DRITTER AKT Patriotische und andere Ereignisse (gipfelt im Unabhängigkeitstag 2174)

»Keep thy peaceful watch-fires burning,

Angels stand at all thy doors,

Washing from thy homes dissension

As the oceans wash thy shores.«[50]

— Eine Hymne an Amerika

1

Jetzt ging alles sehr schnell: Julian stellte mich als einen Freund aus der Armeezeit und Calyxa als meine Frau vor, Mrs. Comstock bestand darauf, unseren Aufenthaltsort in eine luxuriöse Kutsche zu verlegen, die so groß war, dass wir alle fünf Platz fanden, und dann trug uns ein Gespann edler Schimmel auf und davon.

Die Karosse war üppig gepolstert, die Stadt da draußen staunenswert … aber ich hatte keinen Blick für meine Umgebung. Mir war, als hätte mich jemand links und rechts geohrfeigt. Ich verstand noch nicht ganz, wie es zu diesem unerwünschten Empfang hatte kommen können, war mir aber bereits sicher, dass ich es war, der Julians Pläne über den Haufen geworfen hatte und der ihm womöglich zum Verhängnis wurde.

Calyxa war noch verwirrter durch die Wende, die alles genommen hatte, denn ihre Erfahrung gab ihr nicht den geringsten Anhaltspunkt für eine Erklärung. In der Kutsche wäre es vielleicht still gewesen, während jeder von uns seinen privaten Gedanken und Befürchtungen hätte nachhängen können, wenn Calyxa nicht in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen verlangt hätte, ihr doch endlich reinen Wein einzuschenken.

»Ich wünschte, ich könnte Ihnen den Gefallen tun, Mrs. Hazzard«, sagte Julians Mutter, die sich unsere Namen trotz der chaotischen Umstände gemerkt hatte. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich sehr viel mehr verstehe als Sie, mein Kind.«

Meines Erachtens zeigte Mrs. Comstock ein gerüttelt Maß an gesundem Menschenverstand. Sie war eine stabil gebaute Frau mittleren Alters, ihr frisiertes braunes Haar war an den Schläfen weiß durchschossen. Links von ihr brütete Julian, und Sam zu ihrer Rechten sah blass und niedergeschlagen aus (wenn er nicht gerade rasch zu ihr hersah und feuerrote Ohren bekam).

»Entschuldigung«, sagte Calyxa, »und vielleicht verletzt meine Frage eine Anstandsregel, auf die man mich nicht hingewiesen hat, aber wer sind Sie genau?«

»Emily Baines Comstock«, sagte die ältere Frau mit fester Stimme. »Julians Mutter, falls sich das eine nicht aus dem anderen ergibt.«

»Der Name ›Comstock‹ kommt überraschend«, sagte Calyxa und bedachte mich mit einem finsteren Blick.

Sofort gestand ich ihr, dass ich sie über Julians Herkunft im Unklaren gelassen hatte, und berief mich auf das Versprechen, das ich Julian und Sam gegeben hatte.

»Ich dachte, du wärst ein Pächterjunge aus dem Westen, Adam.«

»Bin ich auch! Nicht mehr und nicht weniger! Man hatte Julian Comstock nach Williams Ford geschickt, um ihn vor einer möglichen Verschwörung zu schützen, und genau da haben wir uns angefreundet.«

»Comstock«, wiederholte Calyxa. »Verschwörung.«

Julian fuhr aus seinem brütenden Schweigen und sagte: »Stimmt alles, Calyxa, und Adam kann nichts dafür, dass er dir bis jetzt nichts erzählt hat. Eigentlich wollte ich noch ein paar Jahre ›Commongold‹ heißen. Aber ›Commongold‹ ist aufgeflogen. Der Präsident ist mein Onkel, ja, und er ist mir nicht gerade wohlgesinnt.«

»Und jetzt, wo alle Welt erfährt, wer du wirklich bist?«

»Die Szene im Bahnhof wird rasch die Runde machen, so ist die Stadt nun mal …«

»Und dann wird dein Onkel versuchen, dich zu töten?«

Mrs. Comstocks Miene versteinerte bei diesen ungeschminkten Worten, doch Julian lächelte traurig.

»Davon gehe ich aus.«

»Mordlustige Verwandte sind ein Fluch«, nickte Calyxa wie jemand, der mitreden kann. »Du tust mir leid, Julian.«


Die Plüschkarosse folgte einer breiten Straße, von der ich später erfuhr, dass sie Broadway hieß, dann bogen wir ab und fuhren durch einen vornehmen Distrikt mit antiken Häusern, deren Steinfassaden entweder erhalten oder mit authentischem Material restauriert worden waren. Ich sah mich um, als wir ausstiegen, und alles, was ich sah — eine von Bäumen gesäumte Straße; blühende Gärten; Glasfenster, die wie Juwelen blitzten —, sprach von Aristokratie und Besitz, und das nicht zurückhaltend, sondern vollmundig. Wir hielten vor einem herrschaftlichen Haus mit rotbrauner Sandsteinfassade. Dann ging es über eine schnurgerade Außentreppe in den Empfangsraum, wo eine kleine Armee von Hausangestellten die zurückkehrende Mrs. Comstock begrüßte und ihren Sohn bestaunte. Mrs. Comstock klatschte in die Hände und sagte barsch: »Wir haben Gäste — Zimmer für Mr. und Mrs. Hazzard und Mr. Godwin, bitte, und sollte Julians Wohnung nicht in Ordnung sein, dann muss sie akzeptabel hergerichtet werden. Aber nur für eine Nacht. Morgen ziehen wir nach Edenvale um.«

Ich sah Julian fragend an, und er klärte mich leise auf: Edenvale war der Landsitz der Familie oben am Hudson River.

Einige Hausangestellte ließen es sich nicht nehmen, Julian persönlich zu begrüßen. Sie schienen ihn aus früheren Zeiten in bester Erinnerung zu haben und waren freudig überrascht von seiner Ankunft, da es (wie ich später erfuhr) unwidersprochene Gerüchte von seinem Tod gegeben hatte. Julian freute sich über diese alten Bekannten; doch Mrs. Comstock war ungehalten und scheuchte die Bediensteten zu ihren Aufgaben; wir verlegten unseren Aufenthalt in einen riesigen Salon. Ein Mädchen mit weißer Schürze brachte eisgekühlte Drinks. Vermutlich war diese Art von Gastfreundschaft unter Aristokraten gang und gäbe, und ich gab mir Mühe, sie so zu akzeptieren, als wäre ich daran gewöhnt, obwohl ich solchen Luxus noch nie erlebt hatte; auch die Häuser der Duncans und Crowleys in Williams Ford waren rustikale Refugien im Vergleich zur Maß- und Zügellosigkeit von Manhattan, sofern das hier exemplarisch für diesen Stadtteil von New York war.

Calyxa verfolgte alles mit einer peinlichen, weil unverhohlenen Skepsis und musterte das Dienstmädchen, als wolle sie es in Parmentierismus unterweisen, wovon ich inständig hoffte, dass sie es bleiben ließ.

»Ich glaube, ich verstehe jetzt die groben Umrisse des Missgeschicks«, sagte Julian, als wir uns den sagenhaft gepolsterten Sesseln überließen. »Irgendwie müssen meine Kriegserlebnisse hier in Umlauf gebracht worden sein … aber ich wüsste wirklich nicht, wie.«

Ich biss die Zähne zusammen, sagte aber nichts. Noch nichts — erst musste sich mein Verdacht erhärten.

»Du warst in den Zeitungen«, bestätigte Mrs. Comstock. »Unter deinem Pseudonym.«

»Ich?«

Mrs. Comstock ließ das Dienstmädchen rufen. »Barbara, du weißt doch, mir kommen keine billigen Zeitungen ins Haus …«

»Natürlich nicht«, sagte Barbara.

»Und ich weiß, wie sehr man sich daran hält. Keine Ausflüchte — die Zeit drängt. Geh in die Küche und sieh nach, ob du etwas ausreichend Niveauloses zum Thema ›Julian Commongold‹ findest? Weißt du, was ich meine?«

»Ja! Der Koch liest sie uns laut vor«, sagte Barbara, errötete bei dem Eingeständnis und eilte davon.

Sie brachte uns eine alte Ausgabe des Spark und ein schlecht gebundenes Druckerzeugnis. Diese Kostproben des urbanen Journalismus wanderten von Hand zu Hand.

Der Spark enthielt die neuesten Nachrichten von der Saguenay-Front, einschließlich der Erbeutung eines chinesischen Geschützes! Es handelte sich um eine gekürzte Darstellung von Julians Heldentaten vor Chicoutimi, verfasst von einem Theodore Dornwood, dem berühmten Frontberichterstatter des Saguenay-Feldzuges.

Schlimmer noch war das Heft, fast ein dünnes Buch, eine Zusammenstellung von Mr. Dornwoods Berichten unter dem Titel Die Abenteuer des Captain Commongold, eines jugendlichen Helden am Saguenay. Das Heft sei ein Renner und werde an allen Straßenecken verkauft, meinte das Dienstmädchen.

Julian und Sam erklärten Mrs. Comstock, Dornwood sei ein Halunke, der während des ganzen Feldzuges allen Verführungen Montreals erlegen sei und sich alle seine Geschichten aufgrund von Gerüchten aus den Fingern gesogen habe.

Ich dagegen sah mir das Heft genauer an und war hernach am Boden zerstört. Ich beichtete auf der Stelle — was sonst hätte ich tun sollen? »Dornwood gibt sich als Autor aus«, sagte ich mit schwankender Stimme. »Aber der Text … na ja … also der ist hauptsächlich von mir.«


Es heißt, für jeden strebsamen Schriftsteller sei es eine höchst wohltuende Erfahrung, seine Ergüsse zum ersten Mal gedruckt zu sehen. Meine diesbezügliche Erfahrung muss zu den Ausnahmen gehören, die diese Regel bestätigen.

Der Umschlag zeigte eine Radierung, auf der »Julian Commongold« (dargestellt als wild entschlossener junger Mann mit durchdringendem Blick und makelloser Uniform) rittlings auf dem Puffer einer deutschen Lok saß und eine amerikanische Fahne schwenkte, die um Längen größer war als die tatsächlich benutzte, derweil zahllose Soldaten angesichts eines chinesischen Geschützes jubelten, das angeblich so groß war wie der Schornstein eines Eisenhüttenwerks. Offenbar erwartete man nicht nur von Journalisten, sondern auch von Künstlern, im Zweifelsfall zu dramatisieren, und dieser Künstler hatte nicht damit gespart. Mrs. Comstock nahm das Heft von mir entgegen und betrachtete es aus Armeslänge, während so etwas wie Ekel an ihren Zügen zupfte.

»Hast du diese Dinge wirklich getan, Julian?«, fragte sie.

»In einer etwas abgespeckteren Version.«

Sie wandte sich an Sam. »Und das ist deine Vorgehensweise, ihn vor Unbill zu schützen?«

Sam sah aus wie das schlechte Gewissen persönlich, aber er sagte: »Julian ist ein junger Mann mit einem eigenen Kopf, Emily — ich meine, Mrs. Comstock —, und er hört nicht immer auf Ratschläge.«

»Er hätte ums Leben kommen können.«

»Er wäre es beinahe — und das nicht nur einmal. Wenn du — wenn Sie mir das als Versagen anrechnen, bitte.« Er schilderte die Umstände unserer Flucht von Williams Ford und unsere unfreiwillige Rekrutierung in die Laurentische Armee. »Ich habe mein Bestes getan, um Schaden von ihm abzuwenden, und da sitzt er, wohlauf, obwohl er so unbekümmert und ich so fahrlässig war — mehr sage ich nicht dazu.«

»Du darfst weiter ›Emily‹ zu mir sagen, Sam — wir haben nie Wert auf Förmlichkeiten gelegt. Ich bin nicht unzufrieden mit dir, nur verwirrt und überrascht.« Sie fügte hinzu: »Du hast dich rasiert. Du hast doch immer einen so schönen Bart getragen.«

»Ich kann mir jederzeit einen wachsen lassen, der genauso schön ist … Emily.«

»Mach das bitte, ja?« Sie wandte sich wieder an ihren Sohn: »Julian, musstest du diese Rolle so ausspielen, nur weil du plötzlich in der Armee warst?«

»Ich fand, ich müsste, ja. Ich spielte die Rolle des Pflichtbewussten.«

»Aber musstest du so gründlich vorgehen? Und Sie, Mr. Hazzard, Sie behaupten, geschrieben zu haben, was dieser Theodore Dornwood veröffentlicht hat?«

»Es war nie zur Veröffentlichung gedacht«, sagte ich und errötete bis zu den Haarwurzeln. »Ich finde das genauso schockierend wie Sie, Mrs. Comstock. Dornwood hat so getan, als ob er mich schriftstellerisch beraten wollte, und ich habe ihm meine Gehversuche im Schreiben gezeigt. Von Veröffentlichen war keine Rede, schon gar nicht unter seinem Namen. Das hätte ich nie erlaubt.«

»Warum er erst gar nicht gefragt hat. Sind Sie denn wirklich so naiv, Mr. Hazzard?«

Mir fiel keine Antwort auf diese demütigende Frage ein, obwohl ich Calyxa lebhaft nicken sah.

»Das wäre alles kein Problem gewesen«, rief Sam ihr in Erinnerung, »wenn niemand eine Verbindung zwischen Commongold und Comstock hergestellt hätte. Was hat dich an diesen Bahnsteig verschlagen, Emily?«

»Eine Gefälligkeit. Die Patriotische Frauenunion begrüßt häufig zurückkehrende Veteranen, die sich auf dem Schlachtfeld ausgezeichnet haben. Solche Gesten heben die Moral an der Heimatfront, und der Name ›Comstock‹ setzt dem Ereignis ein Glanzlicht auf. Ich hätte nicht so reagiert, aber … na ja, es ist lange her, seit ihr beiden vom Landsitz der Duncans und Crowleys verschwunden seid. Ihr hättet tot sein können. Ich habe diese abscheuliche Vorstellung natürlich verdrängt, aber ausgeschlossen wäre es nicht gewesen. Dann steht Julian plötzlich vor mir — tja.« Sie tupfte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

»Nur zu verständlich!«, rief Sam. »Mach dir keine Vorwürfe!«

»Das Glück war gegen uns. Morgen werden diese vulgären Blätter voll davon sein. Und dann weiß er natürlich Bescheid.«

Mit »er« war Präsident Deklan Comstock gemeint, oder Deklan der Eroberer, wie er auch genannt wurde. Eine verbissene Stille stellte sich ein.

»Auf jeden Fall«, sagte Mrs. Comstock, »können wir die Distanz zwischen uns und dem Regierungspalast vergrößern. Edenvale wird uns zwar nicht schützen, aber der Landsitz wird es ihm etwas schwerer machen, seiner Unbesonnenheit nachzugeben. Mehr kann ich nicht tun. Aber lasst uns nicht pessimistisch sein. Mein Sohn ist heil zurückgekommen — das muss gefeiert werden. Mr. und Mrs. Hazzard, werden Sie uns ein paar Tage Gesellschaft leisten auf Edenvale?«

Ich kam mir erbärmlich vor, denn ich hatte mir nicht Mrs. Comstocks Gastfreundschaft, sondern ihren Zorn verdient. Ich wollte schon ablehnen, als Julian für mich antwortete: »Natürlich kommen die beiden mit. Wir können sie schlecht hier aussetzen. Der Moloch würde sie lebendig verschlucken.«

Mrs. Comstock nickte. »Sie waren Julian ein treuer und zuverlässiger Freund, Adam Hazzard, und ich würde mich glücklich schätzen, wenn Sie mit uns kämen, besonders wenn Julian noch etwas mehr angemessene Kleidung für Sie und Ihre reizende Frau auftreiben kann. Betrachten Sie es als entschieden.«

Sie klatschte in die Hände. Wie aus heiterem Himmel erschien ein Dutzend Bedienstete, und der Haushalt wurde zu einem Wirbelwind an Vorbereitungen für die morgige Reise.

Calyxa und ich verbrachten die Nacht in einem der Gästezimmer — ich hatte noch nie in einem so sybaritischen Gemach geschlafen, das ausgestattet war mit einer Matratze so plüschig und weich, dass man eher darin als darauf lag. Das wäre nun eine einmalige Gelegenheit für eheliche Intimitäten[51] gewesen, wenn sich Calyxa nicht durch die Emsigkeit der Bediensteten im Flur und in den angrenzenden Zimmern gestört gefühlt hätte.

Ihr fiel wahrhaftig auf, dass in unserem Schlafzimmer wie auch in den anderen Zimmern, die wir gesehen hatten, eine gerahmte Fotografie von Julians Vater hing und dass Bryce Comstock die tadellos sitzende Uniform eines Generalmajors trug. »Besonders ähnlich sieht er aber dem amtierenden Präsidenten nicht«, bemerkte sie, »jedenfalls nicht dem Gesicht auf der Münze.«

Die Ähnlichkeit gab es, aber sie war rein strukturell: die hohen Wangenknochen, die dünnen Lippen. Aber in dem, was ein Gesicht lebendig macht — das Spektrum der menschlichen Emotionen, das selbst in einer Fotografie zum Ausdruck kommt —, darin war Bryce das Gegenteil von Deklan. Bryce hatte viel von Julian (oder umgekehrt); die hellen Augen, das unterschwellige Lächeln. »Er war der bessere Bruder«, sagte ich. »Eine tapfere Seele, die keine Ränke schmiedete. Er war ein Held des Isthmischen Krieges, bevor Deklan ihn an den Galgen brachte.«

»Heldentum ist eine gefährliche Sache«, bemerkte Calyxa zu Recht.


Ich schlief unruhig und wachte auf, als das Haus lebendig wurde. Die Sterne verblassten, und die Luft war kühl, während wir mit unserem Gepäck in einer anderen geräumigen Karosse von Mrs. Comstock Platz fanden, um mit einem Tross von Bediensteten zum Hafen aufzubrechen.

Manhattan an einem heraufdämmernden Frühlingsmorgen! Ich hätte ehrfürchtig gestaunt, wären nicht Wolken anderer Art über uns aufgezogen. Ich will den Leser nicht auf die Folter spannen und auf all die Wunder eingehen, die an diesem Morgen an mir vorbeizogen; doch es gab vier- oder fünfgeschossige Ziegelsteingebäude, die in grellen Farben gestrichen waren, beeindruckend hoch, aber zusammengestaucht von den skelettierten Stahltürmen, derentwegen Manhattan weltberühmt ist, von denen einige sich wie beschwipste Riesen in die Richtung neigten, wo ihre Fundamente vom Wasser unterhöhlt wurden. Auf breiten Kanälen krochen Frachtkähne und Abfallschuten, die von kräftigen Zugpferden am Ufer geschleppt wurden. Es gab herrliche Alleen, wo sich auf hölzernen Gehsteigen reiche Aristokraten und zerlumpte Lohnarbeiter drängten, und direkt daneben stinkende Gassen mit Abfällen und vereinzelten Tierkadavern. Es roch nach Gebratenem, Kloake und faulendem Fisch, und alles war in den Rauchschleier der Kohleöfen gehüllt und wurde von der aufgehenden Sonne mit Rosarot übergossen. Als wir uns den Docks näherten, sah ich das Auf und Ab der Masten und Schornsteine vor dem Morgenhimmel, dann wuchsen die dazugehörigen Schoner und Dampfer heran. Unser Aufgebot folgte einem Kai bis zu einer Dampfbarkasse, die Mrs. Comstock gehörte. Die Sylvania war ein kleines, schmuckes Gefährt, blütenweiß lackiert und an manchen Stellen vergoldet; der Kapitän hatte den Dampfkessel bereits hochfahren lassen und war zur Abfahrt bereit.

