Ja, sicher, aber ich hätte mir nicht träumen lassen, etwas so Besonderes so schmucklos und offen durch die Gitterstäbe einer Zelle hindurch zu besprechen. »Es gibt nichts Irdisches, was ich mir sehnlicher wünsche, als dich zu heiraten«, sagte ich. »Wenn du meine Frau werden willst, Calyxa, dann gibt es auf der ganzen Welt keinen glücklicheren Mann als mich. Wenn du hier erst mal raus bist …«
»Und wenn ich nicht will?«
»Nicht will!« Das brachte mich aus dem Konzept. »Nun ja — das ist deine Entscheidung — ich kann nur fragen, Calyxa.«
»Um mich auf so etwas einzulassen, muss ich genauer Bescheid wissen. Meine Freunde trauen keinem Soldaten über den Weg, egal, welcher Rasse oder Nationalität — sie haben dich in Verdacht, Adam.«
»In Verdacht?«
»Dass du für meine Freiheit ein Eheversprechen willst.«
»Verstehe ich nicht!«
»Ich kann es nicht klarer ausdrücken. Komme ich frei, auch wenn ich dich nicht heiraten will? Oder muss ich in diesem Gefängnis verrotten, bis ich Ja sage?«
Ich war erstaunt. Dass sie mir eine solche Erpressung zutraute, schrieb ich dem schlechten Einfluss ihrer Gesinnungsgenossen zu. Immerhin kam in ihrem Gesicht mehr Hoffnung als Verzweiflung zum Ausdruck. Und so sagte ich: »Ich liebe dich, Calyxa Blake, und ich würde dich keine Stunde länger hier leiden lassen, selbst wenn du mich aus tiefster Seele hassen würdest. Jetzt geht es mir nur darum, dich zu befreien — alles andere können wir später besprechen.«
Ich hatte das laut gesagt, damit die zynischen Parmentieristen es mitbekamen, die mich prompt hochleben ließen, was vielleicht nicht nur ironisch gemeint war; und sie stimmten einen unverschämten Refrain von Piston, Loom, and Anvil an, als Calyxa sie mit einem strafenden Blick bedachte, der sinngemäß sagte: »Ich hab’s doch gleich gesagt!«
Leider hatte Packard auch mitgehört, sein Mund stand offen, und in seinem Gesicht arbeitete es. Er zog den Schlüssel vom Schlüsselloch zurück. »Was geht hier vor?«, fragte er und ließ nicht locker, bis Lymon Pugh sich gezwungen sah, den armen Mann mundtot zu machen.[46] Sam nahm den Schlüsselbund an sich, schloss die Zelle auf und sagte laut: »Jungs, ihr könnt meinetwegen die Gelegenheit nutzen — oben im Vorzimmer sind nur zwei Wachleute, sorgt dafür, dass sie keine Zeit haben, Alarm zu schlagen.«
Die Parmentieristen schienen beeindruckt von der Großzügigkeit amerikanischer Soldaten, und ich konnte nur hoffen, dass dieses Erlebnis ihre politischen Ansichten zurechtrücken würde. Sie drängten aus der Zelle, erpicht, die restlichen Wachen zu überwältigen, und Calyxa kam in meine Arme.
»Na, willst du?«, fragte ich, als wir wieder Luft zum Reden hatten.
»Was denn?«
»Mich heiraten!«
»Ich glaube ja«, sagte sie verdutzt.
Meine Freude war nicht zu überbieten, obwohl sie verebbte, als wir an dem Gitter vorbeikamen, hinter dem Job und Utty Blake gefangen saßen.
Utty saß an der Rückwand der Zelle, warf finstere Blicke und murmelte vor sich hin. Aber Job, auf den ich geschossen hatte, kam an die Eisenstäbe und rüttelte wild wie ein Gorilla daran und spuckte Gift und Galle, aber auf Französisch.
»Die beiden lassen wir doch sicher nicht frei«, meinte Sam, in dessen Hand immer noch der Schlüsselbund klimperte.
