»Und in Feuern, wie sie für Ketzer entfacht wurden, wird man auch Philosophen verbrennen.«
Im Oktober 2172 — dem Jahr, als der Wahl-Zirkus in die Stadt kam — ritten Julian Comstock und ich zusammen mit seinem Mentor Sam Godwin zur Halde östlich von Williams Ford, wo ich Besitzer eines Buches wurde und Julian mich in eine seiner Häresien einweihte.
Die Jahreszeiten in Athabaska schienen damals von einer unbeirrbaren Pünktlichkeit. Die Sommer waren lang und heiß, der Dezember brachte Schnee und jähe Frosteinbrüche, und in der Regel war der River Pine spätestens am 1. März wieder frei von Eis. Frühling und Herbst waren im Grunde nur Vermittler. Heute war ein herrlicher Herbsttag — die Luft war frisch, aber nicht kalt, die tief stehende Sonne von keinem Schleier getrübt. Ein Tag, den wir eigentlich in Sam Godwins Obhut hätten verbringen sollen; wir hätten Kapitel aus Dominion History of the Union gelesen oder aus War and How to Conduct It von Otis. Doch Sam war kein unerbittlicher Lehrmeister, und das freundliche Wetter legte nun einmal einen Ausflug nahe. Also suchten wir die Stallungen auf, wo mein Vater arbeitete, zogen die Pferde heraus und ritten schließlich vom Landsitz, mit einem Lunchpaket aus Schwarzbrot und Räucherschinken im Rucksack.
Wir kehrten den Hügeln und der Stadt den Rücken und folgten der Wire Road nach Süden. Julian und ich ritten voraus, während Sam im Passgang folgte, die Pittsburgh-Büchse im Sattelhalfter. Nichts deutete auf eine Gefahr hin, doch Sam Godwin liebte keine Überraschungen — falls er eherne Gebote hatte, dann hießen sie SEI AUF DER HUT und SCHIESSE ALS ERSTER und vermutlich ZUM TEUFEL MIT DEN KONSEQUENZEN. Sam, der fast fünfzig Winter zählte, trug einen dichten braunen, mit weißen Haaren durchsetzten Bart und den noch hinnehmbaren Rest einer Uniform der Kalifornischen Armee. Sam war fast wie ein Vater zu Julian; dessen leiblichen Vater hatte man vor Jahren aufgeknüpft, und in der letzten Zeit war Sam wachsamer denn je, aus Gründen, über die er schwieg, in meiner Gegenwart zumindest.
Julian war in meinem Alter — siebzehn —, und wir waren etwa gleich groß, doch darin erschöpfte sich unsere Ähnlichkeit. Julian war als Aristokrat geboren oder ein Eupatride, wie man im tiefen Osten sagte, während meine Familie der Pächterklasse angehörte. Sein Gesicht war glatt und blass; meines war dunkel, eine Mondlandschaft, zernarbt von den gleichen Pocken, die meine Schwester Flaxie’63 ins Grab gebracht hatten. Sein strohblondes Haar war lang und beinah mädchenhaft sauber; meines war schwarz und widerspenstig, Mutter hatte es mit ihrer Nähschere zu lauter Stoppeln geschnitten, und ich wusch es einmal die Woche — öfter im Sommer, wenn der Bach hinter dem Cottage wärmer wurde. Julians Sachen waren aus Leinen und Seide mit Knöpfen aus Messing, maßgeschneidert; mein Hemd und meine Hose waren aus grobem Hanfstoff und passten ganz gut, sahen aber nicht nach dem Werk eines New Yorker Schneiders aus.
Und trotzdem waren wir Freunde und das schon seit drei Jahren, seit wir uns zufällig in den Hügeln westlich des Duncan-und-Crowley-Landguts begegnet waren. Wir waren auf der Jagd gewesen, Julian mit seiner Büchse und ich mit einem schlichten Vorderlader, und im Wald kreuzten sich unsere Wege und wir kamen ins Gespräch. Beide liebten wir Bücher, vor allem die Jungenbücher aus der Feder eines Charles Curtis Easton.[1] Ich hatte damals ein Exemplar von Eastons Against the Brazilians dabei, das ich ohne Erlaubnis aus der Gutsbücherei entliehen hatte — Julian kannte das Buch, versprach aber hoch und heilig, mich nicht zu verraten, da er unbedingt mit jemandem darüber reden wollte, der es genauso toll fand wie er —, kurz, er tat mir einen Gefallen, ohne dass ich ihn darum gebeten hatte; und wir wurden, obwohl wir so verschieden waren, unzertrennliche Freunde.
Damals ahnte ich noch nicht, wie sehr er die Philosophie und solche kleinen Übertretungen liebte. Hätte ich es geahnt, es wäre mir vermutlich egal gewesen.
Heute verließ Julian die Wire Road gen Osten und folgte einem Weg, der von einem Weidezaun flankiert wurde, an dem sich dicht an dicht Brombeerranken hochgehangelt hatten. Der Weg verlief zwischen Weizen- und Kürbisfeldern, die frisch abgeerntet waren. Nicht lange, und wir kamen an den primitiven Hütten der Lohnarbeiter vorbei, deren halbnackte Kinder von der staubigen Seite herübergafften, und ich vermutete, dass es zur Halde ging, denn wo sonst hätte es auf diesem Weg hingehen sollen? — Es sei denn, wir würden noch stundenlang weiterreiten, den ganzen weiten Weg zu den Ruinen der alten Ölstädte, die noch aus den Tagen der Falschen Drangsal stammten.
Die Halde lag, um Wilderei und Übergriffe zu erschweren, ein Stück weit von Williams Ford entfernt. Für die Halde galt eine strenge Hackordnung. Es funktionierte so: Professionelle, vom Landgut angeheuerte Kipper brachten ihre Ausbeute aus den Ruinen zur Halde, einem Geviert aus Kieferpalisaden mitten im offenen Grasland. Hier wurden die neu eintreffenden Sachen vorsortiert und Reiter zum Landsitz geschickt, um die Hochgeborenen über die neuesten Funde zu unterrichten. Dann ritten ein paar Aristokraten (oder ihre Getreuen) aus, um die besten Stücke abzuholen. Tags darauf durfte die Pächterklasse das Übrige nach Brauchbarem durchforsten; Lohnarbeiter, die den weiten Weg nicht scheuten, konnten dann im Rest stöbern.
Jede florierende Stadt hatte ihre Halde, die man im Osten auch Kippe, Depot oder Eebay nannte.
Heute hatten wir Glück. Ein Dutzend Fuhren waren eben eingetroffen, und es waren noch keine Reiter zum Landsitz unterwegs. Der bewaffnete Reservist am Palisadentor empfing uns mit misstrauischen Blicken, bis Sam den Namen Julian Comstock meldete. Der Mann trat rasch beiseite und ließ uns durch. Ein dicker Kipper, bedacht, sich von seiner besten Seite zu zeigen, eilte uns entgegen, als wir abstiegen, und band unsere Pferde an. »Ein glücklicher Zufall!«, rief er. »Meine Herren!« Er richtete die Worte hauptsächlich an Sam, Julian bedachte er mit einem vorsichtigen Lächeln und mich mit einem geringschätzigen Seitenblick.
»Bücher«, sagte Julian, bevor Sam oder ich etwas sagen konnten.
»Bücher! Na ja — die hebe ich immer für den Konservator auf …«
»Der Junge ist ein Comstock«, sagte Sam. »Du willst ihm doch nichts abschlagen?«
Dem Mann schoss das Blut ins Gesicht. »Nein, durchaus nicht — tatsächlich sind wir beim Graben auf etwas gestoßen — eine Art Bücherei en miniature — wenn Sie möchten …«
Das war höchst interessant, besonders für Julian, der strahlte, als habe man ihn zu einer Weihnachtsfeier eingeladen; und wir folgten dem Dicken zu einem frisch eingetroffenen Planwagen, auf dem ein Arbeiter mit bloßem Oberkörper stand und lauter Bündel auf ein und dieselbe Stelle neben einem Zelt warf.
Es waren zusammengeschnürte Bücher — uralte Bücher, ohne Prüfsiegel des Dominions. Sie mussten über hundert Jahre alt sein; obwohl verblichen, war nicht zu übersehen, wie farbenprächtig sie einst gewesen und wie aufwendig sie gedruckt waren, nicht auf dem steifen braunen Papier der Charles-Curtis-Easton-Bücher von heutzutage. Sie waren nicht einmal besonders stockfleckig, und ihr Modergeruch war unter der läuternden Sonne Athabaskas fast verschwunden.
»Sam!«, flüsterte Julian überschwänglich. Er hatte schon das Messer gezogen und fing an, an der Verschnürung zu säbeln.
»Beruhige dich«, sagte Sam, der nicht so ein Schwärmer war wie Julian.
»Oh, aber — Sam! Wir hätten besser einen Karren mitgebracht!«
»Wir können sie nicht stapelweise mitnehmen, Julian, wir bekämen gewaltigen Ärger. Das ist alles für die Gelehrten des Dominions, und das, was nicht verbrannt wird, verschwindet in ihrem Archiv in New York City. Ich denke aber, wenn du es nicht an die große Glocke hängst, kannst du ein, zwei Bände behalten.«
»Die kommen aus Lundsford«, sagte der Kipper. Lundsford hieß eine verfallene Stadt gut zwanzig Meilen südöstlich. Der Mann lehnte sich zu Sam Godwin und sagte: »Wir dachten, Lundsford wär schon vor zehn Jahren ausgeräumt worden. Manchmal sprudeln auch versiegte Quellen wieder. Einer von meinen Leuten machte eine Senke abseits der Hauptgrabung aus — darunter entdeckte er einen Hohlraum: Der jüngste Regen hatte ihn durchgespült. Ein Kellergeschoss oder irgendeine Lagerhalle. Oh, Sir, wir haben schönes Porzellan gefunden und Glaswaren und noch viel mehr Bücher … die meisten hoffnungslos verschimmelt, aber ein paar waren in eine Art Wachstuch gewickelt und lagen unter einer eingestürzten Decke begraben … es muss gebrannt haben, aber sie haben es überstanden …«
»Gute Arbeit, Kipper«, sagte Sam Godwin mit spürbarem Desinteresse.
»Danke, Sir! Wenn Sie die Herrschaften von mir grüßen würden?« Und er nannte seinen Namen (den ich vergessen habe).
Julian kniete mitten im Stein- und Tonschutt der Halde und nahm ein Buch nach dem andern in die Hand und untersuchte es mit großen Augen. Ich tat, was er tat, auch wenn ich mir nie etwas aus der Halde gemacht hatte. Der Ort war mir nie geheuer gewesen. Und er war es auch nicht — das war seine Daseinsberechtigung —, er war bestimmt, die Geister der Vergangenheit aufzunehmen, die Gespenster der Falschen Drangsal, aufgescheucht aus ihrem jahrhundertelangen Schlummer. Hier lagerten die Belege für das Beste und Schlimmste jener Menschen, die in der Epoche des Lasters und der Verschwendung gelebt hatten. Ihre schönen Dinge waren vom Feinsten, vor allem die Glaswaren, und ein Aristokrat, der nicht vor einem antiken Gedeck Platz nahm, das man aus der einen oder anderen Ruine geborgen hatte, galt in der Tat als engstirnig. Zuweilen fanden sich noch brauchbare Messer und andere Werkzeuge in der Halde. Münzen waren an der Tagesordnung. Sie waren weder aus Gold noch aus Silber und zu zahlreich, um viel wert zu sein, für sich genommen, denn sie ließen sich zu Knöpfen und derlei Zierrat verarbeiten. Ein Hochgeborener daheim auf dem Landsitz besaß einen Sattel, der mit Kupferpennys gespickt war, die allesamt aus dem Jahr 2032 stammten — ich hatte ihn so oft auf Hochglanz polieren müssen, dass ich ihn nicht mehr sehen konnte.
Es gab hier auch Abfälle und unerklärliches Zeug aus der alten Zeit: »Plastik«, spröde vom Sonnenlicht oder aufgeweicht von den Säften des Erdreichs; vor Rost strotzende Metallstücke; elektronisches Gerät, geschwärzt von der Zeit und durchdrungen von der traurigen Nutzlosigkeit einer Zugfeder ohne Spannkraft; korrodierte Maschinenteile; von Grünspan zerstörter Kupferdraht; Aluminiumdosen und Stahlfässer, durchlöchert von den giftigen Flüssigkeiten, die sie einmal enthalten hatten — und so weiter, beinah ad infinitum.
Dann die Zwitter, die Kuriositäten, so faszinierend und nutzlos wie Muschelschalen. (»Leg die rostige Trompete zurück, Adam, du schneidest dir in die Lippe, und dann bekommst du eine Blutvergiftung!« — meinte Mutter, als wir die Halde besucht hatten, viele Jahre bevor mir Julian begegnete. Die Trompete war sowieso in höchstem Maße misstönend gewesen — kein Wunder bei einem derart verbogenen und durchgerosteten Schalltrichter.)
Zu allem Überfluss schwebte über jeder Halde das unbehagliche Wissen, dass alle diese Dinge, schön oder verrottet, ihre Hersteller überdauert hatten — sich auf lange Sicht als dauerhafter erwiesen hatten als Fleisch und Geist; denn die Seelen der Säkularen Alten müssen sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ganz hinten anstellen, wenn es um die Auferstehung geht.
Und trotzdem, diese Bücher … sie verführten Auge und Verstand gleichermaßen. Manche schmückten sich mit schönen Frauen in verschiedenen Stadien des Unbekleidetseins. Ich hatte längst meine makellose Keuschheit verspielt, indem ich gewisse junge Frauen auf dem Landsitz rücksichtslos geküsst hatte; mit siebzehn hatte ich eine schlechte Meinung von mir; aber diese Bilder waren so freizügig und unverschämt, dass ich rot wurde und wegsah.
Für Julian existierten sie nicht, weibliche Reize ließen ihn einfach kalt. Er zog die weniger großzügig illustrierten Texte vor. Er hatte bereits ein fleckiges und ausgeblichenes Lehrbuch der Biologie beiseitegelegt. Er fand noch ein anderes Buch, das fast genauso dick war, und gab es mir mit den Worten: »Hier, Adam, guck da mal rein — könnte aufschlussreich sein.«
Ich musterte das Buch skeptisch. Es hieß A History of Mankind in Space.
»Der Mond schon wieder«, sagte ich.
»Lies selbst.«
»Ein Lügengespinst, wetten?«
»Mit Fotos.«
»Fotos beweisen gar nichts. Die konnten alles machen mit Fotos.«
»Lies trotzdem mal«, sagte Julian.
In Wahrheit fand ich die Idee aufregend. Wir hatten öfter darüber gestritten, besonders in Herbstnächten, wenn der Mond riesengroß auf dem Horizont thronte. Julian pflegte auf den Himmelskörper zu zeigen und zu sagen: »Da sind Menschen gewesen.« Als er das zum ersten Mal behauptete, lachte ich ihn aus; beim zweiten Mal sagte ich: »Ja, sicher, ich bin da auch mal rauf, auf einem frisch gebohnerten Regenbogen …« Aber er hatte es ernst gemeint.
Oh, ich hatte diese Geschichten gehört. Wer nicht? Menschen auf dem Mond. Ich fragte mich nur, wie jemand, der so gebildet war wie Julian, so etwas glauben konnte.
»Nimm einfach das Buch«, beharrte er.
»Um es zu behalten?«
»Was sonst?«
»Glaube, das mach ich«, murmelte ich und steckte das Buch in meinen Rucksack; ich war stolz und hatte gleichzeitig ein schlechtes Gewissen. Was würde mein Vater sagen, wenn er erfuhr, dass ich in einem Buch ohne Prüfsiegel las? Wie würde meine Mutter das finden? (Auf die Nase binden würde ich es ihnen nicht.)
Das war der Moment, da ich mir etwas abseits vom Schutt ein grünes Fleckchen suchte, wo ich mich niederlassen und meinen Lunch auspacken konnte, während Julian in den alten Schwarten stöberte. Sam Godwin gesellte sich zu mir, fegte mit der Hand eine Stelle auf einem verkohlten Balken ab, damit er sich setzen konnte, ohne seine Uniform zu beschmutzen, ja, so war das.
»Er liebt solche muffigen alten Bücher«, sagte ich, um etwas zu sagen.
Sam war oft wortkarg — ein Veteran wie aus dem Bilderbuch —, doch heute nickte er und redete freimütig. »Er hat sie lieben gelernt, und ich habe geholfen, ihn zu unterrichten. Sein Vater wollte, dass er mehr von der Welt erfuhr, als in den Geschichtsbüchern des Dominions stand. Ich weiß nicht, ob das auf lange Sicht richtig war. Er liebt seine Bücher geradezu abgöttisch, er vertraut ihnen viel zu sehr. Es könnte sein, dass sie ihn eines Tages umbringen.«
»Wie denn? Weil sie ketzerisch sind?«
»Er diskutiert mit dem Klerus. Erst letzte Woche kam ich dazu, wie er mit Ben Kreel[2] stritt, über Gott und Geschichte und solche abstrakten Dinge. Und genau das darf er nicht, wenn er die nächsten paar Jahre überleben will.«
»Wieso? Was hat er denn zu befürchten?«
»Die Eifersucht der Mächtigen«, sagte Sam.
Mehr sagte er nicht dazu, strich sich über den leicht ergrauten Bart und warf hin und wieder einen besorgten Blick nach Osten.
Schließlich musste Julian sich von seinem Büchernest losreißen, mit einer Ausbeute von nur zwei Exemplaren: Introduction to Biology und Geology of North America. Zeit, um aufzubrechen, drängte Sam; besser, sie waren bis zum Abendbrot zurück und wurden erst gar nicht vermisst; schon bald würden die offiziellen Aufleser kommen und mitnehmen, was wir zurückgelassen hatten.
Habe ich nicht erwähnt, Julian hätte mich an jenem Tag in eine seiner Häresien eingeweiht? Das war so. Als wir nach Hause ritten, hielten wir auf einem Hügel, der die Stadt Williams Ford überblickte und den River Pine, wie er aus dem Gebirge im Westen kommend durch die Niederungen schnitt. Wir hatten eine herrliche Aussicht auf den Kirchturm der Dominion-Halle und die sich drehenden Wasserräder der Getreide- und Sägemühlen, alles war blau im späten Licht und diesig vom Rauch der Kohleöfen, und weit im Süden spannte sich fadendünn eine Eisenbahnbrücke über die Hohlkehle des Pine. Geht nach drinnen, schien das Wetter zu verkünden; es ist noch schön hier draußen, aber nicht mehr lange; verriegelt die Fenster, schürt das Feuer, kocht die Äpfel; der Winter steht vor der Tür. Auf diesem zugigen Hügel ließen wir die Pferde verschnaufen, während der Nachmittag dem Abend entgegenschmolz, und Julian fand einen Brombeerstrauch, dessen Beeren noch dick und dunkel waren, und wir pflückten und aßen davon.
Das also war die Welt, in die ich hineingeboren war. Der Herbst war wie jeder andere Herbst, an den ich mich erinnern konnte, einschläfernd in seiner Vertrautheit. Aber meine Gedanken kehrten immer wieder zur Halde und ihren Gespenstern zurück. Vielleicht hatten diese Menschen, die die Blütezeit des Öls und die Falsche Drangsal durchlebt hatten, für ihr Zuhause und ihre Gegend dasselbe empfunden wie ich für Williams Ford. Für mich waren sie Gespenster, sie selbst schienen sich für ziemlich real gehalten zu haben — konnten nur real gewesen sein; hatten sich nicht klargemacht, dass sie Gespenster waren; und hieß das, ich war auch ein Gespenst, ein Geist, der irgendeine künftige Generation heimsuchte?
Julian bemerkte meinen Gesichtsausdruck und wollte wissen, womit ich mich herumschlug. Ich erzählte es ihm.
»Jetzt denkst du wie ein Philosoph«, sagte er grinsend.
»Kein Wunder, dass Philosophen so ein trauriger Verein sind.«
»Unfair, Adam — du hast noch nie einen zu Gesicht bekommen.« Julian hielt viel von Philosophen und behauptete, ein oder zwei von diesen Typen getroffen zu haben.
»Wer herumläuft und sich für ein Gespenst hält oder so was, muss ein Trauerkloß sein.«
»Das ist die Voraussetzung für alles«, meinte Julian. »Diese Brombeere zum Beispiel.« Er pflückte eine und legte sie auf den blassen Handteller. »Hat sie schon immer so ausgesehen?«
»Natürlich nicht«, sagte ich ungeduldig.
»Sie war einmal eine winzig kleine grüne Knospe, und davor war sie Bestandteil eines Brombeerstrauchs, der davor ein Same in einer Brombeere war …«
»Ein ewiger Kreislauf.«
»Eben nicht, Adam. Das ist es ja. Der Strauch und der Baum da drüben und die Kürbisse auf dem Feld und die Krähe, die da oben ihre Kreise zieht — sie alle stammen von Vorfahren ab, die ihnen nicht aufs Haar gleichen. Eine Brombeere oder eine Krähe ist eine Form, und Formen ändern sich mit der Zeit, so wie Wolken ihre Gestalt ändern, während sie über den Himmel ziehen.«
»Formen wovon?«
»Formen der DNS«, sagte Julian ernst. (Das Biologiebuch von der Halde war nicht sein erstes.)
»Julian«, warf Sam ein, »ich habe den Eltern dieses Jungen versprochen, du würdest ihn nicht vom rechten Weg abbringen.«
»Hab ich von gehört«, sagte ich. »DNS ist die Lebenskraft der Säkularen Alten. Ein Mythos.«
»Wie die Menschen auf dem Mond?«
»Genau so.«
»Und wer sagt dir, dass es so ist? Ben Kreel? Die Dominion History of the Union?«
»Alles soll sich ändern, nur die DNS nicht? Das ist nicht dein Ernst, Julian.«
»Nein, wär es nicht, wenn ich es gesagt hätte. Aber die DNS ist nicht unveränderlich. Sie gibt sich redlich Mühe, sich richtig zu erinnern, aber ihr Gedächtnis ist nicht perfekt. Sie will sich an einen Fisch erinnern und stellt sich eine Eidechse vor. Sie denkt an ein Pferd und stellt sich ein Flusspferd vor; sie denkt an einen Affen und stellt sich einen Menschen vor.«
»Julian!«, ging Sam dazwischen. »Es reicht jetzt.«
»Du hörst dich an wie ein Darwinist«, sagte ich.
»Ja«, gab Julian zu. Er lächelte trotz seiner unorthodoxen Gedanken, die Herbstsonne verkupferte sein Gesicht. »Ich glaube, du hast Recht.«
In dieser Nacht lag ich im Bett, bis ich davon ausgehen konnte, dass meine Eltern schliefen. Dann stand ich auf, machte Licht, griff hinter die Kiefernholztruhe und holte das neue (oder eigentlich sehr alte) A History of Mankind in Space aus seinem Versteck.
Ich blätterte die spröden Seiten um. Ich las nicht. Ich würde es lesen, doch heute Nacht hätte ich nicht mehr die nötige Konzentration aufbringen können, dazu war ich viel zu müde. Auf alle Fälle wollte ich die Worte genießen (egal ob sie logen oder fantasierten) und sie nicht wie ein Vielfraß verschlingen. Jetzt wollte ich das Buch nur mal kosten — mit anderen Worten: Bilder gucken.
Es gab Dutzende Fotos, und jedes einzelne fesselte mit neuen Wundern und Ungereimtheiten. Eines zeigte Menschen, die auf der Mondoberfläche standen (oder stehen sollten), gerade so, wie Julian es geschildert hatte.
Die Männer auf dem Foto waren Amerikaner. Auf den Oberarmen der Mondanzüge war eine Flagge zu sehen, eine archaische Version unserer eigenen, mit etwas weniger als sechzig Sternen. Die Anzüge waren weiß und lächerlich plump, ähnlich wie die Winterkleidung der Inuit, und die Helme hatten goldene Visiere, die das Gesicht verbargen. Ich nahm an, es müsse wohl sehr kalt sein auf dem Mond, wenn diese Forschungsreisenden derart klobige Schutzanzüge brauchten. Vielleicht waren sie im Winter angekommen. Es war allerdings weit und breit weder Eis noch Schnee zu sehen. Der Mond schien wüst und leer — trocken wie ein Stecken und staubig wie die Garderobe des Kippers (wie gesagt: Den Namen habe ich vergessen).
Ich kann nicht sagen, wie lange ich auf dieses Foto gestiert und daran herumgerätselt habe. Es kann eine Stunde gewesen sein oder mehr. Ich kann auch nicht genau beschreiben, wie ich mir dabei vorgekommen bin — viel größer, aber auch einsam, als sei ich bis zu den Wolken gewachsen und hätte alles, was mir vertraut war, aus den Augen verloren. Als ich das Buch schloss, sah ich, dass hinter dem Fenster der Mond aufgegangen war — der wirkliche Mond, meine ich; ein herbstlicher Vollmond, dick und orangefarben, halb verborgen hinter zerzausten Wolken.
Ich ertappte mich bei der Frage, ob es denn wirklich möglich war, dass Menschen diesen Himmelskörper besucht hatten. Ob sie, wie die Bilder nahelegten, in Raketen dahin geflogen waren, in Raketen, die tausendmal größer waren als unsere Feuerwerksraketen am Unabhängigkeitstag. Aber wenn Menschen den Mond besucht hatten, warum waren sie dann nicht geblieben? War der Mond denn so unwirtlich, so abschreckend?