Ehe wir an Bord gingen, ließ sich Mrs. Comstock von einem Schiffsjungen ein paar Morgenausgaben des Spark besorgen, und sobald die Privatkabinen verteilt und unsere Siebensachen verstaut waren, kamen wir in der vorderen Kajüte zusammen und griffen zur Zeitung.

Unsere schlimmsten Befürchtungen wurden rasch bestätigt. Die Überschrift auf der Titelseite lautete:

COMMONGOLD EIN Comstock!Heroischer »Junger Captain« entpuppt sich als Neffe des Präsidenten.

Diesmal stand nicht »Theodore Dornwood« darunter, aber seine Abenteuer des Captain Commongold wurden mehrmals erwähnt, was die Verkaufsziffern seiner Broschüre zweifellos in die Höhe trieb. Die Geschichte selbst gab recht genau Julians Ankunft in Manhattan wieder, den »großen Bahnhof«, den man ihm gemacht hatte, und die herzliche Begrüßung, die ihm von seiner Mutter zuteilwurde — kaum Pathos. Das Beunruhigendste war eine kurze Schlussbemerkung: Man habe den Regierungspalast um einen Kommentar gebeten, bis jetzt sei aber noch keine offizielle Stellungnahme erfolgt.

Während Julian, Sam und Mrs. Comstock die möglichen Folgen des Eklats besprachen, suchten Calyxa und ich in gedrückter Stimmung das Vordeck auf, um uns durch die vorbeiziehenden Sehenswürdigkeiten zu zerstreuen. Manhattan mit seinen skelettierten Türmen und seinem pausenlosen Handelsverkehr war schon hinter uns zurückgefallen, doch an beiden Ufern hatten die Säkularen Alten ihre Spuren hinterlassen — ausgeplünderte Ruinen, so weit das Auge reichte, ein Beleg, dass es hier nur so gewimmelt hatte von Menschen —, damals während der Blütezeit des Öls. Übrig geblieben war im Grunde nur eine Halde unvorstellbaren Ausmaßes, so riesig, dass selbst nach einem Jahrhundert nur die zugänglichsten Vorkommen an Kupfer, Stahl und Antiquitäten abgebaut waren. Am New-Jersey-Ufer zeugten die schwarzen Rauchfahnen von Walzwerken und Eisengießereien, dass diese Arbeit noch im vollen Gange war. Wir fuhren unter zwei gewaltigen Brücken hindurch — eine halb eingestürzt und von Klebkraut überwuchert, die andere noch in Reparatur und schon für den Industrieverkehr freigegeben —, während der Fluss selbst von Schaluppen, Dampfschiffen und jenen seltsam betakelten, langen, schmalen Booten bevölkert war, die Dahabije hießen und bei den zahlreichen ägyptischen Einwanderern beliebt waren.

Calyxa hatte sich nach Mrs. Comstocks Ratschlägen gekleidet und trug nach Art einer sittsamen Aristokratin Bluse und Rock. Sie trug die Sachen nicht freiwillig, aber sie standen ihr, obwohl sie ständig am Gürtel herumzupfte, den ihre Taille als mittelalterliches Folterwerkzeug empfand. »Meine Flitterwochen hatte ich mir ein kleines bisschen anders vorgestellt«, sagte sie pikiert.

Ich fing an, mich zu entschuldigen, aber sie winkte ab. »Ist alles schön und gut, Adam, klingt aber nicht gerade harmlos. Ist Julian wirklich in Lebensgefahr?«

»Aber sicher. Sein Vater wurde von Deklan dem Eroberer genau wegen dieser Art von Berühmtheit getötet, die Julian jetzt schwarz auf weiß erlangt hat. Einem Präsidenten sind natürlich die Hände gebunden. Die kämpfende Truppe und das Dominion sind handfeste Beschränkungen, meint Sam — aber Deklan ist verschlagen und wartet womöglich nur auf eine passende Gelegenheit.«

»Können wir Julian irgendwie helfen?«

»Strategisch, nein — das sollen die machen, die sich mit so was auskennen. Was die Ausführung angeht, weiß Julian, dass er auf uns zählen kann.«

»Schuld ist eigentlich dieser Theodore Dornwood.«

»Wenn es eine Gerechtigkeit gibt, dann wird er für seinen Diebstahl und seine Lügen bezahlen.«

»Gibt es denn eine? Gerechtigkeit, meine ich.«

Ich fasste das als eine praktische und nicht als eine philosophische Frage auf. »Wenn ich dazu beitragen kann, ich denke schon.«

»Heißt das, du willst ihn bestrafen?«

»Ja«, sagte ich und meinte, was ich sagte, obwohl ich noch keinen Gedanken darauf verwendet hatte. Vielleicht konnte man Deklan Comstock nicht zur Rechenschaft ziehen, es sei denn am Jüngsten Tag; aber Theodore Dornwood war kein Aristokrat und residierte nicht in einem befestigten Palast, und da lag es vielleicht in meiner Macht, ihn zu einer Art Wiedergutmachung zu zwingen.

Und genau das, schwor ich mir, würde ich früher oder später tun.

2

»Spiel und Sport im Freien«, sagte Julian, »macht nur Spaß, wenn die Aktivität drei Eigenschaften aufweist. Sie sollte schwierig, unpraktisch und ein bisschen albern sein.« Diese interessante Weisheit habe er von seinem Vater.

Es war die zweite Woche auf Edenvale. Bislang hatte sich Deklan Comstock bedeckt gehalten, und der Pressewirbel erlahmte, weil er keine neue Nahrung bekam. Der Grund, warum uns ein verfrühtes Gefühl von Sicherheit beschlich.

Gewiss, Edenvale war ein wohltuender Ort. Ich hatte noch nie einen Sommer auf einem aristokratischen Landsitz verbracht (Ställe ausmisten bei den Duncans und Crowleys nicht mitgezählt). Ich fühlte mich gleichzeitig abgestoßen und angezogen von Luxus und Faulenzerei auf Edenvale. Grund und Boden wurden nicht bestellt, sondern wild belassen; nur die malerischen Fuß- und Reitwege wurden in Schuss gehalten. Die Weite der Wildnis lud zum Jagen und Erkunden ein.

Das Edenvale-Haus selbst stand auf einem kurz getrimmten Rasen, der von Blumenrabatten gesäumt wurde. Bei heiterem Wetter frühstückten wir draußen, Speisen und Getränke wurden von Bediensteten serviert, während wir an zierlichen, weiß gestrichenen Tischen saßen. An regnerischen Tagen erforschten Calyxa und ich die unzähligen Zimmer oder ließen uns in der Bibliothek nieder, die mit Klassikern des 19. Jahrhunderts bestückt war und mit dominiongeprüften, leichten Unterhaltungsromanen. Abends brach Sam ein frisches Kartendeck auf, und wir spielten bis zum Schlafengehen Euchre oder Red Rose; oder wir begaben uns in den Musiksalon, wo Mrs. Comstock am Klavier saß und Las Ojos Criollos übte.[52] Das Haus, erklärte Julian, sei in seiner Glanzzeit von Aristokraten, Gutsbesitzern und Senatoren aufgesucht worden. Aber dann habe die Hinrichtung seines Vaters einen Schatten über die Familie geworfen, und seine Mutter sei aus der elitären Gesellschaft ausgeschlossen worden. Seit damals habe sie sich mit Menschen aus der Unterhaltungsbranche von Manhattan eingelassen und mit Emporkömmlingen und Neureichen; ein gesellschaftlicher Magnet sei Edenvale längst nicht mehr.

Nach zwei Wochen wurde diese Tändelei allmählich langweilig, und Julian schlug vor, mich auf eine Wanderung durch die wilderen Bereiche von Edenvale mitzunehmen — Landstriche, durch die er als Kind gestromert war, bevor er nach Williams Ford geschickt wurde. Ich war gleich einverstanden, und so brachen wir an einem heiteren, kühlen Morgen auf. Julian nahm ein ungewöhnliches Gepäckstück mit: ein schmales, über drei Fuß langes Segeltuchbündel. Ich fragte ihn danach; und das war der Moment, da er zum Besten gab, was sein Vater über Sport gesagt hatte.

»Also irgendwas mit Sport, hm?«

»Ja, aber ich behalte es noch für mich — ich glaube, du wirst angenehm überrascht sein.«

Wir trugen im Grunde die gleichen Sachen wie in Williams Ford, als wir Eichhörnchen gejagt hatten; und das war eine Erleichterung nach der komplizierten und beengenden Aristomode mit ihren Gürteln, Knöpfen, Schleifen und Spangen.

Wir wanderten unter den ausladenden Ästen von Götterbäumen und Birken, als eine Brise die Blätter kippte und das Grün des Laubs veränderte — es war, als seien wir wieder jung —, für ein paar Stunden wenigstens.

In Williams Ford hatte Julian auf solchen Ausflügen immer zu philosophieren begonnen. Daran hatte sich nichts geändert. In einem Korkeichenwäldchen machten wir Pause, um uns aus den Feldflaschen zu erfrischen, und Julian sagte: »Hier habe ich meine Liebe zur Vergangenheit gefunden, Adam — als Junge, hier war meine private Halde.«

»Mehr Bäume als Schätze, soweit ich das beurteilen kann.«

»So muss es sein. Der ganze Wald ist auf Schichten von Artefakten gewachsen, lauter Sachen der Säkularen Alten. Du kannst hier irgendwo buddeln und findest garantiert einen Löffel, einen Knopf oder einen Knochen. Hinter dem Weg da …«, er zeigte auf einen Hang, der üppig mit Birken und Brombeersträuchern bewachsen war, »… in der Böschung stößt du auf lauter Grundmauern und Hohlräume, die einstürzen können. Weißt du, was ich da gefunden habe, als Junge?«

»Käfer? Spinnen? Giftefeu?«

»Das ganze Programm; aber es kommt noch besser — Bücher!«

»Bist du schon so früh auf Bücher abgefahren?« »Selbst wenn ich nicht wusste, was sie zu bedeuten hatten. Die meisten waren verrottet, verdreckt und hatten Wasserschäden, aber hier und da war eine Seite leserlich geblieben. Ich habe diese Fragmente nicht einfach gelesen, Adam — ich habe sie fast auswendig gelernt. Sie nur in der Hand zu halten war schon ein besonderes, ein köstliches Gefühl — als hätte ich eine Möglichkeit gefunden, Gespräche mitzuhören, die der Wind schon vor hundert Jahren davongetragen hatte.«

»Was waren das für Bücher?«

Er zuckte die Achseln. »Hauptsächlich Romane. Geschichten von intimen Beziehungen oder Mord oder fantastische Berichte vom Flug zu den Sternen oder von Zeitreisen.«

»Ohne Prüfsiegel, versteht sich.«

»Na klar, das war schon das halbe Vergnügen. Die Frucht war verboten, aber süß, auch wenn sie meinen Horizont überstieg. Was ich dabei gelernt habe, ist, dass die Weltgeschichte, wie das Dominion sie lehrt, bestenfalls unvollständig ist. Das Fundament, auf dem die Wahrheit des Dominions erbaut ist, hat Sprünge, und in den Sprüngen schlummern ungeheuer interessante und wunderschöne Dinge.«

»Gefährliche Dinge«, sagte ich, obwohl ich fasziniert war von Geschichten über Zeitreisen und derlei Grässlichkeiten.

»Die Wahrheit ist gefährlich«, gab Julian zu, »aber Unwissenheit ist noch gefährlicher, Adam.«

»Sehen wir uns die Ruinen an?«

»Alles, was Wert hat, habe ich längst da rausgeholt. Nein«, sagte Julian, »heute gehen wir fischen.«

Mit diesen Worten ging er los und führte mich noch eine halbe Meile durch einen alten Bestand von Götterbäumen und Birken zu einem See — ein blaues, wie aus Glas geschnittenes Oval mitten im Wald, das Ufer fest im Griff von Klebkraut und Blutweiderich. Julian begann das geheimnisvolle, schmale, lange Segeltuchbündel zu entrollen. Es enthielt vermutlich die Angelruten und die Rollen, die man fürs Angeln mit künstlichen Fliegen brauchte. Aber weit gefehlt.

Statt zwei Angelruten kamen zwei Drachen zum Vorschein.

Solche Drachen hatte ich noch nie gesehen: ein keilförmiges Stück Seide mit »Stummelflügeln« und einem Schlitz im unteren Quadranten, stabilisiert durch drei parallele biegsame Holzstäbe. Der Drachen war aber nicht starr, Julian beschrieb ihn als eine Art Tragsegel. In den Wind geworfen, öffnete er sich wie ein Segel — er tauchte nicht auf und ab wie die primitiven Drachen, die ich als Kind gebastelt hatte, er legte sich auch nicht auf den Rücken oder stürzte ohne Vorwarnung zur Erde — nein, Julians Drachen lag stabil in der Luft. Jetzt war ich an der Reihe, und es klappte auf Anhieb. Sich selbst überlassen, stand mein Drachen wie von der sanften Brise an den Himmel genagelt. Je nachdem, wie Julian an der Leine zog oder sie ablaufen ließ, konnte er seinen Drachen aufsteigen oder sinken lassen und nach links oder rechts lenken.

Aber es sollte noch besser kommen. Am Zaumzeug jedes Drachens war eine zweite Schnur befestigt, die einen Korkschwimmer trug und einen Haken mit Fliege. Der Drachen trug den Köder weiter vom Ufer weg, als ihn der gewiefteste Rutenangler hätte werfen können, und im tiefen und ungestörten Wasser gab es Fische zuhauf.

Ich fand die Erfindung genial, brachte aber zum Ausdruck, ich sei mir nicht ganz sicher, ob die Fische dieser eher ungewöhnlichen Einladung in die Bratpfanne folgen würden. Julian nickte und lächelte. So müsse es sein, meinte er. »Erinnere dich an die Maxime meines Vaters. Damit Spiel und Sport Spaß machen, müssen sie schwierig, unpraktisch und ein bisschen albern sein.«

»Was Punkt für Punkt zutrifft.«

»Es macht dir doch Spaß, oder?« Er setzte sich ans moosbewachsene Ufer des Weihers, den Rücken an einen Baum gelehnt, und streckte die Beine von sich, die Drachenspule in den Schritt geklemmt. Wolken von kleinen Mücken kreisten träge über dem sonnenbeschienenen Wasser, während sich auf einem Stein in der Nähe eine Schildkröte sonnte. »Was nämlich Sinn und Zweck des Ganzen ist.«

»Solche Drachen kenne ich nicht. Woher weißt du, wie man so was baut?«

»Woher schon? Aus einem antiken Buch natürlich.«

»Haben sich die Säkularen wirklich mit so belanglosen Dingen wie Drachen beschäftigt?«

»So komisch es ist, Adam, die Säkularen Alten haben nicht bloß außerehelichen Geschlechtsverkehr getrieben, die Anständigen drangsaliert, Partner vom selben Geschlecht geheiratet und Schulkinder mit der Evolutionstheorie terrorisiert. Sie gingen auch — gerade so wie wir — ganz harmlosen Vergnügungen nach.«

Sie waren Menschen wie Julian und ich — eine Binsenweisheit, die man allzu leicht vergisst. »Sie müssen sehr mächtig gewesen sein und sehr viel von Drachen und Maschinen und solchen Sachen verstanden haben. Wieso um alles in der Welt haben sie während der Falschen Drangsal so rasch aufgegeben?«

»Die Falsche Drangsal — unverfrorenerweise so genannt, weil das Dominion die Katastrophe falsch gedeutet hatte — war nicht ein einziges Ereignis, sondern bestand aus ganz vielen Ereignissen. Das Ende des Öls oder genauer das Ende des billigen Öls lähmte das kopflastige Wirtschaftssystem der Alten. Doch es gab ähnliche Krisen in Bezug auf Trinkwasser und Ackerland. Kriege um lebenswichtige Ressourcen weiteten sich aus, während maschinelle Landwirtschaft teurer und schließlich kontraproduktiv wurde. Hunger stellte die nationalen Haushalte vor eine Zerreißprobe, und Krankheiten und Seuchen überwanden alle hygienischen Barrieren, die man gegen sie errichtet hatte. Städte, die ihre eigene Bevölkerung nicht mehr unterhalten konnten, wurden von hungernden Kleinbauern und Landarbeitern überschwemmt und schließlich vom wütenden Mob geplündert. Mit dem Niedergang der Städte wurden die ersten Landgüter eingerichtet, und alle, die zupacken konnten, verkauften sich für ein karges Dasein lebenslang an die Grundbesitzer. Die Plage der Kinderlosigkeit machte alles noch komplizierter, die Weltbevölkerung schrumpfte drastisch — wir fangen gerade erst an, uns davon zu erholen.«

»Und so wurden die Alten für ihre Arroganz bestraft. Ich weiß — ich kann auch lesen, Julian —, die alte Leier.«

»Bestraft für das Verbrechen, Wohlstand anzustreben. Bestraft für das Verbrechen, die Gedanken für frei zu erklären. So ungefähr möchte uns das Dominion glauben machen.«

»Vielleicht übertreibt das Dominion in seinen Darstellungen; aber fest steht doch, dass die Säkularen nicht ganz unschuldig waren.«

»Natürlich nicht. Wer ist schon unschuldig? Die Alten litten unter einem Wirtschaftssystem, das verdammt viel Ähnlichkeit hatte mit einer komplexeren Version von Langers’ Glückstopf. Sie wurden von gierigen Aristokraten, kriegslüsternen Diktatoren und ignoranten religiösen Eiferern heimgesucht … Leuten wie uns, falls du das noch nicht bemerkt hast.«

»Aber machen wir denn keine Fortschritte? Nach der Blütezeit des Öls waren unsere Städte noch nie so groß und lebendig wie heute.«

»Ja, vielleicht steht unsere traditionelle Gesellschaftsordnung vor einem Wandel. Die Arbeiter sind unzufrieden — selbst unter den Abhängigen können immer mehr lesen und ihrem Zorn Ausdruck verleihen. Im Westen hat das Dominion noch alles fest im Griff, im Osten muss es erbittert gegen die nicht zugelassenen Kirchen kämpfen. Der Präsident sieht sich einem zunehmend aufsässigen Senat aus neureichen Eigentümern gegenüber, die der alten Ordnung misstrauen oder ein größeres Stück vom Kuchen wollen. Die Laurentische und die Kalifornische Armee agieren als unabhängige Kräfte, die nur so tun, als würden sie von der Exekutive kontrolliert. Und so weiter. Das ganze System eiert um seine Achse, Adam. Es braucht nur einen Stoß in die richtige Richtung, damit es auseinanderfliegt.«

»Ob das so gut wäre?«

»Von Tag zu Tag besser, ja!«

»Das würde aber viel Leid mit sich bringen.«

Er winkte ab. »Leid gibt es immer. Leid ist unvermeidlich.«

Vielleicht hatte er ja Recht. Aber seine Lässigkeit machte mir Angst. Sam hatte ihm einmal vorgeworfen, sich wie ein Comstock zu benehmen — vorgeworfen, wohlgemerkt. Das eben kam mir schlimmer vor. Er dachte wie ein Präsident.