»Nein«, sagte Calyxa, »bitte nicht — meine Brüder sind Mörder und Buschläufer, die für die Deutschen spionieren, wenn der Preis stimmt — sie sind überführt und zum Tod durch den Strang verurteilt.«
Sie erklärte uns, in dem Tumult zwischen Blakebrüdern und Parmentieristen seien mehrere Schüsse gefallen, aber nur die von Job und Utty hätten getroffen. Job hatte einen jungen Parmentieristen getötet und Utty einen glücklosen Zuschauer niedergeschossen. Irgendein Colonel oder Major der hiesigen Garnison hatte sich sofort zum Richter ernannt und die beiden zum Tode durch den Strang verurteilt — das Urteil sollte öffentlich vollstreckt werden. Das sei vielleicht nicht ganz legal, nicht mal unter Besatzungsrecht; doch außer den Blakebrüdern hätte niemand Einspruch erhoben.
Job hatte alles über Calyxas Tändelei mit einem Soldaten gehört und hatte aus den Ereignissen des heutigen Abends geschlossen, dass ich die Person war, die ihm um ein Haar das Gehirn aus dem Schädel gepustet hätte. Er spuckte noch mehr nasse Flüche in meine Richtung, ehe er seinen Geierblick auf Calyxa richtete.
»Tu nous sers à rien, mais pire … tu nous déshonores! Dommage que tu sois pas morte dans l’utérus de ta mère!«
»Was sagt er?«, fragte ich.
»Er bedauert, dass ich überhaupt geboren bin.«
Ich sah Job Blake in die Augen. »Wir haben alle etwas zu bedauern in diesem Leben«, sagte ich philosophisch. »Sag ihm, dass ich bedaure, nicht tiefer gezielt zu haben.«
Die Trauung sollte am Samstag nach Ostern stattfinden; bis dahin würden Sam, Julian und ich wieder Zivilisten sein; und nach der Feier wollten wir alle in den Zug nach New York City steigen, um ein neues Leben zu beginnen.
Die Einzelheiten unserer Ausmusterung will ich dem geneigten Leser ersparen. Es genügt, wenn ich sage, dass wir wieder zu unserem Regiment zurückkehrten, um dort unsere Angelegenheiten zu regeln. Der Gefreite Langers hatte den Saguenay-Feldzug überlebt und betrieb, wann immer ein Scharmützel mit den Deutschen neue Leichen zum Fleddern lieferte, sein Glückstopf-Geschäft. Sam, der ihn für den Informanten von Major Lampret hielt, wartete, bis sich ein Pulk von Männern an Langers’ Zelt drängte. Dann verlangte er aufgrund seines neuen Rangs den Inhalt des Glückstopfs zu sehen und fertigte eine Bestandsliste an, um den versammelten Soldaten zu zeigen, dass die Nummern auf den Schnipseln immer nur solche von wertlosen Sachen waren. Diese Enthüllung erboste die Männer derart, dass es keiner disziplinarischen Maßnahme von Sam bedurfte. Wie ich später erfuhr, hat Langers die Züchtigung überlebt.
Wir trugen uns aus der Laurentischen Armee aus und bekamen ein Dokument, das unsere Entlassung bestätigte, und dazu noch eine sogenannte Rückrufnummer, anhand der man uns im nationalen Notfall wiedereinberufen konnte — eine Möglichkeit, die wir in den Wind schlugen. Sam, Julian und ich verabschiedeten uns von Lymon Pugh, der sich freiwillig weiterverpflichtet hatte; wir gelobten uns Freundschaft, und Lymon versprach, uns gelegentlich zu schreiben, was er jetzt ja konnte. Dann fuhren wir mit einem Gespann nach Montreal City, wo Calyxa auf mich wartete.