Vielleicht waren sie ja geblieben und lebten noch dort. Wenn es auf dem Mond derart kalt war, sagte ich mir, waren diese Menschen gezwungen, Feuer zu machen, an dem sie sich wärmen konnten. Und nach den Fotos zu urteilen, schien es auf dem Mond kein Holz zu geben, mithin mussten sie auf Kohle oder Torf zurückgegriffen haben. Ich ging ans Fenster und suchte den Mond minutiös nach irgendwelchen Hinweisen auf Lagerfeuer, Bergbau oder andere industrielle Tätigkeiten ab. Vergebens. Da war nichts als der Mond, gefleckt und regungslos. Ich schämte mich wegen meiner Leichtgläubigkeit, versteckte das Buch wieder hinter der Truhe, verjagte mit einem Stoßgebet all diese abtrünnigen Gedanken und fiel schließlich in Schlaf.
Bevor ich auf die Bedrohung eingehe, die Sam Godwin umtrieb und die sich kurz vor Weihnachten in Williams Ford abzuzeichnen begann, muss ich ein paar Dinge erläutern, die mit dieser Stadt und unseren Familien zu tun haben (meiner und Julians).[3]
Am oberen Ende des Tals lag die Quelle unseres Wohlstands, das Gut der Duncans und Crowleys. Es war ein Landgut, das zwei New Yorker Kaufmannsfamilien mit erblichen Sitzen im Senat gehörte, die ihre Villa nicht nur als Einkommensquelle benutzten, sondern auch als Refugium, das (mehrtägige Anreise mit dem Zug) weit genug von den Intrigen und Seuchen der Oststaaten entfernt war. Der Landsitz wurde bewohnt — regiert, besser gesagt —, nicht bloß von den Patriarchen der beiden Familien, sondern von einer ganzen Legion an Vettern, Kusinen und Neffen und Nichten und Angeheirateten sowie hochvornehmen Gästen auf der Suche nach sauberer Luft und ländlicher Idylle. Unsere Ecke von Athabaska war der Jahreszeit entsprechend mit einem milden Klima und einer das Gemüt erfrischenden Landschaft gesegnet — lauter Dinge, von denen aristokratische Müßiggänger angezogen wurden wie die Fliegen von ranziger Butter.
Es steht dahin, was zuerst war, die Stadt oder das Landgut; unbestritten ist, dass unser Lebensstandard vom Gut abhing. In Williams Ford gab es im Wesentlichen drei Klassen: die Eigentümer oder Aristokraten; dann die Pächterklasse, in der die Schmiede, Schreiner, Fassbinder, Aufseher, Gärtner, Imker etc. zu Hause waren und deren Pacht durch Arbeit abgegolten wurde; und schließlich die abhängigen Landarbeiter, die in primitiven Hütten östlich des River Pine hausten und als einzige Gegenleistung schlechte Nahrung und eine noch schlechtere Unterkunft bekamen.
Meine Familie nahm einen ambivalenten Platz in dieser Hierarchie ein. Meine Mutter war Näherin. Sie arbeitete, wie es schon ihre Mutter getan hatte, auf dem Landsitz. Doch mein Vater war als ungebundener Wanderarbeiter nach Williams Ford gekommen, und seine Ehe mit ihr war umstritten gewesen. Er hatte eine »Pächterin geheiratet«, so machte es die Runde, und er war anstelle einer Mitgift auf dem Gut als Stallarbeiter eingestellt worden. Das Gesetz in Athabaska erlaubte zwar eine derartige Verbindung, aber die öffentliche Meinung missbilligte sie. Nach der Hochzeit waren meiner Mutter nur noch ein paar Freunde ihresgleichen geblieben, ihre Blutsverwandten starben dahin (vielleicht aus lauter Verlegenheit), und als Kind wurde ich oft verhöhnt und verlacht wegen der niedrigen Herkunft meines Vaters.
Hinzu kam noch die heikle Sache mit unserer Religion. Wir gehörten — weil mein Vater es tat — zur Church of Signs, einer Randgemeinde. Jede christliche Kirche in Amerika musste eine formelle Genehmigung des Council of Registrars des Dominion of Jesus Christ on Earth einholen, wenn sie nicht mit horrenden Bundessteuern belegt werden wollte. (Das Dominion wird manchmal Church of the Dominion genannt, aber diese Bezeichnung ist falsch, da jede Kirche eine Dominion Church ist, sofern sie den Segen des Council of Registrars hat. Die Dominion Episcopal, Dominion Presbyterian , Dominion Baptist — sogar die Catholic Church of America, seit sie sich vom Papst losgesagt hat —, sie alle stehen unter dem Schutz des Dominions, denn das Dominion will keine Kirche sein, es will die Kirchen lediglich beglaubigen. In der amerikanischen Verfassung steht, dass wir in jeder Kirche beten dürfen, sofern sie eine wirklich christliche Gemeinde ist und keine betrügerische oder satanistische Sekte. Das zu beurteilen ist Aufgabe des Dominions. Und Gebühren und den Zehnten einzutreiben, um seine wichtige Arbeit zu unterstützen.)
Wir gehörten, wie gesagt, zur Church of Signs, einer Glaubensgemeinschaft, die von der Pächterklasse gemieden und vom Dominion widerwillig anerkannt (aber nie richtig gebilligt) wurde. Sie fand großen Zuspruch bei den ungebildeten Wanderarbeitern, unter denen mein Vater aufgewachsen war. Unser Glaube berief sich auf jene Passage des Markusevangeliums, die verkündete: »In meinem Namen werden sie böse Geister austreiben und in unbekannten Sprachen reden. Wenn sie Schlangen anfassen oder Gift trinken, wird ihnen das nicht schaden.« Mit anderen Worten, wir waren jenseits der bescheidenen Anzahl unserer Mitglieder vor allem als Schlangenbändiger bekannt. Unsere Gemeinde zählte ein Dutzend Farmarbeiter, die meisten waren in letzter Zeit zu uns gestoßen und kamen aus den Südstaaten. Mein Vater war ihr Diakon (obwohl wir diesen Titel nicht benutzten), und wir hielten für rituelle Zwecke Schlangen — in Käfigen in unserem Nutzgarten —, eine Praxis, die für unser Ansehen nicht gerade förderlich war.
So sah damals die Situation unserer Familie aus, als Julian Comstock nach Williams Ford kam, und zwar als Gast der Duncans und Crowleys, zusammen mit seinem Mentor Sam Godwin, und wir uns auf der Jagd begegnet sind.
Zu der Zeit war ich bereits bei meinem Vater in der Lehre, der es in den luxuriösen und ausgedehnten Stallungen des Landsitzes zum Aufseher gebracht hatte. Mein Vater liebte und verstand Tiere, vor allem Pferde. Leider waren wir nicht aus demselben Holz, und meine Beziehung zu Pferden war selten mehr als eine muntere gegenseitige Tolerierung. Ich mochte meinen Job nicht — der darin bestand, Ställe zu fegen, Ställe auszumisten und in der Regel die Arbeit zu machen, für die sich die älteren Stallarbeiter zu schade waren —, deshalb war ich froh, als sich die Freundschaft mit Julian festigte und es an der Tagesordnung war, dass unangemeldet ein Sekretär erschien und um meine Anwesenheit in einem Herrenhaus bat. Da es die Bitte eines Comstock war, musste ihr entsprochen werden, egal wie sehr die Stallburschen und Sattler mit den Zähnen knirschten, wenn ich ihrer Allmacht entkam.
Anfangs trafen wir uns, um zu lesen und über das Gelesene zu diskutieren oder um zusammen auf die Jagd zu gehen. Später lud mich Sam Godwin ein, Julians Unterricht beizuwohnen, denn er war nicht nur mit der Erziehung seines Schützlings betraut, sondern auch mit seiner Zufriedenheit. (Zum Glück hatte ich Lesen und Schreiben bereits auf der Dominion-Schule gelernt und diese Fertigkeiten noch unter Anleitung meiner Mutter weiterentwickelt, die im Umgang mit Sprache eine ungemein bereichernde Kraft sah. Mein Vater konnte weder lesen noch schreiben.) Und ein knappes Jahr nach unserer ersten Begegnung fand Sam sich eines Abends im Cottage meiner Eltern ein, um einen ungewöhnlichen Vorschlag zu unterbreiten.
»Mr. und Mrs. Hazzard«, hatte Sam gesagt und die Hand an seine Armeekappe gehoben (legen wollen, denn er hatte die Mütze vom Kopf genommen, als er das Cottage betrat, so dass die Geste seltsam misslungen wirkte), »bestimmt wissen Sie von der Freundschaft zwischen Ihrem Sohn und Julian Comstock.«
»Ja«, sagte meine Mutter. »Und mache mir oft genug Sorge deswegen — was immer sich auf dem Landsitz abspielt.«
Meine Mutter war eine kleine Frau, zierlich, aber energisch und mit eigenen Ansichten. Mein Vater, der selten redete und diesmal gar nicht, saß nur in seinem Stuhl und umklammerte eine gestopfte Lorbeerwurzelpfeife, ohne sie anzuzünden.
»Was sich bei uns abspielt, genau das ist der springende Punkt«, sagte Sam Godwin. »Ich weiß nicht, wie viel Ihnen Adam über unsere Situation erzählt hat. Julians Vater, General Bryce Comstock, der mein Freund und Vorgesetzter war, hat mich kurz vor seinem Tod gebeten, mich um das Wohlergehen seines Jungen zu kümmern …«
»Vor seinem Tod«, sagte meine Mutter eine Spur lauter, »am Galgen, wegen Hochverrats.«
Sam zuckte zusammen. »Das stimmt, Mrs. Hazzard — ich kann es nicht leugnen —, aber ich stehe für meine Überzeugung ein, dass der Prozess ungerecht und das Urteil falsch war. Falsch oder nicht, das ändert nichts an meiner Verantwortung für seinen Sohn. Ich habe versprochen, mich um ihn zu kümmern, und ich will mein Versprechen halten.«
»Eine christliche Gesinnung«, sagte meine Mutter, konnte aber ihre Skepsis nicht ganz verbergen.
»Was Ihre Vorbehalte gegenüber dem Landsitz angeht und die Praxis der jungen Eupatriden, gebe ich Ihnen vollkommen Recht. Weshalb ich Julians Freundschaft mit Ihrem Sohn gebilligt und gefördert habe. Abgesehen von Adam hat Julian keine verlässlichen Freunde. Der Landsitz ist die reinste Schlangengrube — nichts für ungut«, setzte er hinzu, weil ihm unsere religiöse Zugehörigkeit einfiel und er üblicher-, aber irrigerweise davon ausging, dass Mitglieder der Church of Signs unbedingt Schlangen mochten oder gar eine gewisse Verwandtschaft mit ihnen empfanden, »nichts für ungut, aber ich würde Julian eher erlauben, sich mit … äh …« — er kämpfte um einen besseren Vergleich — »… Skorpionen einzulassen, als ihn dem Hohn, den Ränken, den Winkelzügen und verderblichen Gewohnheiten seiner Altersgenossen zu überlassen. Das macht mich nicht nur zu seinem Lehrer, sondern auch zu seinem Dauergefährten. Aber ich bin mehr als doppelt so alt, Mrs. Hazzard, und er braucht einen gleichaltrigen Freund.«
»Was genau haben Sie im Sinn, Mr. Godwin?«
»Ich habe vor, Ihren Adam als zweiten Schüler aufzunehmen, das wäre für beide das Beste.«
Sam war gewöhnlich kein Freund von vielen Worten — nicht mal als Lehrer — und schien jetzt so erschöpft, als hätte er besonders schwer gehoben.
»Als Schüler, um was zu lernen, Mr. Godwin?«
»Mechanik. Geschichte. Grammatik und Aufsatz. Militärische Grundausbildung …«
»Adam weiß, wie man mit einem Gewehr umgeht.«
»Pistolenschießen, Säbelfechten, Faustkampf — aber das ist nur ein Bruchteil des Pensums«, beeilte Sam sich zu sagen. »Julians Vater bat mich, den Verstand des Jungen zu schärfen, aber auch seine Reflexe.«
Meine Mutter hatte noch mehr zu dem Thema zu sagen, vor allem wollte sie wissen, wie denn meine Arbeit in den Stallungen auf die Pacht der Familie angerechnet und wie man denn auskommen sollte ohne diesen Extrabonus im Hofladen. Doch damit hatte Sam gerechnet. Julians Mutter — also die Schwägerin des Präsidenten — hatte ihm die Gelder für Julians Erziehung anvertraut, so dass es für ihn ein Leichtes war, meine Abwesenheit von den Stallungen zu kompensieren. Und das zu einem erklecklichen Stundenlohn. Er nannte eine Summe, und der Widerstand meiner Eltern schmolz zusehends dahin. (Ich verfolgte das alles durch den Türspalt eines entfernten Zimmers.)
Nicht dass es keine Bedenken gegeben hätte. Bevor ich am nächsten Tag zum Landsitz aufbrach — diesmal um eines der Herrenhäuser zu besuchen und nicht, um Ställe auszumisten —, schärfte mir meine Mutter ein, mich aus den Angelegenheiten der Hochgeborenen herauszuhalten. Ich versprach ihr, mich an die christlichen Tugenden zu halten — was leichter gesagt als getan war.[4]
»Es ist nicht deine Moral, die auf dem Spiel steht«, sagte sie. »Die Hochgeborenen leben nach eigenen Regeln, und sie spielen mit hohem Einsatz. Du weißt doch, dass Julians Vater gehängt wurde?«
Julian hatte nie darüber gesprochen, und ich hatte ihn nie bedrängt, aber die Hinrichtung war amtlich. Ich wiederholte Sams Beteuerung, Bryce Comstock sei unschuldig gewesen.
»Kann gut sein. Genau darum geht es ja. Seit dreißig Jahren haben wir einen Comstock im Präsidentenamt, und vom Amtierenden heißt es, er sei eifersüchtig auf dessen Macht gewesen. Die einzige ernsthafte Gefahr für die Präsidentschaft von Julians Onkel war die bedrohliche Popularität seines Bruders, die er sich im Krieg mit den Brasilianern erworben hatte. Ich fürchte, Mr. Godwin hat Recht — Bryce Comstock wurde nicht hingerichtet, weil er ein schlechter, sondern weil er ein erfolgreicher General war.«
Unmöglich war das nicht. Ich hatte Geschichten aus New York City gehört, wo der Präsident residierte, dass einem Zyniker die Haare zu Berge gestanden hätten. Doch was hatte das alles mit mir zu tun? Oder mit Julian? Wir waren doch bloß zwei Jungen.
Tja, so naiv war ich.
Die Tage waren nur mehr kurz, das Erntedankfest war vorübergezogen und der November auch, und es lag Schnee in der Luft — zumindest sein Geschmack —, als fünfzig Kavalleristen der Athabaska-Reserve in Williams Ford einritten, die ein ebenso großes Aufgebot an Wahlhelfern und Wahlpersonal eskortierten.
Die meisten Menschen in Williams Ford verabscheuten den Winter von Athabaska. Ich nicht. Mir machten Kälte und Dunkelheit nichts aus, nicht solange es den Steinkohleofen in der Küche gab, die Spirituslampe zum Lesen in den langen Nächten und die Aussicht auf Pfannkuchen und Schweinskopfsülze zum Frühstück.
Und Weihnachten flog heran — eines der vier Universellen Christlichen Feste, die vom Dominion anerkannt wurden (die anderen waren Erntedankfest, Ostern und Unabhängigkeitstag). Mein Lieblingsfest war Weihnachten. Nicht so sehr wegen der Geschenke, die in aller Regel kärglich waren — obwohl ich letztes Jahr von meinen Eltern die Pacht für einen Vorderlader bekommen hatte, zum Führen eines Gewehrs, worauf ich ungemein stolz war —, wohl auch nicht wegen der eigentlichen Bedeutung des Festes, die mir, wie ich zugebe, nur dann bewusst wurde, wenn ich in Gottesdiensten (alle religiösen Veranstaltungen sind Gottesdienste) mit der Nase darauf gestoßen wurde. Was ich liebte, war diese Mischung aus frischer Luft, weiß überfrorenen Morgenstunden, Kränzen aus Tannengrün und Ilex an den Haustüren — die preiselbeerroten Banner über der Hauptstraße, die munter im kalten Wind flappten, die Weihnachtslieder und Choräle, die psalmodiert oder gesungen wurden. Ich mochte diese Regelmäßigkeit und Pünktlichkeit in alledem, als ob im Getriebe der Zeit irgendetwas mit absoluter Präzision eingerastet sei.
Doch diesmal standen die Zeichen auf Sturm.
Am fünfzehnten Dezember ritten die Reserve-Kavalleristen in die Stadt ein. Angeblich, um die Präsidentschaftswahl zu begleiten. In Williams Ford wie in den anderen weit von der Bundeshauptstadt entfernten Orten waren nationale Wahlen eine Formsache. Während die Bürger in die Wählerliste aufgenommen wurden, stand das Ergebnis schon fest, war längst entschieden worden in den dicht besiedelten Oststaaten — wenn es denn etwas zu entscheiden gab, was selten genug vorkam. Bei den letzten sechs Bundeswahlen hatte keine Person oder Partei kandidiert, und wir waren drei Jahrzehnte lang von dem einen oder anderen Comstock regiert worden. Wahlen waren praktisch nur noch Akklamationen.
Aber das war in Ordnung, denn eine Wahl war stets ein bedeutsames Ereignis, fast so wie ein richtiger Zirkus, eingeschlossen die Ankunft des Wahlpersonals und der Wahlhelfer, die immer etwas auf die Beine stellten.
Und dieses Jahr — das Gerücht kam aus den Gemächern des Landsitzes und war hinter vorgehaltener Hand weitergereicht worden — sollte in der Dominion-Halle ein Film gezeigt werden.
Ich hatte noch nie einen Film gesehen, obgleich ich von Julian wusste, was es damit auf sich hatte. Früher hatte er oft welche in New York City gesehen, und immer, wenn er nostalgische Anwandlungen hatte — denn für Julians Geschmack war das Leben hier in Williams Ford manchmal zu fade —, kam er auf die Filme zu sprechen. Als nun im Zuge des Wahlprozesses ein Film angekündigt wurde, waren wir beide ziemlich aufgeregt und verabredeten uns hinter der Dominion-Halle.
Keiner von uns hatte einen legitimen Grund, diese Vorstellung zu besuchen. Ich war zu jung, um zu wählen, und Julian wäre aufgefallen und hätte als einziger Aristokrat in einer Pächter-Versammlung womöglich gestört. (Die Hochgeborenen hatten ihre Stimme gesondert auf dem Landsitz abgegeben und hatten bereits Stellvertreter für die abhängige Arbeiterschaft gewählt.) Also ließ ich meine Eltern am frühen Abend zur Hall aufbrechen, sattelte ein Pferd meines Vaters und folgte ihnen heimlich. Knapp vor Beginn der Vorstellung kam ich an und wartete hinter dem Gemeindesaal, wo ein Dutzend Pächterpferde angebunden waren; Julian kam auf einem edlen Pferd und hatte sein Bestes getan, um sich als Pächter zu verkleiden: Hanfhemd, dunkle Hose und schwarzer Filzhut, tief ins Gesicht gezogen.
Er saß ab und sah bekümmert drein, daher fragte ich ihn, was los sei. Julian schüttelte den Kopf. »Nichts, Adam — oder noch nichts —, aber Sam meint, es braut sich was zusammen.« Und jetzt sah er mich mit einem Ausdruck an, der an Mitleid grenzte. »Krieg«, sagte er.
»Krieg! Es herrscht immer Krieg …«
»Eine neue Offensive.«
»Na, und wenn schon. Bis Labrador sind es eine Million Meilen.«
»Eine Million Meilen? Da muss Sam aber nachbessern. Nun ja, physisch mag die Front weit weg sein, aber sie hat einen langen Arm, verlass dich drauf.«
Ich wusste nicht, was er damit meinte, und beließ es dabei. »Sorgen können wir uns auch nach dem Film noch machen, Julian.«
Er zwang sich zu einem Lächeln. »Ja, wahrscheinlich. Ob nachher oder vorher.«
Als wir die Dominion-Halle betraten, wurden die Fackeln gerade gelöscht. Wir bückten uns in die letzte Bankreihe hinein, fanden eine Lücke, setzten uns und harrten der Dinge.
Im vorderen Teil des Saals gab es eine breite Holzbühne. Alle religiösen Requisiten waren fortgeräumt worden, und anstelle von Kanzel oder Podest hatte man jetzt eine rechteckige weiße Leinwand aufgestellt. Auf jeder Seite der Leinwand gab es eine Art Zelt, in dem die Spieler mit ihren Texten und ihrem dramaturgischen Zubehör saßen: sprechende Hörner, Gongs, Holzklötze, eine Trommel, eine Blechflöte und dergleichen mehr. Das hier, meinte Julian, sei nicht zu vergleichen mit einem modernen Lichtspieltheater in Manhattan. In der City sei die Leinwand (also auch die Bilder, die darauf projiziert wurden) größer; die Spieler seien professioneller, denn das Vertonen in Wort und Geräusch waren anerkannte moderne Fertigkeiten, die talentierte Künstler anzogen; und es konnte zusätzliche Spieler hinter der Leinwand geben, die als dramatische Erzähler fungierten oder mit akustischen Spezialeffekten zauberten. Es konnte sogar ein Orchester geben, das Musik spielte, die eigens für eine Produktion komponiert war.
Die Spieler liehen den abgelichteten, aber stummen Schauspielern ihre Stimme. Während der Vorführung konnten sie den Film über ein Spiegelsystem verfolgen und ihren Text dank einer sorgfältig kaschierten Lampe lesen; sie sprachen, während die abgelichteten Schauspieler den Mund bewegten, so dass die Stimmen von der Leinwand zu kommen schienen. Genauso entsprach ihr Trommeln, Läuten und dergleichen bestimmten Situationen im laufenden Film.[5]
»In der Säkularen Ära hat man das natürlich besser gemacht«, flüsterte Julian, und ich hoffte inständig, dass niemand diese anstößige Bemerkung gehört hatte. Allen Aufzeichnungen zufolge waren Filme während der Blütezeit des Öls sehr spektakulär gewesen — mit aufgenommenem Ton, natürlichen Farben (selten in Schwarz-Grau), nur um einiges zu nennen. Aber die gleichen Aufzeichnungen sagten, dass sie furchtbar respektlos und nicht selten pornografisch gewesen waren. Zum Glück (oder leider, wie Julian sagen würde) schien kein Einziger überdauert zu haben; das Archivmaterial war längst verrottet, und die »digitalen« Kopien waren einfach nicht zu entschlüsseln. Diese Filme stammten aus dem zwanzigsten und frühen 21. Jahrhundert — jener Periode großartiger, unhaltbarer, hedonistischer Prosperität, angetrieben durch Verbrennen der natürlichen Ressourcen an Erdöl, was in der sogenannten Falschen Drangsal und den Kriegen und den Seuchen gipfelte und im schmerzlichen Gesundschrumpfen der aufgeblähten Bevölkerungszahlen.
Unsere beste amerikanische Tradition, wie die Dominion History of the Union beteuerte, hat ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert, dessen Wirtschaftstugenden und bescheidene Industrie neu und unvollkommen zu etablieren wir durch die Umstände gezwungen wurden und dessen Fertigkeiten immer praktisch und dessen Publikationen nicht selten nützlich und lehrreich waren.
Doch ich muss zugeben, dass Julian mich mit seiner Abtrünnigkeit angesteckt hatte. Mir gingen unheilvolle Gedanken durch den Kopf, selbst noch als die Fackeln gelöscht waren und Ben Kreel (unser Dominion-Pfarrer, der vor der Leinwand auf und ab ging) eine Predigt über Nation, Pietät und Pflichterfüllung hielt. Krieg, hatte Julian gesagt und meinte nicht nur den endlosen Krieg in Labrador, sondern eine neue Phase dieses Kriegs, eine, die ihre Knochenhand nach Williams Ford ausstrecken konnte — auch nach mir? Und nach meiner Familie?
»Wir sind hier, um unsere Stimme abzugeben«, sagte Ben Kreel in seinem Resümee, »eine heilige Pflicht gegenüber unserem Glauben und unserem Land, einem Land, das so erfolgreich und gütig verwaltet wurde von seinem Führer, Präsident Deklan Comstock, dessen Wahlkämpfer, wie ich an ihren Handbewegungen erkenne, darauf fiebern, mit dem Programm des Abends fortzufahren; und so, ohne ein weiteres Adieu etc. wendet bitte eure Aufmerksamkeit auf die Vorführung ihres Films First Under Heaven, den sie zu eurem Vergnügen vorbereitet haben …«
Die erforderlichen Geräte waren in einem Planwagen nach Williams Ford gekommen: ein Projektionsapparat und ein tragbarer Schweizer Generator (wahrscheinlich von den Deutschen in Labrador erbeutet), betrieben mit destilliertem Alkohol. Der Generator war in einem eigens hinter der Kirche ausgehobenen Graben untergebracht — das Betriebsgeräusch, das man so hatte dämpfen wollen, drang jetzt allerdings aus den Dielen und hätte an das gereizte Knurren eines riesigen Hundes erinnern können, wenn es nicht zum integrativen Bestandteil des Augenblicks geworden wäre, als nämlich auch die letzte Flamme im Saal erlosch und die elektrische Lampe im mechanischen Projektor aufflammte.
Der Film begann. Da es mein erster war, war ich völlig verblüfft. Ich war so überwältigt von Fotografien, die »zum Leben erwachten«, dass ich mich kaum noch an den Inhalt erinnere … aber ich sehe ein weißes, reich verziertes Plakat mit dem Titel vor mir und erinnere mich an Szenen aus der Zweiten Schlacht von Quebec, nachgespielt von Schauspielern, völlig realistisch für mich, begleitet von Trommelschlägen und schrillen Blechflötenklängen, um Schüsse und Einschläge zu simulieren. Leute, die ganz vorne saßen, zuckten unwillkürlich zusammen, und etliche prominente Frauen der Stadt waren kurz davor, ohnmächtig zu werden, und packten Hände oder Arme ihrer Begleiter, die morgen früh womöglich so viele blaue Flecken hatten, als hätten sie selbst an der Schlacht teilgenommen.