Für den restlichen Nachmittag verzichteten wir auf politische Philosophie und widmeten uns ausschließlich dem Angeln. Der Tag war so schön wie der Anblick von zwei Drachen, die über einem sonnigen blauen See tanzten; so unbeeindruckend unsere Fangquote war — Julian fing einen, ich keinen Fisch —, wir würden nicht verhungern wegen unseres Versagens. Als Jungs hätten wir so einen Tag umarmt. Aber wir waren keine Jungs mehr, und die heitere Illusion ließ sich nicht festhalten. Schließlich näherte sich die Sonne den Hügelspitzen des Hudson-Hochlands, es wurde windstill, das späte Licht versilberte das Laub der Birken, und wir packten Drachen und Fang ein und machten uns auf den Heimweg.

Die Abenddämmerung verlieh Edenvale etwas Melancholisches. Ob es jemals ein Paradies gewesen war oder nicht, jetzt hatte es mehr von einem Eden nach dem Sündenfall: verwaist, nicht ganz vielleicht. Ich fragte mich schon, ob Julian mit seinem Lottermaul womöglich die Toten aufgescheucht hatte; und ich malte mir unsere entrüsteten Vorfahren aus, wie sie aus ihren wurmigen Souterrains stiegen, aufgeladen mit Elektrizität und Atheismus. Obwohl die Vorstellung absurd war, war ich heilfroh, als wir das Duster des Waldes hinter uns ließen und den weitläufigen Rasen des Landsitzes betraten. Lampenlicht so weich wie Butter sickerte aus den Fenstern, ein einladender Anblick.

Hinzu kam gedämpfte und beruhigende Musik. Leise betraten wir die hintere Eingangshalle und folgten ebenso leise den Klängen zum Salon, wo Mrs. Comstock am Klavier saß und die vertrauten Akkorde von Where the Sauquoit Meets the Mohawk hämmerte. Sam starrte sie voller Bewunderung an (so schien es mir jedenfalls), und Calyxa stand mit schimmerndem Lockenkopf und gefalteten Händen da und sang:

Though the years have fled

Since we were wed

Where the Sauquoit meets the Mohawk,

Still the fields are green

Down in between

Where the Sauquoit meets the Mohawk (usw.)

So unbestreitbar sentimental das Lied war — es war in Mrs. Comstocks Jugend populär gewesen —, seine Stärke war die Melodie, die eine Molltonleiter rauf- und runterkletterte, als nehme sie sich ein Beispiel am Auf und Ab von Zuversicht und Resignation, von Heiterkeit und Schwermut. Calyxa schien das so zu empfinden und verlieh ihrer Stimme den entsprechenden Ausdruck, so dass das Lied eine herzzerreißende Klage wurde, süß wie eine Sommerliebe, die in herbstlicher Dämmerung noch einmal reiflich überdacht wurde. Ich musste unwillkürlich an den Sündenfall von Edenvale denken und an all die Verluste, die Mrs. Comstock seit dem Tod ihres Mannes erlitten hatte, und an die Gefahr, in der ihr Sohn schwebte.

Calyxa sang das Lied zu Ende. Mrs. Comstock hämmerte die letzten Akkorde des letzten Refrains herunter und rückte vom Klavier ab, erschöpft … doch Calyxa sang zur allgemeinen Verwunderung noch zwei weitere Strophen ohne Begleitung. Ihre schöne, reine Stimme dehnte sich auch in den letzten Winkel der düsteren Stille hinein:

In a tender year

You kissed me here,

Two hearts joined in one beating;

But lovers met

May suffer yet,

And love, like time, is fleeting.

But if your heart

From mine must part

Where the Sauquoit meets the Mohawk,

Still the rolling sea

Keeps the memory

Of the Sauquoit and the Mohawk.[53]

Als die letzte Silbe verklungen war, blieb es ein paar Atemzüge lang still im Salon. Mrs. Comstock, offensichtlich gerührt, wischte sich die Tränen aus den Augen. Als sie ihre Gefühle wieder unter Kontrolle hatte, bedachte sie Calyxa mit einem neugierigen Blick.

»Diese Verse stehen nicht im Notenheft«, sagte sie.

Calyxa nickte und schien verlegen. »Nein, tut mir leid — ich habe sie hinzugefügt — ganz impulsiv.«

»Die Verse sind von Ihnen?«

»Ein kleiner Kunstgriff, den ich beim Singen in Gasthäusern gelernt habe. Reime dir eine neue Strophe zusammen und überrasche die Menschen.«

»Sie haben sich die Verse vorher ausgedacht oder eben erst?«

»Aus dem Stegreif«, gab Calyxa zu.

»Was für ein bemerkenswertes Talent! Sie gefallen mir immer besser, meine Liebe.«

»Ganz meinerseits, Mrs. Comstock«, sagte Calyxa. Ein Hauch von Röte überzog ihr Gesicht — das erlebte man selten bei ihr.

Dann räusperte sich Mrs. Comstock. »Auf alle Fälle sind die Männer aus dem Gröbsten heraus. Julian, Adam, setzt euch zu uns. Wir haben Nachricht aus dem Regierungspalast, und ich habe euch etwas mitzuteilen.«


Julian erbleichte, soweit sein von Natur aus blasser Teint das noch zuließ. Wir setzten uns.

»Was denn?«, fragte Julian. »Vollstreckung oder Aufschub?«

Mrs. Comstock war ernst, schien aber nicht sonderlich beunruhigt. »Vielleicht von beidem etwas. Wir sind eingeladen zu den Feierlichkeiten am Unabhängigkeitstag. Deklan behauptet, er wolle den Heldenmut von ›Captain Commongold‹ ehren, zumal sich herausgestellt habe, dass der Captain sein Neffe sei.«

»Sieh an, mein Bekanntheitsgrad schützt mich also«, sagte Julian spöttisch. »Jedenfalls bis zum Vierten Juli.«

»Ich glaube nicht, dass du vorher etwas zu befürchten hast, und am Höhepunkt der Feierlichkeiten kann er dich schlecht niedermetzeln lassen, nicht auf dem Gelände des Regierungspalastes. In der Zwischenzeit solltest du eine Stellungnahme an die Presse geben, in der du dich zum Erbgut deines Vaters bekennst und deine Heldentaten auf die Blutlinie der Comstocks zurückführst.«

»Ich soll vor diesem Mörder zu Kreuze kriechen? Und das Grab meines Vaters entehren, indem ich es aufsuche?«

Mrs. Comstock zuckte zusammen. Sam sagte schroff: »Das sind Maßnahmen, die dein Leben schützen sollen, Julian.«

»Was immer es wert ist.«

»Es ist mir eine ganze Menge wert«, sagte Mrs. Comstock scharf. »Ich bin nicht ganz unbeteiligt, Julian.«

Julian nahm den Tadel seiner Mutter an, und seine Miene entspannte sich. »Also gut. Der Unabhängigkeitstag ist nicht morgen und auch nicht übermorgen. Sollte ich ihn erleben, dann will ich bis dahin als freier Mensch und nicht als Flüchtling gelebt haben.«

»Was willst du damit sagen?«

»Dass ich morgen nach Manhattan zurückkehre.«

Unsere nervöse Idylle war zu Ende.


Der nächste Morgen fand uns an Bord der Sylvania. Über Nacht war ein Sturm aufgekommen, und an Deck war es kühl und regnerisch. Ich hielt mich eine Zeit lang im Ruderhaus auf, um zumindest eine Ahnung von Theorie und Technik der Dampfschifffahrt zu bekommen. Dann stieg ich in die wärmere Kabine hinunter, wo Julian saß; er hatte ein Buch auf dem Schoß.

»Mich beschäftigt die Zukunft.«

»Ob wir eine haben oder nicht?«

»Mach keine Witze, Julian. Ich kenne die Gefahren, die auf uns lauern. Aber ich bin ein verheirateter Mann — ich habe Verpflichtungen, und ich kann nicht einfach in den Tag hineinleben. Calyxa und ich können dir nicht ständig auf der Tasche liegen. In Manhattan werde ich mir einen Job suchen — alles, was nichts mit Fleischverpackung zu tun hat[54] —, und dann werde ich für Calyxa und mich eine Wohnung auftreiben.«

»Deine Motive in Ehren, Adam. Aber findest du nicht, wir könnten damit bis zum Unabhängigkeitstag warten? Bis dahin könnt ihr allemal bei uns wohnen. Ihr fallt uns nicht zur Last, ehrlich nicht.«

»Lieb von euch, Julian, aber warum warten? Ich könnte eine Chance verpassen.«

»Oder etwas unterschreiben, was du nachher bereust. Adam … vielleicht hat meine Mutter sich nicht deutlich genug ausgedrückt. Als sie sagte, Deklan Comstock hätte uns in den Regierungspalast eingeladen, da wart ihr auch gemeint.«

»Was?« Ich bekam weiche Knie.

»Du und Calyxa.«

Ich war entsetzt. »Wie ist das möglich? Was will der Präsident mit uns? Woher weiß er überhaupt von uns?«

»Der Präsident hat Leute, die Bedienstete bestechen oder bedrohen. Für die sind alle Wände durchsichtig. In der Einladung standen ausdrücklich eure Namen.«

»Julian, ich bin nur ein Pächterjunge — ich habe keine Ahnung, wie man sich in Gegenwart eines Präsidenten benimmt, schon gar nicht, wenn dieser Präsident über Leichen geht!«

»Dir trachtet er bestimmt nicht nach dem Leben. Er muss spitzgekriegt haben, dass du der Chronist meiner sogenannten Abenteuer bist, und will dich einfach mal sehen. Und was dein Benehmen angeht …« Er zuckte die Achseln. »Sei du selbst. Du hast nichts zu gewinnen, wenn du deine Herkunft verleugnest, und nichts zu verlieren, wenn du dazu stehst. Und wenn der Präsident sich über mich lustig macht, weil ich mich mit Pächterjungen und Tavernensängerinnen einlasse, dann soll er doch.«

Das waren keine erfreulichen Aussichten; doch ich biss mir auf die Lippe und hielt mich bedeckt.

»Mittlerweile«, sagte Julian, »stehe ich in deiner Schuld.«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Aber ja. In Williams Ford hast du dich um mich gekümmert, hast mir alles gezeigt, was du über das Landgut wusstest und wo man welche Tiere jagen konnte.«

»Und du hast mir Edenvale gezeigt.«

»Edenvale ist nichts. Manhattan, Adam! Meine Stadt heißt Manhattan, und ich will dich über die Gefahren und Freuden dieser Stadt aufklären, bevor du eine Arbeit annimmst und dich niederlässt.«

Mag sein, dass es ein Ablenkungsmanöver war, aber unser Leben schien inzwischen so gefährlich zu sein, dass ich nur allzu gerne darauf einging. »Vielleicht kann ich von euch noch was lernen, bevor ich mich in die Aristokratie des Präsidentenpalasts stürze.«

»Goldrichtig. Und die erste Lektion lautet: Benutze niemals die Wörter ›Aristokrat‹, ›Aristokratie‹ und ›aristokratisch‹. Wir nennen uns ›eupatridische Gesellschaft‹.«

Eine Bezeichnung, die lang genug war, um daran zu ersticken, dachte ich; aber ich hielt mich daran, und bald hatte ich den Zungenschlag heraus.

3

Der in der jüngeren Geschichte unbewanderte Leser möchte sicher wissen, ob Julian und ich nun am Unabhängigkeitstag umgebracht wurden oder nicht. Nicht dass ich die Antwort auf diese wichtige Frage hinauszögern will, doch die Ereignisse am Vierten Juli lassen sich besser verstehen, wenn ich zuvor das eine oder andere schildere, was vor diesem Tag passiert ist.

Es war eine angespannte Zeit für Calyxa und mich, obwohl wir Jungvermählte waren und als solche zur Unsterblichkeit berufen schienen. Präsident Comstock sei wohl kaum an uns interessiert, meinte Calyxa, und außerdem seien wir in diesen aristokratischen Gemächern nicht eingesperrt. Wir könnten jederzeit unsere Sachen packen und nach Boston oder Buffalo reisen, um dort ein anonymes Leben zu führen, außer Reichweite irgendeines übergeschnappten Oberbefehlshabers der amerikanischen Streitkräfte. Ich würde unter einem Pseudonym Bücher schreiben, und Calyxa würde in angesehenen Lokalen singen. Wir gingen so weit, dass wir uns nach den Fahrplänen und Preisen der Zugtickets erkundigten. Nur dass mir die Aussicht, Julian seinem Schicksal zu überlassen, überhaupt nicht gefiel.

»Es ist Julians Schicksal«, sagte Calyxa, »und er braucht es nur abzuschütteln. Er ist einmal weggelaufen — warum nicht wieder? Sag ihm, er soll mitkommen.«

Doch als ich Julian diesen Vorschlag machte, schüttelte er den Kopf. »Nein, Adam. Das wäre sinnlos. Die Flucht von Williams Ford grenzt an ein Wunder. Hier werde ich viel gründlicher überwacht.«

»Von wem? Wo denn? Ich sehe keinen. New York City kommt mir wie ein großes Labyrinth vor, in dem man sich verirren kann.«

»Mein Onkel hat seine Augen überall. Ich könnte keinen Koffer packen, ohne dass er es erfährt. Das Haus wird beobachtet, auch wenn du niemanden siehst. Wenn ich spazieren gehe, folgen mir weit hinten die Leute des Präsidenten. Wenn ich mich irgendwo am Broadway betrinke, landet es schwarz auf weiß auf seinem Schreibtisch.«

»Gilt das auch für Calyxa und mich?«

»Bestimmt, nur dass man die Überwachung etwas lockerer sieht.« Er sah nach rechts und links, um sicherzugehen, dass niemand mithörte. »Wenn ihr fliehen wollt, dann seid ihr gut beraten, es auch zu tun. Ich werde euch nicht aufhalten, und ich werde euch keine Vorwürfe machen. Aber es muss eine perfekte Flucht sein, sonst greifen euch die Leute des Präsidenten auf, und ich muss es ausbaden. Um ehrlich zu sein, bei der geringen Bedeutung, die Deklan euch beimisst, seid ihr hier besser aufgehoben als sonst wo. Ihr müsst natürlich wissen, was ihr tut.« Er fügte hinzu: »Es tut mir leid, dass ich euch da mit reinziehe, Adam. Ich habe das nicht gewollt, und ich werde alles tun, um euch zu helfen.«

Also studierten Calyxa und ich weiterhin Fahrpläne und schmiedeten Fluchtpläne, während wir in dem Haus mit der rotbraunen Sandsteinfassade wohnen blieben und die Tage und Wochen ungenutzt verstreichen ließen. Mrs. Comstock setzte ihre karitative Arbeit fort und veranstaltete gelegentlich Zusammenkünfte der hiesigen Künstlerzirkel, Ereignisse, die Julian sichtlich genoss. Sam war zu dieser Zeit oft abwesend und kontaktierte die höheren Ränge des Militärs — denn er war nicht mehr »Sam Samson«, sondern wieder Sam Godwin, der Veteran des Isthmischen Krieges; und ich stellte mir lebhaft vor, wie er auf eigene Faust Informationen über die eigentlichen Absichten des Präsidenten sammelte.

Ich dagegen konnte mich kaum nützlich machen, verbrachte aber viele schöne Stunden mit Calyxa, in denen wir das Leben zu zweit erprobten. Calyxa neigte auf ihre Weise genauso zum Philosophieren wie Julian und diskutierte am liebsten über die Mängel und Unzulänglichkeiten des aristokratischen Systems, das sie rundweg ablehnte. Hatten wir das Parlieren leid, machten wir die City unsicher. Calyxa liebte es, die Läden und Restaurants am Broadway und an der Fifth Avenue zu erforschen; und eines schönen Tages wagten wir uns bis an die mächtigen Mauern des Regierungssitzes.[55] Sie waren unsäglich hoch und dick und aus den Trümmern der Stadt erbaut. Ringsherum lief ein tiefer Graben. Das riesige Broadway Gate an der 59sten Straße mit seinem Wachhaus aus Stein und Stahl war ein Bauwerk, das fast so imposant und zweimal so monolithisch war wie die Kathedrale in Montreal, in der ich Calyxa entdeckt hatte (meine Calyxa im Chorhemd). Ich konnte mir nicht vorstellen, was hinter diesen Festungsmauern lag (obwohl ich es herausfinden sollte).

Der Juni war ungewöhnlich schön und sonnig, und wir unternahmen solche Ausflüge häufiger. Damit es nicht eintönig wurde, nahmen wir jedes Mal eine andere Route; und als wir auf dem Weg über die Hudson Street vom Broadway zurückkehrten, kamen wir an einem Buchladen vorbei. Das Sonnenlicht fiel schräg durchs Fensterglas und beschien den illustrierten Deckel eines mir unbekannten Buches von Mr. Charles Curtis Easton, es hieß American Sailors Afloat.

Überflüssig zu sagen, dass ich schleunigst hineinging.

Ich war noch nie in einem Buchladen gewesen. Alle Bücher, die ich gelesen hatte, hatte ich mir aus der Bibliothek des Landsitzes in Williams Ford geliehen oder (wie zum Beispiel A History of Mankind in Space) aus einer modrigen Halde gezogen. Selbstverständlich hatte ich gewusst, dass es solche Läden gab und eine stattliche Anzahl davon in Manhattan, aber einen aufzusuchen hatte ich mich bisher nicht getraut. Vermutlich hatte ich mir vorgestellt, ein Buchladen sei eine ehrfurchtgebietende Stätte, so ätherisch und von Marmorsäulen getragen wie ein griechischer Tempel. Dieser Laden hatte nichts Sakrales. Grogan’s Books Music and Cheap Publications war nicht eindrucksvoller als der Schuhladen zur Linken oder der Impfladen zur Rechten.

Selbst die Luft im Laden roch einladend, ein Parfüm aus Papier und Druckerschwärze. Viele und lauter verschiedene Bücher standen zum Verkauf, ich kannte bestimmt kein einziges; doch ich fand instinktiv zu der Abteilung, wo Mr. Eastons Romane ausgestellt waren — eine Überfülle, frisch und leuchtend in ihren farbenfrohen Buchdeckeln mit Prägedruck.

»Mach den Mund zu«, sagte Calyxa, »du sabberst gleich.«

»Das muss fast alles sein, was Mr. Easton geschrieben hat!«

»Hoffentlich. Er hat schon viel zu viel geschrieben.«

Ich war mit dem Sold, den mir die Laurentische Armee nachgezahlt hatte, ziemlich knauserig umgegangen — ich hatte immer noch den Erwerb einer Schreibmaschine im Hinterkopf —, konnte aber nicht widerstehen, ein, zwei jüngere Romane von Mr. Easton zu kaufen.[56] Calyxa stöberte in den Notenblättern, während ich an der Kasse Comstock-Dollars auf die Theke zählte.