Bis zur Hochzeit blieben noch ein paar Tage. Sam nutzte die Zeit, um Freunden Lebewohl zu sagen, die er unter den Juden von Montreal gefunden hatte, auch wenn dieselben mit seinem Grad an Strenggläubigkeit unzufrieden waren. Sam hielt sich für einen waschechten Juden und war auch als Jude geboren, doch er hatte sich nie der ausgeklügelten Lehren und Rituale befleißigt, die charakteristisch waren für diesen Glauben — wie beispielsweise nicht am Samstag zu arbeiten (den sie irrtümlich für den Sabbat hielten) oder regelmäßig betteln zu gehen oder jeder Vorschrift der Thora zu gehorchen (einer röhrenförmigen Bibel, wie er meinte). »Ich bin zu früh von diesen Dingen fortgenommen worden«, bedauerte er mir gegenüber, »und jetzt sind sie mir fremd. Ich habe nie eine Bar-Mizwa erlebt. Ich kann kein Hebräisch. Ich kann mich glücklich schätzen, dass ich beschnitten bin.«[47] »Haben die Juden von Montreal Verständnis für deine Lage?« »Ja, aber sie haben keine Geduld mit mir. Zu Recht vielleicht.« Er schüttelt den Kopf. »Ich bin weder das eine noch das andere, Adam. Für Leute wie mich gibt es keinen passenden Glauben.«
»Kopf hoch«, sagte ich, er sei nicht der Einzige, der unter der Vielfalt der Religionen zu leiden habe, davor schütze selbst der großzügige Schirm des Dominion of Jesus Christ nicht. So gab es in Montreal keine Gemeinde der Church of Signs, was bedeutete, dass ich Calyxa nicht nach dem Ritus des väterlichen Glaubens heiraten konnte (worauf ich zugegebenermaßen auch keinen Wert legte). Wir hatten uns auf eine konfessionsübergreifende Dominion-Trauung geeinigt, und trauen sollte uns der hiesige Vertreter des Dominions, der die Diözesen genehmigte und den Zehnten für Colorado Springs einsammelte. Und wir würden in einer Kirche heiraten, allerdings einer katholischen, und die Nutzungsgebühren für Nichtkatholiken waren nicht von schlechten Eltern; sie zehrten ein gut Teil meiner Ersparnisse auf, die eigentlich für den Kauf einer Schreibmaschine gedacht waren; aber das war Calyxa mir wert.
Auch Julian hatte Freunde gefunden in Montreal und nutzte die Zeit bis zur anberaumten Hochzeit, um Abschied zu nehmen. Bei ihnen handelte es sich um die Philosophen und Ästheten, die sich im Dorothy’s trafen. Julian hatte mich noch mit keinem der Leute bekanntgemacht, und sie schienen aus der Entfernung genauso elastisch und dünnhäutig zu sein, wie Lymon sie beschrieben hatte; aber wer war ich, dass ich mich zum Richter über Philosophen machte? Immerhin zogen sie nicht mit unpatriotischen Spruchbändern durch die Straßen und landeten im Militärgefängnis.[48]
Was mich anging, so verbrachte ich meine Zeit mit Calyxa. Diese Zuwendung hatte zum Teil praktische Gründe, denn es mussten Vorbereitungen getroffen und Einladungen verschickt werden. Aber sie war auch eine Wonne; denn als Verlobte ersehnten wir jederzeit und in jeder Hinsicht die Gegenwart des anderen. Und sollten wir feierliche Versprechen vorzeitig eingelöst haben, so hoffe ich auf ein mildes Urteil des Lesers; und mehr will ich dazu nicht sagen, außer dass diese Tage eine glückliche Zeit für mich waren.
Selbstredend schrieb ich meiner Mutter, um sie über das bevorstehende Ereignis zu unterrichten; ich entschuldigte mich, dass ich ihr Calyxa jetzt nicht vorstellen konnte, versicherte ihr aber, das eher früher als später nachzuholen. Calyxa hatte nur zwei Verwandte, nämlich Job und Utty, die leider verhindert waren — sie sollten am Tag der Hochzeit gehängt werden; aber alle Parmentieristen würden kommen und das Personal vom Thirsty Boot sowie allerlei Straßenmusikanten und verschiedene Revoluzzer; und ich erwartete jede Menge Überlebende des Saguenay-Feldzuges und auf Einladung von Sam und Julian vielleicht noch ein paar Philosophen, Juden und Ästheten.
Am Ende war es eine Hochzeit wie jede andere — der Kern des Ganzen sowie das Drumherum waren so vertraut, dass sich eine Schilderung erübrigt. Kurz gesagt: Wir wurden getraut; wir küssten uns; man ließ uns hochleben; Getränke wurden serviert.