Doch bald schon begannen sich die Deutschen unter der Kreuz-und-Lorbeer-Fahne vor den amerikanischen Streitkräften zurückzuziehen, und ein Schauspieler, der den jungen Deklan Comstock spielte, trat in den Vordergrund und rezitierte die Eidesformel zum Amtsantritt des Präsidenten (ein bisschen voreilig, doch die Geschichte wurde hier der Kunst zuliebe zurechtgestutzt) — und zwar jene Version, die beides erwähnt, den Kontinentalen Imperativ und die Schuld gegenüber der Vergangenheit. Gesprochen wurde er natürlich von einem der Spieler, einem tiefen Bass, der ernst und gewichtig aus dem Schallbecher drang. (Was ebenfalls eine Retusche war, denn der echte Deklan Comstock hatte eine ausgesprochen hohe Stimme und war leicht reizbar.)
Der Film ging über zu angenehmeren Episoden und malerischen Panoramen, in denen sich die Glanzpunkte der Amtszeit von Deklan dem Eroberer spiegelten — so nannte ihn die Laurentische Armee, die ihn in New York City an die Macht gespült hatte. Hier gab es die Rekonstruktion von Washington D.C. (ein nie vollendetes und nie aufgegebenes Projekt, behindert durch Sumpfklima und Insekten mit gefährlichen Erregern); dann die Illumination von Manhattan — Straßenlaternen, die ihren Strom aus einem Wasserkraftwerk bezogen, vier Stunden täglich, von 18.00 bis 22.00 Uhr; dann die Werft für Kriegsschiffe im Hafen von Boston, Kohlebergwerke, die wiederbelebten Walzwerke von Pennsylvania, die neuesten und glänzendsten Dampfloks, um die neuesten und glänzendsten Züge zu ziehen, und so weiter und so weiter.
Ich musste mich über Julians Reaktion wundern. Diese ganze Revue war doch nur zusammengebraut worden, um die Tugenden eines Mannes zu preisen, der Julians Vater auf dem Gewissen hatte. Ich für meinen Teil konnte jedenfalls nicht verdrängen, dass der hier so vergötterte Präsident in Wahrheit ein Brudermörder und Tyrann war. Aber Julians Augen hingen gebannt an den Bildern. Das hatte jedoch (wie ich später erfuhr) nichts mit den aktuellen Ereignissen zu tun, sondern mit seiner Faszination für »Cineastik«, wie er das Metier nannte. Dieses Herstellen von zweidimensionalen Illusionen spukte schon immer in seinem Kopf herum — es war vielleicht seine »wahre Berufung« und sollte schließlich in seinem cineastischen Meisterwerk The Life and Adventures of the Great Naturalist Charles Darwin gipfeln … aber ich greife schon wieder vor.
Der jetzige Film erwähnte die erfolgreichen Raubzüge gegen die Brasilianer in Panama, die man unter dem Präsidenten Deklan dem Eroberer angestrengt hatte — das allerdings schien Julian ins Herz zu treffen, denn ich sah ihn einoder zweimal zusammenfahren.
So aufregend der Film war, meine Aufmerksamkeit löste sich von der Leinwand und ging auf Wanderschaft. Vielleicht lag es daran, dass dieses Ereignis einfach nicht zu Weihnachten passte. Oder es war der Einfluss von A History of Mankind in Space — seit unserem Ausflug zur Halde hatte ich jede Nacht ein oder zwei Seiten darin gelesen. Was immer die Ursache war, mich befiel eine plötzliche Melancholie. Alles, was mir vertraut war und mich hätte trösten können, war in meiner Nähe — die Versammlung der Pächterklasse, die Geborgenheit der Dominion-Halle, die Kirchenfahnen und Symbole der Weihnachtszeit —, und das alles kam mir plötzlich fadenscheinig vor — die Welt war ein Kübel, aus dem der Boden herausgefallen war.
Julian würde das vermutlich »die Perspektive des Philosophen« nennen. Ich fragte mich, wie die Philosophen das durchhielten. Über die verrufenen Ideen der Säkularen Ära hatte ich ein bisschen von Sam Godwin gelernt — und mehr von Julian, der Bücher las, die sogar Sam ablehnte. Mir kam Einstein in den Sinn und seine feste Überzeugung, dass kein Standpunkt privilegierter sei als ein anderer: mit anderen Worten seine »Allgemeine Relativitätstheorie« und ihre Behauptung, dass die Antwort auf die Frage »Was ist real?« mit der Frage beginnt: »Wo stehst du?« War ich, hier in dem Kokon von Williams Ford, nichts weiter als ein Standpunkt? Oder war ich die Inkarnation eines DNS-Moleküls, das, wie Julian gesagt hatte, nicht mehr genau wusste, ob es um einen Affen, einen Fisch oder eine Amöbe ging?
Vielleicht war ja die »Nation«, die von Ben Kreel so in den Himmel gepriesen wurde, auch nur die Ausprägung dieses offenbar natürlichen Trends — eine unvollkommene Erinnerung an eine anderen Nation, die selbst wieder eine unvollkommene Erinnerung an alle vorhergehenden Nationen war, den ganzen weiten Weg zurück bis zur Morgendämmerung des Menschen (im Garten Eden — oder in Afrika, wie Julian glaubte).
Der Film endete mit einem bewegenden Blick auf die amerikanische Fahne: Die Dreizehn Streifen und Sechzig Sterne schlugen sanfte Wellen in der Sonne und kündeten, so der Sprecher im Brustton der Überzeugung, von weiteren vier Jahren Wohlstand und Wohltaten unter der Führung von Deklan dem Eroberer, für den zu stimmen die Anwesenden dringend gebeten wurden, nicht dass man von irgendeinem Mitbewerber gewusst oder gehört hätte. Die Auffangspule schlug mit dem Filmende um sich; die elektrische Lampe wurde rasch gelöscht; das Wahlpersonal begann die Wandfackeln wieder zu entzünden. Etliche Männer aus dem Publikum hatten sich während der Vorführung eine Pfeife angesteckt, und der Tabakdunst vermengte sich mit dem Qualm der Fackeln zu einer blaugrauen Gewitterwolke, die unter den hohen Deckenbögen hing.
Julian schien beunruhigt und ließ sich, die Hutkrempe ins Gesicht gezogen, zusammensacken. »Adam«, flüsterte er, »wie sollen wir hier wieder rauskommen?«
»Durch die Tür«, sagte ich. »Warum so eilig?«
»Mach die Augen auf. Da sind zwei Reservisten postiert.«
Ich sah noch einmal hin. Er hatte Recht. »Überwachen die nicht nur die Abstimmung?« Denn Ben Kreel hatte sich wieder der Bühne bemächtigt und machte sich bereit, die Versammelten um ein formelles Handzeichen zu bitten.
»Tom Shearny, der Friseur mit dem Blasenleiden, wollte eben raus aufs Klo. Die haben ihn zurückgeschickt.«
Tom Shearny saß kaum einen Meter entfernt von uns, er krümmte sich und warf den Reservisten böse Blicke zu.
»Aber nach der Abstimmung …«
»Hier geht es nicht um Abstimmung. Hier geht es um Einberufung.«
»Einberufung!«
»Still! Willst du eine Panik? Ich hätte nicht gedacht, dass es so früh anfängt. Aber wir haben Telegramme von New York bekommen über eine Niederlage in Labrador und die Anforderung von neuen Divisionen. Wenn die Abstimmung vorbei ist, werden die Wahlhelfer wahrscheinlich eine Rekrutierungsaktion verkünden und alle Anwesenden namentlich erfassen und nach Namen und Alter ihrer Kinder befragen.«
»Wir sind zu jung, um eingezogen zu werden«, sagte ich, denn wir waren gerade mal siebzehn.
»Nicht nach dem, was ich gehört habe. Damit sie mehr Männer einziehen können, wurden die Bestimmungen gelockert. Oh, du kannst dich wahrscheinlich irgendwo verkrümeln, wenn die Auslese beginnt. Aber meine Anwesenheit hier ist wohlbekannt. Ich kann nicht einfach untertauchen. Es ist bestimmt kein Zufall, dass man so viele Reservisten in ein Städtchen wie Williams Ford geschickt hat.«
»Was meinst du mit ›kein Zufall‹?«
»Mein Onkel war nie glücklich über meine Existenz. Er selbst hat keine Kinder. Also keine Erben, und er sieht in mir einen möglichen Rivalen für die Exekutive.«
»Aber das ist absurd. Du willst doch gar nicht Präsident werden, oder?«
»Eher würde ich mich erschießen. Aber Onkel Deklan hat einen Hang zum Argwohn, und er misstraut den Anstrengungen meiner Mutter, mich zu schützen.«
»Wie kann ihm deine Einberufung helfen?«
»Die ganze Aktion findet nicht wegen mir statt, aber ich bin überzeugt, er sieht darin ein nützliches Werkzeug. Wenn ich einberufen werde, kann ihm niemand nachsagen, dass er seine Familie aus der Schusslinie nimmt. Und wenn er mich in der Infanterie hat, werde ich mich ganz schnell an vorderster Front in Labrador wiederfinden — wo wir aus dem Schützengraben heraus einen noblen, aber selbstmörderischen Angriff vortragen.«
»Aber … Julian! Kann Sam dich denn nicht beschützen?«
»Sam ist ein Soldat im Ruhestand, er hat nur die Macht, die sich aus dem Patronat meiner Mutter ergibt. Was nicht eben viel ist in der momentanen Reichswährung. Adam, gibt es noch einen anderen Weg aus dem Gebäude?«
»Nur die Tür, wenn du keine von den bunten Fensterscheiben einschlagen willst.«
»Kann man sich hier verstecken?«
Ich überlegte. »Vielleicht«, sagte ich. »Da ist ein Raum hinter der Bühne, wo die religiösen Requisiten lagern. Rein kommt man von beiden Seiten, aber er hat keinen Hinterausgang.«
»Wird schon werden. Solange wir unbemerkt hinkommen.«
Das war nicht besonders schwer, denn nicht alle Fackeln brannten wieder, ein großer Teil des Saals lag noch im Halbdunkel, und das Publikum vertrat sich die Füße und reckte und streckte sich, während sich die Wahlhelfer bereitmachten, den Ausgang der Abstimmung festzuhalten, die gleich stattfinden würde — Wahlhelfer waren pedantische Buchhalter, ungeachtet der Tatsache, dass alles ein abgekartetes Spiel war und die Ballsäle für den jüngsten Amtsantritt von Deklan dem Eroberer längst gebucht waren. Julian und ich schlenderten von einem Schatten zum nächsten, vermieden tunlichst den Anschein von Eile, bis wir seitlich der Bühne waren. Wir bummelten in der Nähe des besagten Eingangs herum, bis ein einfältiger Reservist, der uns die ganze Zeit beobachtet hatte, zum Abbau von Projektor und Leinwand gerufen wurde — das war unsere Chance. Wir duckten uns durch den Vorhang in eine fast totale Finsternis. Julian stolperte über ein Hindernis (ein Teil des kircheneigenen Tackpianos, das ein reisender Piano-Mechaniker zwecks Reinigung zerlegt hatte — den Mann hatte aber, bevor er seine Arbeit beenden konnte, ein tödlicher Anfall ereilt), und das Resultat war ein hölzernes »Bong«, das laut genug schien, um die ganze Kirche zu alarmieren — es aber dann doch nicht war.
Das bisschen Licht, das es hier gab, sickerte aus einem verglasten Oberlicht, das sommers zum Lüften aufgeklappt wurde. Die Nacht war bewölkt und wurde nur durch die Fackeln an der Hauptstraße erhellt. Aber in dem Maße, wie sich unsere Augen an das Duster gewöhnten, wurde das Fenster immer heller. »Vielleicht kommen wir da raus«, meinte Julian.
»Nicht ohne Leiter. Obwohl …«
»Was denn, Adam? Raus mit der Sprache.«
»Hier lagern sie die langen Holzstufen für die Chortreppe. Vielleicht geht es damit.«
Julian verstand sofort, was ich meinte, und fing an, den schemenhaften Inhalt des Lagerraums so eingehend zu inspizieren, wie er die Halde inspiziert hatte. Wir fanden die rohen Kiefernholzpodeste und schafften es, sie hoch genug zu stapeln und dabei nicht allzu viel Lärm zu machen. (Im Gemeindesaal registrierten die Wahlhelfer ein einstimmiges Votum für Deklan Comstock, und dann sprach sich allmählich die Rekrutierungsaktion herum, gerade so, wie Julian vermutet hatte. Einige wenige erhoben lauthals Einwände; Ben Kreel bat lautstark um Ruhe — niemand hörte, wie wir mit den Podesten herumrückten.)
Das Fenster lag mindestens zehn Fuß über dem Boden und war schmerzhaft eng; draußen mussten wir uns an die Fingerspitzen hängen, bevor wir uns fallen ließen. Fast hätte ich mir den rechten Fuß verstaucht.
Die vorhin schon kalte Nacht war noch kälter geworden. Wir waren ziemlich nahe bei den Pfosten gelandet, an denen die Pferde festgemacht waren; die Tiere wieherten bei unserem Erscheinen und bliesen Dampf aus ihren Nüstern. Eben begann ein feiner, sandiger Schnee zu fallen. Aber es war fast windstill, und die Weihnachtsbanner baumelten schlaff in der spröden Luft.
Julian ging schnurstracks zu seinem Pferd und band es los. »Was machen wir jetzt?«, fragte ich.
»Du, Adam, wirst weiter nichts machen, als dein Leben zu schützen, während ich …«
Doch er schreckte davor zurück, seine Pläne auszusprechen, und Angst huschte über sein Gesicht.
»Wir können abwarten«, beharrte ich ein bisschen verzweifelt. »Die Reservisten können nicht ewig in Williams Ford bleiben.«
»Nein. Und ich leider auch nicht, denn Deklan der Eroberer weiß, wo ich zu finden bin.«
»Wo willst du denn hin?«
Er legte einen Finger an die Lippen. Von der Kirche drangen Geräusche herüber. Die Türen waren aufgestoßen worden, und die Menschen strebten ins Freie.
»Reite hinter mir her«, sagte Julian. »Rasch jetzt!«
Ich tat, was er sagte. Wir folgten nicht der Hauptstraße, sondern einem Weg, der hinter der Schmiede und durch den bewaldeten Uferstreifen des River Pine nach Norden in Richtung Landsitz abbog. Die Nacht war finster, und die Pferde schritten langsam aus. Doch sie fanden fast instinktiv den Weg, und etwas Licht drang immer noch aus der Stadt, gestreut vom rieselnden Schnee, der mein Gesicht mit hundert kleinen kalten Fingern berührte.
»Ich hatte nie vor, in Williams Ford zu bleiben«, sagte Julian. »Das hättest du wissen müssen, Adam.«
Sicher, hätte ich. Es war ja Julians Dauerthema: dass nichts von Dauer war. Er predigte das regelrecht. Ich hatte das immer auf seine Kindheit zurückgeführt — den Tod seines Vaters, die Trennung von seiner Mutter, die wohlmeinende, aber unpersönliche Anleitung durch Sam Godwin.
Ich musste einmal mehr an A History of Mankind in Space denken und an die Fotos darin — nicht von den ersten Menschen auf dem Mond, die Amerikaner waren, sondern von den letzten Besuchern dieser himmlischen Sphäre, den Chinesen in ihren korallenroten »Raumanzügen«. Wie vor ihnen die Amerikaner hatten sie in Erwartung weiterer Besuche ihre Flagge aufgepflanzt; doch das Ende des Öls und die Falsche Drangsal hatten ihre Hoffnungen wie Seifenblasen zerplatzen lassen.
Dann sah ich die noch einsameren Marsebenen vor mir, die noch keines Menschen Fuß betreten hatte, fotografiert von Maschinen, wie das Buch behauptete. Das Universum schien randvoll mit einsamen Gegenden. Irgendwie war ich in eine hineingestolpert. Die Schneeböe erstarb. Der unbewohnte Mond spähte durch die Wolken, und auf den Winterfeldern von Williams Ford lag ein unirdischer Schimmer.
»Wenn du fortmusst«, sagte ich, »dann lass mich mitkommen.«
»Nein«, sagte Julian. Er hatte den Hut über die Ohren gezogen, um sich gegen die Kälte zu wappnen, und ich sah nicht viel von seinem Gesicht, aber seine Augen glänzten, wenn er hersah. »Danke, Adam. Ich wünschte, es wäre möglich. Aber es geht nicht. Du musst hierbleiben und deine Einberufung nach Möglichkeit vereiteln und deine literarischen Kenntnisse und Fertigkeiten ausbauen und eines Tages Bücher schreiben, wie Mr. Charles Curtis Easton.«
Das war ein Wunschtraum, der im Laufe des letzten Jahres in mir erwacht war, genährt durch unsere gemeinsame Liebe zu Büchern und Sam Godwins Übungen im Aufsatzschreiben, etwas, worin ich ein unverhofftes Talent[6] zu haben schien. Im Augenblick war mir mein Traum ziemlich egal. »Das spielt doch jetzt keine Rolle«, sagte ich.
»Da irrst du dich«, entgegnete Julian. »Du darfst nicht den Fehler machen und denken, weil nichts von Dauer ist, ist alles egal.«
»Ist das nicht der Standpunkt des Philosophen?«
»Nicht, wenn der Philosoph weiß, wovon er redet.« Julian zügelte sein Pferd und sah mir offen ins Gesicht, seine Miene bekam etwas Gebieterisches, verriet mit einem Mal den Comstock. »Hör zu, Adam, du kannst etwas Wichtiges für mich erledigen — es ist nicht ganz ungefährlich. Willst du?«
»Ja«, sagte ich sofort.
»Dann pass jetzt gut auf. Nicht lange, und die Reservisten werden die Ausfallstraßen überwachen — wenn sie es nicht schon tun. Ich muss fort von hier, und zwar heute Nacht noch. Vermisst werde ich frühestens morgen früh und dann auch nur von Sam — erst mal wenigstens. Ich möchte, dass du Folgendes tust: Reite nach Hause — deine Eltern werden sich Sorgen machen wegen der Einberufung, und du kannst versuchen, sie zu beruhigen. Aber kein falsches Wort — du weißt von nichts, hast du verstanden? Und als Allererstes morgen früh reitest du zum Landsitz und suchst Sam auf. Erzähle ihm, was sich in der Dominion-Halle zugetragen hat, und sag ihm, er soll sich so schnell wie möglich in den Sattel schwingen und die Stadt verlassen, aber erst, wenn er sicher sein kann, dass man ihm nicht auflauert. Sag ihm, er findet mich in Lundsford.«
»Lundsford! Es gibt gar nichts in Lundsford.«
»Exakt — nichts, was die Reservisten auf die Idee bringen könnte, dort nach uns zu suchen. Du erinnerst dich, was der Dicke letzten Herbst gesagt hat? Über das Depot, wo sie diese Bücher gefunden haben? ›Eine Senke in der Nähe der Hauptgrabung.‹ Da soll Sam mich suchen.«
»Wird gemacht«, versprach ich und blinzelte gegen den kalten Wind, der meine Augen irritierte.
»Danke«, sagte er ernst. »Für alles.« Dann zwang er sich zu lächeln, und einen Moment lang war er nicht mehr der Neffe des Präsidenten, sondern einfach Julian, der Freund, mit dem ich Eichhörnchen gejagt und in den Mond gestarrt hatte. »Frohe Weihnacht, Adam«, sagte er. »Für diesmal und alle künftigen Weihnachten.«
Dann wendete er sein Pferd und ritt davon.
In Williams Ford gibt es einen Friedhof, und auf dem Heimweg ritt ich daran vorbei, doch Flaxie, meine Schwester, lag hier nicht begraben.
Als Mitglieder der Church of Signs hatten wir keinen Anspruch auf eine Grabstätte im Garten des Dominion. Flaxie lag hinter unserem Cottage, kenntlich gemacht durch ein bescheidenes Holzkreuz; aber der Friedhof ließ mich an sie denken, und nachdem ich das Pferd in den Stall gebracht hatte, blieb ich frierend an ihrem Grab stehen und tippte grüßend an meinen Hut, so wie ich sie zeit ihres Lebens gegrüßt hatte.
Flaxie war ein gescheites, unverschämtes und schadenfrohes kleines Ding gewesen, so flachsblond, wie ihr Spitzname sagte. Mit Vornamen hieß sie Dolores, aber für mich hatte sie immer nur Flaxie geheißen. Die Pocken hatten sie ganz plötzlich dahingerafft, und das war vielleicht besser so. Ich konnte mich nicht an ihren Tod erinnern — ich hatte mit den gleichen Pocken gerungen, obwohl ich sie überlebt habe. Eines weiß ich noch ganz genau — ich bin aus dem Fieber aufgewacht, und das Haus war merkwürdig still. Keiner wollte es mir sagen, aber Mutters zerweinte Augen sagten genug. Der Tod hatte Lotterie gespielt, und Flaxie hatte den Kürzeren gezogen.
(Es ist, glaube ich, wegen der Flaxies, dass wir weiter an das Himmelreich glauben. Ich habe nur wenige Erwachsene getroffen, abgesehen von den Enthusiasten der etablierten Kirchen, die mit Inbrunst an diesen Himmel glauben; und dieser Himmel war nur ein schwacher Trost für meine trauernde Mutter. Aber Flaxie, die fünf Jahre alt war, hatte aus ganzem Herzen an diesen Himmel geglaubt — sich vorgestellt, er sei so etwas wie eine Sommerwiese mit blühenden Wildblumen und einem nie enden wollenden Picknick —, und wenn dieser kindliche Glaube sie über ihre größte Not hinweggetragen hat, dann hat er einem edleren Zweck als der Wahrheit gedient.)
Heute Nacht war das Cottage fast so still wie an dem Morgen nach Flaxies Tod. Ich kam durch die Tür und sah, wie meine Mutter sich mit dem Taschentuch die Augen tupfte und mein Vater stirnrunzelnd in die Pfeife stierte, als habe sie eine Frage aufgeworfen, auf die er keine Antwort wusste. »Die Einberufung«, sagte er, als erklärte das alles. Und tat es das nicht?
»Ich weiß«, sagte ich. »Die Spatzen pfeifen es von den Dächern.«
Meine Mutter war zu verwirrt, um etwas zu sagen. Mein Vater fuhr fort: »Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, Adam, aber …«
»Ich habe keine Angst, meinem Land zu dienen.«
»Tja, das ist eine lobenswerte Einstellung«, sagte er, und meine Mutter weinte wieder mehr. »Aber wissen wir denn, was das Land braucht? Vielleicht ist die Lage in Labrador gar nicht so schlimm, wie es aussieht.«
So wortkarg Vater war, ich hatte oft genug seinen Rat gesucht und wie selbstverständlich bekommen. Er wusste zum Beispiel, dass ich mich vor Schlangen ekelte; weshalb ich, mit Mutters Segen, den Sakramenten unseres Glaubens fernbleiben durfte, und auch den giftigen Schwellungen und Amputationen, die manchmal nötig wurden. Obwohl ihn mein Widerwille enttäuschte, hatte er mich trotzdem im Umgang mit Schlangen unterwiesen — etwa wie man eine Schlange packen musste, um nicht gebissen zu werden, oder wie man sie tötete, wenn es einmal nötig sein sollte.[7] Vater dachte praktisch, wie ungewöhnlich seine Überzeugungen auch waren.
Doch diesmal wusste er keinen Rat. Er sah aus wie ein Gejagter am Ende einer Sackgasse — vorne ging es nicht weiter, und zurück war zu gefährlich.
Ich ging auf mein Zimmer, aber nicht, um zu schlafen. Stattdessen schnürte ich ein paar leichte Sachen zusammen — meine Eichhörnchenbüchse, die vor allem, und ein paar Notizen und Aufsätze und A History of Mankind in Space. Vielleicht sollte ich noch etwas gepökeltes Schweinefleisch mitnehmen oder etwas in der Art, aber ich entschied mich, noch zu warten, Mutter sollte nicht merken, dass ich packte.
Kurz vor Morgengrauen zog ich mehrere Sachen übereinander an, rollte mir die Krempe des Päckels[8] über die Ohren und kletterte übers Fensterbrett nach draußen; nachdem ich Gewehr und Bündel nachgeholt hatte, zog ich das Fenster wieder zu. Dann schlich ich über den offenen Hof bis zum Stall, sattelte Rapture, einen schnellen und kräftigen Wallach, und ritt los — unter einem Himmel, der eben seinen ersten Grauschleier bekam.
Der Schnee war liegen geblieben. Ich war nicht der Erste, der an diesem Wintermorgen auf den Beinen war, und die kalte Luft roch bereits nach Weihnachten. Die Bäckerei von Williams Ford war hell erleuchtet, und der hefige Duft nach Weihnachtskuchen und Zimtbrötchen hing wie ein berauschender Nebel im Nordwestende der Stadt. Es regte sich kein Lüftchen. Blau und still stahl sich der Tag heran.
Es weihnachtete überall — denn heute war schließlich Heiligabend —, aber auch die Rekrutierung war nicht zu übersehen. Die Reservisten waren schon aus den Betten, wie Schatten kamen die schmuddelig Uniformierten vorbei, und ein ganzer Trupp hatte sich am Haushaltswarenladen versammelt. Sie hatten eine verblichene Fahne ausgehängt und ein Schild aufgestellt, das ich nicht lesen konnte, denn ich hatte mir vorgenommen, den Soldaten auf keinen Fall zu nahe zu kommen; aber ich wusste, wie ein Rekrutierungsposten aussah. Ich war überzeugt, dass die Hauptausfallwege bereits scharf bewacht wurden.