Wir verließen die Buchhandlung, und Calyxa zauderte vor dem Impfladen nebenan. Sie war bei all ihrer Verachtung für das Aristokratische nicht immun gegen gewisse Phänomene der hiesigen Lebensart. Das Fenster des Impfladens warb für ein frisch eingetroffenes Gelbfieberserum, die Reklame wandte sich an stilbewusste junge Städterinnen, die ihre Impfnarben zur Schau trugen, als seien es Juwelen. Eine einzige Dosis von diesem Serum kostete aber mehr als ein Dutzend Romane, und Julian hatte uns vor solchen Läden gewarnt, die mitunter mehr Krankheiten in Umlauf brachten, als sie verhindern konnten.

Ich freute mich einfach nur auf die Lektüre. Ich gestand Calyxa, wie sehr mich Mr. Eastons Werk inspiriert habe, und dass es seine Bücher seien, die meinen Ehrgeiz entflammt hätten, ein professioneller Schriftsteller zu werden, und ich sei weiter denn je von diesem Ziel entfernt.

»Unsinn«, sagte Calyxa. »Adam, du bist ein professioneller Schriftsteller.«

»Kein professioneller — und veröffentlicht habe ich auch noch nichts.«

»Du hast bereits einen Text veröffentlicht. Nicht gesehen? Bei Grogan’s liegen Die Abenteuer des Captain Commongold. Das Heft scheint sich gut zu verkaufen.«

»Dieser Schund. Der Text hat Julian in Lebensgefahr gebracht und ist obendrein von Theodore Dornwood total verhunzt worden. Er hat die Hälfte der Kommas verschlampt und die restlichen sinnlos verstreut.«

»Abgesehen von der Zeichensetzung ist es dein Text, und er ist immerhin so professionell, dass erstaunlich viele Bürger von Manhattan bereit sind, sich von einem Dollar fünfzig zu trennen, um ihn zu lesen.«

Das stimmte, auch wenn ich das so noch nicht gesehen hatte. Meine Empörung über Mr. Dornwood flammte wieder auf. Auf dem Weg zu Mrs. Comstocks Haus verlor ich kein Wort mehr über »meine Veröffentlichung«, nahm mir aber vor, die Redaktion des Spark aufzusuchen, um meinem Ärger Luft zu machen.


Ich hätte den Abend am liebsten mit Lesen verbracht, denn ich war auf die neuen Bücher gespannt; jedes Mal, wenn ich sie in die Hand nahm, musste ich die steifen Seiten und die gestochen scharfen Buchstaben und den sauberen weißen Faden bewundern, der die Bögen so ordentlich und fest zusammenhielt; aber Julian wollte uns partout mit ins Kino nehmen — eine Einladung, der ich schwerlich widerstehen konnte, nach allem, was Julian in Williams Ford über Filme gesagt hatte.

Wir drei nahmen eine Droschke zu dem Lichtspieltheater am Broadway, in dem Julian uns Plätze hatte reservieren lassen, und mischten uns im Foyer unter die vielen vornehm gekleideten Eupatriden beiderlei Geschlechts. Noch ehe wir den Zuschauerraum betraten, war mir klar, dass diese Vorführung viel, viel aufwendiger sein würde als die des Rekrutierungsfilms in der Dominion-Halle in Williams Ford. Der Film, der hier gezeigt werden sollte, hieß Eula’s Choice; auf den bunten Werbeplakaten im Foyer war eine antiquiert gekleidete Frau zu sehen und ein Mann mit Pistole; außerdem ein Pferd und eine amerikanische Fahne. Julian erklärte, es handle sich bei Eula’s Choice um eine patriotische Geschichte, deren Premiere nicht zufällig in die Zeit des Unabhängigkeitstages falle. Er erwarte keine große schauspielerische Leistung, der Film sei aber von einer hiesigen Gruppe produziert worden, die für ihre eigenwillige Kameraführung und ihre üppigen Bühneneffekte bekannt sei. »Wenn es ein herrliches Spektakel wird, bin ich vollauf zufrieden.«

Calyxa fühlte sich nicht wohl unter den hochnäsigen Eupatriden und schien erleichtert, als die Platzanweiser kamen, um uns in den Zuschauerraum zu scheuchen, wo wir die uns zugewiesenen Plätze einnahmen. »Mit dem Geld, das hier den Besitzer wechselt«, sagte Calyxa, »könnte man tausend Waisenkinder ernähren.«[57]

»Wenn man immer so dächte«, meinte Julian tadelnd, »gäbe es keine Kunst, keine Philosophie und auch keine Bücher. Das ist ein unabhängiges Kino, keine eupatridische Einrichtung. Von den Einnahmen werden die Gehälter der agierenden Schauspieler und Sänger bezahlt, die sonst hungern müssten.«

»Sänger auch? Wenn das so ist, will ich nichts gesagt haben.«

Den Strom für das ganze Theater lieferte ein Generator im Kellergeschoss, dessen gedämpftes Knattern an das Schnarchen eines Leviathans erinnerte. Die Lampen funktionierten elektrisch und trübten sich alle gleichzeitig ein, während das Orchester — eine komplette Blaskapelle und etliche Streicher — die Ouvertüre spielte. Der Vorhang ging hoch und enthüllte eine riesige weiße Leinwand und die verhangenen Kabinen für die Synchronstimmen und Geräuschemacher. Kaum war es finster, da warf der Lichtstrahl des Projektors einen reich verzierten Titel auf die Leinwand:

The New York Stage and Screen Alliance

Presents

EULA’S CHOICE

A Musical Story of Antiquity,

versehen mit dem Prüfsiegel des Dominion.

»Da wird geklotzt«, meinte Calyxa; die Kinos in Montreal betrieben lange nicht so viel Aufwand. »Sch!«, machte Julian, und die Musik schwoll an und flaute ab, als die Geschichte begann.

Ich will mein Staunen nicht lange beschreiben — der Leser kann es als gegeben betrachten. Nur so viel — diesmal erschien mir Julians Stolz auf die ostamerikanische Kultur gerechtfertigt und absolut entschuldbar. Das ist Kunst, dachte ich; Kunst im ganz großen Stil!

Die Geschichte spielte irgendwann während des Niedergangs der Städte. Die Protagonisten waren Boone, der geplagte Pfarrer einer städtischen Kirche; Eula, seine Verlobte, und Foster, ein erfolgreicher Industrieller.

Die Aufführung gliederte sich in drei Akte, die in einem Programmheft beschrieben waren, das die Platzanweiser verteilt hatten. Jeder Akt wartete mit drei Liedern oder »Arien« auf.

Zu Anfang wurde allerdings nicht gesungen — das Publikum kam in den Genuss flackernder Szenen, die eine Stadt der Säkularen Alten zeigten, die sich in der letzten Phase ihres Niedergangs befand. Wir sahen viele unvorstellbar hohe Gebäude, kunstvoll aus Papier und Holz gebaut, die aber täuschend echt wirkten; wir sahen Straßen, die mit Geschäftsleuten, Atheisten, Huren und Automobilen bevölkert waren.[58] Boone und Eula traten in Erscheinung, sie arbeiteten gemeinsam in der kleinen frommen Pfarrkirche und neckten sich auf eine Weise, die eine bevorstehende Trauung erahnen ließ; doch dann platzte ein Trupp Säkularer Polizisten herein und bezichtigte Boone, verbotene Begriffe wie »Glaube« und »Himmelreich« im Mund geführt zu haben. Boone wurde festgenommen und abgeführt, während Eula herzzerreißend weinte. Boone wurde in Ketten durch die Straßen gezerrt und sang — laut Programmheft — die Arie

The hand of God, not gentle …

Der Filmschauspieler war ausdrucksstark, und sein Part wurde von einem Tenor gesungen, der den Worten Leidenschaft und Disziplin verlieh. (The hand of God, not gentle but just / Descends upon the wicked by and by / und so weiter).

Sollten sich die Säkularen Polizisten durch ihr brutales Benehmen einen Platz in der Hölle verdient haben, ihre Stadt ging jetzt schon zum Teufel. Wir erlebten eine Montage aus Streiks, Ausschreitungen und Bränden — die himmelhohen Gebäude brannten wie Kienspäne. Jetzt wurde das Publikum mit Foster, dem Industriellen, bekanntgemacht, der wie wild gegen ein Feuer in seinem Eisenhüttenwerk kämpfte, das von aufsässigen Arbeitern gelegt worden war; doch Hitze und stürzende Holzbalken zwangen ihn zurückzuweichen. Vor dem Hintergrund der Zerstörung wischte Foster sich über die rußige Stirn und sang resignierend die Arie

Gone, all that I have built …

Das allein hätte schon das Herz des kältesten Zynikers erweicht, aber es kam noch schlimmer. Eula erschien wieder. Sie hatte der Szene von Boones grausamer Verhaftung den Rücken gekehrt, nur um mit anzusehen, wie ihr Familienhaus von den Flammen verschlungen wurde, derweil ihre Eltern aus einem Fenster schrien, aus dem sie aber nicht gerettet werden konnten. Sie kamen um in den Flammen. Von Gram überwältigt taumelte Eula zu dem Gefängnis, in dem sie Boone wähnte; doch auch dieses Gebäude war ein Raub der Flammen geworden.

Im Publikum zeigten sich etliche eupatridische Damen gerührt von dieser tragischen Szene, betupften ihre Augenwinkel und schnäuzten sich ohne Rücksicht auf Eulas herrlich gesungene Arie

Lost and alone among the ruines …

Ende des ersten Aktes. Die Lampen hellten sich auf. Pause. Viele Eupatriden begaben sich sofort ins Foyer; doch Calyxa, Julian und ich, jung und ohne Druck auf der Blase, blieben sitzen. Vor meinem geistigen Auge flimmerten noch Filmszenen, und meine Gedanken kreisten um die verlorenen Wunder der Säkularen Alten. Ich sagte zu Julian: »Hast du mir nicht erzählt, die Alten hätten Filme gemacht?«

»Zahllose, aber keiner hat überdauert, bis auf die, die man unter Verschluss hält.« Der Kulturausschuss des Dominions unterhalte ein großes Steingebäude in New York City, erklärte Julian, wo allerhand alte Texte, Dokumente und andere Sachen aufbewahrt würden, die so blasphemisch seien, dass man uns und alle anderen davor schützen müsse. Nur ein auserwählter Kreis des Klerus kenne die Schätze in diesem Archiv.

»Und diese Filme waren mit Ton aufgezeichnet und mit Farbe?«

»So ist es.«

»Und warum machen wir nicht solche Filme? Und warum nicht mehr davon? Ich verstehe das nicht, Julian. Die einfachen Techniken der Vergangenheit beherrschen wir doch noch. Wir haben zwar kein Öl im Überfluss, können aber Kohle verbrennen, damit lässt sich doch auch arbeiten.«

»Wir könnten Tonfilme drehen«, sagte Julian, »aber die Ressourcen sind anders verteilt. Dasselbe gilt für die Schreibmaschine, mit der dich dieser Dornwood hypnotisiert hat. Wenn wir wollten, könnten wir für jeden hier in Manhattan eine Schreibmaschine bauen; aber das wäre ein leichtsinniger Verbrauch an Eisen oder Gummi oder was auch immer — Material, das der Senat eupatridischen Fabrikanten zuweist, die im Gegenzug das Militär mit Waffen und anderem Bedarf versorgen.«

So weit hatte ich nicht gedacht. So gesehen war jeder Grabenfeger in Labrador eine nicht hergestellte Schreibmaschine oder ein nicht gedrehter Film. Eine traurige Regelung, doch welcher Patriot wollte dagegen sein?

»Künstler«, sagte Julian, »oder Handwerker und Ladenbesitzer müssen zusehen, wie sie auskommen mit dem Rinnsal an Restressourcen und der Zweitlese von der örtlichen Halde. Ob das gerecht ist, darf bezweifelt werden.« Er wandte sich an Calyxa. »Und? Wie findest du den Film — bis jetzt, meine ich?«

»Die Handlung?« Sie verdrehte die Augen. »Und die Lieder — pardon, die Arien — sind reichlich simpel. Die Sängerin ist allerdings gut. In den Höhen ein bisschen flach, aber insgesamt couragiert und flüssig.«

Was die Handlung anging, so widersprach ich meiner geliebten Calyxa; doch was sie zur Musik gesagt hatte, bedeutete größte Anerkennung, denn dazu hatte sie über den eigenen Schatten springen müssen.

Kaum hatten die Letzten Platz genommen, da erlosch das Licht wieder. Der zweite Akt begann damit, dass Hunderte zerlumpter Männer und Frauen vor dem Niedergang der Städte flohen, unterlegt mit einem elegischen Trompetensolo und dem leisen Prasseln ihrer Schritte. Unter diesen Menschen befand sich auch der angeklagte Pastor Boone, der (was Eula nicht wusste) den Flammen entkommen war. In einer ergreifenden Szene stieß er auf seine brutalen Häscher, die sich gegen ihn versündigt hatten und jetzt hilflos dalagen und unter tödlichen Verbrennungen litten … Boone half ihnen, Reue und Leid zu erwecken, und erteilte ihnen im Augenblick des Todes die Absolution. Er erhob sich mit Tränenspuren im Gesicht von seiner heiligen Pflicht und entdeckte in einiger Entfernung ein Kreuzbanner inmitten der Flüchtlinge. Er sah darin ein Symbol des aufkeimenden Dominion of Jesus Christ on Earth — einer Vereinigung aller verfolgten Kirchen — und zelebrierte das Ereignis durch seine Arie

In the wilderness, a flag …

Unter den heimatlosen Städtern befand sich Eula (was Boone nicht wusste). Der Hunger zwang sie, Foster, den einstigen Industriellen, um Hilfe zu bitten. Foster war mit dem Planwagen unterwegs zu seiner Freilandplantage. Er half Eula, war freundlich zu ihr und trat ihr nicht zu nahe; und weil sie davon ausging, der Pastor, den sie eigentlich immer noch liebte, sei ein Opfer der Flammen geworden, nahm sie Fosters Hilfe ziemlich rückhaltlos an und sang vornehmlich in Klavierbegleitung die wehmütige Arie

I will take this offered hand …

Dann fuhren Foster und Eula — die sich immer näherkamen — durch eine Montage aus Szenen einer heruntergekommenen Welt, der Welt der Falschen Drangsal. Verfallene Häuser, staubverwehte Farmen, verendetes Vieh, abgestürzte Flugzeuge, verrottete Automobile und so weiter. Nach abenteuerlichen Strapazen erreichten sie eine kleine, auf einem Hügel gelegene Stadt unweit seiner Plantage. Das Gemeinwesen hatte den Niedergang der Städte heil überlebt und wurde durch den unerschütterlichen christlichen Glauben seiner Einwohner vor Unbill bewahrt. Letztere hatten am höchsten Punkt des Hügels ein riesiges Symbol ihres Glaubens errichtet, das Foster dazu bewegte, die Arie

What shines on that far hill? A cross! …

zu singen.

Der Akt schloss mit Eulas Bestürzung, als sie einen der vielen Geistlichen erkannte, die sich in dem rechtschaffenen Städtchen eingefunden hatten, um zu helfen, diesen Hort der Tugend zu verteidigen: Es war niemand anderes als Boone, ihr einstiger Verlobter.

Auf diese atemberaubende Wende hin fiel der Vorhang.

Pause. Diesmal suchten wir drei das Foyer auf. Während ich meine Blase erleichterte, begegnete ich schon wieder einem unerwarteten Luxus der eupatridischen Klasse: Innentoiletten so makellos, dass die emaillierten und mit Zitronenduft parfümierten Behältnisse für Herren schimmerten, als seien sie eben erst poliert worden. Erstaunlich, welch raffinierten Komfort sich Menschen einfallen lassen!

Ich kam rechtzeitig zu meinem Platz zurück. Das Licht ging aus, der Vorhang hoch.

Im dritten und letzten Akt sollte endlich der Titel des Films zum Tragen kommen: Eula stand vor der Wahl ihres Lebens. Eine großartige Gelegenheit für die beiden Darstellerinnen von Eula (ihrer Stimme und ihrer Person), alles zu geben, was in ihnen steckte; doch zuerst sahen wir Foster, der ebenfalls vor einem Dilemma stand. Seine Plantage unweit des tugendhaften Städtchens, in dem er und Eula Zuflucht gefunden hatten, war verwüstet worden. Hungrige Flüchtlinge hatten den Weizen niedergetrampelt, und was noch stand, konnte nicht geerntet werden, weil ihm die Hilfskräfte fehlten. Inzwischen strömten tageweise Flüchtlinge ins Städtchen, weil sie hofften, hier eine Suppe und ein Stück Brot zu bekommen. Sicher, er hätte diese unfreiwilligen Nomaden anheuern können, aber womit hätte er sie bezahlen sollen — Geld hatte er keines. Außerdem war Landarbeit (die täglich eine warme Mahlzeit garantierte) so begehrt, dass der Mob sich darum geprügelt hätte. Und so kam Foster auf eine geniale Idee und sang die Arie

All that may be sold generosity may buy …

in der er Männern, die auf Lohn (im klassischen Sinne) verzichteten, lebenslängliche Arbeit versprach.[59] Um diesen Arbeitsverträgen Geltung zu verschaffen, brauchte er den Beistand des Klerus im Allgemeinen und den von Pastor Boone im Besonderen.

Und so kam Eula in den Genuss, ihre beiden konkurrierenden Freier vereint im Zeugungsakt zu erleben, dem Akt, der das neue und frommere Amerika zeugte, das hinfort aus den Ruinen des alten erstehen sollte. Foster ahnte nichts von der einstigen Beziehung zwischen Boone und Eula; doch Boone, der Eula bei einem geselligen Anlass vorgestellt wurde, erkannte gleich, welcher Art die Beziehung zwischen ihr und Foster war, und spielte den Unbeteiligten.[60] Eula spielte mit. Das alles gipfelte darin, dass Boone durch eine mondbeschienene Wiese streifte und seiner schmerzlichen Wehmut Luft verschaffte, indem er die Arie

I give to God that which the Earth denies …

sang, in der er auf die irdische Liebe zugunsten der verlässlicheren himmlischen Spielart verzichtete. Eula, die zwischen den Bäumen stand und seinen Worten lauschte, weinte beinah so ausgiebig wie die Damen im Publikum.

Am Tag darauf trug Foster ihr die Ehe an. Eula bat sich Bedenkzeit aus und suchte Boone auf. Sie näherte sich ihm, wie man sich seinem Beichtvater nähert — beide taten so, als habe es nie gegeben, wessen sie sich schmerzlich bewusst waren — und erzählte ihm alles, was sie seit seiner Verhaftung erlebt hatte bis hin zu Fosters Heiratsantrag. Sie habe ihren einstigen Verlobten getroffen, den sie für tot gehalten habe; und sie empfinde immer noch Liebe für ihn; aber sie liebe auch Foster und wisse nicht mehr aus noch ein.