Für die Fahrt zum Bahnhof hatten wir eine Kutsche gemietet. Eine richtige Hochzeitskutsche war es nicht, da Sam und Julian mit an Bord waren. Wir hatten alle ein Ticket für den New-York-Express, der Montreal kurz nach Sonnenuntergang verlassen sollte. Ich hatte den Arm um Calyxa gelegt, und wir gurrten wie die Turteltauben und äußerten lustige Banalitäten, während Sam und Julian rote Ohren bekamen oder in die Hand husteten oder interessiert aus dem Fenster starrten, obwohl die Stadt im schwindenden Licht ihre Farben verlor und nur noch die grauen Fahnen auffielen, die weithin sichtbar hygienische Ratschläge wie Boil All Water erteilten.
Bevor wir den Bahnhof erreichten, bestand Calyxa auf einem Zwischenstopp, und zwar an dem Platz, wo die Laurentische Armee ihre Hinrichtungen vollstreckte.
Die beiden waren etwa um die Zeit gehängt worden, als Calyxa und ich uns feierlich die Ehe versprochen hatten. Ich wollte sie überreden, die Erinnerung an unsere Hochzeit nicht durch den Anblick von Erhängten zu besudeln; doch sie wollte sich unbedingt vergewissern, dass ihre Brüder ein für alle Mal tot waren und nicht wieder bei irgendeiner unpassenden Gelegenheit von den Toten auferstanden.
Also bat ich den Kutscher am Exekutionsort anzuhalten. Zur Abschreckung ließ die Laurentische Armee die Leichen noch ein, zwei Tage am Galgen baumeln. Diese Taktik hatte im Falle von Job und Utty nur zum Teil gegriffen: Zwei Seile baumelten von den kunstvoll gezimmerten Galgen, aber nur eines war auch straff. Ich fragte einen Alten, der dick eingemummelt auf einer Bank saß, und er erklärte mir, Utty Blake sei zuerst erhängt worden, aber der Galgen sei entweder zu hoch oder das Seil zu lang gewesen, so dass der Kopf im kritischen Augenblick »abgezwickt« worden sei; der Körper sei in zwei Teilen weggeschafft worden. Flecken am Boden bestätigten die Darstellung.
Nur Job erfüllte noch seinen Zweck. Im Tode sah er viel kleiner aus. Das Gesicht war purpurrot angelaufen und bot keinen erfreulichen Anblick, auch wenn ich inzwischen weit Unerfreulicheres gesehen hatte. Eben war ein kalter Wind aufgekommen und ließ die Fahnen an den Gebäuden flattern und den Galgen knarren, an dem Jobs Leiche pendelte. Schwere Wolken jagten über den späten Himmel, und der Ort hatte etwas Unerbittliches und Unheilvolles.
Was Calyxa nicht davon abhielt, aus der Hochzeitskutsche zu springen und sich nach einem Dutzend weit ausholender Schritte vor dem zerzausten und übel riechenden Körper ihres Bruders aufzubauen. Die Füße in den dunklen, löchrigen Wollsocken pendelten in Höhe ihrer Schultern.
Ich ließ sie lange Minuten allein auf diesem staubigen, windigen Platz stehen und über die Vergänglichkeit des Lebens und aller irdischen Dinge sinnieren. Dann ging ich zu ihr und legte tröstend den Arm um ihre Taille.
»So schrecklich die beiden waren«, sagte ich, »das muss schwer zu ertragen sein.«
»Nicht sehr schwer«, sagte sie leise.
»Dann verabschiede dich, Calyxa — der Zug wartet nicht.«
Ich war gerührt von der dunklen Anmutung in ihrem Gesicht, die von einer Seele zeugte, die längst nicht so rau war, wie sie sich den Anschein gab; und ich war noch gerührter, als Calyxa in christlicher Nächstenliebe ein kurzes Gebet für die Seele des armen, toten Job sprach.[49]
Dann kletterten wir wieder in die Kutsche und setzten unseren Weg zum Bahnhof fort. Die Atmosphäre war ein bisschen abgekühlt, und das Turteln hatte vorerst ein Ende. Stattdessen versuchte Calyxa mit uns ins Gespräch zu kommen.