Ich nahm einen Nebenweg zum Landsitz, am Fluss entlang, denselben, den Julian und ich letzte Nacht geritten waren. Unsere Fußspuren waren noch deutlich zu sehen, andere Spuren gab es nicht. In der Nähe des Landsitzes saß ich in einem Kieferngehölz ab, band Rapture an einen Baum und ging zu Fuß weiter.
Das Duncan-und-Crowley-Gut war weder eingefriedet, noch waren seine Grenzen wirklich festgelegt, denn unter dem Pachtsystem gehörte alles in Williams Ford (und zwar legal) den beiden großen Familien. Ich näherte mich dem Landsitz von der bewaldeten Westseite, die von den Aristokraten gelegentlich zum Reiten und Jagen benutzt wurde. Das Wäldchen lag heute Morgen wie ausgestorben, und ich sah niemanden, bis ich die schneeverwehten Hecken passiert hatte, hinter denen der Park lag. Hier blühten im Frühling die Apfel- und Kirschbäume, hier trugen sie Früchte, blühten Blumen, gaben Bienen in träger Ekstase ihr Bestes. Aber jetzt war der Park kahl, seine Pfade mit Schnee gepolstert, und zu sehen war niemand bis auf den dienstältesten Gärtner, der den Portico des nächstgelegenen Herrenhauses fegte.
Die Häuser waren weihnachtlich geschmückt. Weihnachten war, wie man sich denken kann, auf dem Landsitz ein noch größeres Ereignis als in der Stadt selbst. Im Winter lebten weniger Menschen auf dem Landsitz als im Sommer, aber eine Reihe von Mitgliedern beider Familien residierte hier ganzjährig, zusammen mit ihrem Gefolge und einigen Kusinen und Vettern samt Anhang, die Lust hatten, hier zu überwintern. Sam Godwin war es als Julians Mentor nicht gestattet, in einem der beiden luxuriösesten Häuser zu übernachten, er schlief beim Personal in einem kleineren Haus mit weißen Säulen, das aber in den Augen von Pächtern gut und gerne als Herrenhaus durchging. Hier hatte Sams Unterricht für Julian und mich stattgefunden, und ich kannte das Gebäude wie meine Hosentasche. Es war ebenfalls geschmückt: Über Tür und Fenstern hingen Kiefernzweige, und von der Traufe schlackerte ein rot-weißes Kreuzbanner. Die Tür war nicht abgeschlossen — ich ging hinein.
Für Aristokraten war es noch früher Morgen. Die geflieste Eingangshalle war leer und still. Ich steuerte ohne Umschweife auf das Gemach zu, in dem Sam Godwin schlief und seinen Unterricht abhielt — es ging einen eichenvertäfelten Korridor hinunter, erhellt lediglich von der Morgensonne, die durch ein einzelnes Fenster schien. Der Boden war mit einem dicken Läufer ausgelegt, der jeden Laut verschluckte. Meine Schuhe hinterließen feuchte Abdrücke.
Vor Sams Tür wusste ich nicht, was ich tun sollte. Wenn ich anklopfte, konnte ich andere aufwecken. Ich sollte doch Julians Botschaft so diskret wie möglich überbringen. Konnte ich einfach so hineingehen — zu einem Schlafenden?
Ich drückte die Klinke hinunter. Es war nicht abgeschlossen. Ich öffnete die Tür millimeterweit und wollte »Sam« flüstern, um ihn vorzuwarnen.
Doch ich vernahm Sams Stimme, leise und murmelnd, als rede er vor sich hin, und ich hielt inne und lauschte angestrengt. Es klang fremd für meine Ohren. Eine gutturale Sprache, kein Englisch. Vielleicht war er nicht allein. Es war zu spät für einen Rückzug, also musste ich da durch. Ich machte die Tür auf, trat ein und sagte: »Sam! Ich bin es, Adam. Ich bringe eine Botschaft von Julian …«
Ich hielt jäh inne — was ich sah, war schrecklich. Sam Godwin — derselbe schroffe, aber vertraute Sam, der mich die Grundzüge der Geschichte und Geografie gelehrt hatte — praktizierte schwarze Magie oder sonst eine Hexerei — und das Heiligabend! Er trug ein gestreiftes Schultertuch und Lederschnüre am Arm und ein dosenähnliches Ding auf die Stirn geschnallt und hatte die Hände über eine Reihe von Kerzen in einem Kerzenleuchter aus Messing erhoben, der aussah, als stamme er von irgendeiner uralten Halde. Die Anrufung, die Sam murmelte, hing wie ein verblassendes Echo im Zimmer: Bah-rook a-tah atten-eye hello hey-noo …
Mein Mund stand offen.
»Adam!« Sam war fast so erschrocken wie ich und zerrte hastig das Schultertuch herunter und begann sich von den verschiedenen unheiligen Verschnürungen zu befreien.
Das war so gegen alle Vernunft, dass mein Verstand auszusetzen drohte.
Dann bekam ich es mit der Angst. Oft genug hatte ich in der Schule Ben Kreel über die Laster und Gottlosigkeiten der Säkularen Ära reden hören, von denen manche noch fortleben sollten in den Städten des Ostens — Religionsfeindlichkeit, Skeptizismus, Okkultismus und Verderbtheit. Und ich dachte an die Ideen, die ich so ganz nebenbei von Julian in mich aufgenommen hatte, und indirekt auch von Sam — von denen ich einige schon zu glauben begann: Einsteinismus, Darwinismus, Raumfahrt … War ich auf die Erreger eines modernen Heidentums hereingefallen, eingeschleppt nach Williams Ford aus der Gosse von Manhattan? Hatte ich mich übertölpeln lassen von — Philosophie?
»Eine Botschaft«, sagte Sam, der dabei war, seine heidnischen Requisiten vor mir zu verbergen. »Was für eine Botschaft? Wo ist Julian?«
Doch ich konnte hier nicht bleiben. Ich ergriff die Flucht.
Sam stürzte aus dem Haus und hinter mir her. Ich war schnell, aber er hatte die längeren Beine und war ziemlich stark für einen Mann Mitte vierzig, kurz: Er holte mich im Wintergarten ein, packte mich von hinten und warf mich zu Boden. Ich trat aus und versuchte mich loszureißen, aber er presste meine Schultern in den Schnee.
»Adam, um Gottes willen, beruhige dich!«, schrie er. Das war der Gipfel, auch noch Gott anzurufen — aber dann sagte er: »Begreifst du nicht, was du gesehen hast? Ich bin ein Jude!«
Ein Jude!
Na klar, ich hatte von Juden gehört. Es gab sie in der Bibel und in New York City. Ihr fragwürdiges Verhältnis zu unserem Erlöser hatte ihnen seit Anbeginn nichts als Schmähungen eingebracht, und sie besaßen nicht das Plazet des Dominions. Doch ich hatte noch nie einen leibhaftigen Juden gesehen und war verblüfft, dass Sam schon immer einer gewesen sein sollte: unsichtbar sozusagen.
»Dann hast du alle Welt getäuscht!«, sagte ich.
»Ich habe nie behauptet, ein Christ zu sein! Ich habe kein Wort darüber verloren. Aber was macht das schon? Du sagst, du hättest eine Botschaft von Julian — her damit, zum Kuckuck! Wo ist sie?«
Was sollte ich jetzt tun? Wen würde ich verraten, wenn ich Sam ausrichtete, was Julian mir anvertraut hatte? Die Welt stand auf dem Kopf. Der ganze Unterricht Ben Kreels über Patriotismus und Treue holte mich in einer Woge aus Scham wieder ein. Hatte ich gemeinsame Sache mit Hochverrätern und Atheisten gemacht?
Doch ich fand, dass ich Julian diesen letzten Gefallen schuldete. Er hätte gewollt, dass ich die Nachricht überbringe, ob Sam nun Jude war oder Mohammedaner: »Auf allen Ausfallstraßen sind Soldaten«, sagte ich verdrossen. »Julian ist diese Nacht nach Lundsford aufgebrochen. Da will er dich treffen. Jetzt lass endlich los!«
Sam ließ los, hockte sich zurück, Angst verdüsterte sein Gesicht. »Hat es schon angefangen? Ich dachte, sie würden wenigstens bis Neujahr warten …«
»Ich weiß nicht, was angefangen hat. Ich glaube, ich weiß überhaupt nichts!« Mit diesen Worten sprang ich auf und rannte aus dem trostlosen Garten. Ich lief zu Rapture zurück, der noch so dastand, wie ich ihn verlassen hatte, und vergebens im Schnee herumschnüffelte.
Ich war vielleicht eine Achtelmeile in Richtung Williams Ford geritten, als von hinten ein Reiter aufschloss.
Es war Ben Kreel höchstpersönlich. Er tippte an die Mütze und sagte: »Was dagegen, wenn ich ein Stück mitreite, Adam Hazzard?«
Hätte ich Nein sagen sollen?
Ben Kreel war kein Pastor — davon hatten wir viele in Williams Ford, und jeder weidete seine Schäfchen —, er war der bestallte Repräsentant des Athabaska-Zweigs des Dominion of Jesus Christ on Earth, auf seine Weise genauso mächtig wie die Eigentümer des Landguts. Auch wenn er genaugenommen kein Pastor war, so war er doch eine Art moralischer Hirte für die Stadtbewohner. Er war in Williams Ford geboren, Sohn eines Sattlers; hatte auf Kosten des Landguts das Dominion College in Colorado Springs besucht und unterrichtete seit zwanzig Jahren an fünf Wochentagen an der Grundschule und sonntags in Allgemeiner Christenlehre. Ich hatte unter Ben Kreels Anleitung meine ersten Buchstaben auf die Schiefertafel gemalt. An jedem Unabhängigkeitstag hielt er eine Ansprache an die Bürger der Stadt und erinnerte an den Symbolgehalt und die Bedeutung der Dreizehn Streifen und Sechzig Sterne, und jedes Jahr zu Weihnachten leitete er die Ökumenischen Gottesdienste in der Dominion-Halle.
Er war stämmig, glatt rasiert und hatte graue Schläfen. Er trug eine Wolljacke, Hirschlederstiefel und einen Päckel, der nicht viel größer war als meiner. Ob im Sattel oder zu Fuß, er strahlte immer eine enorme Würde aus. Seine Miene war freundlich, aber das hatte nicht viel zu bedeuten; seine Miene war fast immer freundlich. »Du bist früh unterwegs, Adam«, sagte er. »Was machst du hier um diese Zeit?«
Ich errötete bis in die Haarspitzen. »Nichts«, sagte ich. Gibt es ein anderes Wort, das so deutlich verrät, was es leugnen will? Unter diesen Umständen war »nichts« geradezu ein Geständnis. »Konnte nicht schlafen«, setzte ich hastig hinzu. »Dachte, ich könnte vielleicht ein Eichhörnchen schießen.« Das würde das Gewehr erklären, das quer über den Sattelknauf geknotet war, und es klang zumindest entfernt plausibel, denn die Eichhörnchen hatten noch nicht ganz aufgehört, Vorräte für die kalten Monate zu bunkern.
»Am Tag vor Weihnachten?«, fragte Ben Kreel. »Und so nahe am Landsitz? Ich hoffe, es kommt den Duncans und Crowleys nicht zu Ohren! Sie wachen eifersüchtig über ihren Wald. Und ich bin sicher, dass sie Gewehrschüsse um diese Zeit nicht mögen. Reiche Leute und Oststaatler schlafen in der Regel noch.«
»Ich habe nicht geschossen«, murrte ich. »Ich hab es mir anders überlegt.«
»Na gut. Klugheit setzt sich durch. Du kehrst in die Stadt zurück?«
»Ja, Sir.«
»Was dagegen, wenn wir zusammen reiten?«
»Überhaupt nicht.« Ich konnte doch nicht ablehnen, egal wie sehr ich mich sehnte, mit meinen Gedanken allein zu sein.
Wir kamen nur langsam voran; der Schnee machte die Pferde vorsichtig — und Ben Kreel schwieg eine Zeit lang. Dann sagte er: »Du brauchst deine Befürchtungen nicht zu verbergen, Adam. Ich glaube, ich weiß, was dich beunruhigt.«
Einen Moment lang hatte ich die schreckliche Idee, Ben Kreel könnte in der Eingangshalle des Personalhauses hinter mir gewesen sein und hätte, wenn auch nur flüchtig, Sam Godwin mit seinen alttestamentarischen Requisiten gesehen. Nicht auszudenken! (Und dann ging mir auf, dass es genau dieser Skandal war, den Sam sein Leben lang gefürchtet hatte: Jude zu sein war noch schlimmer, als der Church of Signs anzugehören, denn in manchen Staaten kann ein Jude, der seinen Glauben praktiziert, mit einer Geldbuße belegt oder sogar mit Gefängnis bestraft werden. Ich wusste nicht, wie das in Athabaska gehandhabt wurde, befürchtete aber das Schlimmste.)
Doch Ben Kreel sprach über die Rekrutierung, nicht über Sam.
»Ich habe das bereits mit anderen Jungen in der Stadt diskutiert«, sagte er. »Du bist nicht der Einzige, Adam, der sich fragt, was das alles zu bedeuten hat, diese ganze militärische Aufregung, und was sich daraus ergeben könnte. Und du bist so etwas wie ein besonderer Fall. Ich habe dich schon länger im Auge. Aus der Ferne sozusagen. Hier, halte mal kurz.«
Wir standen auf einer Klippe oberhalb des River Pine und blickten nach Süden in Richtung Williams Ford.
»Schau dir das an«, sagte Ben Kreel nachdenklich. Er beschrieb mit dem Arm einen Bogen, der nicht nur die aneinandergedrängten Häuser der Stadt meinte, sondern auch die leeren Felder und den dunklen Fluss und die Wasserräder der Mühlen und selbst die Hütten der abhängigen Arbeiter unten in der Niederung. Das Tal schien zweierlei zu sein: etwas Lebendiges, das die spröde Luft der Jahreszeit einund ihre Dämpfe ausatmete — und ein Gemälde, statisch in der stillen blauen Winterluft. So tief verwurzelt wie eine Eiche und so zerbrechlich wie eine gläserne Weihnachtskugel.
»Schau dir das an«, wiederholte Ben Kreel. »Schau dir Williams Ford an, wie es daliegt. Was ist das, Adam? Doch mehr als ein Ort, oder? Es ist eine Lebensweise. Es ist die Summe unserer Anstrengungen. Es ist das, was wir von unseren Vätern bekommen haben und was wir unseren Söhnen geben werden. Dort begraben wir unsere Mütter, und dort werden unsere Töchter ihr Grab finden.« Da war sie schon wieder, die Philosophie; und das, wo ich sie doch nach dem morgendlichen Drama so satthatte. Doch Ben Kreels Stimme floss wie der lindernde Sirup, den Mutter zu verabreichen pflegte, wann immer Flaxie oder ich einen Husten hatten. »Jeder Junge in Williams Ford — jeder, der alt genug ist, sich zum Dienst an der Waffe zu melden — entdeckt mit einem Mal, wie sehr es ihm gegen den Strich geht, den einzigen Platz zu verlassen, den er wirklich kennen- und liebengelernt hat. Das gilt auch für dich, Adam.«
»Ich bin nicht mehr und nicht weniger bereit als die anderen.«
»Ich stelle nicht deinen Mut oder deine Loyalität infrage. Es geht nur darum, dass du eine kleine Kostprobe davon bekommen hast, wie es sich woanders leben ließe — stelle ich mir zumindest vor, je nachdem, wie sehr du dich auf Julian Comstock eingelassen hast. Nun, ich bin überzeugt, Julian ist ein fabelhafter junger Mann und ein vorzüglicher Christ. Wie anders könnte es sein bei einem Neffen des Mannes, in dessen Hand das Geschick der Nation liegt. Aber er hat ganz andere Erfahrungen gemacht als du. Er kennt sich mit Großstädten aus — er ist an Filme gewöhnt, wie den, den wir letzte Nacht im Gemeindesaal gesehen haben (Ich hab dich kurz gesehen? Ganz hinten, nicht wahr?) —, gewöhnt an Bücher und Ideen, die vielleicht einem jungen Menschen mit deinem Hintergrund besonders aufregend erscheinen, aufregend und, nun ja, anders eben. Habe ich Recht?«
»Ich müsste lügen, wenn ich Nein sage, Sir.«
»Und vieles, was Julian dir erzählt hat, ist zweifellos richtig. Ich bin selbst ein wenig herumgekommen, Adam. Ich war in Colorado Springs, Pittsburgh — sogar in New York City. Unsere östlichen Großstädte sind prächtige, stolze Metropolen — sie gehören zu den größten und produktivsten der Welt —, und es lohnt sich, sie zu verteidigen, ein Grund mehr, weshalb wir solche Anstrengungen unternehmen, die Deutschen aus Labrador zu vertreiben.«
»Sie haben bestimmt Recht, Sir.«
»Ich bin froh, dass du das auch so siehst. Denn es gibt eine Falle, in die gewisse junge Leute hineintappen. Ich weiß, wovon ich rede. Ein Junge könnte auf die Idee kommen, fortzulaufen und eine dieser prächtigen Großstädte aufzusuchen, um allen Pflichten und Obliegenheiten zu entkommen, die er zu Hause gelernt hat. Simple Dinge wie Glaube und Patriotismus können einem jungen Mann lästig werden, so dass er sie eines Tages, wenn sie ihm zu lästig werden, einfach abschüttelt.«
»So bin ich nicht, Sir«, sagte ich, obwohl ich das Gefühl hatte, mit jedem Wort gemeint zu sein.
»Und da ist noch ein Punkt, der Erwähnung verdient. Die Einberufung droht dich aus Williams Ford hinauszutragen; und viele Jungen denken, wenn ich schon gehen muss, warum dann nicht auf eigene Faust; warum nicht meine Bestimmung in den Straßen einer Großstadt suchen, statt in einem Bataillon der Athabaska Brigade … und du tust gut daran, dich diesem Gedanken zu verweigern, Adam, aber du wärst kein Mensch, wenn er dir fremd wäre.«
»Nein, Sir«, murrte ich und fühlte mich immer schuldiger, denn ich war tatsächlich ein bisschen verführt worden durch Julians Geschichten über das Großstadtleben und Sams dubiosen Unterricht und von A History of Mankind in Space — vielleicht stimmte es, dass ich meine Verpflichtungen gegenüber der Stadt vernachlässigt hatte, die da so still und einladend im blauen Dunst lag.
»Ich weiß«, sagte Ben Kreel, »es war nicht leicht für deine Familie. Das Bekenntnis deines Vaters war eine Prüfung der besonderen Art, und wir haben uns nicht immer wie gute Nachbarn verhalten — ich spreche hier im Namen der ganzen Stadt. Vielleicht bist du übergangen worden, wenn es um Aktivitäten ging, an denen andere Jungen wie selbstverständlich ihre Freude hatten: Picknick, Spiel, Freundschaften … na ja, selbst Williams Ford ist kein Paradies. Aber ich verspreche dir, Adam: Wenn du erst in der Brigade bist und dich im Kampf bewährt hast, wirst du entdecken, dass dieselben Jungen, die dich in den staubigen Straßen deiner Heimatstadt gemieden haben, deine besten Freunde und tapfersten Kameraden werden. Denn unser gemeinsames Erbe verbindet uns auf mancherlei Weise — was uns im Alltag fragwürdig erscheint, gibt sich erst im grellen Licht des Gefechts zu erkennen.«
Ich hatte viel zu leiden gehabt unter den Bemerkungen der anderen (»Was dem einen sein Huhn, ist dem anderen seine Viper«, um nur ein Beispiel zu nennen), so dass mich Ben Kreels Behauptung nicht überzeugen konnte. Doch was wusste ich schon über moderne Kriegsführung? So gut wie nichts, und das meiste davon stammte aus den Romanen von Charles Curtis Easton. Und die Aussicht, Ben Kreel könnte vielleicht doch Recht haben, ließ mich (wie beabsichtigt) nur noch kleinlauter werden.
»Da!«, sagte Ben Kreel. »Hörst du das, Adam?«
Es war nicht zu überhören. Im Kirchturm der Dominion-Halle läutete die Glocke und verkündete den ökumenischen Frühgottesdienst. Ein silberheller Klang in der Winterluft, einsam und tröstend, und ich verspürte die Regung hinzulaufen — Schutz zu suchen, als sei ich wieder ein Kind.
»Ich werde gebraucht«, sagte Ben Kreel. »Es macht dir doch nichts, wenn ich vorausreite?«
»Nein, Sir. Seien Sie unbesorgt.«
»Solange wir uns verstehen. Kopf hoch, Adam! Die Zukunft könnte heller sein, als du denkst.«
»Danke, Sir.«
Ich blieb noch eine Weile auf der Klippe und sah Ben Kreel hinterher. Selbst in der Sonne spürte ich die Kälte; aber dass ich am ganzen Körper zitterte, lag vielleicht weniger am Wetter als an meinem inneren Konflikt. Der Kirchenmann hatte mich beschämt; er hatte meinen lockeren Lebenswandel der letzten Jahre ins rechte Licht gerückt und mir gezeigt, wie viele meiner überkommenen Werte ich der verführerischen Philosophie eines agnostischen Aristokraten und eines alternden Juden geopfert hatte.
Schweren Herzens lenkte ich Rapture zurück auf den Pfad nach Williams Ford und nahm mir vor, meinen Eltern zu erklären, wo ich gewesen war, und ihnen nochmals zu versichern, dass ich die Einberufung gern über mich ergehen lassen würde.
Ich war so niedergeschlagen durch die Ereignisse des Morgens, dass ich den Blick selbst dann noch gesenkt hielt, als Rapture nur mehr seine eigene Spur zurückverfolgte. Der Schnee von heute Nacht lag wie gesagt noch weitgehend unberührt auf diesem Pfad, so dass ich genau sah, wo ich heute früh geritten war … Dann kam die Stelle, wo Julian und ich uns in der Nacht getrennt hatten. Hier gab es deutlich mehr Hufspuren, überraschend viele …
Und sie verrieten Alarmierendes.
Augenblicklich hielt ich an.
Ich blickte nach Süden in Richtung Williams Ford. Dann sah ich nach Osten, wohin Julian letzte Nacht geritten war.
Ich inhalierte eine erfrischende Prise eiskalter Luft, dann folgte ich der Spur, die mir am dringlichsten schien.
Auf der Ost-West-Strasse durch Williams Ford war nie viel los, erst recht nicht im Winter.
Die Wire Road, wie man die Südstraße wegen der Telegrafenleitung nannte, verband dagegen Williams Ford mit dem Kopfbahnhof in Connaught, und dort herrschte eine ganze Menge Verkehr. Doch die Ost-West-Straße führte praktisch nirgends hin: Sie war ein Vermächtnis der Säkularen Ära und wurde hauptsächlich von selbstständigen Antiquaren und Kippern benutzt, und das auch nur in den wärmeren Monaten. Ich vermute, wenn man der alten Straße immerzu folgt, gelangt man zu den Großen Seen oder irgendwo weiter östlich; oder man reitet in die andere Richtung und verliert sich zwischen Unterspülungen und Erdrutschen in den Rocky Mountains. Aber die Eisenbahnlinie — und eine parallele Mautstraße weiter südlich — hatten solchen Dingen einen Riegel vorgeschoben.
Dessen ungeachtet wurde die Ost-West-Straße da, wo sie Williams Ford verließ, streng überwacht. Auf einer Anhöhe hatte die Reserve einen Mann postiert, der alles im Blick hatte; es war dieselbe Anhöhe, auf der Julian, Sam und ich letzten Oktober auf dem Rückweg von der Halde Rast gemacht und Brombeeren gepflückt hatten. Tatsache war aber, dass Reservisten in Reserve gehalten und nicht an die Front geschickt wurden, meist wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen — manche waren Veteranen, die eine Hand oder einen Arm verloren hatten; andere waren schon älter; wieder andere waren zu einfältig oder träge, um in einer disziplinierten Truppe zu bestehen. Ich kann nichts Bestimmtes über den Mann sagen, den man dort als Wache postiert hatte, aber wenn er kein Dummkopf war, so war er zumindest völlig unbekümmert, was seine Tarnung anging, denn seine Silhouette (und die seines Gewehrs) hob sich klar und deutlich und für jedermann sichtbar vom hellen östlichen Himmel ab. Aber vielleicht war das ja Absicht, um potenzielle Flüchtlinge von ihrem Vorhaben abzuhalten.
Allerdings war nicht jeder Weg versperrt, nicht für jemanden, der in Williams Ford aufgewachsen war und überall im Umkreis gejagt hatte. Anstatt Julian direkt zu folgen, ritt ich ein Stück weit nach Norden und dann durch ein Lager von abhängigen Arbeitern. Zerlumpte Kinder gafften aus leeren Hüttenfenstern, und der Rauch der Bitumenkohleherde verwandelte die regungslose Luft in ölig grauen Dunst. Diese Route traf auf Wege, die durch die Weizenfelder liefen und zum Transport von Ernte und Feldarbeitern dienten — Feldwege, die sich mit den Jahren immer tiefer ins Erdreich geschnitten hatten, so dass ich ständig hinter einem Sichtschutz aus Erde und Scherengittern ritt: Der ferne Wachposten hatte keine Chance. Als ich weit genug östlich war, ritt ich einen Viehtrieb hinunter, der mich wieder zur Ost-West-Straße brachte — wo ich die gleichen Spuren fand, die mich vorhin in Williams Ford alarmiert hatten — dank einer dünnen Schneedecke, die noch kein Wind verweht hatte. Sie wiesen nach Osten in Richtung Lundsford.
Hier musste Julian noch vor Mitternacht vorbeigekommen sein. Kurz darauf hatte es wohl aufgehört zu schneien, denn die Hufabdrücke waren nur leicht verwischt.