Boone rang einen Augenblick mit seinen Gefühlen. »Vieles hat sich seit dem Ende der alten Welt geändert«, sagte er schließlich, und der Synchronsprecher verlieh Boone alle Attribute unterdrückter Gefühle (Zaudern, Aussetzen, Stocken), während er präzise den Mundbewegungen des Schauspielers auf der Leinwand folgte. »Wir gewinnen ein neues Verhältnis zur Kirche. Wir leben in der Abenddämmerung des alten Lebenswandels und der Morgendämmerung eines neuen. Gelübde von früher werden nicht gebrochen, sie werden für ungültig erklärt. Deine Ehe, wenn du sie eingehst, wird gewiss gesegnet sein — [viele ungesagte, erstickte Worte] — egal — egal, was vorher war.«

Eulas tränennasse Augen suchten die seinen. »Danke, Pastor«, sagte sie; und sollte sie sonst noch etwas gesagt haben, ging es im Schniefen und Schnäuzen des Publikums unter.

Ihre Rückkehr zu Foster war bittersüß. Dass er ihr den Hof machte, begrüßte sie mit der Arie

I pledge to thee …

gefolgt von Szenen einer aufsehenerregenden Hochzeit, bei der Eula und der noble Pastor viele ergreifende Blicke wechselten, und schließlich von dem langen, vom ganzen Ensemble gesungenen Medley

The hand of God, not gentle …

What shines on that far hill? …

I pledge to thee …

in das ein Chor einstimmte, mit viel Glockengeläut und Fanfarenklängen und einem triumphalen Schlussrefrain, dem das ferne Bild einer christlichen Stadt und ihrer Weizenfelder unterlegt war, die von zufriedenen, lebenslang verdingten Menschen gepflügt wurden — und über allem wehten zuversichtlich die Sechzig Sterne und Dreizehn Streifen.[61]

Als der Vorhang fiel, wurde ziemlich lange applaudiert. Ich klatschte mindestens so begeistert wie die anderen, wenn nicht begeisterter. Ich hätte nie gedacht, dass filmische Illusion auf einem so hohen Niveau stattfinden konnte, getragen von Sorgfalt und Leistung so vieler fähiger Darsteller, die Hand in Hand arbeiteten. Der Film war eine Offenbarung für mich — eine Offenbarung wie die Herrentoilette im linken Seitenraum des Foyers.

Wir ließen uns vom Strom der Zuschauer ins Freie treiben. Der Film hatte in mir eine Art patriotische Glut entfacht, die noch Nahrung bekam durch das Glühen der Stadt. Das letzte Viertel von Manhattans vierstündiger Nachtbeleuchtung war angebrochen, und lauter künstliche Lampen glänzten den Broadway entlang wie abertausend angeschirrte Glühwürmchen. Sogar die Skelette der antiken Wolkenkratzer schienen mit elektrischem Leben infiziert. Unzählige Kutschen und Droschken fuhren vorbei, und scharlachrote Kreuzfahnen, die von Dachtraufen und Fensterstürzen hingen, bauschten sich in einer milden Brise. Ich sagte Julian, wie beeindruckt ich sei, und bat ihn um Nachsicht, weil ich alles, was er mir über New York City und die Filme vorgeschwärmt hatte, für übertrieben gehalten habe.

»Na ja, die Inszenierung war ganz gut«, meinte er. »Alles in allem ein sehr netter Abend.«

»Ganz gut! Gibt es denn noch bessere Filme?«

»Ich habe ein paar gesehen, die besser waren.«

»Gut?«, fragte Calyxa skeptisch. »Das aus dem Mund eines Agnostikers? Der Film mag ja ganz hübsch sein, aber ist Eula nicht eine Beleidigung deiner Grundüberzeugungen?«

»Danke der Nachfrage«, sagte Julian. »Nein, beleidigt fühle ich mich eigentlich nicht. Wenn ich ein Agnostiker bin, Calyxa, dann nur, weil ich auch Realist bin.«

»Der Film hatte nichts Realistisches — das war noch simpler als die Geschichten in den Dominion-Broschüren.«

»Meinetwegen — historisch war der Film schwach und propagandistisch —, aber was erwartest du? Du hast doch das Prüfsiegel gesehen? Willst du als Filmemacher vorankommen, musst du dein Drehbuch dem Kulturausschuss vorlegen. Realistisch betrachtet sind diese Produktionen keine Kunstwerke, weil der Künstler nicht das Sagen hat. Aber Aufbau, Rhythmus, Dialog, Kamera und Harmonie zwischen Leinwand und Vertonung — alles, was ein Filmemacher tatsächlich gestalten kann, war über jeden Tadel erhaben.«

»Über jeden Tadel erhaben«, sagte Calyxa, »abgesehen von dem, was zählt.«

»Willst du damit sagen, dass Singen nicht zählt?«

»Hmm … gesungen wurde schön, zugegeben … und für den Text können die Sänger ja nichts.«

»Siehst du.«

»Also war das Ganze ein schönes, aber dummes Machwerk. Ein bisschen weniger dumm wäre doch schöner gewesen?«

»Einverstanden. Ich würde liebend gern einen Film machen, der nicht bloß schön, sondern auch durchdacht und ehrlich ist. Ich habe oft darüber nachgedacht. Aber die Welt ist nicht so eingerichtet. Ich bezweifle, ob irgendein Mensch in der Lage ist, sich in solchen Dingen gegen das Dominion durchzusetzen, bis auf den Präsidenten vielleicht.« Dann, als sei er über seinen Gedanken erschrocken, zwinkerte Julian und lächelte. »Was man natürlich von Deklan Comstock nicht erwarten kann.«

»Nein«, sagte Calyxa und forschte in seinem Gesicht. »Nein, nicht von Deklan Comstock.«


Am nächsten Morgen ließ ich Calyxa schlafen und machte mich auf den Weg zum Verleger des Spark und der Abenteuer des Captain Commongold, eines jugendlichen Helden am Saguenay.

Ich hatte nichts Tödlicheres dabei als meine schwelende Empörung, geschürt durch die Mut- und Opferszenen des Films gestern Abend. Ich würde den Dieben die Stirn bieten, und weil ich das Recht so offensichtlich auf meiner Seite hatte, würden sie so klein mit Hut sein. Ich weiß nicht, wieso ich mir derart übertriebene Ergebnisse aus der bloßen Berufung auf Justitia versprach. Das Diesseits entsprach nur selten solchen Erwartungen.

Das richtige Büro zu finden war die erste Hürde, die ich zu nehmen hatte. Das Gebäude ausfindig zu machen, in dem der Spark gemacht wurde, war kein Problem, da die Adresse in jeder Ausgabe stand: Es handelte sich um einen weitläufigen Gebäudekomplex in der Nähe des Lexington-Kanals. Den meisten Raum beanspruchten allerdings Druckerei, Binderei, Lager und Vertrieb, und mir blieb nichts anderes übrig, als einen schmutzigen Techniker aus der Druckerei nach dem Weg zu fragen. »Oh, Sie wollen zur Redaktion.«

Die »Redaktion« war eine Zimmerflucht im dritten und obersten Stock am Kopf einer langen, geraden Treppe. Hier oben war es stickig; die ganze Wärme des Gebäudes (und es war ein warmer Junitag) hatte sich hier angesammelt, zusammen mit Gerüchen von Druckerschwärze, Lösungsmitteln und Maschinenöl. Ich wusste nicht genau, an wen ich mich wenden sollte. Nach einigem Hin und Her stand ich vor der Tür des Redakteurs und Verlegers, eines gewissen John Hungerford. Offenbar war Mr. Hungerford es nicht gewöhnt, unangemeldeten Besuch zu empfangen; doch ich zog alle Register eines notleidenden Bittstellers und wurde schließlich von seiner Sekretärin vorgelassen.

Hungerford saß hinter einem Eichenschreibtisch in einem der wenigen Zimmer auf dieser Etage, die ein Fenster zum Öffnen hatten, obwohl das seine auf eine Backsteinmauer blickte. Er war um die fünfzig, wirkte mürrisch und herrisch und fragte ohne Umschweife, was ich von ihm wolle.

Ich sagte, ich sei Schriftsteller. Ich hatte das Wort kaum ausgesprochen, als er mich unterbrach: »Ich habe keinen Job für Sie, falls Sie das meinen. Wir haben alle Schriftsteller, die wir brauchen — Schriftsteller sind dicht gesät im Moment.«

»Ich will keinen Job, ich will mein Recht! Es tut mit leid, Ihnen sagen zu müssen, dass mich ein Mitarbeiter von Ihnen beraubt hat, und Sie haben gemeinsame Sache mit ihm gemacht.«

Das brachte ihn für zwei Augenblicke zum Schweigen. Seine Augenbrauen bewegten sich nach oben, und er musterte mich genauer. »Wie heißen Sie, mein Junge?«

»Adam Hazzard.«

»Sagt mir nichts.«

»Das habe ich auch nicht erwartet. Aber der Dieb heißt Mr. Theodore Dornwood — sagt Ihnen das was?«

Er zeigte sich weniger überrascht, als ich gedacht hatte. »Und was soll Ihnen Dornwood gestohlen haben? Eine Uhr, eine Brieftasche, die Zuneigung einer Frau?«

»Wörter. Geschätzte Zwanzigtausend.« Ich hatte den Umfang der Abenteuer des Captain Commongold in Worten abgeschätzt. Ein Wort ist eine Kleinigkeit; aber zwanzigtausend Kleinigkeiten schlagen kräftig zu Buche. »Darf ich kurz erklären?«

»Ich bitte darum.«

Ich erzählte ihm, was ich in Montreal für Dornwood geschrieben hatte und was Dornwood damit gemacht hatte.

Mr. Hungerford sagte nichts dazu, bat aber seine Sekretärin, nach Dornwood zu schicken, der offenbar ein Büro im Gebäude hatte. Nach wenigen Augenblickten traf der Schurke ein.

Der Dornwood in Manhattan war nicht ganz der nach verbranntem Hasch riechende Säufer, den ich zuletzt in der Nähe von Montreal gesehen hatte. Der Erfolg von Captain Commongold hatte sich positiv auf seine Kleidung, seinen Haarschnitt und seinen Teint ausgewirkt — aber anscheinend negativ auf sein Gedächtnis. Er sah mich ratlos an oder tat zumindest ratlos, bis Mr. Hungerford mich vorstellte.

»Oh, ja! Mr. Hazzard — der Gefreite Hazzard, richtig? Freut mich, dass Sie Ihre Dienstzeit überlebt haben. Tut mir leid, dass ich Sie in Zivil nicht erkannt habe.«

»Aber ich erkenne Sie«, sagte ich, »egal in welchen Sachen.«

»Dieser junge Mann beschuldigt Sie«, sagte Hungerford und wiederholte sinngemäß, was ich ihm gesagt hatte. »Was sagen Sie zu dem Vorwurf?«

Theodore Dornwood zuckte die Schultern und sah ein bisschen betreten drein. »Tja, was soll ich sagen? Ich denke, da ist etwas Wahres dran. Ich erinnere mich jetzt, dass der Gefreite Hazzard kam und mich um Unterricht im Schreiben bat. Und dass ich bereit war, ein paar Seiten von ihm durchzusehen.«

»Sie geben es zu!«, fuhr ich auf.

»Dass ich Sie beraten habe, ja. Ich glaube, Sie verkennen das Wesen des Journalismus, Mr. Hazzard. Aber ich mache Ihnen keinen Vorwurf, ein Pächterjunge aus dem Norden weiß es nicht besser. Ein Journalist bedient sich aus vielen Quellen. Wir haben uns über Julian Commongold unterhalten, ja — womöglich haben Sie mir sogar Ihre Notizen gezeigt —, aber ich habe mich mit vielen Infanteristen und Offizieren unterhalten, nicht nur mit Ihnen. Sollte ich tatsächlich Ihre Notizen als Quelle benutzt haben (und ich gebe zu, dass es so sein kann), geschah das im Austausch gegen meine — wenn Sie so wollen — schriftstellerische Beratung eines dürftig gebildeten Burschen aus dem Westen. Es gab keinen Vertrag zwischen uns; aber wenn es so etwas wie ein unausgesprochenes Abkommen zwischen uns gab, haben wir uns daran gehalten.«

Ich starrte ihn an. »Es gab kein Abkommen zwischen uns!«

Mr. Hungerford sah plötzlich von seinem Schreibtisch auf. »Wenn Sie kein Abkommen hatten, Mr. Hazzard, dann konnte auch keines gebrochen werden, oder? Ich fürchte, Mr. Dornwood hat Ihren Vorwurf in allen Punkten entkräftet.«

»Außer, dass der Text von Captain Commongold Wort für Wort von mir stammt! — Abgesehen von den fehlenden und falsch gesetzten Kommas.«

Dornwood, der sich als aalglatter und geschickter Lügner erwies, warf die Hände hoch und schickte seinem Arbeitgeber einen flehenden Blick. »Er wirft mir geistigen Diebstahl vor. Muss ich mich herablassen, das zu leugnen?«

»Sehen Sie, Mr. Hazzard«, sagte Hungerford, »Sie sind nicht der Erste, der hier hereinstürmt und behauptet, irgendein Text beruhe auf seiner Idee oder sei ihm gestohlen worden. Das passiert mit jeder erfolgreichen Publikation. Ich sage nicht, dass Sie ein Lügner sind — und Dornwood gibt ja offen zu, Sie und hundert andere Soldaten als Informationsquelle benutzt zu haben —, aber Sie legen keinen Beweis für die Richtigkeit Ihrer Behauptung vor. Stattdessen spricht alles dafür, dass es sich lediglich um ein peinliches Missverständnis Ihrerseits handelt.«

»Ich bin froh, dass Sie nicht sagen, ich sei ein Lügner, denn ich bin keiner — aber Sie finden einen in greifbarer Nähe!«

»Hören Sie«, sagte Dornwood.

»Die Diskussion ist beendet«, verkündete Hungerford und war bereits aufgestanden. »Ich will zum Lunch. Es tut mir leid, dass wir nichts für Sie tun können, Mr. Hazzard.«

»Nichts tun können? Ich will meinen Lohn! Wenn es sein muss, gehe ich vor Gericht!«

»Wie Sie wollen. Um Ihretwillen hoffe ich, Sie lassen die Finger davon. Wenn nicht, kommen Sie heute Nachmittag wieder, und wir besprechen die Sache in Gegenwart meines Anwalts. Er kommt um fünfzehn Uhr vorbei. Vielleicht kann er Sie ja überzeugen, dass die Sache aussichtslos ist. Leben Sie wohl, Mr. Hazzard — Sie wissen, wo die Tür ist.«

Dornwoods Lächeln war zum Verrücktwerden.


Ich ging verbittert nach Hause. Calyxa war, wie sich herausstellte, mit Mrs. Comstock in die Stadt gefahren, um angemessene Kleidung für den Vierten Juli zu besorgen. Julian, der sich nach dem Film noch mit Freunden getroffen hatte (Filmleuten und anderen Ästheten des Broadway), war eben erst aufgestanden. Wir trafen uns auf dem Weg zur Küche, und Julian fragte, ob ich schon gefrühstückt hätte.

»Vor Stunden, und Mittag ist auch schon vorbei«, sagte ich gereizt.

»Schön — Frühstück, Mittag —, mir ist nach Mittagessen. Warum gehen wir nicht aus und essen was Anständiges? Nichts gegen das Küchenpersonal.«

»Eigentlich wollte ich heute Nachmittag lesen.«

»Nicht an einem so schönen Tag!«

»Woher willst du wissen, was draußen für ein Tag ist? Ich wette, du hast noch nicht mal aus dem Fenster geschaut.«

»Die Schönheit des Tages sickert durch jede Ritze. Ich rieche die Sonne. Sei kein Spielverderber, Adam. Lass uns essen gehen.«

Ich hätte seine Einladung nicht ausschlagen können, ohne von meinem Reinfall zu erzählen, was ich aber nicht wollte. Wir speisten in einem nahe gelegenen Lokal, es gab zwei Leberpilzklöße und gegrilltes Schweinefilet, und ich gab mir Mühe zu lächeln und belangloses Zeug zu reden. Doch ich rührte das Essen kaum an; ich war derart sauertöpfisch, dass Julian sich wiederholt nach meinem Befinden erkundigte.

»Gar nichts«, sagte ich. »Vielleicht eine Magenverstimmung.«

»Oder ganz was anderes. Habt ihr euch gestritten?«

»Nein …«

»Macht dir der Vierte Juli Sorge?«

»Nein …«

»Was dann? Komm, Adam. Raus damit.«

Er ließ sich nicht abschütteln; also gab ich nach und schilderte ihm meinen Besuch bei Hungerford.

Julian unterbrach mich nicht. Der Kellner war so aufmerksam, uns Kaffee und Gebäck zu bringen. Ich rührte nichts an. Ich konnte Julian kaum in die Augen sehen. Doch als ich schließlich schwieg und Julian an der Reihe war, da sagte er nur: »Das Gebäck ist wirklich ausgezeichnet, Adam. Probier mal.«

»Es geht hier nicht ums Gebäck«, platzte ich heraus. »Willst du mir nicht meine Dämlichkeit um die Ohren hauen oder was?«

»Überhaupt nicht. Ich staune über dich. Ich meine, wie du dich zur Wehr setzt. Das Recht ist voll und ganz auf deiner Seite — keine Frage. Das Problem liegt in deiner Methode.«

»Ich weiß nicht mal, dass ich eine habe.«

»Wie solltest du? Ich sag dir was, Adam. Warum gehen wir nicht einfach zu Hungerford, heute Nachmittag, wie er vorgeschlagen hat?«

Ich wunderte mich über Julian. »Wozu? Damit sein Anwalt mich fertigmacht, am Boden zerstört und auf mir herumtrampelt?« Meine Drohung, Hungerford vor den Kadi zu zitieren, war eine leere gewesen, ein Bluff. Ich hatte einfach keinen Beweis, und die Gerichte von New York galten nicht gerade als unparteiisch. »Nein danke, das lasse ich lieber.«

»Und wenn es diesmal anders ausgeht?«

»Ich wüsste nicht, wieso. Hungerford weist jede Verantwortung zurück und Dornwood ist ein professioneller Lügner.«

»Vertrau mir«, sagte Julian.

Das alles war zwar sehr unangenehm, aber es gab kein Zurück mehr; und so machte ich mich wieder auf den Weg zu Hungerfords Büro, diesmal mit Verstärkung.

Falls Mr. Hungerford überrascht war, mich wiederzusehen, so ließ er sich nichts anmerken. Er hatte die Wahrheit gesagt, sein Anwalt war anwesend. Die drei hockten zusammen in Hungerfords Büro — Hungerford selbst, Theodore Dornwood und Buck Lingley, ein feister Mann mit geöltem Haar, der mir gleich als ich eintrat als der besagte Anwalt vorgestellt wurde.

Julian zog es zu meiner Bestürzung vor, im Vorzimmer zu warten. Ich solle ihn rufen, wenn der Verleger nicht einlenke.

Letzteres schien mir unausweichlich.

Mr. Hungerford bat mich, Platz zu nehmen. Noch ehe ich etwas sagen konnte, erkundigte sich sein Anwalt, ob ich rechtliche Schritte unternommen hätte, zum Beispiel eine Beschwerde eingereicht hätte oder dergleichen.

Hätte ich nicht, sagte ich.