Sie kannte Sam und Julian bis jetzt nur flüchtig. Eigentlich kannte sie die beiden überhaupt nicht; denn trotz der Vertraulichkeiten, die wir teilten, hatte ich ihr verschwiegen, dass Julian in Wahrheit der Neffe des amtierenden Präsidenten war und Sam der beste Freund von Julians ermordetem Vater gewesen war. Ich hatte Sam und Julian hoch und heilig versprochen, all das für mich zu behalten, und ich hatte mein Wort gehalten.
Andere Sachen über meine Freunde und meine Abenteuer mit ihnen hatte ich ihr allerdings erzählt. Sie sah Julian freimütig an und sagte: »Und du erzählst gerne biblische Geschichten.«
Julian fühlte sich nicht wohl in seiner Haut — wie so oft in Gegenwart von Frauen — und schien um eine Antwort verlegen. Er schluckte mehrmals, sein Adamsapfel tanzte auf und ab. »Ähm … na ja — tu ich das?«
»Laut Adam, ja. Biblische Geschichten, die du dir ausdenkst, die meisten blasphemisch.«
»Adam übertreibt gerne.«
»Erzähl mir eine«, sagte Calyxa, während die Kutsche eine düstere, zugige Straße hinunterrasselte und ein feiner Regen einsetzte. Calyxas Blick rutschte zum Kutschfenster. »Erzähl mir eine Ostergeschichte, wenn du kannst.«
Die Unterhaltung nahm einen Verlauf, der mir nicht behagte. Für Ahnungslose waren Julians Ketzereien oft schockierend, und mir wäre es viel lieber gewesen, Calyxa hätte die Chance gehabt, ihn besser kennenzulernen, bevor er die Kanone seines Agnostizismus aus nächster Nähe auf sie richten konnte. Aber Julian liebte die Herausforderung; und ihm gefiel wohl auch, wie keck und offen sie ihn anging.
Er räusperte sich. »Dann wollen wir mal sehen.« Die Laterne an der Kutschdecke schlingerte in ihrer kardanischen Aufhängung. Regen trommelte aufs Kutschdach, und Julians Atem hing sichtbar in der kalten Luft. »Und Gott erschuf die Welt …«
»Die fängt aber früh an«, meinte Calyxa.
»Vielleicht; willst du die Geschichte nun hören oder nicht?«
»Pardon, Sir. Fahren Sie fort.«
»Am Anfang erschuf Gott die Erde«, sagte Julian, »und versetzte sie in Drehung und ließ die Ereignisse sich ereignen, ohne sich besonders darum zu kümmern. Er inszenierte ein paar Zwistigkeiten zwischen den Menschen und arrangierte eine völlig unangemessene Flut, die viele Menschenleben kostete und nur wenige Probleme löste; doch am Ende entschied er, die Menschheit sei zu korrupt, um gerettet zu werden, und zu erbärmlich, um sie auszulöschen, und da hörte er auf, an ihr herumzupfuschen, und ließ sie in Ruhe.
Aber die Menschheit war sich im Großen und Ganzen ihres Sündenfalls bewusst und fuhr fort, Gott um unverdiente Gaben oder die Abschaffung von Missständen zu bitten. Das ganze Gewinsel war, wie Gott es sah, ein einziges Klagelied über die verlorene Unschuld — das verlorene Paradies, den Garten Eden. ›Gib uns die Unschuld zurück‹, schrie die Menschheit, ›oder schicke uns die Unschuld persönlich, damit sie uns als Beispiel diene.‹
Gott war skeptisch. ›Ihr würdet die Unschuld nicht einmal erkennen, wenn sie euch eine Visitenkarte unter die Nase hält‹, sagte er zur Menschheit, ›und Güte übersteigt euer Begriffsvermögen mit der Präzision eines Uhrwerks. Seht zu, wo ihr findet, wonach ihr sucht, und lasst mich in Frieden.‹
Aber die Gebete nahmen kein Ende, und Gott konnte all das Leid und all das Klagen nicht ewig ignorieren, das wie Ebbe und Flut an den Festen des Himmels nagte. ›Also gut‹, sagte er schließlich, ›ich habe euren Jammer vernommen, und ihr sollt bekommen, wonach euch verlangt.‹ Also zeugte er mit einer Jungfrau ein Kind — sie war in Wirklichkeit eine verheiratete Jungfrau, denn Gott hatte Spaß an Wundern, und dass eine Frau gleichzeitig Ehefrau, Jungfrau und Mutter war, schien ein Wunder zu sein, das eine besonders hohe Rendite versprach. Und so wurde zu gegebener Zeit ein Kind geboren — unschuldig, ohne Erbsünde, gefeit gegen Versuchung und gutherzig bis ins Mark. ›Macht mit ihm, was ihr wollt‹, sagte Gott grimmig, verschränkte die Arme und wartete.«
(Ich versuchte herauszufinden, wie diese Gotteslästerungen bei Calyxa ankamen. Ihr Gesicht zeigte keine Regung, aber ihre Augen verrieten, dass sie der Geschichte aufmerksam und unerschrocken folgte. Es regnete Bindfäden, und die Geräusche der vorbeifahrenden Gespanne drangen gedämpft ins Innere.)