Aber da war nicht bloß Julians Spur. Da war noch eine zweite, bröckeliger und folglich jünger, wahrscheinlich im Laufe der Nacht entstanden. Das war es, was mir an der Stelle aufgefallen war, wo Julian und ich uns getrennt hatten: Julian wurde verfolgt. Jemand war ihm ohne sein Wissen gefolgt. Das bedeutete nichts Gutes. Aber wenigstens war ihm nur einer gefolgt und nicht ein ganzer Trupp. Hätten die mächtigen Leute vom Landsitz gewusst, dass Julian Comstock Reißaus genommen hatte, hätten sie ein ganzes Bataillon geschickt, um ihn wieder einzufangen. Vermutlich hatte man Julian für einen flüchtigen Abhängigen oder einen Pächterjungen gehalten, der vor der Einberufung floh, und irgendein übereifriger Reservist hatte sich aus eigener Initiative auf die Spur gesetzt. Oder aber das besagte Bataillon kam gleich angeprescht — oder würde es bald tun, denn Julians Abwesenheit musste inzwischen aufgefallen sein.
Ich ritt also gen Osten und fügte beiden Spuren eine dritte hinzu.
Es wurde ein langer Ritt. Der Mittag kam, der Mittag ging, und weitere Stunden vergingen; erst als die Sonne sich an ihr Rendezvous mit dem südwestlichen Horizont erinnerte, fing ich an, gründlicher nachzudenken. Was bezweckte ich eigentlich mit meinem Ritt? Wollte ich Julian warnen? Wenn ja, kam ich reichlich spät … obwohl ich hoffte, dass er irgendwann von selbst auf die Idee gekommen war, seine Spuren zu verwischen oder etwaige Verfolger in die Irre zu führen. Letztere hatten nicht den Vorteil zu wissen, wo er sein Zelt aufschlagen wollte, um auf Sam Godwin zu warten. Schlimmstenfalls wollte ich Julian aus seiner Gefangenschaft befreien, auch wenn ich bloß einen Vorderlader und ein paar Schuss Munition (dazu ein Messer und meinen Verstand, beides ziemlich schwache Waffen) aufzubieten hatte gegen was immer ein Reservist so bei sich trug. Jedenfalls waren das eher Wünsche und Ängste als reifliche Überlegungen. Ich hatte keinen Plan. Ich wollte Julian einfach nur zu Hilfe eilen und ihm sagen, dass ich Sam die Botschaft überbracht hatte und dieser auf eine passende Gelegenheit wartete, um nachzukommen. Fertig.
Und was dann? Ich wollte nicht darüber nachdenken — nicht hier draußen auf dieser verlassenen Straße, weit über die Halde hinaus und weiter denn je von Williams Ford entfernt; nicht hier draußen, wo sich ringsum nur klirrende Marsebenen erstreckten und zum ersten Mal ein Wind an den Fransen meiner Jacke zu zupfen begann. Nicht, solange mein Schatten zur Vogelscheuche verzerrt vor mir herritt. Es war kalt und wurde immer kälter, und gleich würde der Wintermond am Himmel stehen: Und ich ritt mit meinen paar Unzen Schweinefleisch in der Satteltasche und einem Dutzend Zündhölzer, um bei Einbruch der Dunkelheit Feuer zu machen, falls sich etwas Brennbares fand. Ich fing an mich zu fragen, ob ich den Verstand verloren hatte. Ich hätte umkehren können; noch wurde ich nicht vermisst; es war Heiligabend und noch nicht zu spät, mich an den festlich gedeckten Tisch zu setzen und rechtzeitig aufzuwachen, um zu hören, wie das Weihnachtsfest eingeläutet wurde, und die herrlichen Weihnachtsäpfel zu riechen, die mit Zimt und braunem Zucker getränkt waren. Ich grübelte und grübelte, manchmal mit Tränen in den Augen; doch ich ließ mich von Rapture weitertragen; dahin, wo der Horizont am dunkelsten war.
Endlich — nach scheinbar endlosen Dämmerstunden und einer kurzen Rast, als Rapture und ich aus einem Bach tranken, auf dem eine zerbrechliche Eishaut schwamm — tauchten rechts und links die ersten Ruinen der Säkularen Ära auf.
Nichts Aufsehenerregendes. Fantasiereiche Zeichnungen stellen die Ruinen des letzten Jahrhunderts nicht selten als hoch aufragende Gebäude dar, zerklüftet und hohl wie von Karies zerstörte Zähne — Ruinen, die von Kletterpflanzen durchwucherte Schluchten und düstere Sackgassen bilden.[9] Kein Zweifel, solche Orte gibt es — die meisten allerdings im unbewohnbaren Südwesten, wo der Hunger herrscht und sein Zepter über ein Dominion schwingt, das eigens für ihn geschaffen wurde[10], was natürlich Kletterpflanzen und ähnliches Tropenzeug ausschließt — doch die meisten Ruinen waren wie diese hier, bloße Unregelmäßigkeiten (oder genauer: Regelmäßigkeiten) in der Landschaft, die auf ehemalige Fundamente schließen ließen. Diese Gebiete waren tückisch, verbargen oft tiefe Kellergeschosse, die urplötzlich ihre hungrigen Mäuler aufreißen konnten; nur die Kipper liebten solche Gegenden. Ich wich nicht vom Weg ab, obwohl ich mich zu fragen begann, ob Julian wirklich so leicht zu finden war, wie ich mir das vorgestellt hatte — »Lundsford« war ein ansehnliches Terrain, und der Wind hatte längst begonnen, die Hufspur zu verwehen, auf die ich mich bis jetzt verlassen hatte.
Gedanken an die Falsche Drangsal des letzten Jahrhunderts suchten mich heim. Es passierte nicht selten, dass man in solchen Gegenden auf ausgedörrte, alte Knochen stieß. Bei den schlimmsten Verwerfungen, die das Ende des Öls mit sich gebracht hatte, waren Millionen Menschen ums Leben gekommen: durch Krankheit, Krieg und Hunger — vor allem durch Hunger. Die Ära des Öls hatte eine wilde Düngung und Bewässerung zugelassen und infolgedessen mehr Menschen sattgemacht, als es eine bescheidenere Landwirtschaft gekonnt hätte. Ich hatte Fotos von Amerikanern aus dieser ruinösen Ära gesehen: zu Skeletten abgemagert, die Kinder mit Blähbäuchen, zusammengepfercht in »Versorgungslagern«, die über kurz oder lang zu Gemeinschaftsgräbern wurden, wenn die »Versorgung« ausblieb. Kein Wunder also, dass unsere Altvorderen jene Dekaden für die in der Bibel prophezeite Drangsal gehalten hatten. Erstaunlich nur, wie viele unserer heutigen Institutionen — die Kirche, die Armee, die Bundesregierung — mehr oder weniger intakt überdauert hatten. Es gab eine Passage in der Dominion-Bibel, die Ben Kreel uns jedes Mal vorlas, wenn in der Schule die Sprache auf die Falsche Drangsal kam; ich kann sie auswendig: Das Feld ist verwüstet, das Land trauert; denn das Getreide ist verdorrt, die Reben sind vertrocknet, das Öl versiegt. Schämt euch, ihr Bauern; weint nur, ihr Winzer; weint um den Weizen, weint um die Gerste, denn die Früchte des Feldes sind zugrunde gegangen …
Es hatte mich damals schaudern lassen, und ich schauderte jetzt in diesem Ödland, das zu nichts mehr nutze war, ausgeplündert durch ein Jahrhundert der Maßlosigkeit. Wo in diesem Trümmerfeld steckte Julian? Und wo war sein Verfolger?
Sein Feuer führte mich zu ihm. Und ich war nicht der Erste, der ihn finden sollte.
Als ich zu den jüngsten Ausgrabungsstätten von Lundsford kam, war die Sonne endgültig untergegangen; ein Halbmond trübte die zarte Röte, die noch über dem nördlichen Himmel spielte. Die provisorischen Unterkünfte der Kipper — primitive Hütten aus altem Bauholz — waren um diese Jahreszeit verwaist, und leiterartig zusammengezimmerte Rampen führten in die leeren Grabungen.
Der Schnee war zu Haufen und Dünen verweht, und alle Hufabdrücke waren verwischt. Aber ich ritt langsam und hielt die Umgebung im Auge, wohl wissend, dass ich kurz vor dem Ziel war. Mir gab die Beobachtung Auftrieb, dass Julians Verfolger, wer immer es war, nicht auf diesem Weg von seiner Mission zurückgekehrt war, also Julian nicht gefangen genommen hatte oder zumindest nicht mit seinem Gefangenen im Schlepptau nach Williams Ford zurückgeritten war. Vielleicht hatte er die Verfolgung bis zum Morgen ausgesetzt.
Ein wenig später — eine schiere Ewigkeit, in der Rapture mit kleinen Schritten der überfrorenen Straße folgte und lauter Fallgruben auswich — vernahm ich das Wiehern eines anderen Pferdes und gewahrte eine Rauchfahne, die sich in den mondhellen Himmel kräuselte.
Rasch lenkte ich Rapture von der Straße und band die Zügel an den Stumpf eines Betonpfeilers. Ich nahm die Eichhörnchenbüchse aus dem Sattelhalfter und näherte mich zu Fuß der Quelle des Rauchs, bis ich bemerkte, dass er aus einem Bodenspalt kam, womöglich aus der Kaverne, in der die Kipper vor Monaten A History of Mankind in Space gefunden hatten. Bestimmt hatte Julian sich hier eingenistet, um auf Sam zu warten. Ich schlich mich an und entdeckte Julians Pferd, unverkennbar edlen Geblüts (in den Augen seines Eigentümers, davon bin ich überzeugt, mehr wert als hundert Julian Comstocks), das an irgendeinem Auswuchs angeleint war — und zu meiner Bestürzung nicht weit davon ein weiteres Pferd. Das zweite Tier war mir fremd; es war knochig und sah älter aus, trug aber militärisches Zaumzeug und eine Art Stofflatz — blau mit einem roten Stern —, der es als Pferd der Reserve auswies.
Ich überdachte die Situation aus dem Mondschatten eines heruntergebrochenen Pfeilers.
Der Rauch konnte bedeuten, dass Julian in die Kaverne geklettert war, um Schutz vor der Kälte zu suchen und sein Feuer über die Nacht zu retten. Das zweite Pferd konnte bedeuten, dass es bereits zu einer Konfrontation zwischen ihm und seinem Verfolger gekommen war.
Mehr war nicht abzuleiten. Mir blieb nur eins, ich musste näher heran.
Ich schlich noch einen Meter voran. Im Mondschein war zu erkennen, dass es sich um eine tiefe, aber enge Ausgrabung handelte, die teilweise mit Brettern abgedeckt war; der schräg abfallende Zugang war oben und seitlich mit altem Bauholz verschalt. Von hier war der Feuerschein gerade noch auszumachen, dasselbe galt für die Abzugsöffnung etwas weiter südlich in den Brettern. Es gab, soweit ich das beurteilen konnte, keinen anderen Zu- oder Ausgang. Ich wollte so weit hinunter, wie ich konnte, ohne gesehen zu werden, hockte mich in den Zugang und ließ mich Stück für Stück auf dem Hosenboden die Schräge hinunterrutschen (der Boden war so kalt wie der arktische Winter).
Ich tat langsam, ich war vorsichtig, und ich war leise. Aber ich war nicht langsam, vorsichtig oder leise genug, denn ich war gerade so weit unten, dass ich eine leergeräumte Kammer sehen konnte, in der das Feuer einen kaleidoskopischen Tanz aus Licht und Schatten erzeugte, als ich eine kalte Druckstelle hinter dem Ohr spürte — die Mündung einer Waffe — und eine Stimme sagte: »Immer schön weiter, Mister, und leisten Sie Ihrem Freund Gesellschaft.«
Ich schwieg, weil ich mir erst ein Bild machen wollte.
Der Unbekannte brachte mich an den Boden der Ausgrabung. Es wurde spürbar wärmer, und der Wind blieb außen vor, dafür empfing mich der schale Gestank eines Tiefgeschosses oder Kellers der Säkularen Alten.
Die Kipper hatten nicht viel zurückgelassen: nur undefinierbaren Schutt aus Splittern, Bruchstücken, Dreck und Staub. Die gegenüberliegende Wand war aus Beton, und an ihrem Fuß loderte das Feuer, unter einem Abzugsloch, das von Antiquaren (oder Trödlern) stammen musste, die es im Laufe ihrer Arbeit in die Bretter geschnitten hatten. Ein Kreis aus Steinen begrenzte das prasselnde Feuer, und die feuchten Dielen und Holzstücke darin knallten und krachten, dass es eine helle Freude war (oder hätte sein können).
Ringsum erstreckten sich mehrere Teile der Ausgrabung, in denen man nicht mehr aufrecht stehen konnte.
Julian saß in der Nähe des Feuers, mit dem Rücken zur Wand, die Knie bis unters Kinn gezogen. Seine Kleidung war schmutzig von Ruß. Er blickte finster drein, und als er mich sah, blickte er noch finsterer drein.
»Da rüber und dazusetzen«, sagte der Mann, »und her mit der kleinen Vogelbüchse.«
Ich händigte ihm meine bescheidene Waffe aus und setzte mich zu Julian. Jetzt sah ich den Mann zum ersten Mal von vorne. Er schien nicht viel älter als ich, trug aber die blau-gelbe Uniform der Reserve. Er hatte die Uniformkappe tief ins Gesicht gezogen, und seine Augen huschten hin und her, als fürchte er einen Hinterhalt. Kurz, er schien unerfahren und nervös — und vielleicht ein bisschen dumm, denn er ließ den Unterkiefer hängen und schien nicht zu bemerken, was ihm aus der Nase lief.
Mit seiner Waffe war nicht zu spaßen. Ein Pittsburgh-Gewehr, hergestellt in den berühmten Porter-&-Earle-Werken; das Gewehr lud weiter hinten aus einem Magazin und konnte fünf Schuss hintereinander abgeben, wobei der Besitzer nichts weiter zu tun brauchte, als den Zeigefinger zu krümmen. Julian hatte eine ähnliche Waffe bei sich gehabt, war aber entwaffnet worden; sie lehnte an einem Haufen kleiner zertrümmerter Fässer, ganz außer Reichweite; und der Reservist stellte gerade meine Eichhörnchenbüchse daneben.
Ich begann mir leidzutun. Heiligabend derart erbärmlich zu verbringen … Ich war sauer auf den Reservisten, ja, aber lange nicht so sauer, wie ich auf mich und meine Dämlichkeit war.
»Ich weiß nicht, wer Sie sind, Mister«, sagte der Reservist, »ist mir auch schnuppe — ich sage immer, ein Drückeberger ist wie der andere —, und ich habe den Job, euch Ausreißer dingfest zu machen, und mein Soll ist erfüllt. Ich hoffe, ihr haltet durch bis morgen, dann geht’s zurück nach Williams Ford. Von uns drei schläft diese Nacht sowieso keiner. Ich jedenfalls nicht, also könnt ihr euch ruhig in euer Schicksal ergeben. Wenn ihr Hunger habt, da ist ein Streifen altes Schweinefleisch.«
Mir verging der Appetit, und das wollte ich Julian sagen, doch Julian unterbrach mich: »Es stimmt, Adam«, sagte er. »Der Soldat tut nur seine Pflicht. Ich wünschte, du wärst mir nicht gefolgt.«
»Wäre wohl besser gewesen.«
Er schickte mir einen vielsagenden Blick und sagte mit leiser Stimme: »Ist Sam …?«
»Hier wird nicht geflüstert«, bellte der Reservist.
Doch ich ahnte, was er wissen wollte, und nickte, um anzudeuten, dass Sam Bescheid wusste — was aber keine Garantie war, dass wir auch befreit wurden. Es wurden nicht bloß die Ausfallstraßen von Williams Ford bewacht, auch Sam konnte sich nicht so einfach vom Acker machen; und nachdem man Julians Abwesenheit bemerkt hatte, würde man die Wachen verdoppelt und wahrscheinlich eine regelrechte Expedition ausgeschickt haben. Unser Reservist ritt offensichtlich Patrouille — und auf den Mann war Verlass, keine Frage. (Obwohl er den Wert seiner Trophäe nicht kannte.)
Jetzt, nachdem er uns in die Enge getrieben hatte, war der Mann nicht mehr ganz so verlässlich, denn er nahm seine Specksteinpfeife heraus, begann sie zu stopfen und machte es sich auf einer Holzkiste gemütlich. Seine Bewegungen waren fahrig, und die Pfeife sollte wohl zur Entspannung dienen — Tabak war es jedenfalls nicht, was er da reinstopfte.
Vielleicht kam der Mann aus Kentucky; die weniger ehrbaren Leute aus diesem Staat sollen nämlich die Angewohnheit haben, die Faser der weiblichen Hanfpflanze zu rauchen, die dort großflächig angebaut wird. Aus Kentucky-Hanf wird Tauwerk, Tuch und Papier gemacht — als Droge soll er nicht so berauschend sein wie der sagenhafte Indische Hanf; aber sein milder Rauch soll für Genießer angenehm sein, zu viel davon aber zu Schläfrigkeit und großem Durst führen.
In diesen Symptomen schien Julian wohl eine Chance zu sehen und gab mir mit kleinen Gesten zu verstehen, still zu sein, um den Mann nicht zu stören. Der bediente sich beim Stopfen aus einem Wachstuchpäckchen; bald schon brannte das Zeug, und zu den Dämpfen des Lagerfeuers, die durch das gezackte Loch in der Decke verschwanden, gesellte sich, man kann es ruhig so nennen, ein Wohlgeruch aus der Pfeife des Reservisten.
Natürlich würde es eine lange Nacht werden; ich übte mich in Geduld und versuchte nicht an Weihnachten zu denken oder an das warme Licht in unserem Cottage in dunklen Winterstunden oder an mein weiches Bett, in dem ich jetzt hätte liegen können, wenn ich gründlicher nachgedacht und nicht so überstürzt gehandelt hätte.
Am Anfang habe ich gesagt, dies sei eine Geschichte über Julian Comstock, und ich habe nicht vor, daraus eine Geschichte über mich zu machen. Und wenn es so aussieht, dann aus einem Grund jenseits von Eitelkeit und Eigennutz: Zu der Zeit kannte ich Julian nicht annähernd so gut, wie ich gedacht hatte.
Unsere Freundschaft war eine Jungenfreundschaft. Während wir schweigend dasaßen — Gefangene in den Ruinen von Lundsford — ließ ich unwillkürlich alles Revue passieren, was wir zusammen getan hatten: in Büchern lesen, Jagen auf den Vorhügeln westlich von Williams Ford, wohlwollend über alles streiten von Philosophie über Mondbesuche bis hin zu Fragen, wie man am besten vorgeht bei der Auswahl des passenden Angelköders oder beim Anlegen des Zaumzeugs. Während wir beisammen waren, hatte ich keinen Gedanken darauf verwenden müssen, dass Julian ein Aristokrat war und enge Beziehungen zu einflussreichen Männern hatte, oder dass Julians Vater als Held berühmt und als Verräter berüchtigt war, oder dass Julians Onkel Deklan Comstock — Deklan der Eroberer — für seinen Neffen nicht gerade das Beste im Sinn hatte.
Das alles schien weit weg und nichts zu tun zu haben mit Julians wahrem Charakter, dem freundlichen und wissbegierigen Julian — der im Grunde seines Herzens ein Naturbursche war und kein Politiker oder General. Der erwachsene Julian, so meinte ich immer, müsse etwas Wissenschaftliches oder Künstlerisches anstoßen: vielleicht im Athabaskaschiefer nach Knochen prä-adamischer Monster graben oder den Film als solchen verbessern. Er war kein kriegerischer Mensch, und die Gedanken der ganz Großen unserer Tage beschäftigten sich fast ausschließlich mit Krieg.
So hatte ich verdrängt, dass er immer noch alles das war, was er vor Williams Ford gewesen war. Er beerbte einen tapferen, entschlossenen und letzten Endes verratenen Vater, der eine Armee von Brasilianern besiegt hatte und dann vom Mühlstein politischer Intrigen zermalmt wurde. Julian war der Sohn einer reichen Frau, die selbst aus einer einflussreichen Familie stammte — nicht einflussreich genug, um Bryce Comstock vor dem Galgen zu retten, aber einflussreich genug, um Julian, vorläufig zumindest, vor den verrückten Überlegungen seines Onkels zu schützen. Julian war zugleich Figur und Spieler in den großen Turnieren der Aristokraten.
Und was ich vergessen hatte, konnte Julian gar nicht vergessen — die Menschen, die ihn gezeugt, geboren und erzogen hatten; selbst wenn er kein Wort über sie verlor, spukten sie in seinem Kopf herum …
Es stimmt, dass Julian eine Mimose war — ich erinnere mich an seine Zappeligkeit, als ich ihm die Rituale der Church of Signs beschrieb, und dass er manchmal aufschrie, wenn sich die Eichhörnchen nach einem unsauberen Schuss noch quälten. Doch heute Nacht, hier in den Ruinen, da war ich es, der enttäuscht und niedergeschlagen vor sich hindöste und mit den Tränen kämpfte, während Julian mucksmäuschenstill und berechnend wie ein Bankangestellter dasaß und wild entschlossen durch die staubigen Strähnen vor seinen Augen starrte …
Auf der Jagd hatte er mir oft das Gewehr gereicht und mich gebeten, den tödlichen Schuss abzugeben, weil er sich nicht traute. Diese Nacht — hätte sich die Gelegenheit geboten — hätte ich Julian das Gewehr gegeben.
Ich döste, wie gesagt, vor mich hin, um von Zeit zu Zeit aufzuwachen und den Reservisten zu sehen, wie er unverwandt dasaß und Wache hielt. Seine Augenlider standen auf Halbmast, doch ich führte das auf die Wirkung der Hanfblüte zurück, die er geraucht hatte. In mehr oder weniger regelmäßigen Abständen fuhr er auf wie bei einem Laut, den nur er hören konnte, um sich gleich wieder zurückzulehnen.
In einem Blechtopf hatte er reichlich Kaffee gekocht, wärmte ihn jedes Mal auf, wenn er Holz nachlegte, und trank genug davon, um nicht einzuschlafen. Das nötigte ihn, sich periodisch in einen entfernteren Teil der Ausgrabung zurückzuziehen, um in relativer Abgeschiedenheit seine Notdurft zu verrichten. Wir konnten allerdings kein Kapital daraus schlagen, da er sein Pittsburgh-Gewehr jedes Mal mitnahm; aber Julian und ich konnten ein, zwei Augenblicke unbemerkt miteinander flüstern.
»Der Mann ist kein Geistesriese«, sagte Julian. »Vielleicht kommen wir als freie Menschen hier raus.«
»Was uns aufhält, ist nicht sein Verstand, sondern seine Artillerie«, sagte ich.
»Vielleicht können wir das eine vom anderen trennen. Schau mal, Adam, hinter dem Feuer, siehst du? — Hinten im Schutt.«
Ich spähte in besagte Richtung. Da regte sich etwas im Dunkel … und mir begann zu dämmern, was es war.
»Die Ablenkung könnte hilfreich sein«, sagte Julian, »oder tödlich.« Und ich sah den Schweiß, der ihm auf die Stirn trat. »Aber ich brauche deine Hilfe«, setzte er hinzu.
Ich habe gesagt, dass ich an den seltsamen Riten der Church of Signs nicht teilnahm und Schlangen nicht meine Lieblingsgeschöpfe waren. So viel ich auch von der Aufgabe des eigenen Willens und der Hingabe an Gott gehört hatte — und ich hatte meinen Vater mit einer Massassauga-Klapperschlange in jeder Hand erlebt, bebend vor Hingabe, in einer Sprache redend, die nicht bloß fremd, sondern völlig unbekannt war (wiewohl sie lange Vokale und gestotterte Konsonanten favorisierte, ähnlich den Lauten, die Vater machte, wenn er sich die Finger am Kohleofen verbrannte) — trotz allem war ich nicht restlos davon zu überzeugen, dass Gott mich vor dem Biss der Schlange schützen würde. Zumal ein paar Gemeindemitglieder gebissen wurden. Sarah Prestley zum Beispiel: Ihr rechter Arm war vor lauter Gift schwarz angeschwollen, bis er schließlich vom Arzt in Williams Ford amputiert werden musste … Aber lassen wir das. Wichtig ist, dass ich Schlangen zwar nicht leiden kann, aber nicht sonderlich viel Angst vor ihnen habe — im Gegensatz zu Julian. Und ich kam nicht umhin, seine Selbstbeherrschung zu bewundern: Denn was sich da unweit von uns im Duster wand und krümmte, war ein ganzes Schlangennest: Die Tiere waren durch die Hitze des Feuers aus dem Winterschlaf gerissen worden.
Ich sollte hinzufügen, dass es in solchen kollabierten Ruinen üblicherweise von Schlangen, Mäusen, Spinnen und giftigen Insekten nur so wimmelte. Tod durch Biss oder Stich gehörte zum Berufsrisiko der Kipper — hinzu kamen Gehirnerschütterung, Blutvergiftung und versehentliche Beerdigung. Die Schlangen mussten, nachdem die Kipper ihre Arbeit bis zum Frühjahr eingestellt hatten, in diese Kluft gekrochen sein, weil sie dort unten auf einen ungestörten Schlaf gehofft hatten, den wir und der Soldat leider durchkreuzt hatten.
Der Reservist — der ein bisschen wacklig von seiner Notdurft zurückkam — hatte die eigentlichen Bewohner der Grabungsstätte noch nicht bemerkt. Es setzte sich wieder auf seine Kiste, blickte finster zu uns herüber und begann sich eine zweite Pfeife zu stopfen.