»Ist auch besser für Sie«, sagte Lingley. »Sie bewegen sich auf dünnem Eis, Mr. Hazzard. Was wissen Sie über unser Rechtssystem?«

»Sehr wenig«, räumte ich ein.[62]

»Begreifen Sie, was für Sie auf dem Spiel steht, wenn Sie rechtliche Schritte gegen diesen Verlag oder gegen Mr. Dornwood persönlich unternehmen? Und begreifen Sie auch, dass sich Ihr Einsatz verdoppelt, wenn der Fall abgewiesen wird, wovon ich überzeugt bin? Es ist keine Kleinigkeit, die Rechtschaffenheit solcher Männer infrage zu stellen.«

»Diese Männer stellen ihre Rechtschaffenheit selbst infrage. Aber Sie haben bestimmt Recht.«

Rechtsanwalt Lingley schien kurz verwirrt. »Sie wollen sagen, Sie ziehen Ihre Behauptung zurück?«

»Ich nehme an, diese Formulierung hat irgendeine juristische Bedeutung, die ich nicht kenne. Was passiert ist, ist passiert — weder Sie noch ich können das ändern, Mr. Lingley. Und wenn die Gerichte in dieser Angelegenheit nicht urteilen wollen, der Himmel ist vielleicht nicht so oberflächlich.«

»Für den Himmel bin ich nicht zuständig. Sollten Sie zur Vernunft kommen, habe ich hier ein Schreiben aufgesetzt, das Sie bitte unterschreiben wollen.«

»Ein Schreiben, das was besagt?«

»Dass Sie keinerlei finanzielle Forderungen an den Verlag oder an Mr. Dornwood stellen, gleichgültig, ob irgendein kleiner Teil des Materials, das Sie geschrieben haben, Eingang in Mr. Dornwoods Veröffentlichungen gefunden hat oder nicht.«

»Von wegen kleiner Teil, Mr Lingley. Wir reden hier über einen Diebstahl, der so unverschämt ist, dass er selbst einem Aasgeier die Schamesröte ins Gesicht treiben würde.«

»Entscheiden Sie sich«, sagte Lingley. »Wollen Sie die Angelegenheit aus der Welt schaffen, oder beharren Sie auf Ihren Verunglimpfungen?«

Ich überflog das Schreiben. Es besagte, soweit ich den Verklausulierungen folgen konnte, dass ich alle meine bisherigen Vorwürfe zurückzog. Dafür würde der Verlag darauf verzichten, mich wegen Verleumdung zu belangen.

Es gab eine Stelle, die für meine Unterschrift vorbereitet war.

»Wenn ich das unterschreibe«, sagte ich bedächtig, »brauche ich vermutlich einen Zeugen.«

»Das besorgt meine Sekretärin«, meinte Hungerford.

»Nicht nötig — ich habe einen Zeugen mitgebracht«, und ich ging zur Tür und winkte Julian dazu.

Hungerford und sein Anwalt blinzelten bei dieser unerwarteten Wendung. Wenn sie Julian Comstock nicht erkannten, Theodore Dornwood erkannte ihn. Er saß kerzengerade, und ein nicht druckreifes Wort entfloh seinen Lippen.

»Was geht hier vor?«, wollte Hungerford wissen. »Wer ist dieser Mann?«

»Julian Comstock«, sagte ich. »Julian, das ist Mr. Hungerford, der Verleger des Spark

Julian bot ihm die Hand. Hungerford ergriff sie, ansonsten schien er zur Salzsäule erstarrt.

»Und das ist Mr. Hungerfords Anwalt, Mr. Buck Lingley.«

»Hallo, Mr. Lingley«, sagte Julian freundlich.

Lingleys bislang blühende Gesichtsfarbe wurde eischalenweiß, und sein parteiliches Gehabe verdunstete wie Morgentau, nur schneller. Er sagte nichts. Stattdessen langte er über den Schreibtisch und nahm das Schreiben an sich, das ich unterschreiben sollte, faltete es in Drittel und riss es entzwei. Dann schürzte er in der blassen Nachahmung eines Lächelns die Lippen. »Ich bin entzückt — nein — geehrt, Ihnen gegenüberzustehen, Captain Comstock. Unglücklicherweise ruft die Pflicht — ein dringender Termin —, ich kann nicht länger bleiben.« Er wandte sich an Hungerford. »Ich denke, wir machen Schluss für heute, John«, sagte er und verließ das Büro so überstürzt, dass ich mich nicht gewundert hätte, wenn der Luftzug die Tür hinter ihm ins Schloss gerissen hätte.

Mr. Hungerford musste noch seinen offenen Mund schließen.

»Und wen sehe ich da?«, sagte Julian. »Theodore Dornwood, unseren zivilen Regimentsschreiber! Ich habe einiges von Ihnen gelesen, Mr. Dornwood. Oder sagen wir — von dem, was unter Ihrem Namen erschienen ist.«

»Ja!«, sagte Dornwood mit erstickter Stimme. »Nein!«

»Halt den Mund, Theo«, sagte Mr. Hungerford. »Captain Comstock, können Sie einen klärenden Beitrag zu unserem Problem leisten?«

»Ganz und gar nicht. Es ist nur, dass es meinem Freund Adam offenbar nicht gelingen will, sich verständlich zu machen.«

»Ich denke, diese Hürde ist genommen«, sagte Hungerford. »Als verantwortungsbewusster Verleger will ich jeden Fehler korrigieren, der sich bei uns einschleicht. Natürlich bin ich bestürzt, dass Mr. Dornwood sich der Arbeit eines anderen bedient hat, ohne darauf hinzuweisen. Das wird richtiggestellt.«

»Richtiggestellt? In welcher Form?«, erkundigte sich Julian, ehe Dornwood eine andere Spielart derselben Frage stottern konnte.

»Wir werden morgen eine Notiz im Spark abdrucken.«

»Eine Notiz! Fabelhaft«, sagte Julian. »Trotzdem ist da noch die Tatsache, dass bereits Tausende von Heften unter Mr. Dornwoods Namen ausgeliefert wurden. Falls irrtümlich Honorare oder Tantiemen an Mr. Dornwood geflossen sind …«

»Sir, das sehe ich genauso wie Sie. Unsere Buchhaltung wird den vollen Betrag ermitteln und direkt an Sie auszahlen.«

»An Mr. Hazzard, wollten Sie sagen.«

»An Mr. Hazzard natürlich.«

»Das beweist eine christliche Haltung«, sagte Julian. »Hab ich Recht, Adam?«

»Schon fast reumütig«, sagte ich und war kein bisschen erstaunt.

»Aber ich habe den Eindruck«, fuhr Julian fort, »obwohl ich kein Experte im Verlagswesen bin, dass Sie dabei eine Gelegenheit verpassen, Mr. Hungerford, und obendrein eine lukrative.«

»Helfen Sie mir«, sagte Hungerford wachsam, während Dornwood sich wie ein geprügelter Schuljunge in seinen Sessel duckte.

»Wir sind uns einig, dass Adam der richtige Autor der Abenteuer des Captain Commongold ist. Hat er seine Sache gut gemacht, was meinen Sie?«

»Das Heft findet reißenden Absatz. Wir gehen in die dritte Auflage. Dann muss es gut sein! Das ist alles Ihre Arbeit, Mr. Hazzard?«

»Bis auf die Zeichensetzung«, sagte ich und funkelte Dornwood an.

»Kommt Ihnen da keine Idee, als Verleger, meine ich?«, sagte Julian. »Adam ist zu bescheiden, um es zur Sprache zu bringen, aber er hat mehr geschrieben als diese unterhaltsamen Tatsachenberichte. Er schreibt an einem Roman. Druckt Ihr Verlag nicht auch Romane, Mr. Hungerford?«

»Wir haben eine bescheidene Reihe gebundener Thriller.«

Julian fragte mich, ob man meinen Roman als »Thriller« bezeichnen könne.

»Es kommen Piraten vor«, sagte ich.

»Sehen Sie! Adam ist erwiesenermaßen ein Bestsellerautor, und er schreibt an einem Buch, in dem Piraten und andere aufregende Personen vorkommen — und hier steht er in Ihrem Büro!«

»Ich lasse einen Vertrag aufsetzen«, sagte Hungerford leise.

»Mr. Hungerford ist ein schlauer Geschäftsmann, Adam. Er möchte deinen Roman veröffentlichen. Werden die Bedingungen großzügig sein, Mr. Hungerford?«

Hungerford nannte eine Riesensumme, das Standardhonorar für Debütanten, wie er sagte. Ich konnte es nicht fassen und muss wohl so blass geworden sein wie Rechtsanwalt Lingley, als er sich dem Neffen des Präsidenten gegenübersah. Ich war sprachlos. Meine Zehen und Finger waren taub.

»Gut«, meinte Julian. »Aber ist Adam wirklich ein Debütant? — Ich meine, erfolgreich ist er doch jetzt schon.«

Hungerford verzog keine Miene und nickte. Er verdoppelte die gigantische Summe. Vielleicht wäre ich in Ohnmacht gefallen, hätte ich mich nicht an den Schreibtisch lehnen können.

»Ist das Honorar in deinem Sinne, Adam?«

Er schloss aus meinem Gestammel, dass dem so war.

»Und was Mr. Dornwood …«, begann Julian.

»Er wird fristlos entlassen«, sagte Hungerford.

»Bitte nicht! Adam will ganz bestimmt nicht, dass Mr. Dornwood noch mehr bestraft wird — jetzt, wo der Wahrheit Rechnung getragen wurde.«

»Da — da muss ich ihm Recht geben«, brachte ich heraus. »Genug ist genug. Meinetwegen soll er seinen Job behalten. Allerdings …«

Dornwood sah mich flehend an. Er war nicht mehr der selbstgefällige Metropolitane, eher der verurteilte Sklave, der vor seinem Pharao kniet und um Gnade winselt. Es war ein komisches Gefühl, Schicksal spielen zu können. Ich hätte eine Entschuldigung verlangen können. Ich hätte seinen Kopf fordern können, und Hungerford hätte ihn mir auf einem Silbertablett serviert. Aber ich bin nicht rachsüchtig.

»Ich hätte gerne Ihre Schreibmaschine«, sagte ich.


Es heißt, die Schreibmaschine sei um 1870 erfunden worden. Seither hat sie viele Wiedergeburten erlebt, kam aber schon vor dem Ende des Öls völlig aus der Mode. Vor kurzem erst wurde sie erneut aus der Taufe gehoben. Moderne Schreibmaschinen werden von Hand gemacht, von Handwerkern, die unzählige rostige Überbleibsel aus den verschiedensten Halden studiert haben. Die Maschinen sind teuer, auch in den Folgekosten. Und sie sind schwer. Julian und ich wechselten uns ab, als wir Dornwoods Schreibmaschine die Straße hinunter zu einem Droschkenstand trugen.

»Sag endlich was«, meinte Julian, »oder ich muss annehmen, du hast die Sprache verloren.«

»Ich bin völlig sprachlos.«

»Katastrophal für einen Schriftsteller.«

Das ließ mich innehalten. War ich denn ein Schriftsteller im professionellen Sinne? Vermutlich schon. Hungerford und sein Anwalt hatten gewollt, dass ich eine Verzichtserklärung unterschrieb. Stattdessen hatte ich einen Vertrag unterschrieben, dass ich einen Roman abliefern würde, und meinen Namen unter eine Empfangsbestätigung für besagte Schreibmaschine gesetzt. Wahrscheinlich waren diese beiden Sachen, der Vertrag und die Schreibmaschine, übliche Vertrauensbekundungen zwischen Verlegern und Autoren.

Ich sagte zu Julian: »Ich hatte keine Ahnung, dass du so was kannst.«

»Was?«

»Was du im Spark gemacht hast. Gehorsam verlangen. Hungerford hat sich praktisch vor dir verbeugt.«

Vom ersten Augenblick unserer Bekanntschaft an hatte ich gewusst, dass Julian Aristokrat war. Und ich wusste, dass man Aristokraten Respekt und Gehorsam schuldete. Doch als Jungen hatten wir diese Maxime nicht beachtet und als Soldaten nicht beachten dürfen und als Freunde nicht beachten wollen, und sie war mir nur selten zu Bewusstsein gekommen. Ein Fremder, sagte ich mir, selbst ein so einflussreicher Geschäftsmann wie Mr. Hungerford, musste in Julian in erster Linie den Neffen des Präsidenten sehen. Hungerford musste davon ausgehen, dass ein falsches Wort von Julian seinem Spark den Garaus machen und seinem Verlag eine dauerhafte Sanktion des Dominions einhandeln konnte. Solcherart waren die Ängste, mit denen Deklan der Eroberer regierte.

Und solcherart waren die Ängste, die Julian hervorrief — zumindest bei Hungerford und dessen Anwalt.

»Manchmal ist es ganz praktisch«, meinte Julian, als wir erst die Schreibmaschine und dann uns in die Droschke bugsierten, »hin und wieder den Familiennamen zu zitieren.«

»Ich stelle mir das schrecklich vor, so viel Macht zu haben und sie auszuüben.«

»Macht, die nur Deklan hat und ausübt, vergiss das nicht.«

»Nicht nur Deklan. Gerade eben hast du dir ein bisschen davon ausgeborgt.«

»Ich hasse das. Der Gedanke macht mich krank. Die Macht, die Gutes tut — das ist die Macht, die ich ausüben will«, sagte Julian.

»Gutes tun kann jeder, Julian, der eine mehr, der andere weniger.« So ähnlich hatte meine Mutter immer gesagt, sie und der Dominion Reader for Young Persons.

»Das Gute, das ich im Schilde führe, erfordert die Macht, die nur wenige Menschen haben.«

»Was führst du denn im Schilde?«

Doch Julian blieb die Antwort schuldig.


Calyxa war nicht beeindruckt von der Schreibmaschine. Sie wies auf die vielen Dellen und Schrammen hin — dabei hatte die Maschine mindestens einmal Labrador und zurück hinter sich und viel von Dornwood wegstecken müssen. Ein bisschen roch sie immer noch nach Alkohol und verbranntem Hasch, war aber gut geölt, funktionierte und tat ohne Murren ihren Job.

Calyxa wies mich auch darauf hin, dass ich gar nicht mit der Schreibmaschine umgehen könne. Es gebe eine besondere Fingerfertigkeit, um damit schreiben zu können. Jeden Buchstaben zu suchen und die entsprechende Taste zu drücken sei viel mühseliger, als mit der Hand zu schreiben. Sie hätte aber bei Grogan’s ein Heftchen mit dem Titel Typewriting Self-Taught gesehen … Ich versprach ihr hoch und heilig, mir eines zu kaufen, selbst wenn es so teuer sei wie ein Roman von Charles Curtis Easton.

So skeptisch sie sich über meine Schreibmaschine ausließ, so sehr freute sie sich, als sie hörte, dass ich einen Vertrag für meinen Roman unterschrieben hatte und dass Dornwoods Tantiemen für Captain Commongold mir gehören würden. Mit anderen Worten, wir würden eigenes Geld haben, und es bestand begründete Hoffnung auf mehr.

»Dann brauchen wir nicht nach Buffalo auszureißen«, lachte sie.

»Wir können in New York City bleiben und alles aus eigener Tasche bezahlen. Du kannst in renommierten Lokalen singen oder nicht, ganz wie du Lust hast.«

»Vorausgesetzt, wir überleben den Vierten Juli.«

Ich wünschte, sie hätte das Datum nicht erwähnt. »Julian ist sich ziemlich sicher, dass wir beide nichts zu befürchten haben.«

»Ziemlich sicher«, sagte sie. »Das ist ziemlich beruhigend.«


Diese Nacht hörte es sich an, als fielen Schüsse auf der Straße.

Ich stand auf und ging zum Schlafzimmerfenster. Wir hatten es aufgelassen, weil sich die Wärme in den Obergeschossen staute. Draußen war es fast windstill.

Neugierig steckte ich meinen Kopf hinaus. Manhattan lag still in der mitternächtlichen Finsternis. Ich hörte das Rascheln von Fahnen an der Fassade und das Zirpen von Insekten. Die Skelette der Wolkenkratzer löschten steile Rechtecke aus dem Sternenhimmel, hier und da schimmerte der Lichthof einer fernen Gießerei. Unten, in den Pferdeställen am Haus, schnaubte ein schlafloses Pferd und trat mit einem beschlagenen Huf auf der Stelle.

Es fielen noch mehr Schüsse, dann ersticktes Gelächter. Eine Gruppe von fünf oder sechs Jungen stürmte zwischen zwei Reihenhäusern heraus, irgendetwas Glühendes in den Händen. Lauter erboste Stimmen aus den Fenstern.

Was ich für Schüsse gehalten hatte, waren explodierende Feuerwerkskörper von irgendwelchen Lausbuben gewesen, die den Vierten Juli nicht abwarten konnten. Julian und ich hatten früher den gleichen Unsinn in Williams Ford getrieben. Die Melker hatten uns verwünscht und behauptet, die Kühe würden vor Schreck keine Milch mehr geben.

Bei mir kam erst gar kein Ärger auf.

Die Nachtluft trug den Geruch von Schwarzpulver herein. Calyxa regte sich. »Riecht, als stünde die ganze Stadt in Flammen«, murmelte sie ins Kissen.

»Nur Dummejungenstreiche.«

Ich fröstelte, obwohl die Nacht lauwarm war, schloss die Fensterläden und ging wieder ins Bett.

4

In den Tagen vor dem Vierten Juli schrieb ich eine Einführung für die verbesserte Auflage der Abenteuer des Captain Commongold (alias Julian Comstock), eines jugendlichen Helden am Saguenay, und setzte bzw. versetzte alle von Mr. Theodore Dornwood veruntreuten Kommas. Was die Einführung betraf, so ließ ich mich von Sam Godwin beraten, der es für äußerst wichtig hielt, den amtierenden Präsidenten lobend zu erwähnen und keinesfalls zu beleidigen.

Ich hielt nicht mit meiner Meinung hinter dem Berg und sagte Sam, was ich davon hielt.

»Es ist geheuchelt«, erwiderte Sam. »Es ist gelogen, na und? Es geht um Julian. Die Heuchelei rettet ihm vielleicht das Leben oder verlängert es zumindest.«

Ich konnte mich schlecht weigern, denn dieser Text hatte Julian bereits in Gefahr gebracht, und da war es nur fair, wenn ich dazu beitrug, dass er die Situation wieder entschärfte. Also schrieb ich, dass Julian unter falschem Namen in die Laurentische Armee eingetreten sei, um jeder Sonderbehandlung zu entgehen, die einem Neffen des Präsidenten ansonsten zustand. Nicht dass Deklan Comstock sich jemals hergeben würde, Einfluss auf das Militär zu nehmen, nur um Julian einen besseren Start zu verschaffen: Der Präsident glaubt, wie auch Julian, dass sich ein Mann auf eigene Faust und aus eigener Kraft bewähren muss. Julian hegte nämlich die Befürchtung, irgendein Offizier könne versucht sein, sich durch Bevorzugung einzuschmeicheln. Sein Stolz und sein Patriotismus würden ihm solche Vorteilsnahme verbieten. Julian habe, schrieb ich, den Status eines Helden, wenn überhaupt, dann so wie Deklan der Eroberer erreicht, und zwar in eigener Sache und ohne schonende Hilfe.