»Es verging etwa ein Vierteljahrhundert«, fuhr Julian fort. »Und schließlich schickten wir dieses Gotteskind zu seinem Erzeuger zurück — verhöhnt, beleidigt, gegeißelt, erniedrigt und an ein splittriges Kreuz genagelt und der galiläischen Sonne ausgesetzt, bis es seinen körperlichen und seelischen Wunden erlegen war.
Gott bekam sein mehrfach misshandeltes Geschenk sozusagen postwendend vor das Himmelstor gelegt und wandte sich mit abgrundtiefer Verachtung an die Menschheit: ›Seht nur, wie ihr mit der Unschuld verfahrt! Seht nur, was ihr aus Liebe und Wohlwollen macht, wenn sie euch in die Augen blicken!‹ Und indem er das sagte, kehrte er der Menschheit den Rücken und nahm sich vor, nie wieder zur menschlichen Rasse zu sprechen oder sonst wie mit ihr zu verkehren.
Und selbst das hätte eine nützliche Lektion sein können, wenn die Menschen sie als solche begriffen hätten; aber sie verkannten die Strafe und bildeten sich ein, Gott habe ihnen ihre Sünden vergeben, und hängten überall Bildnisse des gemarterten Halbgottes und des Instrumentes auf, an dem er zerbrochen war, und begingen dieses Ereignis jedes Jahr zu Ostern mit einem Gottesdienst und einem farbenprächtigen Hut. Und so wie Gott sich taub gegen den Menschen stellte, wurde der Mensch taub gegen Gott; und seither siechen unsere Gebete in der abgestandenen Luft unserer hallenden Kirchen dahin.«
In der Kutsche herrschte Schweigen nach dieser grausamen und unverhohlen blasphemischen Erzählung. Sam seufzte und starrte in den Regen hinaus. Die Kutsche knarrte, wenn sie über nasses Kopfsteinpflaster federte, ein Geräusch, das mich an den Galgen erinnerte, an dem Job Blake pendelte. Julian blickte Calyxa dreist, aber auch ein bisschen ängstlich an, als sie nach einer Antwort suchte.
»Das war eine schöne Geschichte«, sagte sie endlich. »Sie gefällt mir — danke, Julian. Ich hoffe, du erzählst mir irgendwann noch eine.« Sie probte ein Lächeln. »Jetzt weiß ich ja, wie’s geht; vielleicht denk ich mir auch eine aus.«
Jetzt bekam Julian große Augen. Und als er ziemlich sicher war, dass sie meinte, was sie sagte, grinste er, wie ich ihn seit dem Saguenay-Feldzug nicht mehr hatte grinsen sehen.
»Willkommen im Klub!«, sagte er und schwenkte sein Grinsen in meine Richtung. »Du hast gut gewählt, Adam! Glückwunsch!«
»Oy«, sagte Sam in der kryptischen Sprache der Juden.
Die Zukunft kümmerte sich nicht um unsere Erwartungen. Das tue sie nie, würde Julian bestimmt sagen. »Es gibt keine absehbare Evolution«, waren seine Worte, »weder auf lange noch auf kurze Sicht.«
Dennoch, der Schock bei unserer Ankunft in New York City hätte schlimmer nicht sein können.
Es geschah Folgendes.