»Wenn er alle fünf Schuss abgefeuert hat«, flüsterte Julian nervös, »dann haben wir eine Chance, ihn zu überwältigen oder an unsere eigenen Waffen zu kommen. Aber Adam …«
»Mund halten«, nuschelte der Reservist.
»… denk an den Rat deines Vaters«, beendete Julian den Satz.
»Ich sagte, Mund halten!«
Die Zeit zu handeln war unübersehbar gekommen. Julian räusperte sich und wandte sich direkt an den Reservisten. »Sir, ich muss Sie auf etwas aufmerksam machen.«
»Und das wäre, mein kleiner Drückeberger?«
»Ich fürchte, wir sind hier unten nicht allein.«
»Nicht allein!«, sagte der Reservist und ließ nervös den Blick schweifen. Dann atmete er auf und blickte Julian aus schmalen Augen an. »Kein Mensch zu sehen.«
»Ich meine nicht Menschen, sondern Vipern«, sagte Julian.
»Vipern!«
»Mit anderen Worten — Schlangen.«
Der Reservist fuhr auf, vielleicht noch benebelt vom Hanfrauch; dann feixte er und sagte: »Mit mir nicht — da musst du eher aufstehen, Kleiner.«
»Das ist kein Witz, Sir. Da kommen mindestens ein Dutzend Schlangen aus dem Dunkeln, und eine nimmt eben Kontakt mit Ihrem rechten Stiefel auf.«[11]
»Ha«, machte der Reservist, musste aber unwillkürlich in die vorgegebene Richtung blicken, wo eine der Schlangen — ein fettes und überlanges Exemplar — den Kopf gehoben hatte und die Luft über seinem Schnürsenkel sondierte.
Die Wirkung trat unverzüglich ein und ließ keine Zeit zum Überlegen. Der Reservist war mit einem Satz von der Holzkiste, stieß rückwärts tanzend Verwünschungen aus und versuchte gleichzeitig sein Gewehr in Anschlag zu bringen und der Gefahr zu begegnen. Zu seinem Entsetzen stellte er fest, dass er es nicht mit einer, sondern mit Dutzenden von Schlangen zu tun hatte, und drückte ab. Der Schuss ging daneben. Die Kugel schlug in unmittelbarer Nähe des Hauptnestes ein, was bewirkte, dass sich die übrigen Schlangen verblüffend rasch auf die Umgebung verteilten, als hätte sich eine Dose mit gespannten Sprungfedern schlagartig geöffnet — zum Leidwesen des glücklosen Soldaten, der direkt in ihrem Weg stand. Er fluchte und feuerte noch viermal. Die Mehrzahl der Schüsse wurde zu harmlosen Querschlägern; einer traf mitten in die Leitschlange, die sich wie ein blutiges Tau um ihre eigene Wunde knotete.
»Jetzt, Adam«, schrie Julian, und ich sprang auf die Füße und dachte: Rat meines Vaters?
Mein Vater war ein wortkarger Mann, und die meisten seiner Ratschläge hatten mit den Pferdeställen auf dem Landsitz zu tun. Ich zauderte einen ratlosen Moment lang, während Julian sich den sichergestellten Waffen näherte und dabei wie ein Derwisch zwischen den überlebenden Schlangen tanzte. Der Reservist, seine Fassung wiedergewinnend, sprang auf dasselbe Ziel zu; und dann fiel mir der einzige Rat meines Vaters ein, von dem ich Julian erzählt hatte:
Packe sie da, wo bei anderen Tieren der Hals ist, nämlich hinter dem Kopf; kümmere dich nicht um den Rest der Schlange, egal wie sehr er um sich schlägt; und schlage auf ihren Schädel ein, so oft und so lange wie nötig, um sie zu bezwingen.
Also tat ich genau das — bis ich die Gefahr bezwungen hatte.
Julian kam mit unseren Waffen aus dem düsteren, unliebsamen Teil der Ausgrabung zurück.
Er staunte nicht schlecht über den Reservisten, der mit blutigem Kopf vor meinen Füßen lag — ich hatte den Kopf so oft und so lange wie nötig gegen einen Betonpfeiler geschlagen.
»Adam«, sagte er. »Als ich den Rat deines Vaters erwähnte — da meinte ich die Schlangen.«
»Die Schlangen?« Etliche wuselten noch herum. Da fiel mir ein, dass Julian nur wenig über Schlangen wusste. »Das sind bloß Kornnattern«, erklärte ich. »Sie sind groß, aber ungiftig.«[12]
Julian hatte die Augen aufgerissen und verarbeitete die Neuigkeit.
Dann blickte er wieder auf die seltsam verkrümmte Gestalt des Reservisten.
»Hast du ihn getötet?«
»Hoffentlich nicht«, sagte ich.
Wir schlugen unser Nachtlager in einem weniger bevölkerten Teil der Ruinen auf und behielten die Straße im Auge … Im Morgengrauen näherte sich aus dem Westen ein einzelner Reiter. Es war Sam Godwin.
Julian sprang auf, jubelte und schwenkte die Arme. Sam kam näher, und der Anblick seines Schützlings schien ihn einigermaßen zu erleichtern, mich musterte er hingegen mit einem eher forschenden Blick. Ich bekam heiße Ohren, als ich daran dachte, wie ich ihn beim Gebet gestört hatte (obwohl diese Art zu beten ziemlich unorthodox war, aus rein christlicher Sicht) und wie dämlich ich auf seine Erklärung reagiert hatte, er sei Jude. Doch ich sagte nichts, und Sam sagte nichts, und die Beziehung zwischen uns schien geregelt, seit er wusste, dass ich Julian zu Hilfe geeilt war und dadurch meine Loyalität (oder Unzurechnungsfähigkeit) unter Beweis gestellt hatte.
Es war Weihnachtsmorgen. Vermutlich nichts von Bedeutung, sicher nicht für Julian oder Sam, aber ich war mir dieses Datums schmerzlich bewusst. Der Himmel war wieder blau — in den dunklen Morgenstunden war ein Schneegestöber durchgezogen, und der Schnee lag ringsherum, tief und frisch und eben.[13] Selbst die Ruinen von Lundsford waren in etwas Wohlgerundetes und seltsam Schönes verwandelt, und ich wunderte mich, wie leicht es der Natur fiel, den Mantel der Reinheit und des Friedens über den Zerfall zu breiten.
Aber der Frieden sollte nicht lange dauern, und Sam sagte, warum: »Mir ist mehr als eine Schwadron auf den Fersen, während wir reden. Es gab ein Telegramm aus New York: Julian darf nicht entkommen! Wir müssen sofort von hier verschwinden.«
»Und wohin?«, fragte Julian.
»Viel weiter nach Osten ist zwecklos. Da gibt es nicht genug Futter für die Tiere und herzlich wenig Wasser. Früher oder später müssen wir nach Süden und uns zur Eisenbahn oder zur Mautstraße durchschlagen. Ich fürchte, das heißt halbe Ration und hart reiten, und wenn uns die Flucht gelingen soll, müssen wir uns falsche Namen zulegen. Wir werden kaum was Besseres sein als Drückeberger und Arbeitsflüchtige, und ich denke mal, dass wir eine ganze Weile in dieser Gesellschaft verbringen müssen, zumindest bis New York City. In New York finden wir Freunde.«
Es war ein Plan, gewiss, aber was vor uns lag, war gewaltig und trostlos und schlug mir aufs Gemüt.
»Wir haben einen Gefangenen«, eröffnete Julian seinem Mentor, und wir kehrten mit Sam zu der besagten Ausgrabung zurück, um ihn aufzuklären, wie die Nacht verlaufen war.
Der Reservist saß noch da. Wir hatten ihm die Hände auf den Rücken gebunden, und er war noch schwer angeschlagen von der groben Begegnung mit dem Betonpfeiler, aber nicht so schwer, dass er nicht die Augen aufmachen und uns böse anstieren konnte. Julian und Sam brauchten eine Weile, um sich zu einigen, wie man mit dieser Belastung umgehen wollte. Mitnehmen konnten wir ihn auf keinen Fall; die Frage war vielmehr, wie wir ihn heimschicken konnten, ohne uns unnötig in Gefahr zu bringen.
Es war eine Diskussion, zu der ich nichts beitragen konnte, also nahm ich Papier und Bleistift aus meinem Rucksack und schrieb einen Brief.
Er war an meine Mutter gerichtet, da mein Vater weder lesen noch schreiben konnte.
Du hast ganz bestimmt meine Abwesenheit bemerkt, schrieb ich. Es macht mich traurig, von zu Hause fort zu sein, besonders jetzt (ich schreibe am 1. Weihnachtstag). Aber ich hoffe, dass es dich tröstet, wenn du liest, dass es mir gutgeht und ich nicht in akuter Gefahr bin.
Das war eine Lüge, je nachdem, was man unter »akut« verstand; aber eine freundliche, fand ich.
Ich hätte jedenfalls nicht in Williams Ford bleiben können, denn ich wäre nicht am Militärdienst vorbeigekommen, auch wenn ich die Einberufung noch ein paar Monate hinausgeschoben hätte. Die Rekrutierung ist kein Spaß; ich gehe davon aus, dass sich der Krieg in Labrador festgefahren hat. Unsere Trennung war unausweichlich, so sehr ich Euch nachtrauere, meinem Zuhause und allen Annehmlichkeiten.
(Es hätte nicht viel gefehlt, und eine Träne hätte sich aufs Papier verirrt.)
Bitte nimm meine besten Wünsche und meine Dankbarkeit für alles an, was Ihr beide, Du und Vater, für mich getan habt. Ich werde wieder schreiben, sobald es die Umstände zulassen, was einige Zeit dauern kann. Du kannst darauf vertrauen, dass ich getreu den christlichen Tugenden, die Du mir vermittelt hast, meinen Weg gehen werde. Gott segne Dich in diesem und in allen Jahren.
Es hätte mehr gesagt werden müssen, aber die Zeit reichte nicht. Julian und Sam riefen nach mir. Ich setzte meinen Namen darunter und fügte ein Postskriptum hinzu:
Richte Vater bitte aus, dass ich seine Ratschläge zu schätzen weiß und einer mir schon tüchtig geholfen hat.
Noch einmal: Euer Adam.
»Du hast einen Brief geschrieben«, bemerkte Sam, als er kam, um mich zu meinem Pferd zu scheuchen. »Aber hast du auch mal einen Gedanken darauf verschwendet, wer ihn überbringen soll?«
Ich räumte die Unterlassungssünde ein.
»Der Reservist kann ihn mitnehmen«, rief Julian, der schon hoch zu Ross war.
Der Reservist saß auch schon im Sattel, die Hände auf dem Rücken. Sam hatte das letzte Wort gehabt und entschieden, den Mann gefesselt auf sein Pferd zu setzen und Richtung Westen freizulassen, wo er über kurz oder lang auf andere Reiter stoßen würde. Der Mann war wach, aber, wie gesagt, noch nicht ganz Herr seiner Sinne; er bellte: »Bin ich vielleicht ein Depeschenreiter?«
Ich adressierte den Brief, und Julian nahm ihn und steckte ihn in die Satteltasche des Reservisten. Trotz seiner Jugend und seiner wüsten Frisur und der ramponierten Kleidung machte Julian eine gute Figur im Sattel. Er war natürlich ein Aristokrat erster Güte, doch ich hatte nie wirklich einen Hochgeborenen in ihm gesehen, bis zu diesem Augenblick, als er wie selbstverständlich diesen gebieterischen Ausdruck bekam. Zu dem Reservisten sagte er: »Wir haben dich gut behandelt …«
Der Reservist stieß eine Verwünschung aus.
»Sei still. Du bist in dem Konflikt verletzt worden, aber wir haben dich gefangen genommen und dich freundlicher behandelt als du uns, als die Seiten noch vertauscht waren. Ich bin ein Comstock und verbitte mir jede allzu grobe Erwiderung von einem Infanteristen. Du wirst den Brief des Jungen überbringen, und du wirst es gerne tun.«
Der Soldat war regelrecht bestürzt über die Behauptung, Julian sei ein Comstock — er hatte in der Annahme gehandelt, wir seien einfache Ausreißer —, aber er nahm seinen ganzen Mut zusammen und sagte: »Warum sollte ich?«
»Weil es Christenpflicht ist«, sagte Julian, »und weil es, falls dieser Hader mit meinem Onkel jemals beigelegt wird, gut möglich sein könnte, dass es bei mir liegt, ob du deinen Kopf auf den Schultern behältst oder nicht. Haben wir uns verstanden, Soldat?«
Der Reservist nickte.
Und so ließen wir an diesem Weihnachtsmorgen die Ruinen hinter uns, in denen die Kipper A History of Mankind in Space gefunden hatten, das jetzt in meinem Rucksack steckte und das Dasein eines wandernden Gedächtnisses führte.
Mein Kopf schwirrte vor Ideen und Ängsten; doch ich rief mir in Erinnerung, was Julian vor geraumer Zeit über die DNS gesagt hatte und wie sie bestrebt sei, perfekte Kopien herzustellen, sich dann aber fehlerhaft erinnere. Schon möglich, dachte ich, denn mit unserem Leben verhält es sich ähnlich — mit der Zeit an sich verhält es sich auch so, jeder Augenblick stirbt und ist schwanger mit seinem verzerrten Spiegelbild. Heute war Weihnachten: das, wie Julian behauptete, früher einmal ein heidnisches Fest gewesen war, das dem römischen Sol Invictus, dem unbesiegten Sonnengott, gewidmet war; das sich aber zu dem uns vertrauten Fest entwickelt hatte. War es dadurch weniger liebenswert geworden?
(Ich stellte mir vor, ich würde aus der Dominion-Halle in Williams Ford die Glocken läuten hören, obwohl das unmöglich war, weil wir meilenweit entfernt waren und nicht einmal das Abfeuern einer Kanone so weit über die Prärie trug. Das Gedächtnis macht’s möglich.)
Vielleicht traf diese Logik auch für Menschen zu — vielleicht war ich bereits ein ungenaues Echo dessen, der ich erst vor Tagen gewesen war. Und vielleicht traf das auch auf Julian zu. Aus seinen sanften Zügen begann bereits etwas Hartes und Kompromissloses zu sprechen — die erste Manifestation eines frisch entwickelten Julian, angestoßen vielleicht durch seine trotzige Flucht aus Williams Ford. Evolution ist nicht vorhersehbar, sagte Julian immer; sie funktioniert wie eine Schrotflinte; sie trifft, aber sie zielt nicht. Vielleicht können wir gar nicht wissen, was aus uns wird.
Aber das ist Philosophie und nicht besonders hilfreich; also behielt ich es für mich, während wir die Pferde anspornten und der Eisenbahnlinie, dem fernen Osten und der ganzen auf uns einstürmenden Zukunft entgegenpreschten.
Als ich Williams Ford — auf der Suche nach dem Schutz und der Anonymität einer fernen Großstadt — verließ, da fing ich an, die unsägliche Weite unserer Nation zu begreifen und die unglaubliche Vielfalt der Menschen darin. Diese nützlichen Einsichten wurden allerdings unter beträchtlichem Risiko gewonnen, denn wir wurden immer noch von berittenen Reservisten verfolgt, die uns in aller Regel nicht für Reisende, sondern für Ausreißer hielten.
Nachdem wir die Grabungsstätten von Lundsford verlassen hatten, empfing uns wieder offenes Land — von Empfang kann keine Rede sein —, ein trübseliges, baumloses Lehen bar jeder vertikalen Ambitionen von Menschenhand oder Natur. Wolken sammelten sich und verdunkelten den Winterhimmel, und bis zum Nachmittag ritten wir durch Vorhänge aus treibendem Schnee. Unsere bereits müden Pferde waren bald völlig erschöpft — mein Pferd, Rapture, wohl eher als die anderen, denn Sam und Julian ritten junge Wallache vom Landsitz, während Rapture nur ein Arbeitspferd war, mit dünnen Unterschenkeln und merklich älter. So gleichgültig mir sonst die Bedürfnisse von Tieren waren — nicht wenige Pferde und Maultiere hatten versucht, nach mir zu treten, während ich ihren Stall ausmistete, und jeden Funken Mitgefühl im Keim erstickt —, begann Rapture mir allmählich leidzutun, und ich mir auch, und als schließlich die Dunkelheit hereinbrach, ließen Beine, Gesäß und Kreuz nur noch einen Gedanken zu: absitzen und Rast machen.
Aber das war nicht so einfach in der Schneewüste von Athabaska. Ein natürlicher Schutz war nicht zur Stelle, nur eine Landschaft, die so flach war, dass Julian durchaus Recht haben konnte mit seiner Behauptung, hier habe vor Urzeiten ein Meer geschwappt. Sam hielt an und starrte in die düstere, schneeverwehte Ferne, als lausche er auf etwaige Verfolger. Dann winkte er uns ein Stück weit von der Straße fort, was ich für riskant hielt, da sie mehr und mehr unter dem Schnee verschwand. Doch Sam hatte schon lange mit einer Flucht aus Williams Ford gerechnet und sich diese Route zurechtgelegt. Wir folgten den Resten eines Weidezauns, dessen Pfosten sich in der weißen Prärie wie Zahnstummel ausnahmen, bis wir an eine Ruine kamen, ein zerfallenes Farmhaus aus Feldsteinen, von Zeit und Wetter geschunden, aber noch aufrecht genug, um uns und einem bescheidenen Feuer Schutz zu bieten.
Jetzt wurde der Schnee zu unserem Verbündeten und deckte alle Spuren zu. Sam lagerte einen Arm voll Holz ein, das er von den dürren Weiden an einem nahen Bach gehackt hatte. Er hatte sogar an Futter für die Pferde gedacht. Er und Julian machten sich daran, eine Mahlzeit zuzubereiten, während ich die Pferde trocknete und striegelte und aufpasste, dass die hochgeborenen Tiere meinem Rapture nichts wegfraßen.
Ich war selbst nass und durchgefroren, das Farmhaus war duster, und der Wind drang durch die leeren Fenster und Fehlstellen in den Brettern, und ich konnte keine gebrochenen und morschen Dielen leiden und auch keine Wände und Sparren, die ein Dach trugen, obwohl sie zum größten Teil aus Schimmel bestanden. Doch Sam wählte die am besten geschützte Ecke und begegnete ihren zugigen Lücken mit einer Zeltplane aus seinem Gepäck; dann machte er Feuer in einer galvanisierten Wanne auf massiven Steinblöcken, so dass wir die Glut schüren konnten, ohne Gefahr zu laufen, das ganze Haus in Brand zu setzen. Und da Sam so ausgerüstet war wie ein Soldat, der sich auf einen langen Marsch begibt, verfügten wir über Maismehl und Speck und Kaffee und nicht zuletzt über altbackenes Brot und gepökeltes Schweinefleisch aus meiner Satteltasche.
Wir redeten miteinander, während das Feuer knisterte und der Nachtwind wie mit Messern um sich stach. Sam lag mir auf dem Magen, vor knapp zwei Tagen erst war ich ungewollt Zeuge seines religiösen Ritus geworden. Und vielleicht lag ich ihm auch auf dem Magen, denn als wir unsere Pfannkuchen vertilgt hatten, sah er mich an und sagte: »Es war nicht vorgesehen, dass du mitkommst, Adam. In Williams Ford wärst du besser aufgehoben, trotz der Rekrutierung.«
Ich sagte ihm, dass ich mich aus freien Stücken entschieden hätte und wisse, worauf ich mich einlasse; und ich dankte ihm für seine Hilfe und versprach, mich so nützlich wie möglich zu machen.
»Da du unser Los teilen willst, werde ich mein Bestes tun, um dich vor Gefahren zu schützen — versprochen, Adam. Aber zunächst einmal bin ich für Julians Sicherheit zuständig, du kommst erst an zweiter Stelle. Verstehst du, Adam?«
Das klang zwar nicht beruhigend, aber aufrichtig und war im Grunde großzügig. Ich gab mit einem Nicken zu verstehen, dass ich verstanden hatte. Dann holte ich Luft und entschuldigte mich für meine Sprachlosigkeit, als ich mit angesehen hatte, dass er ein Jude war (oder so ähnlich).
»Worüber wir besser den Mantel des Schweigens breiten«, sagte er, »zumindest in der Öffentlichkeit.«
Womit er ganz bestimmt Recht hatte; doch meine Neugier obsiegte, denn zurzeit waren wir sehr weit von jeder Öffentlichkeit entfernt, und so erlaubte ich mir zu fragen, wie lange er denn schon Jude sei und was ihn veranlasst habe, ausgerechnet diesen ehrwürdigen, wenn auch problematischen Glauben anzunehmen.
Soweit ich beurteilen konnte, was sich unter Sams Bart abspielte, verfinsterte sich seine Miene. »Adam … das sind sehr persönliche Fragen …«
»Ja, tut mir leid, bitte entschuldigen Sie, ich dachte nur …«
»Nein — stopp. Wenn wir schon zusammen auf Reisen sind, dann hast du auch das Recht zu fragen. Was mich allerdings verlegen macht — ich habe keine vollständige Antwort.« Er stocherte nachdenklich im Feuer herum, während der Wind durch die Spalten der finsteren Ruine heulte. »Meine Eltern waren Juden, obgleich sie ihren Glauben verheimlicht haben. Als sie starben, war ich sehr jung. Großgezogen wurde ich von einer fürsorglichen christlichen Familie, und als ich alt genug war, ging ich zum Militär.«
Kein Wunder, dass er sich unter Christen zurechtfand. »Aber der Ritus, den Sie praktiziert haben …«
»Mehr Judentum habe ich nicht, Adam. Ein paar schlecht erinnerte Gebete zu bestimmten Gelegenheiten. Beim Militär habe ich eine Reihe Juden kennengelernt und konnte meine Kenntnisse über die religiösen Riten und Grundsätze ein wenig auffrischen. Aber ich kann nicht behaupten, ein frommer Jude zu sein.«
»Warum entzünden Sie dann die Kerzen und sprechen die Gebete?«
»Zu Ehren meiner Eltern und ihrer Eltern und so weiter.«
»Reicht das, um Jude zu sein?«
»In meinem Fall, ja. Das Dominion würde mir sicher zustimmen.«
»Aber Sie verstellen sich richtig gut«, sagte ich und meinte das als Kompliment.
»Danke«, sagte er ein bisschen säuerlich und fügte hinzu: »Wir alle drei werden uns verstellen müssen, und das richtig gut und sehr bald schon. Mein Ziel ist ein Zug Richtung Osten. Aber wir können nicht unter seriösen Leuten reisen — Leuten, bei denen sich die Nachricht von Julians Verschwinden schon herumgesprochen hat. Wir müssen uns als Leute ohne Land ausgeben. Besonders du, Julian, wirst deine Manieren und deinen Wortschatz unterdrücken, und du, Adam«, und hier sah er mich schräg an und so todernst, dass ich schlucken musste, »du musst dir etwas von dem vornehmen Getue der Pächterklasse abschminken.«
Ich erklärte ihm, ich hätte durch die Aufgaben meines Vaters in der Church of Signs viele abhängige Arbeiter und Wanderarbeiter erlebt. Ich wüsste, was für Ausdrücke sie im Mund führten, und wie man spuckte, wenn es nötig war, und wie man fluchte, obwohl ich das nicht mochte.
»Selbst dann«, erklärte mir Sam, »die Männer und Frauen, die dem Glauben deines Vaters folgen, haben sich bereits durch den inneren Drang, einer Kirche anzugehören, von den gemeinsten der Gemeinen abgehoben. In ein paar Tagen werden wir von Dieben, Flüchtlingen, Ehebrechern und Schlimmerem umgeben sein, und nicht einer schert sich um Reue. Es ist kein Problem, euch wie Niedriggeborene aussehen zu lassen, aber die Rolle zu spielen und zu sprechen bedarf einiger Übung. Haltet also möglichst den Mund — das gilt für euch beide.«
Als wolle er uns auf die Probe stellen, verfiel er in brütendes Schweigen.
Wir waren sowieso zu erschöpft, um noch viele Worte zu machen; und trotz der rauen Umstände, obwohl der Wind so laut klagte und die alte Armeedecke so dünn war, die Sam mir gegeben hatte, und ungeachtet dessen, was vor uns lag, fiel ich bald in Schlaf.
Am Morgen bekamen Julian und ich den Auftrag, aus sicherer Entfernung die Ost-West-Straße zu erkunden und militärische Aktivitäten unverzüglich zu melden.
Unsere Pferde hätten Verdacht erregt und so ließen wir sie zurück und pilgerten zum Rand der Hauptstraße, wo wir uns hinter Schneeverwehungen versteckten und warteten. Was wir an Kleidung dabeihatten, hatten wir übereinander angezogen, überhaupt hatten wir alle Vorkehrungen gegen Kälte getroffen, die wir von Sam gelernt und den Militärromanzen eines Mr. Charles Curtis Easton entnommen hatten. Aber nichts davon half wirklich, so dass wir einen Großteil des Nachmittags damit verbrachten, in die Hände zu pusten und mit den Füßen zu stampfen. Es hatte aufgehört zu schneien, und der Wind war eingeschlafen, doch die Temperatur bewegte sich um den Gefrierpunkt, was dazu führte, dass ein gespenstischer Nebel aus der Landschaft stieg, der mir gründlich aufs Gemüt schlug (ich weiß nicht, wie es Julian oder Sam erging).
Am späten Nachmittag hörten wir Kavallerie durch den Nebel kommen. Rasch gingen wir in Deckung. Durch eine Scharte im aufgehäuften Schnee zählte ich fünf Reiter der Athabaska-Reserve. Die üblichen Provinz-Soldaten, die da die Straße herunterkamen, mit Ausnahme des Anführers — ein Veteran mit langem Haar und eiserner Miene. Seine Uniform war in tadellosem Zustand, aber er ritt in einer seltsamen Haltung. Weil ihm, wie ich sah, das rechte Bein fehlte, hatte er sich mit einer speziellen Gurtführung in den Sattel geschnallt. Ein Reservist der besonderen Art — dessen Körper durch den Krieg verstümmelt, aber dessen professioneller Instinkt völlig intakt war.