Julian zuckte zusammen, als er diesen Abschnitt las, und riet mir, fürs Dominion zu arbeiten, wenn mir Katzbuckeln und Lügen so leicht von der Hand gingen; doch Sam wies ihn zurecht und erklärte, ich hätte diesen Passus nur auf sein Drängen hin geschrieben.

»Ich habe mit Offizieren gesprochen, die auf Urlaub waren, laurentischen Armeeoffizieren«, sagte Sam. »In den höheren Rängen, vor allem bei den Männern um General Galligasken, herrscht beträchtliche Unzufriedenheit mit Deklan Comstock. Der Präsident versucht die Armee wie ein Tyrann zu lenken, er befiehlt eigenartige Angriffe und Strategien, die er sich selbst ausdenkt; und wenn sie fehlschlagen — was sie beinah zwangsläufig tun —, bestraft er irgendeinen glücklosen Generalmajor oder ersetzt ihn durch einen servileren seiner Wahl. Leider ist unser Erfolg bei Chicoutimi nicht typisch für den allgemeinen Kriegsverlauf. Die Laurentische Armee kann die gegenwärtigen Verluste nicht mehr verkraften — wenn der Präsident den totalen Zusammenbruch vermeiden will, muss er Veteranen zurückrufen oder neue Rekruten ausheben. Ich sage euch das unter dem Siegel äußerster Verschwiegenheit: Wenn es uns gelingt, Deklan den Eroberer zu besänftigen, eine Zeit lang wenigstens, werden wir ihn vielleicht überleben.«

Das waren alarmierende Neuigkeiten, auch wenn sie nicht nur schlecht waren, aber was hätte ich ändern können? Julian nickte und zog die Stirn kraus.

Später am Tag fragte ich Sam, ob er schon Kontakt zu den Juden von New York City aufgenommen hätte, denn es gab viele hier — ich hatte sie schwarz gekleidet in ihre Samstag-Gottesdienste gehen sehen, in einer Enklave in der Nähe des ägyptischen Stadtteils.[63]

»In Montreal konnte ich mir solchen Umgang erlauben«, meinte er. »Als Sam Godwin bin ich zu bekannt, um das Risiko einzugehen.«

»Welches Risiko? Der jüdische Glaube ist doch in diesem Staat erlaubt, oder?«

»Erlaubt, aber kaum anerkannt«, sagte Sam. Wir bummelten den Broadway hinunter, nicht um uns die Beine zu vertreten, sondern um uns zu unterhalten, ohne dass das Personal mithören konnte. Das Gerassel der Kutschen, der Hufschlag der Pferde und das Flattern der Fahnen zum Unabhängigkeitstag machten es unmöglich, dass uns jemand belauschte — wir verstanden ja kaum unser eigenes Wort.

»Was ist schon Anerkennung?« Da ich selbst nur wenig davon genoss, neigte ich dazu, ihren Wert zu unterschätzen.

»Mir persönlich bedeutet sie überhaupt nichts, aber gewissen Leuten, mit denen ich zu tun habe, umso mehr. Dem Militär natürlich. Dem Dominion selbstverständlich. Wenn sich herumspricht, dass ich ein praktizierender Jude bin, kann ich nicht mehr tun, was ich die ganze Zeit schon für Julian tue. Und selbst im privaten Bereich …«

»Hast du denn eins, Sam?«, fragte ich und bedauerte meine Frechheit sofort. Er sah mich verärgert an.

»Ich spreche nicht gerne darüber. Aber als frischgebackener Ehemann hast du vielleicht Verständnis. Vor Jahren — noch vor dem Tod von Julians Vater — hatte ich das Pech, mich in Emily Baines Comstock zu verlieben.«

Das warf mich nicht um. Mir war längst aufgefallen, wie er jedes Mal rot wurde, wenn Mrs. Comstock hereinkam, und umgekehrt, so dass es nahelag, eine beiderseitige Zuneigung zu unterstellen. Sam war nahezu fünfzig und Mrs. Comstock auch, aber für die Liebe war es wohl nie zu spät. Trotzdem war es schockierend, ihn laut darüber reden zu hören.

»Ich weiß, was du jetzt denkst, Adam — die Barriere ist unüberwindlich.«

Es war nicht das, was ich gedacht hatte, aber es stimmte.

»Wie dem auch sei«, sagte Sam, »einen Teil meiner Gefühle habe ich Emily anvertraut, und Emily hat angedeutet, diese Gefühle bis zu einem gewissen Grade zu erwidern.«

»Sie wollte zum Beispiel, dass du dir den Bart wieder stehen lässt«, bemerkte ich.

»Bärte tun nichts zur Sache. Das ist ernst. Als Bryce Comstock noch lebte, habe ich meine Zuneigung für mich behalten, und Emily war die aufopfernde Gattin eines tapferen Soldaten — ein Mann, vor dem ich grenzenlosen Respekt hatte und mit dem mich eine unverbrüchliche Freundschaft verband. Doch Bryce ist seit mehreren Jahren nicht mehr unter uns, und Emily ist Witwe — hinzu kommt, dass sie gesellschaftlich in der Versenkung verschwindet. Vielleicht mache ich ihr eines Tages einen Antrag. Aber erst muss die Politik in ruhigeres Fahrwasser kommen — und es darf auf keinen Fall herauskommen, dass ich ein Jude bin.« Das Dominion hatte solche Ehen für unnatürlich erklärt und folglich verboten.

»Dann würdest du Julians Stiefvater«, sagte ich.

»Was sonst bin ich gewesen, seit er klein war? Ich war ihm wie ein zweiter Vater — obwohl ich fürchte, dass er mehr den Diener in mir sieht.«

»Er mag dich mehr, als er sagen kann. Er hört auf dich.«

»Ich leugne ja nicht, dass er mich wertschätzt — aber er schätzt mich so, wie man einen wertvollen Diener schätzt.«

»Viel mehr, Sam!«

»Na ja, vielleicht«, sagte Sam. »Die Lage ist undurchsichtig.«

Heute war der 3. Juli, morgen waren wir eingeladen — in den Regierungspalast.


Unabhängigkeitstag! Was für schöne Erinnerungen an Williams Ford dieses Datum hervorrief — trotz aller Unsicherheiten und Ängste, die mich zurzeit heimsuchten!

Der Vierte Juli war immer der heiterste der vier Universellen Christlichen Feiertage gewesen, der wichtigste nach Weihnachten in meiner kindlichen Welt. Er war zweifellos ein zutiefst sakrales Fest, wie die unzähligen Gottesdienste und Gedenkstunden in der Dominion-Halle zeigten. Ben Kreel hatte viele öffentliche Vorträge gehalten über die Christliche Nation, in der wir lebten, und über die wertvolle Rolle, die das Dominion im Leben eines jeden Einzelnen von uns spiele, und über andere ebenso wichtige Belange. Doch der Unabhängigkeitstag war auch der eigentliche Sommeranfang — der Anfang des gereiften Sommers, Juli und August schwängerten die Welt mit Düften und Insekten. Die Bäche, die den River Pine speisten, waren noch kalt, luden aber zum Schwimmen ein; Eichhörnchen bettelten, ihnen aufzulauern und sie zu erlegen; Hausierer kamen von Connaught herauf und verkauften Feuerwerkskörper. Das Beste war, am Unabhängigkeitstag zog es die Aristokraten aus ihrem Landsitz zu Picknick und Musik nach draußen, so dass sich meine Mutter in ihrer Rolle als Näherin in die Bibliothek stehlen konnte, um ein oder zwei Bücher für mich zu stibitzen. (Die Bücher wurden für gewöhnlich, aber nicht immer, in gutem Zustand zurückgestellt.)

Die Erinnerungen veranlassten mich, einen Brief an meine Mutter zu schreiben. Weil Julians richtiger Name in aller Munde war, konnte ich endlich offen zu ihr sein; ich hatte ihr schon mehrere kurze Nachrichten geschrieben, aber noch keine Antwort bekommen. Ich saß am Fenster des Zimmers, das ich mir mit Calyxa teilte; hier stand ein kleiner Schreibtisch, und ich nahm ein Blatt Papier aus der obersten Schublade und schrieb:

Liebe Mutter, falls Du meinen letzten Brief bekommen hast, dann weißt Du ja, dass ich das Jahr in Labrador überlebt habe — dass ich mich nicht blamiert habe auf dem Schlachtfeld — dass ich eine gute Frau geheiratet habe und das Dominion uns getraut hat — und dass Deine Schwiegertochter Calyxa Hazzard heißt (früher Blake) und aus Montreal stammt. Wenn das keine Neuigkeiten sind! Ich habe bis jetzt noch keine Antwort bekommen, hoffe aber, dass Du bald mal schreibst und mir Deine und Vaters Gedanken zu dieser spannenden Sache mitteilst. Natürlich hoffe und erwarte ich Deinen Segen. Wenn Vater enttäuscht ist, dass wir nicht von der Church of Signs getraut wurden, dann sag ihm, es habe hier leider keinen entsprechenden Pastor gegeben. Wir sind gesund, und es geht uns gut hier in New York City. Vor kurzem wurde sogar ein längerer Text von mir veröffentlicht (ein Exemplar lege ich Dir dazu), und derselbe Verlag will nun, dass ich einen ganzen Roman für ihn schreibe. Es sieht so aus, als wäre ich nun ein Autor, das heißt, ein Autor im Stil von Mr. Charles Curtis Easton! Die Arbeit wird besser bezahlt, als ich gedacht hatte; und ich will Euch etwas Geld schicken, wenn Du mir nur sagst, an welche Adresse, damit es nicht unters Fußvolk kommt. Ich sitze am Fenster, während ich schreibe, und der Morgen des Vierten Juli ist sonnig und wunderschön, in ganz Manhattan läuten die Glocken. Was macht Williams Ford am Unabhängigkeitstag? Redet Ben Kreel immer noch bis in den Abend? Spiegelt sich das Feuerwerk immer noch im River Pine? Ich habe gesagt, es geht uns gut, und das stimmt auch. Weil ich mit Julian Comstock befreundet bin, sind Calyxa und ich heute Abend sogar zu den Feierlichkeiten im Regierungspalast eingeladen! Ich weiß, Du hast gesagt, ich soll mich möglichst aus den Angelegenheiten der Aristokraten heraushalten — »riskiere nicht die Ansteckung durch Nähe«, wie Du den Dominion Reader zitiert hast —, aber eine Einladung des Präsidenten kann man nicht einfach in den Wind schlagen, das kann ins Auge gehen. Es wird schon nichts Schlimmes passieren im Palast. Dass ich geköpft oder ausgeweidet werde, ist ziemlich unwahrscheinlich — wobei Julian schon ein bisschen mehr Angst haben muss. Nun glaube bitte nicht, ich sei umgebracht worden, wenn Du nichts von mir hörst — Du weißt, wie unzuverlässig die Post ist! Das soll für heute reichen. Richte Vater alles Liebe aus. Mir sind viele Widrigkeiten begegnet, seit ich Williams Ford verlassen habe, aber ich bin nicht mehr das Kind, an das Du Dich erinnerst. Ich finde mich auch im giftigsten Garten zurecht, indem ich dem geraden und schmalen Pfad des Anstands folge und nur nach rechts oder links blicke, um nicht zu straucheln.

Euer Adam


Am späten Nachmittag stiegen wir — Calyxa, Mrs. Comstock, Sam, Julian und ich — in eine Kutsche und machten uns auf den Weg zum Präsidentenpalast. Wir waren alle fünf reichlich nervös, aber auch tapfer und vor allem schweigsam — keine Beschwichtigungen, kein Wort über irgendwelche Befürchtungen, nichts.

Die tiefe Abendsonne vergoldete den Broadway, der den Festtag mit Fahnen und Wimpeln beging. Ich beging ihn mit einem maßgeschneiderten Aristokratenanzug, der in allerlei empfindliche Körperstellen kniff; Calyxa beging den Tag mit einem eleganten malvenfarbenen Kostüm, das den ganzen Platz beanspruchte, den Mrs. Comstocks noch unförmigere Robe nicht schon in Anspruch nahm. Ich konnte von Glück sagen, dass ich am Fenster saß, wo ich an den raschelnden Bergen zusammengedrückter Seide vorbei nach draußen sehen konnte.

Wir hielten am Broadway Gate in der 59sten Straße. Unsere Kutsche und unsere schriftlichen Einladungen wurden von einem schwarz uniformierten Mitglied der Republikanischen Garde kontrolliert.[64] Einmal von diesem unwirschen Typen als harmlos befunden, fuhren wir unter den kritischen Blicken eines weiteren Dutzend dieser Leute über den Graben und auf das gepflegte Gelände des einstigen, riesengroßen Central Park.

Von dem, so Julian, nur noch das große zentrale Wasserreservoir übrig sei. Alle bewaldeten Zonen seien während der Falschen Drangsal abgefackelt worden, und was nicht gebrannt habe, sei von den hungernden und frierenden Stadtbewohnern zu Brennholz verarbeitet worden. In den folgenden Jahren seien Sheepmeadow und Ramble umgepflügt und bestellt worden — ein ziemlich weltfremdes Unterfangen, denn der Boden eigne sich nun mal nicht für den Anbau. Nach dem Niedergang von Washington sei der gesamte Park der Regierung unter Präsident Otis gestiftet worden. Es war Otis, der den Bau der wuchtigen Umfassungsmauer aus den Steintrümmern von Manhattan in Auftrag gegeben hatte; es war Otis, der das Jagdgelände entworfen und mit Wild bestückt hatte; es war auch Otis, der den Regierungspalast hatte bauen lassen, der die Great Lawn überblickte.

Unser Weg wand sich nordwärts an Götterbaumhainen und weitläufigen Rasenflächen vorbei bis zur sogenannten Statuary Lawn, wo man große Skulpturen aus der Blütezeit des Öls bewahrt hatte. Links von uns stand ein Reiterstandbild, der Mann hieß Bolivar, und ein gewaltiger Obelisk, die sogenannte »Nadel der Kleopatra«. Rechts war ein riesiger Arm aus Metall zu sehen, der eine mit Grünspan bedeckte Fackel hielt, die so groß wie eine Athabaska-Kiefer war, und daneben lag in passender Größe ein zerbrochenes gekröntes Haupt.[65] Diese und andere Artefakte warfen Schatten, die aussahen wie die Gnomen monströser Sonnenuhren — sie wirkten verwegen und traurig zugleich.

Wir waren nicht die Einzigen, die hier unterwegs waren. Es herrschte ein bunter Betrieb im Park; von allen vier Gates kamen die Gäste in Ein- oder Zweispännern, in Kutschen oder hoch zu Ross — alle strebten zum Palast. Die Kutschen hatten vergoldete Beschläge, die Reiter waren herausgeputzt und die Frontlaternen angezündet und leuchteten bereits in der Abenddämmerung. Die Schönen und Reichen von Manhattan waren zu dieser alljährlichen Feier geladen; keine Einladung zu bekommen wurde als Ohrfeige empfunden und hieß nicht selten, dass der bedauernswerte Eupatride in Ungnade gefallen war; und sollte es sich dabei um einen Senator handeln, tat er gut daran, sich vorzusehen.

Das ganze Spektakel lag natürlich mit Calyxas parmentieristischen Prinzipien überkreuz. Ich hatte gehofft, sie würde mit ihrer Verachtung für die Eupatriden hinter dem Berg halten, zumindest für heute Abend. Doch es sollte anders kommen.

Wir hielten bei den weitläufigen Stallungen des Regierungspalasts, wo Burschen in Livree die laufend eintreffenden Gespanne empfingen. Wir stiegen aus und gingen auf den Palast zu, als wir auf einen verärgerten Aristokraten trafen, der mit dem Spazierstock seinen Kutscher verprügelte.

Der Aristokrat war ein beleibter Herr mittleren Alters. Sein Gefährt hatte ein Rad abgeworfen, und der Kutscher sollte wohl schuld sein. Der Kutscher war mindestens so alt wie sein Herr, war hohlwangig und hatte die Augenpartie eines Kettenhundes. Er ließ die Schläge über sich ergehen, während ihn der Aristokrat mit Worten beschimpfte, die ich hier nicht wiederhole.

»Was zur Hölle soll das?«, rief Calyxa, als wir dazukamen.

»Pst!«, machte Sam und flüsterte ihr zu: »Das ist Nelson Wieland. Ihm gehört jedes zweite Walzwerk in New Jersey, und er hat einen Sitz im Senat.«

»Meinetwegen kann er Krösus auf dem Fahrrad sein«, sagte Calyxa laut und deutlich. »Er sollte seinen Stock nicht so gebrauchen.«

»Das geht uns nichts an«, warf Mrs. Comstock ein.

Doch Calyxa war nicht davon abzuhalten, schnurstracks zu Mr. Wieland zu gehen und ihn bei der sicher anstrengenden Züchtigung seines Bediensteten zu unterbrechen.

»Was hat dieser Mann getan?«, fragte sie.

Wieland sah auf und blinzelte. Er kannte Calyxa nicht und konnte wohl ihren Rang nicht einschätzen. Nach ihrer Garderobe, wenn nicht gar nach ihrer Haltung zu urteilen, war sie eine wohlhabende Eupatridin — und immerhin zu einem Empfang des Präsidenten geladen —, so dass er entschied, ihre Einmischung hinzunehmen.

»Es tut mir leid, wenn ich Sie mit diesem unerfreulichen Anblick belästige«, sagte er. »Die Unachtsamkeit dieses Mannes hat mich ein Rad gekostet — und nicht bloß ein Rad, sondern auch eine Achse, wenn nicht die ganze Kutsche.«

»Inwiefern war er unachtsam?«

»Oh, ich weiß nicht genau — er behauptet, das Rad sei über einen Stein gefahren — dass die Aufhängung der Kutsche nicht in Ordnung war —, mit anderen Worten, er sucht die Schuld überall, nur nicht bei sich selbst. Mir kann er nichts vormachen. Der Mann drückt sich — das macht er immer.«

»Und deshalb schlagen Sie ihn blutig?«

Das war nicht übertrieben, denn auf dem gestärkten weißen Hemd des Kutschers zeichneten sich lauter Blutflecken ab.

»Nur so merkt er sich den Vorfall. Er ist ein Abhängiger und träge dazu.«

»De toute évidence, non seulement vous êtes un tyran, mais en plus, vous êtes bête«, sagte Calyxa.

Die fremde Sprache brachte Mr. Wieland kurz aus dem Konzept. Calyxa erntete wieder einen verblüfften Blick, als sei sie eine exotische Lebensform, ein Flusskrebs zum Beispiel, der unerwartet seinem Element entstiegen war. Vielleicht hielt er sie für die Gattin eines Botschafters.

»Danke«, sagte er schließlich. »Ich bin sicher, Sie schmeicheln mir; aber ich spreche Ihre Sprache nicht, und ich fürchte, ich komme zu spät zum Empfang.« Und eilte von dannen.

Calyxa blieb noch eine Weile bei dem Kutscher stehen und redete mit ihm — zu leise, als dass ich etwas verstanden hätte. Schließlich rief Sam sie zu uns zurück.

»War das nötig?«, fragte er.

»Der Mann, den du Wieland nennst, ist ein brutaler Kerl, egal wie viel er besitzt.«

Julian wollte wissen, was der verletzte Kutscher über sich erzählt hatte.