Unser »Schnellzug« hielt an jedem Rangierbahnhof, und die Reise dauerte die ganze Nacht. Calyxa und ich hatten ein Privatabteil. Wir schliefen erst spät in der Nacht ein und schliefen folglich bis nach Sonnenaufgang. Wir sahen nichts von New York City, bis der Schaffner an die Tür klopfte und die bevorstehende Ankunft meldete.
Rasch zogen wir uns an und gingen in den Personenwagen, wo Sam und Julian saßen.
Ich fand es schade, dass wir nicht früher aufgestanden waren, denn wir waren schon mitten in Manhattan. Was seine Wunder betrifft, so will ich hier nicht ins Detail gehen — sie haben ihren Auftritt im weiteren Verlauf der Geschichte. Doch als wir in den von Säulen getragenen Zentralbahnhof rollten, schwante mir, dass etwas Ungewöhnliches im Gange war. Durch die vom Regen gestreiften Scheiben des Personenwagens waren viele Bahnsteige und Depots zu sehen, wo Passagiere aus- und zustiegen, und an dem Bahnsteig, dem wir uns näherten, drängten sich Menschen in allerlei farbenfrohen Kostümen, viele trugen Schilder oder Spruchbänder. Man hatte eine hölzerne Tribüne errichtet, und eine Kapelle spielte patriotische Melodien. Was genau sich da abspielte, war durch das schlierige und verschmutzte Glas nicht zu erkennen, nur der Tenor der ganzen Aufregung war unverkennbar.
Wir fragten einen vorbeikommenden Schaffner, worum es da draußen gehe, aber er sagte nur über die Schulter: »Jemand Berühmtes, der von der Front kommt, wer weiß?«
Jemand Berühmtes! Zu komisch, wenn wir die ganze Zeit mit General Galligasken im selben Zug gesessen hätten; aber nichts deutete darauf hin. Wir hatten keine Ahnung, welcher Passagier hier geehrt werden sollte, bis wir auf den Bahnsteig hinaustraten. Ein Fahrkartenabreißer zeigte auf uns — eigentlich auf Julian —, und prompt stimmte die Kapelle einen Marsch an.
»Mein Gott!«, sagte Sam erblassend, als er die Schilder und Spruchbänder las, die von der Menge hochgehalten wurden — und ich las sie auch und muss wohl genauso entgeistert ausgesehen haben wie Sam.
WILLKOMMEN, HELD DES SAGUENAY-FELDZUGS!, hieß es da.
POLIZEI UND FEUERWEHR VON NYC SALUTIEREN DEM EROBERER DER CHINESISCHEN KANONE!, hieß es woanders.
Und da vorne einfach:
HURRA CAPTAIN COMMONGOLD!
Sam zitterte so heftig, als hätte sich die jubelnde Menge unter seinem Blick in ein Exekutionskommando verwandelt.
Julian war noch verwirrter. Er machte den Mund auf und fand nicht mehr die Kraft, ihn zu schließen.
Im selben Augenblick löste sich eine weißhaarige Frau aus dem Pulk. Sie war nicht jung, auch nicht besonders dünn, aber ihr Auftreten war energisch und zielbewusst. Sie war offensichtlich eine Aristokratin — sie war teuer und auffällig bunt gekleidet, als sei sie durch eine Modeboutique und ein tropisches Vogelhaus marschiert und von beiden sei einiges an ihr kleben geblieben. Sie trug einen Blumenkranz mit einem Spruchband aus Papier: DIE PATRIOTISCHE FRAUENUNION VON NEW YORK CITY HEISST CAPTAIN COMMONGOLD WILLKOMMEN! Der Kranz war so verschwenderisch, dass ihr Gesicht beinahe ganz verdeckt wurde, bis sie ihn hochhob, um ihn Julian um den Hals zu legen.
Jetzt erst hatte sie freien Blick auf den Adressaten der ganzen Verehrung und erstarrte, als sei sie von einer Kugel getroffen.
»Julian?«, sagte sie heiser.
»Mutter!«, rief Julian.
Der Kranz fiel zu Boden. Julians Mutter umarmte ihren Jungen. Die Fotografen in der Menge merkten auf und hoben ihre Kameras, und die Reporter pflückten die Bleistifte von den Ohren.