Als er mit uns auf gleicher Höhe war, zügelte er sein Pferd und drehte den Kopf mal hierhin, mal dorthin, als nehme er Witterung auf. Julian rührte sich nicht, während ich am liebsten Hals über Kopf davongerannt wäre. Ich konnte kaum atmen, und mein Herz raste wie die Maus im Opferstock, und die Stille wurde nur durchbrochen vom Schnauben der Pferde und dem Knarren der Ledersättel.
Dann räusperte sich einer der Reservisten, und ein anderer machte eine witzige Bemerkung, die einen dritten zum Lachen brachte; und der Einbeinige stöhnte und spornte sein Pferd an, und die Kavalleristen ritten weiter.
Wir liefen zu Sam und machten Meldung.
Als ehemaliger Soldat der Kalifornischen Armee war Sam gern in Gesellschaft anderer Soldaten und hatte auf ihren Besuchen in Williams Ford und seinen Reisen nach Connaught mehrere Reservisten kennengelernt. Als Julian den Anführer beschrieb, schüttelte Sam bestürzt den Kopf. »Das muss der Einbeinige Willy Bass sein«, sagte er. »Ein ausgezeichneter Spurenleser. Aber du bist noch nicht fertig, Julian. Weiter, bitte.«
Ich wusste nicht, was er meinte. Julian hatte, wie ich fand, das Kavallerie-Kommando bis ins Detail beschrieben, und ich konnte mir nicht vorstellen, was er ausgelassen hatte (bis auf die Marke der Wichse, mit der Mr. Willy Bass seinen Sattelknauf poliert hatte). Auch Julian schien ratlos, bis ihm das kritische Detail einfiel. Er lächelte.
»Westen«, sagte er.
»Im ganzen Satz bitte, Julian.«
»Die Abteilung kam aus dem Osten und bewegte sich nach Westen.«
»Siehst du. Und was schließen wir daraus?«
»Na ja … wenn sie aus Williams Ford kommen, sind sie jetzt vermutlich auf dem Heimweg.«
»Richtig. Ich glaube aber nicht, dass der Einbeinige Willy mit uns fertig ist, dazu kenne ich ihn zu gut. Es ist die Hartnäckigkeit, die einen guten Fährtenleser ausmacht — der Rest ist Handwerk. Aber wenn er uns im Osten gesucht hat und wieder umkehrt, hat er vielleicht unsere Fährte verloren. Jetzt, denke ich, ist die beste Gelegenheit, uns auf den Weg zu machen.«
Ich erlaubte mir die Frage, wo wir denn genau hinwollten. Sam sagte: »Eine Bekohlungsstation namens Bad Jump. Das Nest hat einen üblen Ruf, und die Geschäfte, die dort abgewickelt werden, sind nicht koscher. Aber das kann uns nur recht sein.«
Bad Jump mochte ja unser Traumziel sein, aber in erreichbarer Nähe lag es nicht. Wir mussten den ganzen Tag und die ganze Nacht durchreiten ohne nennenswerte Rast. Das war hart für uns und noch härter für die Pferde. Doch die Tiere seien nicht unsere Hauptsorge, meinte Sam; in Bad Jump müssten wir sie sowieso verkaufen (oder sonst wie loswerden). Inzwischen hatte ich Rapture aber fast liebgewonnen; er hatte nicht ein einziges Mal nach mir getreten, und es gefiel mir überhaupt nicht, ihn aufzugeben. Es gab aber kein vernünftiges Argument gegen Sams Logik, denn Pferde in einem Zug, das war eine sperrige Angelegenheit. Und außerdem stand den Tieren (eigentlich nur denen von Sam und Julian) die edle Herkunft auf die Stirn geschrieben.
Wir ritten drei Tage und kampierten drei Nächte (Letzteres ist maßlos übertrieben). Ende Dezember war es rau und kalt, und ich konnte vor Zittern kaum schlafen, selbst nicht in den genialen Zufluchtsorten, die Sam für uns aufgetan hatte. Weil die Nächte so klar waren, war ein Feuer weithin zu sehen, und Sam löschte sie gleich wieder. Er hatte großen Respekt vor den Fähigkeiten des Einbeinigen Willy Bass und durchforschte auffallend oft den Horizont in unserem Rücken, und seine Nervosität spornte uns an, auch das Letzte aus uns herauszuholen.
An einem solchen kalten Morgen, lange vor Morgengrauen, krabbelte ich aus unserem improvisierten Zelt ins Freie, um einem menschlichen Rühren zu folgen, und fand mich unter einem Himmel, in dem ungewöhnlich lebhaft und klar ein Nordlicht glühte. Ich stand da und starrte nach oben, die Luft war so klar wie Süßwassereis, und die sich verändernden Lichter im Zenit sahen für meine müden Augen wie die grün überschatteten Parkwege, vergoldeten Wände und aus Eis geschnitzten Brüstungen einer gewaltigen Himmlischen Stadt aus. Der »Himmel«, hätte Flaxie wohl gerufen, obwohl das hier ein Himmel war, der weit nüchterner und gleichgültiger war als der, den sie meinte. Nach dem Dominion Reader for Young Persons, aus dem Mutter so gerne zitiert hatte, war der »Himmel« ein Neues Jerusalem: eine prächtige Stadt mit vielen Toren, eines für Presbyterianer, eines für Baptisten und so fort — aber keines für Juden oder Atheisten.[14] Mir kam der Gedanke, dass ich ja zu einer anderen Stadt wollte, greifbarer zwar, aber weniger himmlisch, und dass diese glühende Ankündigung am Himmel so nahe bei Gott war, wie ich ihm je kommen würde.
Ich hätte bis in alle Ewigkeit dagestanden, gebannt von diesen Gedanken, hätte Rapture nicht geschnaubt und mich durch das vertraute Geräusch in die materielle Welt zurückgerufen.
Als Bad Jump in Sichtweite kam, ein Schmutzfleck an der dünnen Linie der Eisenbahntrasse, lahmte der arme Rapture, er war mit dem Huf in das Erdloch eines Ziesels geraten. Und ich fühlte mich auch wie gerädert, war aber heilfroh, dem Einbeinigen Willy Bass entkommen zu sein.
»Denkt immer daran, dass wir ein Königreich der Diebe betreten«, warnte Sam. »Der Umgang in diesen Kohlenestern folgt raueren Regeln, als wir es von Williams Ford gewöhnt sind. Man wird uns viel abknöpfen für das bisschen, das wir haben wollen, und wenn ihr das Geschäft für unfair haltet, spart euch die Einwände. Es ist sowieso besser, ihr haltet den Mund — und, was das angeht, zieht euren Hut tief ins Gesicht. Als Erstes suchen wir die Ställe eines Pferdehändlers auf, und dann, mit ein bisschen Glück, steigen wir in den Zug.«
Julian wäre wahrscheinlich sogleich aufgefallen, hätte er sich nicht mit beiden Händen Ruß ins Gesicht geschmiert. (Es ist kein ehernes Gesetz, dass Aristokraten hellhäutiger sind als Pächter oder Arbeiter — es gibt viele dunkelhäutige Aristokraten und keinen Mangel an hellhäutigen Arbeitern —, doch die Tendenz ist unverkennbar. Das habe, wie man mir erklärt hat, mit dem Niedergang der Städte im vorigen Jahrhundert zu tun, damit, wie die Bevölkerungen versprengt worden seien und die Besitzenden die umherziehenden urbanen Massen als Zwangsarbeiter rekrutiert hätten.) Meine Hautfarbe war kein Problem, schon eher mein Vokabular oder meine Manieren. Sam hatte seine alte Armeejacke gewendet und heute früh einen Topf Wasser gekocht und seinen Bart abrasiert — eine schockierende Verwandlung. Mit Bart hatte er immer wie das Musterexemplar eines alternden Militärstrategen ausgesehen. Ohne sah er erschreckend jung und verwundbar aus. Die Klinge entblößte eine kantige, mehrfach zerschrammte und blutende Kinnlade und einen breiteren und beweglicheren Mund, als der Bart je hätte vermuten lassen.
(Das könne unmöglich eine »Evolution« sein, alberte ich mit Julian, weil es doch so plötzlich passiert sei. Aber in der darwinistischen Philosophie, meinte Julian, seien solche drastischen Veränderungen berücksichtigt — sie würden »katastrophal« genannt. Seitdem machte Julian des Öfteren Bemerkungen über Sams »katastrophales« Rasiermesser und beschrieb die Schnitte und Schrammen in Sams Gesicht als »punktualistisch«, eine Bezeichnung, deren Witz mir allerdings entging.)
Wir ritten einen leichten Abhang hinunter zu den Pferchen und Ställen des Pferdehändlers. Bad Jump glich aus dieser Entfernung einem Konglomerat aus Holzschuppen und Wellblechbaracken, festgekrallt in das unmittelbare Umfeld des Bekohlungsturms wie ein Krustentier am Schiffsrumpf, und ich fragte Sam, wie so ein primitives Städtchen mitten in der Prärie entstehen könne, wo es doch weit und breit keine Landwirtschaft gebe, um es zu ernähren.
»Das Nest ist ein Produkt der Schienengebühr«, sagte Sam, »und die wird von den aristokratischen Grundbesitzern der Küstenhäfen festgesetzt.«
»Wie kann denn eine Schienengebühr eine kleine Stadt erzeugen?«
»Ein Festpreis erzeugt immer einen schwarzen Markt. Das heißt, es kann ein Profit gemacht werden, unsichtbar für die Stationsmeister und ihre Mitarbeiter im Bahn-Trust. Arbeitsflüchtige zum Beispiel dürften niemals ein Ticket für ordentliche Personenwagen kaufen. Aber es gibt ›Phantomwagen‹ — Güterwagen, die mit ein paar primitiven Annehmlichkeiten ausgestattet sind —, die durchs Land fahren, fast heimlich, und man kann die Plätze zu irgendeinem Preis mieten. Und wo eine Art von Schwarzhandel blüht, blühen bald andere und so fort. Dieser Händler zum Beispiel«, sagte Sam, als wir durch ein Eisengatter gingen, hinter dem ein immenser Besitz an Schuppen, Ställen und Pferchen lag, »handelt hauptsächlich mit gestohlenen Pferden. Von Zeit zu Zeit möchte ein Reservist seinen Bundesgaul gegen Bares tauschen und sich per Zug aus seinem Staat ›entfernen‹. Kein lizenzierter Händler würde so ein Geschäft machen, aber andere sind bereit, Gefängnis oder Schlimmeres zu riskieren, solange der Preis stimmt.«
Im Winter sei das Geschäft ruhiger, sagte Sam, aber es höre nie auf. Das bestätigten die gut gefüllten Pferdeställe und Pferche und die Anzahl der Arbeiter, die hier zugange waren. Wir ritten zum Haupthaus oder Büro, das geringfügig größer war als der Durchschnitt der benachbarten Hütten. Die Stallarbeiter sahen nicht einmal auf, als wir kamen; schließlich erschien eine ungekämmte Frau in der Haustür. Sam fragte nach dem Besitzer, und die Frau drehte sich wortlos um und ging nach drinnen, und an ihrer Stelle tauchte ein ungeschlachter Kerl auf.
Winslow hieß er, bot aber nicht die Hand zur Begrüßung. Stattdessen starrte er uns mit gespieltem Desinteresse an und meinte, es sei Sonntagmorgen, und wir würden wohl vor gar nichts zurückschrecken.
»Ich hätte da etwas für Sie«, sagte Sam.
»Ich kaufe im Moment nicht.« Aber Mr. Winslows Blick verweilte auf den beiden Edelpferden.
»Vielleicht können wir das unter vier Augen besprechen«, sagte Sam, und Mr. Winslow seufzte und machte Gesten, die zeigen sollten, wie wenig Lust er verspürte, seine Zeit zu verplempern, winkte Sam aber schließlich doch ins Haus, um mit ihm zu feilschen. Unterdessen blieben Julian und ich bei den Pferden und sondierten die Umgebung.
Um die Tiere in den Ställen kümmerte man sich, soweit wir das beurteilen konnten, nur oberflächlich. Rapture bei diesen Leuten zu lassen ging mir gegen den Strich, obwohl ich einsah, dass es keine andere Lösung gab. »Es wird schon wieder«, flüsterte ich meinem lahmenden, aber treuen Reittier zu; ich strich ihm über die Mähne und sprach wie jemand, der glaubt, was er sagt.
Hinter dem Handelsposten von Mr. Winslow sah man die Türme des Bekohlungssilos, da wo die Eisenbahntrasse die schneebedeckte Ebene teilte. Der Anblick des Schienenstrangs ließ mein Herz höher schlagen. Ich war ein- oder zweimal in Connaught gewesen — das war der Kopfbahnhof, der Williams Ford versorgte —, aber ich war noch nie mit dem Zug gefahren. Züge und ihre Schienen und Brücken hatten mich immer fasziniert. Ich fragte mich, wie es wohl war, damit zu fahren — zu spüren, wie die Meilen unter mir hinwegglitten wie die Wolken unter den Schwingen eines Vogels. Mit Fluggeschwindigkeit davongetragen zu werden zu den sagenhaften Großstädten und Häfen des Ostens!
Als Sam aus Mr. Winslows Bruchbude kam, sah er grimmig drein. Er hieß uns abzusitzen und unsere Rucksäcke mit Lebensmitteln aus den Satteltaschen zu füllen, denn alles andere sei verkauft: die Pferde, die Sättel, die Gewehre. Ich protestierte — würden wir die Waffen nicht brauchen, um uns zur Wehr zu setzen? Doch Sam verwies darauf, dass ein Gewehr ein sperriger Gegenstand sei, den man schwerlich verstecken könne, und dass keiner unserer Mitreisenden so etwas bei sich trage. Dann kam Winslow aus der Tür, nahm die Pferde unter die Lupe, missbilligte mit dem entsprechenden Zungengeräusch irgendwelche unsichtbaren Defekte, konnte aber nicht ganz verhehlen, wie zufrieden er mit dem Zustand der beiden Edelwallache war.
»Und Mr. Winslow ist so freundlich, uns heute Nacht auf einem Heuboden schlafen zu lassen«, sagte Sam. »Morgen früh kommt hier ein Zug durch, vielleicht mit Verspätung durch Schneeverwehungen in den Bergpässen, wir werden sehen. Er wird uns schon mitnehmen — vorher müssen wir aber noch die Tickets kaufen.«
Rapture bedachte mich mit einem hochmütigen Blick, als ich ihm Lebewohl sagte. Dann wollte ich nur noch an eines denken: die aufregende Fahrt mit der Eisenbahn.
Sam ging voran, als wir uns der Menge der Möchtegernflüchtlinge näherten, die an der Bekohlungsstation kampiert hatten. Diese landlosen Leute kreisten zwischen Baracken und bunten Zelten, wo Verkäufer heiße Mahlzeiten, Handwaffen, Trödelkram und Glücksbringer verschacherten. Die meisten Reisenden, Verkäufer und auch Kunden, waren Männer, doch es gab auch ein paar Familien mit Kindern in der Menge. Ich fragte Sam im Flüsterton, was diese Leute hierher verschlagen habe.
Manche seien Arbeitsflüchtige aus den großen Landgütern im Westen, sagte er, auf der Flucht vor Vertrag und Gesetz. Manche seien wandernde Landarbeiter oder freie Fabrikarbeiter, gestrandet durch typische Bedingungen des Schwarzmarktreisens. Wieder andere seien Kleinbauern, verdrängt durch expandierende Landgüter. Viele seien Verbrecher der übelsten Sorte. Die meisten warteten auf den nächsten Zug nach Osten.
Ich hatte Angst, wir könnten gezwungen sein, mit diesen Menschen um einen Platz im Zug zu raufen. Vielleicht zogen wir den Kürzeren und mussten zurückbleiben — keine erfreuliche Aussicht mit dem Einbeinigen Willy Bass im Nacken —, doch Sam beruhigte mich und meinte, seine Rücklagen würden allemal für drei sichere Plätze reichen.
Sam verschwand in dem Holzgebäude, in dem die Büros des Bahn-Trusts untergebracht waren, und kam sobald nicht wieder. Also streunten Julian und ich ein bisschen zwischen den Verkaufsständen herum, besahen uns gefärbte Decken und Alkoholöfen, Taschenmesser und kleine Glücksschweinshaxen. Ein Verkäufer lockte mich mit Fleischspießchen, die über einem Holzkohlefeuer gegrillt wurden — der Duft machte mich nach Tagen, in denen wir aus der Satteltasche in den Mund gelebt hatten, förmlich kirre —, aber Julian meinte, das Fleisch stamme doch bestimmt von Tieren, die unser Mr. Winslow aus gewissen Gründen nicht mehr nach Osten verfrachten könne: älteren Maultieren und tuberkulösen Rindern. Mir verging der Appetit.
Schließlich trat Sam aus dem Bahngebäude und sah sich mit grimmiger Zufriedenheit nach uns um. Er hatte uns Plätze im allernächsten Zug gekauft, und wir brauchten nur noch ein Mal in Bad Jump zu übernachten …
Mr. Winslow zeigte sich unerwartet großzügig, und wir durften auch diese Nacht auf einem seiner Heuböden verbringen. Sam teilte drei Wachen ein. Julian übernahm die erste, Sam die zweite und ich die letzte — die Morgenwache, also die kälteste von allen. Als Sam mich aufweckte, warf ich mir die Decke um und nahm seinen Platz an der offenen Luke ein, durch die der Wind ungehindert Zutritt hatte, und überhäufte mich so lange mit losem Heu, bis ich nur noch aus zwei Augen bestand, die aus einem Heuhaufen lugten.
Ereignislose drei Stunden verstrichen, in denen ich gegen Kälte und Müdigkeit kämpfte. Dann bekam der Himmel jenen perlmuttartigen Glanz, mit dem die Dämmerung beginnt. Der westliche Horizont entblößte seine Wintersilhouette, und ich sah etwas, das mich in seinen Bann zog: eine pechschwarze Rauchsäule, weit weg, aber beständig näher kommend. Es war der Zug. (Die meisten Lokomotiven damals verbrannten mehr Bitumenkohle als Anthrazit, und ihre schmutzige Handschrift war an klaren Tagen weithin sichtbar.)
Ich befreite mich aus dem Stroh und wollte die anderen wecken, als Mr. Winslows Frau mir zuvorkam, sie war die Leiter aus dem Stall heraufgeklettert und rief energisch: »He, Jungs! Zug aus dem Westen — Kavallerie aus dem Norden! Seht zu, dass ihr wegkommt!«
Ganz Bad Jump schien zu wissen, dass die Kavallerie kam; bis wir gepackt und den Stall verlassen hatten, war der Teufel los.
Wir eilten zur Trasse hinüber und sahen dem Zug entgegen.
So sehr ich mich vor der Gefahr aus dem Norden fürchtete, die Ankunft der Lokomotive und die endlose Schlange aus Güterwagen schlugen mich in ihren Bann. Manche Waggons trugen Aufschriften wie SULFUR oder BAUXITE oder NITRE und mussten über Kalifornien und Kaskadien oder die schrecklichen Bergwerke der Desert Southwest gekommen sein. Manche transportierten Container aus Asien, die aus unseren pazifischen Häfen kamen; die chinesischen Schriftzeichen erinnerten an frisch gefallene Mikadostäbchen. Es gab Waggons, die nach Rindern stanken, nach Ziegen und Schafen, gefolgt von Waggons, die nach Holz und Eisen rochen. Die Lokomotive, die das alles hinter sich herschleppte, war in meinen Augen ein schönes Exemplar — die Pächterjungen in Williams Ford hätten sie »stählernes Streitross« genannt. Ihre Eisen-, Messing- und Stahlteile glänzten wie frisch poliert. Das Zugpersonal hatte zwischen Scheinwerfer und Schornstein ein Karibugeweih angebracht, damit sie wild aussah; und sie erreichte die Bekohlungsstation mit einem dampfenden Zischen und metallenen Klingen, dass ich wie gelähmt war vor Ehrfurcht. Wie die Faust eines Riesen fiel ihr Schatten über die Prärie.
Sam und Julian, die mehr Züge gesehen hatten als ich, zerrten mich am Kragen aus meinem Trancezustand, als die Flut der Möchtegernpilger zu den »Phantomwagen« schwappte. In diesen Waggons warteten Reiseagenten, wie man sie nannte — kleinere Angestellte des Schienen-Trusts, die ihr Einkommen aufbesserten, indem sie die Schwarzmarktpassagiere kontrollierten und einwiesen.
Nicht alle Entwurzelten von Bad Jump hatten Tickets gekauft, aber alle waren darauf bedacht, der anrückenden Kavallerie zu entkommen. Viele waren abhängige Arbeiter, die von ihren Landgütern geflohen waren und schon aus Angst vor der verbrieften Strafe nicht zu ihren Arbeitgebern zurückwollten; andere hatten Verbrechen begangen, die noch schwerer wogen als »Diebstahl zu entrichtender Arbeit«; oder hatten Angst vor der neuen Rekrutierungswelle. Und ihre Panik erzeugte ein unerwartetes Gedränge. Reiseagenten brüllten aus den offenen Türen der Phantomwagen, wollten von jedem das gültige Ticket sehen und wehrten verzweifelte Nachzügler ab. Sie packten ihre Gewehre, und in unserer Hörweite fiel ein Schuss, der den Mob noch mehr anstachelte.
»Bleibt dicht hinter mir!«, befahl Sam, als wir uns einen Weg durch den lebendigen Verhau aus Ellbogen und Knien bahnten. Es gab sechs Phantomwagen hintereinander; unserer trug die Nummer zweiunddreißig und war der letzte in der Reihe. Der verantwortliche Reiseagent war ein stämmiger Mann in einer ramponierten Trust-Jacke, an jeder Hüfte eine Pistole und in der linken Hand ein Gewehr. Er schoss zweimal in die Luft, während ich zusah; doch der Mob drückte weiter, und der Mann wurde sichtlich nervös.
»Der Zug wird nicht lange warten«, sagte Sam. Auffallend hastig wurden Kohle und Wasser nachgetankt. »Dahinten, seht ihr?«
Auf dem Kamm eines niedrigen Hügels im Nordwesten war eine Schar von Reitern aufgetaucht. Mehr war aus dieser Entfernung nicht auszumachen, doch ich war überzeugt, ihr Anführer war der Einbeinige Willy Bass.
»Nur mit gültigem Ticket«, schrie der Transportagent, als wir uns durch die Menge der heruntergekommenen Flüchtlinge drängten. »Zeigt eure Papiere, oder ich schieße! Kein Zutritt ohne Papiere!«
Der Waggon füllte sich rasch. Ich warf einen Blick über die Schulter: Die Kavalleristen näherten sich dem Zug in gleichmäßigem Galopp. Sam winkte mit unseren Papieren wie mit einer Flagge. »Kommt schon!«, rief der Agent, und wir wurden wie Postsäcke in den Waggon gehievt. Dann feuerte der Mann in die Luft und drohte, den nächsten zu erschießen, der sich ohne Ticket auf drei Fuß heranwagte.
Die Kavallerie galoppierte heran, der Abstand schrumpfte zusammen. Der Zug ruckte und fuhr an. Der Agent wandte sich an den erstbesten Passagier und sagte: »Sie sichern die Tür!«
Der Mob ohne Ticket schrie auf, als er seine Hoffnungen dergestalt schwinden sah, und die Tür begegnete, während sie zugeschoben wurde, vielen scharrenden Händen und Fingern. Ich konnte eben noch einen Blick auf die Reiter erhaschen, die unter der Führung des Einbeinigen Willy Bass durch Bad Jump sprengten und durch ihr Brüllen und Gestikulieren die Abfahrt des Zuges verzögern wollten. Dann rumste die Tür zu und wurde verriegelt. Durch eine Ritze in der Bretterwand konnte ich den blauen Himmel sehen, ein paar perlweiße Wolken und die Prärie, die sich gemächlich zu bewegen schien, als der Zug mit dem Karibugeweih Fahrt aufnahm.
Was sich im Phantomwagen zutrug, würde ein ganzes Buch füllen, es würde allerdings ein trauriges und nicht selten obszönes Buch. Ich will nur das erzählen, was uns unmittelbar betraf.
Der Wagen war eine umgebaute Frachtkiste, die eigentlich schon vor Jahren ausgedient hatte. Es handelte sich im Grunde um einen einzigen Raum, lang und schmal, an einem Ende mit einer Lage aus losem Stroh und ein paar fest geschnürten Ballen, auf denen man sitzen oder liegen konnte; am anderen Ende stand ein Ofen mit dem Abzug in der Decke und ein Stuhl, auf dem der Reiseagent saß, das Gewehr auf dem Schoß und alles im Blick. Außerdem gab es noch ein Wasserfass, ein Whiskeyfass und ein Fass mit Pökelfleisch, vermutlich vom Pferd. Die Wände bestanden aus schlecht verbundenen Planken, durch die es kräftig zog. Das bisschen Tageslicht, das durch die Ritzen fiel, wurde durch die Ofenglut und den Schimmer von drei, vier Lampen ergänzt, die von der Decke hingen.
Unsere Mitreisenden waren von der besten und von der schlimmsten Sorte, die mir je begegnet ist, von Letzterer gab es deutlich mehr.
Während Bad Jump hinter uns zurückblieb, stellten wir uns ein paar Leuten vor. Ich für mein Teil hielt möglichst den Mund, wie Sam verordnet hatte, und begnügte mich mit einem Minimum an Höflichkeiten; doch ich erlag von Zeit zu Zeit meiner Neugier. Ich war noch nie solchen Leuten begegnet. Da gab es zum Beispiel ein Dutzend Abhängige, die von einem grausam geführten Landgut in Kalifornien kamen und Spanisch sprachen und auf dem Oberarm Tattoos von weinenden Rosen trugen. Es gab Rinderhirten und Schäfer, die ausweichende Antworten gaben, wenn man sie nach ihrer Herkunft fragte. Da waren Schwerarbeiter, die im Osten Fuß fassen wollten, und viele verschlossene Einzelgänger, die Beleidigungen knurrten, wenn man sie ansprach, oder ihre Geselligkeit aufs Kartenspielen beschränkten, das in dem Moment ausbrach, als wir Bad Jump verließen.
Es gab mindestens einen redegewandten und belesenen Mann an Bord. Er hieß Langers und sagte von sich, er sei ein »Kolporteur«, das ist ein Hausierer, der religiöse Traktate verkauft. Sowie sich der Zug in Bewegung gesetzt hatte, öffnete Langers seinen großen Musterkoffer und begann seine Ware zu, wie er sagte, »Discountpreisen« anzubieten. Erst war ich erstaunt, dass er so etwas auf sich nahm, da doch die Mehrheit der Passagiere aller Wahrscheinlichkeit nach Analphabeten waren. Doch bei näherem Hinsehen zeigte sich, dass seine Broschüren nicht viel mehr waren als Bilderbücher, so aufgemacht, dass sie religiöser Literatur ähnelten.[15] Sie waren widerwärtig, und ich rückte von dem Kolporteur ab; der allerdings ein flottes Geschäft machte unter den Arbeitern und Flüchtlingen, deren Appetit auf religiöse Unterweisung nahezu unersättlich schien.
Viele von den Männern waren Lohnarbeiter, und so kamen wir im Laufe des Nachmittags in den Genuss vielstimmiger Refrains von Piston, Loom, and Anvil, der populären Hymne der Industriearbeiter. Ich hörte sie damals zum ersten Mal:
By Piston, Loom, and Anvil, boys,
We clothe and arm the nation,
And sweat all day for a pauper’s pay,
And half a soldier’s ration …[16]
(wiewohl ich sie seitdem viele Male gehört habe), und sie beeindruckte mich vor allem durch die unbeholfenen Reime und das Aufwieglerische in den späteren Versen. Ich wollte von Julian wissen, warum das Lied so aggressiv war, und er erklärte mir, dass der anhaltende Krieg in Labrador ganz neue Industrien erzeugt habe, die sehr viele Mechaniker und Lohnarbeiter einstellten. Die Unzufriedenheit dieser sich abzeichnenden Klasse habe sich vor kurzem Luft gemacht. Und diese Unzufriedenen, meinte Julian, könnten womöglich die traditionelle ländliche Wirtschaftsstruktur von Landgut und Abhängigen verändern.
Ich für mein Teil hatte Heimweh und wenig Lust auf die Gesellschaft von militanten Mechanikern, die darauf aus waren, die gegenwärtige Ordnung auf den Kopf zu stellen. Williams Ford war trotz seiner Ungerechtigkeiten lange nicht so unwirtlich wie Bad Jump oder dieser Phantomwagen, und ich wünschte, ich hätte nie dort weggemusst.
Als der Tag zur Neige ging, hatte sich meine Gefühlslage noch verschlechtert. Passagiere standen Schlange für eine heiße Mahlzeit aus dem blubbernden Topf auf dem Ofen, während der Transportagent Rationen aus dem Whiskeyfass verkaufte.[17] Ich saß im hinteren Teil des Wagens und trank in
kleinen Schlucken Schmelzwasser aus einer Feldflasche und hätschelte meine Traurigkeit.
Nicht lange, und Julian setzte sich zu mir.
Er hatte in den letzten Tagen viel von seiner eupatridischen Weichheit verloren, und der spärliche Bart, der jetzt zu sprießen begann, sollte später zu seinem Markenzeichen werden. Hände und Gesicht waren schmutzig — erschreckend schmutzig, wenn man wusste, wie gern er badete. Er hatte dasselbe durchgemacht wie ich; und trotzdem konnte er jetzt lächeln und mich fragen: »Was geht dir denn so an die Nieren, hm?«
»Das fragst du?« Ich wies mit der offenen Hand auf die Passagiere, den qualmenden Ofen, den grimmigen Reiseagenten und das widerliche Loch im Boden, das als Abort diente. »Wir sind an einem schrecklichen Ort unter schrecklichen Menschen.«
»Genossen auf Zeit«, sagte Julian unbekümmert, »alle auf der Suche nach einem besseren Leben.«[18]
»Es wäre nicht so schlimm, wenn sie sich wie Christen benähmen.«
»Wer weiß? Mein Vater hatte viel mit solchen Menschen zu tun, und er führte sie in die Schlacht, wo weniger ihre Manieren als ihr Mut zählte. Und das ist etwas, das hat nichts mit Herkunft oder Ansehen zu tun — entweder man hat es, oder man hat es nicht. In Panama haben ihm Menschen das Leben gerettet, die man dort Bettler oder Diebe nannte, und er hat sich das zu Herzen genommen.«
So einer Gesinnung war ich bereits in den literarischen Werken eines Mr. Charles Curtis Easton begegnet, wo sie mir (zugegebenermaßen) besser gefallen hatte. »Muss ich also das Vulgäre tolerieren, weil mir ein Kotzbrocken irgendwann einmal das Leben retten könnte?«
»Das richtig Vulgäre soll man natürlich nicht tolerieren. Das Entscheidende ist aber, Adam, dass die Normen, an denen wir so etwas messen, anpassungsfähig sind oder sein sollten, und sie weiten oder verengen sich, je nach Ort oder Zeit.«
»Vermutlich machen sie eine Evolution durch«, sagte ich grimmig.
»Das machen sie tatsächlich, und wenn du willst, dass deine Reisen ein Erfolg werden, solltest du das beherzigen.«
Ich würde mir Mühe geben, sagte ich halbherzig. Doch ein Vorfall an diesem Abend sollte schmerzhaft illustrieren, wie Recht Julian hatte. Der Zug mit dem Karibugeweih hielt an einer Bekohlungsstation, und zwei weitere Reiseagenten kamen an Bord, um den einen abzulösen, der uns bis jetzt beaufsichtigt hatte. Bei diesem Wechsel bekam ich flüchtig die Außenwelt zu sehen, die im Dunkeln gerade so wie Bad Jump aussah: Wellblechbaracken und ein Präriehorizont. Ein paar Schneeflocken wirbelten in den Phantomwagen, als die beiden in ihren Fellmänteln zustiegen; jeder trug ein zerschundenes Gewehr und einen Patronengürtel über der Schulter. Dann wurde die Tür wieder zugemacht und die Ofenglut grellrot geschürt. Unsere neuen Aufseher nahmen ihre Plätze vorne im Wagen ein, und alle waren lammfromm, bis deutlich wurde, dass die beiden kein besonderes Interesse an unserem Benehmen hatten, solange es nicht zum Aufruhr kam. Dann brach sich der alte Trubel wieder Bahn.
Sam und Julian riefen mich nach vorne, wo man um den Ofen herumstand. Ich stellte mich widerstrebend dazu. Woanders sang jemand ein Lied, und Julian stimmte jedes Mal mit in den Refrain ein. Vielleicht hätte ich auch mit einstimmen sollen, schon aus Freundschaft zu Julian. Doch das Lied passte mir nicht. Es ging um eine junge Frau, die auf dem Weg in die Kirche ihren Schal verlor — aber das war nur der Anfang ihres Unglücks, denn täglich verlor die Unglückliche ein weiteres Stück ihrer Kleidung, was darin gipfelte, dass sie am Samstagabend das verlor, »was eine sittsame Frau höher schätzt als alles andere« — ihr Schicksal wurde bis ins kleinste Detail beschrieben. Das Lied provozierte viel Gelächter und Vergnügen. Mir entging der Humor darin.
Dann kreiste ein Flachmann um den Ofen, und der Mann zu meiner Linken spülte sich mit dem Zeug den Mund und wollte es mir weiterreichen.
»Nein danke«, sagte ich.
Der Mann war nicht viel älter als ich. Er war groß und sah heruntergekommen aus und hatte die fadenscheinige Wollmütze bis auf die Ohren gezogen. Sein Gesicht war gerötet, und so herzhaft er mitgesungen hatte, jetzt bekam er schmale Augen und fragte: »Was heißt: nein danke?«
»Geben Sie die Flasche dem Nächsten; ich bin kein Trinker.«
»Kein Trinker!«
»Noch nie einer gewesen.«
»Sie wollen nicht trinken! Warum nicht?«
Er schien wirklich neugierig, und ich suchte nach einer passenden Antwort. Mir fiel ausgerechnet der Dominion Reader for Young Persons ein, woraus Mutter sonntags immer vorgelesen hatte. Ein Buch, randvoll mit Sprüchen und Alltagsweisheiten, und ich konnte vieles daraus auswendig. Früher, wenn ich Julian ärgern wollte (oder ihm die Argumente für die Mond-Besuche ausgingen), war ich nie um ein Zitat verlegen gewesen: Beschaffenheit und Position der Erde zu diskutieren bestärkt uns nicht in unserer Hoffnung auf das kommende Leben.[19] Dann hatte er sich nicht mehr eingekriegt vor Empörung — ein unterhaltsames Spektakel, wenn man dazu aufgelegt war.
Heute Abend kam mir ein Zitat aus dem Kapitel »Enthaltsamkeit« in den Sinn. Ich wandte mich an den Mann mit dem Flachmann und sagte: »Ich würde keinen Dieb in den Mund nehmen, der mir das Hirn stiehlt.«
Er blinzelte mich an. »Sagen Sie das noch mal.«
Ich hatte angenommen, dieser Spruch über das Laster des Alkohols sei allgemein bekannt, und begann ihn zu wiederholen: »Ich würde keinen Dieb in den Mund nehmen …«
Ein Faustschlag unterbrach mich.
Es war mir unbegreiflich; Lymon Pugh war ein einfacher Mann, der nicht mit Metaphern und Vergleichen aufgewachsen war, und so ein Mann dachte, ich hätte ihn einen Dieb genannt oder darauf angespielt, was er in den Mund zu nehmen gedachte.
»Ich will mit dem Mann kämpfen, der das zweimal sagt«, erklärte er laut. »Stehen Sie auf!«
Diesem Kampf konnte ich ohne Gesichtsverlust nicht mehr ausweichen. Doch Mr. Pugh war ein furchteinflößender Gegner. Er straffte die Schultern und krempelte die Hemdsärmel hoch und entblößte muskulöse, zernarbte Unterarme. Die großen, zu Betonfäusten geballten Hände waren ähnlich zernarbt, und sein rechter kleiner Finger war nur noch ein Stummel.
Nun hatte Sam Godwin mich im Kampfsport trainiert, also hob ich mutig meine Fäuste und setzte einen Fuß vor den anderen, um deutlich zu machen, dass ich nicht klein beigeben würde.
Die Leute traten zurück, um uns Platz zu machen. Die Kartenspieler unterbrachen ihre Spiele, und hier und da wurden Wetten platziert. »Na, kommen Sie doch«, höhnte mein Herausforderer, »schlagen Sie zu, versuchen Sie’s wenigstens!«
Er hatte keine formale Ausbildung und ging mit sehr viel Elan zur Sache. Meine Wange brannte noch von seinem ersten Schlag, und ich wollte ihm seine Selbstgefälligkeit heimzahlen und täuschte einen Schlag mit der Linken vor und landete eine rechte Gerade. Der Schlag tat seine Wirkung, und Lymon Pughs Augen weiteten sich, als ihm die Luft wegblieb; das Publikum murmelte beifällig.
»Gut so!«, hörte ich Julian schreien.
Lymon war überrascht, aber keines Besseren belehrt. Sowie er sich erholt hatte, nahm er Schwung und drosch mit Wonne und Armen wie Dreschflegel auf mich ein.
Hätte er ordentlich gekämpft, mit Stil und Anstand, so wie ich, dann hätte ich ihn bestimmt besiegt. Aber Lymon Pugh hatte keine Ahnung vom Kampfsport, er setzte seine narbigen Hände und Arme wie Keulen ein. Ein paar von diesen Wirbelschlägen reichten, um meine Arme zu betäuben. Pughs Arme waren dagegen so empfindlich wie Pökelfleisch, und das nutzte er voll aus und durchbrach zweimal meine Deckung und landete schließlich einen so furchtbaren Treffer, dass mein Kopf zum Abschlussböller eines Feuerwerks wurde und meine Beine vollends die Orientierung verloren.
Bevor ich wieder Herr meiner Sinne war, wurde Mr. Pugh zum Sieger erklärt; er tanzte, die Mütze schwenkend, im Kreis und gab die Huplaute eines triumphierenden Schimpansen von sich.
Sam und Julian brachten mich zu einem Heuballen im Heck des Waggons, wo Sam ein Taschentuch über mein blutendes Gesicht deckte.
»Ich habe die Deckung vernachlässigt«, sagte ich mit belegter Stimme. »Eine Zumutung für euch, tut mir leid.«
»Im Gegenteil«, meinte Sam. »Ob es dir bewusst ist oder nicht, du hast genau das Richtige getan. Soweit es diese Leute betrifft, ist dir deine Arroganz herausgeprügelt worden — du bist jetzt nicht besser und nicht schlechter als sie.«
Das war allerdings ein bitterer Trost, und er bot wenig Linderung im lärmenden Getöse der Nacht.
Irgendwann siegte der Alkohol, verebbte der Radau, kippte auch der Letzte um, und alles döste unter dem teilnahmslosen Blick der Reiseagenten. Schließlich fand ich in den Schlaf, obwohl meine Verletzungen und die kalte Luft, die durch die Ritzen winselte, mich von Zeit zu Zeit weckten.
Spätnachts in einem dahinrollenden Zug aufzuwachen hat etwas Trauriges und Beklemmendes. Die Räder klicken den knöchernen Rhythmus, die Lokomotive grollt wie ein ferner Leviathan, und von Zeit zu Zeit stößt die Pfeife einen Schrei aus, so einsam, als spreche er für die ganze, weite, mondlose Nacht.
Doch es gab eine Ausnahme in dieser Monotonie, und ich hätte ihr mehr Aufmerksamkeit schenken sollen. Ich träumte unzusammenhängend von Williams Ford und von Flaxie, die an einem Sommernachmittag am Fluss spielte, als ich einen leichten Ruck spürte und merkte, wie der Phantomwagen allmählich zum Stehen kam.
Es folgte ein Klirren und Poltern und Stille und noch mehr Klirren, bis der Zug wieder anfuhr. Ich überlegte, ob ich Sam wecken sollte, der ganz in der Nähe schnarchte. Aber ich wollte mich nicht blamieren. Sam war schon so oft mit dem Zug gefahren, und das hier war bestimmt nichts anderes als ein weiterer Stopp zur Bekohlung gewesen oder eine Pause an einem Rangiergleis, wo eine Nebenstrecke die Hauptstrecke kreuzte. Die Reiseagenten, die im Schein der Glut kauerten, schienen keine Notiz zu nehmen, also ließ ich die Sache auf sich beruhen.
Der nächste Tag verstrich wie der vorhergehende, obwohl die Männer nach der ausgelassenen Nacht etwas träge waren und der Geruch von Erbrochenem unseren Appetit zügelte.
Ich hatte immer noch Schmerzen vom gestrigen Faustkampf und verbrachte den Morgen allein; ich saß im Schneidersitz auf einem Heuballen und setzte einen Brief an meine Eltern auf, wobei ich durch das Gewackel des Waggons so krakelig wie ein Zweitklässler schrieb.
Ich schrieb allerdings ohne Unterbrechung, bis Lymon Pugh kam und sich vor mir aufbaute, die Beine wie Bäume ins lose Stroh gepflanzt. Ich wollte ihn da nicht haben — ich wollte nicht schon wieder mit ihm aneinandergeraten —, doch er sagte nur: »Was machen Sie da?«
»Einen Brief schreiben«, sagte ich.
Er nahm die Wollmütze ab und sortierte den widerspenstigen schwarzen Schopf darunter. »Also gut«, sagte er. »Einen Brief.«
Das war nicht gerade eine rege Unterhaltung, und ich widmete mich wieder dem Schreiben.
Lymon Pugh räusperte sich. »Hören Sie … nehmen Sie zurück, was Sie letzte Nacht gesagt haben?«
Ich überlegte mir jedes Wort, denn ich war nicht erpicht, ihn erneut zu provozieren. »Ich wollte Sie nicht beleidigen.«
»Aber Sie haben mich einen Dieb genannt.«
»Nein — das war ein Missverständnis. Ich wollte nur meine Abstinenz erklären. Der Dieb, das ist der Schnaps, verstehen Sie? Ich trinke keinen Schnaps, weil er mir meine … Urteilskraft stiehlt.«
»Ihre Urteilskraft!«
»Meine Fähigkeit, klar zu denken. Mit anderen Worten, er macht mich betrunken.«
»Und mehr wollten Sie nicht sagen — dass der Schnaps Sie betrunken macht?«
»Genau das.«
Er sah mich spöttisch an. »Natürlich macht Schnaps betrunken! Das hab ich schon früh gelernt. Da brauchen Sie mir nichts zu erzählen und schon gar kein Rätsel draus machen. Wie heißen Sie?«
»Adam Hazzard.«
»Lymon Pugh«, sagte er und hielt mir seine narbige Pranke hin. Ich schüttelte sie vorsichtig. »Woher kommen Sie, Mr. Hazzard?«
»Athabaska.«
»Kaskadien«, sagte er. (Ein waschechter Weststaatler — Kaskadien liegt so weit im Westen, wie man gehen kann, ohne sich nasse Füße im Ozean zu holen.) »Wie nennen Sie das, was Sie da auf dem Kopf haben?«
»Päckel.«
»Komisches Ding«, sagte er, obwohl seine eigene, von Motten angenagte Kopfbedeckung (die an Schlechtwettermützen für Seeleute erinnerte) auch nicht gerade zum Vorzeigen war. »Hält schön warm, oder?«
»Kann man sagen. Wie sind Sie an die ganzen Narben gekommen?«
»Ich war Entbeiner«, sagte er und setzte, als er meine ratlose Miene sah, hinzu: »In einem Abpackbetrieb in Willamette Valley. Ich habe Rinder entbeint. Das war mein Job — Sie haben wohl noch nie in einem Schlachthaus gearbeitet?«
»Nein, ich hatte noch keine Gelegenheit.«
»Die Rinder kommen am Haken vorbei, und der Entbeiner trennt das Muskelfleisch von den Knochen. Man muss geschickt und schnell sein, denn auf allen Seiten machen ein Dutzend Leute genau dasselbe, und der Aufseher hat sie alle im Blick. Und heiß wird es im Entbeinungsraum; an nassen Tagen sieht man kaum die Hand vor den Augen, und das Blut macht alles glitschig, so dass das Messer früher oder später unweigerlich ausrutscht. Lange macht’s da keiner, sie sterben an Blutvergiftung oder verstümmeln sich so, dass sie kein Messer mehr führen können.«
Daheim in Williams Ford hatte Ben Kreel uns gelegentlich vom Übel der Lohnarbeit gepredigt — Lohnarbeit im Gegensatz zum System aus Pächtern und abhängigen Arbeitern. Hätte er sich jemals in die Nähe eines Abpackungsbetriebs in Willamette Valley getraut, hätte er die Verhältnisse dort bestimmt als Beispiel angeführt. »Sind Sie deshalb weg da?«
»Ja, aber leicht fällt es mir nicht.«
»Dass Sie da weg sind?«
»Ich unterstütze meine Mutter. Ich hätte natürlich bleiben können, aber die Abpackungsindustrie draußen im Osten soll jetzt boomen. Mehr Lohn, mehr Geld für zu Hause — deshalb.«
»Das leuchtet ein, aber Finger werden in New York genauso schnell weggeschnippelt wie in Kaskadien.«
»Und wenn ich eine bessere Arbeit kriege? Sagen wir Eindosen oder sogar Aufsicht. Aber mich wurmt, dass ich Hals über Kopf wegmusste. Ich hatte eine Auseinandersetzung mit dem Schichtmeister, und er hätte mich wegen der gebrochenen Rippe hinter Gitter gebracht, wenn ich nicht seine Taschen gefilzt und das Ticket nach Osten gekauft hätte. Ich hatte nicht mal Zeit, meiner Mutter zu erklären, was Sache war — soviel ich weiß, hält sie mich für tot.« Er scharrte mit den Füßen. »Dabei könnte ich ihr einen Brief schreiben.«
»Ja, sollten Sie — genau das sollten Sie tun.«
»Nur dass ich nicht schreiben kann.«
Ich erklärte ihm, dass er da nicht der Einzige sei und sich deswegen nicht schämen müsse; aber das konnte ihn nicht trösten. Er scharrte wieder mit den Füßen und sagte: »Es sei denn, ich fände einen, der ihn aufschreibt.«
Jetzt kapierte ich, weshalb er gekommen war, und sein Anliegen erschien mir durchaus plausibel — alles war besser, als einen weiteren Streit zu riskieren. Also bot ich ihm an, wonach ihn verlangte, und Lymon Pugh grinste wie ein Honigkuchenpferd und wollte mir unbedingt wieder die Hand schütteln — was er sich verkneifen solle, wie ich ihm rasch erklärte, denn sein Griff drohe mir die Finger zu zermalmen, die ich dringend brauche, um unsere Briefe zu schreiben.
Und so stampfte Lymon Pugh jetzt murmelnd auf und ab, weil er seine Gedanken ordnen und den Text für seine Mutter aufsetzen wollte …
»Sagen Sie einfach, was Sie sagen würden, wenn sie jetzt vor Ihnen stünde«, schlug ich vor.
»Das hilft mir nicht — wenn sie hier wäre, brauchte ich ihr ja nicht zu schreiben.«
»Dann fangen Sie irgendwie an. Wie wär’s mit ›Liebe Mutter‹?«
Das fand er gut und wiederholte die Floskel mehrmals; ich schlug eine frische Seite in meinem Notizbuch auf, und er folgte mit Bewunderung den verschlungenen Pfaden der Bleistiftspitze. Dann runzelte er wieder die Stirn. »Nein, das ist keine gute Idee. Ein Brief ist zwecklos. Meine Mutter kann nicht lesen, wir können beide nicht lesen.«
»Tja, in dem Fall … kennen Sie jemanden, der lesen kann? Einen Vetter, einen Freund der Familie?«
»Nein, nur den Mann mit dem Firmenladen. Er kann lesen — ich habe ihn Schilder schreiben sehen —, und er war immer so freundlich, wenn wir reinkamen.«
»Hat er auch einen Namen?«
»Mr. Harking.«
»Dann können wir ihn bitten, mit dem Brief zu Ihrer Mutter zu gehen. Ich streiche also ›Liebe Mutter‹ durch und schreibe stattdessen ›Lieber Mr. Harking‹ …«
»Nein, Sir!«, rief Lymon Pugh.
»Was?«
»Das wäre unverschämt! Ich habe noch nie ›lieber‹ zu ihm gesagt, und dabei soll es auch bleiben!«
»Es ist nur eine Floskel.«
»Floskel hin, Floskel her — vielleicht sagt man so in Athabaska —, aber in Willamette Valley sagt ein Mann nicht ›lieber‹ zum Lebensmittelhändler — es gehört sich einfach nicht!«
»Hören Sie«, sagte ich, »Ihr Vorhaben ist noch nicht spruchreif. Überlegen Sie noch einmal reiflich, was Mr. Harking Ihrer Mutter ausrichten soll — überschlafen Sie das Ganze —, und morgen früh gehen wir noch einmal an die Arbeit. Was halten Sie davon?«
»Was du heute kannst besorgen …«, sagte er, »na ja — fühlt sich an, als würde der Zug gleich halten. Sind wir schon in New York, oder ist das nur wieder ein Wasserloch?«
Weder noch, wie sich herausstellte. Die Reiseagenten waren im Nu auf den Füßen, beide Hände am Gewehr. Sie brüllten alle Passagiere aus dem Schlaf, und als alle dastanden und blinzelten, rief der vordere der beiden: »Ihr zwei! Tür öffnen!«
Lymon Pugh und ich entriegelten die lange Tür und schoben sie auf. Was wir zu Gesicht bekamen, war keine Bekohlungsstation. Wir sahen uns einer Horde uniformierter Soldaten gegenüber, dahinter erstreckte sich ein Meer aus Zelten und ein offenes Gelände, auf dem Kommandos erschollen, Männer marschierten und laut gezählt wurde.
»Ein Militärlager!«, entfuhr es Lymon Pugh.
Der Reiseagent wies uns an, aus dem Phantomwagen zu klettern, die anderen Passagiere folgten unserem Beispiel. Die Sonne schien, die Männer quirlten durcheinander, und ich ließ mich unauffällig zu Sam und Julian treiben.
»Hat man uns gefangen?«, flüsterte ich.
»Nicht gefangen«, sagte Sam angewidert, »nur verkauft. Der Trust hat unser Geld genommen und uns an Rekruteure verhökert, hat also zweimal an uns verdient. Ich hätte merken müssen, dass etwas faul ist, als der Ticket-Verkäufer in Bad Jump sich so eingehend nach eurem Alter erkundigte. Ich bin ein solcher Trottel«, sagte er verbittert, »und jetzt sind wir bei der Infanterie, sehr bald jedenfalls, und noch vor dem Sommer in Labrador.«
Ich wollte Sam noch mehr Fragen stellen, aber ein Mann mit den Streifen eines Unteroffiziers stellte uns in zwei Reihen auf und führte uns ab.
Zum Entlausen.