»Er hat den größten Teil seines Lebens für Wieland gearbeitet. Er ist der Sohn eines Hufschmieds und kommt aus einer Kleinstadt in Pennsylvania. Der Vater hat ihn an Wielands Fabrik verkauft, als die Schmiede nicht mehr lief. Jahrelang hat er Radnaben gegossen, bis ihn die Kohlendämpfe dumm gemacht hätten. Dann hat Wieland ihn zu seinem persönlichen Kutscher gemacht.«

»Dann ist Wieland berechtigt, ihn zu schlagen, wann immer er es für nötig hält. Der Mann ist sein Eigentum.«

»Nach dem Gesetz vielleicht«, sagte Calyxa.

»Gesetz ist Gesetz«, sagte Sam.


Der Regierungspalast war derart weitläufig und gewaltig, dass er gleichzeitig noch als Museum oder Bahnhof hätte dienen können. Wir gingen durch einen Portikus aus Marmorsäulen, auf denen das Deckengewölbe einer Kathedrale thronte, und betraten eine riesige Empfangshalle, wo Aristokraten in Gruppen beisammenstanden und sich unterhielten und Kellner mit Tabletts voller Getränke und Platten voller Leckerbissen die Runde machten. In manchen Häppchen steckten Zahnstocher. Ich fand das Essen mickrig für ein Präsidentendinner, bis Julian mir erklärte, dass es sich dabei nicht um den Hauptgang, sondern nur um eine appetitanregende Vorspeise handle, die Hunger machen und nicht stillen sollte. Wir pickten uns das eine oder andere heraus und bemühten uns, die schiere Größenordnung der Architektur, die kunstvolle Wandvertäfelung und die Historiengemälde aus der Zeit der Pius-Präsidenten zu würdigen.

Julians Ruf war ihm vorausgeeilt. Tatsächlich hatte sich die Geschichte seiner soldatischen Karriere und sein plötzliches Wiederauftauchen in Manhattan längst herumgesprochen. Als seine Anwesenheit bemerkt wurde, näherten sich mehrere Senatoren, um ihm zu seiner Tapferkeit zu gratulieren, und viele junge Aristokratinnen konnten nicht umhin, Julian ihre Aufwartung zu machen, ernteten aber lediglich ein paar unverbindliche Höflichkeiten.

Calyxa betrachtete diese modischen jungen Frauen mit Argwohn. Sie hielt sie wohl für frivol. Sie trugen ärmellose Kostüme, um ihre Impfnarben zur Schau zu stellen: je zahlreicher und je auffälliger die Narben, umso schicker. Mrs. Comstock meinte, sich mit solchen Narben zu schmücken sei ein Ausbund an Dummheit: Die Impfungen seien teuer, würden so gut wie gar nicht vor Krankheiten schützen und seien zudem nicht ungefährlich. Den zweiten und dritten Punkt fand ich bestätigt, denn mehrere der geimpften Frauen sahen blass aus oder fiebrig und schwankten beim Gehen. Na ja, Mode hat immer ihren Preis, pekuniär oder sonst wie.

Julian sparte nicht mit Lob, während er durch die Menge schritt und uns vorstellte. Mich schimpfte er »Autor« oder »Schriftsteller« und Calyxa war »Mrs. Hazzard, eine Vokalistin«. Jene Angehörigen der Elite, mit denen wir sprachen, begrüßten uns knapp, aber mit auserlesener Höflichkeit. Während wir (ein wenig befangen, was Calyxa und mich betraf) durch diesen Mob aus fröhlichen Eupatriden schlenderten, zeigte sich zum ersten Mal der Präsident der Vereinigten Staaten.

Er betrat nicht die Empfangshalle, sondern begrüßte uns von einer Empore am Kopf einer Treppe, hinter sich eine Phalanx finsterer Gardisten, die den Eindruck machten, als würden sie sich am liebsten über die Etikette hinwegsetzen und ihre Waffen, die sie zweifellos bei sich trugen, auf die Menge richten. Jedes Wort erstarb, auch das letzte Gesicht wandte sich Deklan dem Eroberer zu.

Die Münzen, dachte ich, wurden ihm nicht gerecht. Oder umgekehrt. Er sah jedenfalls nicht so gut aus wie sein Abbild, aber irgendwie imponierender. Es stimmte, dass er ein bisschen so wie Julian aussah, wie Julian ohne den faserigen strohblonden Bart. Eigentlich sah er so aus wie ein um Jahre gealterter und nicht mehr ganz zurechnungsfähiger Julian.

Ich sage das nicht, um den Präsidenten herabzusetzen. Wahrscheinlich konnte er nichts dafür, dass er so aussah, wie er aussah. Seine Gesichtszüge waren nicht unregelmäßig; aber die schmalen Augen, die Hakennase und das ständige, gewinnende Grinsen hatten etwas von Wahnsinn. Wohlgemerkt, ich rede nicht von einer ausgeprägten Geistesstörung, sondern von jener tückischen Spielart des Wahnsinns, die am Rande geistiger Gesundheit herumtändelt und auf den richtigen Augenblick wartet.

Ich sah, wie Julian beim Anblick seines Onkels zusammenfuhr. Neben mir holte Mrs. Comstock stockend Luft.

Der Präsident trug den obligaten schwarzen Anzug, der an eine Uniform erinnerte, ohne eine zu sein. Die Medaillen an seiner Brust unterstrichen diese Wirkung. Er hob den Arm und bewegte die gespreizte Hand hin und her, immerzu lächelnd. Er hieß seine Gäste willkommen, dankte ihnen für ihr Erscheinen und bedauerte, sie nicht persönlich aufsuchen zu können, ermutigte sie aber, sich an den Erfrischungen gütlich zu tun. In Kürze werde das Dinner serviert, sagte er, anschließend würde in der Haupthalle zum Tanz aufgespielt, es gebe weitere Erfrischungen und schließlich ein Feuerwerk über der Great Lawn. Danach werde er eine Rede halten. Es sei ein stolzer Tag für die Nation, sagte er, und wir sollten ihn aufrichtig und nach Kräften feiern. Dann verschwand er hinter einem purpurroten Vorhang.

Er zeigte sich erst wieder nach dem Dinner.


Als wir in den Speisesaal geschleust wurden, fanden wir, dass uns an den langen Tischen bestimmte Plätze zugewiesen waren, kenntlich gemacht durch verspielte Namensschildchen. Calyxa und ich saßen zusammen, aber ziemlich abgeschieden von Sam, Mrs. Comstock und Julian. Wie das Pech es wollte, saßen wir ausgerechnet Nelson Wieland gegenüber, dem brutalen Industriellen, der draußen einen so widerlichen Eindruck auf Calyxa gemacht hatte. Neben ihm saß ein ähnlich alter Mann in Seide und Wollstoff, der uns als Mr. Billy Palumbo vorgestellt wurde.

Als Erstes wurde eine Kürbissuppe gereicht. Die Unterhaltung beim Essen ergab, dass Mr. Palumbo Landwirt war und einige Ländereien im oberen Bundesstaat New York besaß; dort bauten seine Abhängigen weiße Bohnen und Mais für den Absatz in der Stadt an.

Mr. Wieland kritisierte die Suppe und behauptete, sie sei zu dick.

»Ich kann mich nicht beschweren«, erwiderte Mr. Palumbo. »Ich mag eine gehaltvolle Suppe. Mögen Sie überhaupt Suppe, Mrs. Hazzard?«

»Ich finde, sie schmeckt gut«, sagte Calyxa gleichmütig.

»Mehr als gut«, setzte ich hinzu. »Ich wusste nicht, dass man einen gewöhnlichen Kürbis so köstlich zubereiten kann — dass es überhaupt welche gibt in dieser Jahreszeit.«

»Ich habe bessere Kürbissuppe gegessen«, sagte Wieland.

Einmal in Gang, hielt die kulinarische Diskussion während des ganzen Dinners an. Gedünstete Zwiebeln wurden serviert — nicht gar oder zu gar? Medaillons vom Lamm — für Palumbo waren sie zu blutig. Die Kartoffeln: ausgesucht jung. Der Kaffee: zu stark für Mr. Wieland. Und so fort.

Als das Dessert serviert wurde — wintergrünes Eis, für mich etwas Neues —, schien Calyxa so weit zu sein, ihre Portion über den Tisch zu schleudern, falls Palumbo und Wieland nicht endlich das Thema wechselten. Stattdessen katapultierte sie eine andere Art von Geschoss über den Tisch. »Essen Ihre Abhängigen auch so gut, Mr. Palumbo?«, fragte sie unvermittelt.

Die Frage überraschte Palumbo. »Na ja, wohl kaum«, sagte er. Er lächelte. »Man stelle sich vor, sie bekämen Eis zum Nachtisch! Da wären sie ja bald zu dick zum Arbeiten.«[66]

»Und wenn sie nun fleißiger wären, weil sie sich den ganzen Tag auf das gute Essen freuen könnten?«

»Das bezweifle ich sehr. Sind Sie eine Radikale, Mrs. Hazzard?«

»Ich würde mich nicht so nennen.«

»Freut mich zu hören. Mitgefühl ist eine gute Sache, aber gefährlich, wenn es unangebracht ist. In den vielen Jahren, da ich die Abhängigen beobachten konnte, habe ich eines gelernt: Man muss sie hart anfassen, und zwar immer. Freundlichkeit halten sie für Schwäche. Und Schwäche wird sofort ausgenutzt. Sie sind berüchtigt für ihre Faulheit und erfinderisch, wenn es darum geht, ihr Raum zu verschaffen.«

»Meine Rede!«, warf Mr. Wieland ein. »Der Diener zum Beispiel, den ich vor Ihren Augen gezüchtigt habe. ›Was ist schon ein gebrochenes Rad‹, werden Sie denken. Aber lässt man es durchgehen, sind es morgen zwei gebrochene Räder oder zehn.«

»Ja, das ist die Logik dahinter«, sagte Palumbo.

»Logik«, erwiderte Calyxa, »wenn Sie das zu Ende denken, heißt das doch, dass Menschen, die gegen ihren Willen arbeiten, nicht die besten Arbeiter sind.«

»Mrs. Hazzard! Menschenskind!«, rief Palumbo. »Wenn die Abhängigen träge sind, dann nur, weil sie ihr Glück nicht zu schätzen wissen. Haben Sie den beliebten Film Eula’s Choice gesehen?«

»Ja, aber ich sehe nicht, was das eine mit dem anderen zu tun hat.«

»Der Film erhellt knapp und präzise den Ursprung dieses Arbeitsverhältnisses. Gegen Ende der Falschen Drangsal wurde ein Pakt geschlossen, und die Modalitäten gelten bis auf den heutigen Tag.«

»Sie glauben an die Erbschuld, Mr. Palumbo?«

»Erbschuld ist ein Begriff der Radikalen. Sie sollten vorsichtiger sein in der Auswahl Ihrer Lektüre, Mrs. Hazzard.«

»Es ist eine Frage des Eigentums«, warf Wieland dazwischen.

»Ja«, sagte Calyxa, »denn die Abhängigen haben nicht nur keines — sie sind selbst Eigentum.«

»Aber nicht doch. Sie diffamieren ja die Menschen, die Sie verteidigen wollen. Selbstverständlich haben die Abhängigen Eigentum. Sie besitzen ihren Leib, ihre Fertigkeiten, wenn sie denn welche haben, und ihre Arbeitsfähigkeit. Wenn es so aussieht, als würden sie diese Dinge nicht besitzen, dann nur, weil sie diese Dinge bereits verkauft haben. Wie in dem Film, den Mr. Palumbo erwähnte. Flüchtlinge aus den zugrunde gegangenen Städten tauschten in einer schwierigen Zeit ihr einziges Hab und Gut — Hand, Herz und Stimme — gegen Nahrung und gegen ein Dach über dem Kopf.«

»Ein Mensch sollte sich nicht verkaufen dürfen«, sagte Calyxa, »schon gar nicht sein Stimmrecht.«

»Wenn ein Mensch sich selbst besitzt, dann muss er sich auch verkaufen dürfen. Was für eine Bedeutung sollte Eigentum sonst haben? Und was sein Stimmrecht betrifft, man hat es ihm nicht abgesprochen — es existiert nach wie vor —, er hat es lediglich seinem arbeitgebenden Grundbesitzer überantwortet, der es für ihn ausübt.«

»Ja, damit die Eigentümer diesen faulen Zauber von Senat kontrollieren können.«

Das hätte sie besser nicht gesagt. Gesichter drehten sich in unsere Richtung, und Calyxa wurde rot und senkte ihre Stimme. »Ich meine, das sind Meinungen, die ich gelesen habe. Aber egal — der Pakt, den Sie erwähnen, wurde vor mehr als einem Jahrhundert geschlossen, wenn er denn überhaupt geschlossen wurde. Heute werden Menschen in die Abhängigkeit hineingeboren.«

»Schuld ist Schuld, Mrs. Hazzard. Verbindlichkeiten erlöschen nicht einfach, weil ein Mensch das Zeitliche segnet. Wer sein Hab und Gut erbt, der erbt auch seine Verpflichtungen. Was haben Sie nur gelesen, dass Sie sich mit solchen Missverständnissen herumschlagen?«

»Einen Autor namens, oh, ich glaube, Parmentier«, sagte Calyxa mit Unschuldsmiene.

»Parmentier! Diesen europäischen Terroristen! Guter Gott, Mrs. Hazzard, Sie brauchen unbedingt ein bisschen Anleitung bei Ihrem Studium!« Wieland bedachte mich mit einem vorwurfsvollen Blick.

»Ich habe ihr die Romane von Mr. Charles Curtis Easton empfohlen«, sagte ich.

»Unser Problem ist das Alphabetentum hierzulande«, sagte Palumbo. »Oh, ich bin durchaus für einen sensiblen Grad an Allgemeinbildung — ganz wie Sie, Mr. Hazzard, in Anbetracht Ihrer Karriere als Journalist. Aber so etwas scheint anzustecken. Das Phänomen greift um sich und mit ihm die Unzufriedenheit. Sperrt man einen Alphabeten mit einem Dutzend Analphabeten zusammen, bringt er ihnen lesen und schreiben bei; und was sie dann lesen, sind nicht die vom Dominion geprüften Werke, sondern pornografische Machwerke, billiger Schund oder volksverhetzende Schriften. Parmentier! Nun, Mrs. Hazzard, vor einer Woche erst habe ich einem Pflanzer in Utica dreihundert Männer abgekauft, zu einem günstigen Preis, wie mir schien. Ich hielt sie eine Zeit lang vom alten Bestand getrennt, eine Art Quarantäne, und ich bin froh, dass ich das getan habe, denn es stellte sich heraus, dass unter diesen Männern das Lesen grassierte. Und was lasen sie? Unter anderem parmentieristische Druckschriften! So etwas kann ein ganzes Landgut ruinieren, wenn man es nicht unterbindet.«

Calyxa fragte nicht, was Mr. Palumbo getan hatte, um es zu unterbinden oder seinen »Bestand« vor dieser »Seuche« zu schützen — vielleicht, weil sie Angst vor der Antwort hatte. Doch ihr Gesicht sagte alles, und ich fürchtete schon, sie würde eine neue Anklage über den Tisch schleudern oder eine Gabel, aber dann wurde zum Glück abgetragen.


Nach dem Mahl machten allerlei berauschende Getränke die Runde, darunter so teure Abscheulichkeiten wie Champagner und Rotwein. Ich trank nicht mit, aber die Eupatriden hielten es wie die Pferde am Trog.

Deklan Comstock erschien kurz auf einem anderen Innenbalkon — er ziehe eine gebieterische Höhe vor, meinte Julian — und lud seine Gäste in den angrenzenden Ballsaal ein, wo eine Kapelle patriotische Lieder spiele. Wir folgten der präsidialen Aufforderung. Sofort setzte die Musik ein, und manche Aristokraten schwangen, beflügelt durch die feurigen Getränke, ihr Tanzbein. Ich konnte nicht tanzen und Calyxa wollte nicht; also sahen wir uns nach netter Gesellschaft um, die weit genug von Mr. Wieland und Mr. Palumbo entfernt war.

Wir fanden Gesellschaft — oder sie fand uns —, aber sie war nicht gerade das, was man nett nennt.

»Mr. Hazzard«, sagte eine dröhnende Stimme.

Ich drehte mich um und sah einen Mann in klerikaler Tracht.

Ich vermutete in ihm einen hohen Würdenträger des Dominions, denn er trug einen breitkrempigen Filzhut mit silbernem Besatz, ein nüchternes schwarzes Jackett und ein konventionelles Baumwollhemd, auf dem mit Goldfaden gestickt »Johannes 3,16« stand. Ich kannte das frische, runde Gesicht nicht. Er hielt ein Glas in der Hand, das zur Hälfte mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllt war, und sein Atem roch wie die Kupferspiral-Destillen, die Ben Kreel immer in den Behausungen der Abhängigen daheim in Williams Ford gefunden und zerstört hatte. Seine Augen glitzerten hinterhältig oder beschwipst.

»Sie kennen mich, aber ich kenne Sie nicht«, sagte ich.

»Im Gegenteil, ich kenne Sie überhaupt nicht, aber ich habe Ihr Heft über Julian Comstock gelesen, und jemand hat mich freundlicherweise auf Sie aufmerksam gemacht.« Er streckte die freie Hand aus. »Ich heiße Simon Hollingshead, Diakon der Diözese Colorado Springs.«

Er sagte das, als wäre es gar nichts. Aber das stimmte nicht. Dieser einfache Titel täuschte über eine einflussreiche Stellung in der Hierarchie des Dominions hinweg. Über den Diakonen von Colorado Springs gab es im Grunde nur noch die siebzig Mitglieder des Hohen Dominion-Rats.

Die Hand von Pastor Hollingshead war heiß und feucht, und sobald ich sie loslassen konnte, ohne ihn zu beleidigen, ließ ich sie los.

»Was verschlägt Sie denn nach Osten?«, fragte Calyxa vorsichtig.

»Nun, ich muss mit meinen Worten hinter dem Berg halten. Aber man muss sich die östlichen Städte von Zeit zu Zeit zur Brust nehmen. Sich selbst überlassen neigen sie dazu, vom strengen Glauben abzuweichen. Nicht anerkannte Kirchen schießen wie Pilze aus dem Boden. Die Durchmischung von Klassen und Nationalitäten zeigt den allbekannten degenerativen Einfluss.«

»Die Menschen hier trinken vielleicht zu viel«, sagte ich unwillkürlich.

»Wein, der das menschliche Herz erfreut«, zitierte der Diakon, obwohl ich in seinem Glas Stärkeres als Wein vermutete.[67] »Es geht mir um die Heilige Lehre und nicht um persönliche Abstinenz. Trinken ist keine Sünde, Betrunkensein schon. Finden Sie, dass ich betrunken bin, Mr. Hazzard?«

»Nein, Sir, nicht wirklich. Was von der Heiligen Lehre sehen Sie denn in Gefahr?«

»Die gebotene Achtsamkeit des Hirten beim Hüten seiner Herde. Der hiesige Klerus verschließt die Augen vor den schlimmsten Dingen. Geilheit, Zügellosigkeit, Wollust …«

»Oje, alle mit ›l‹ in der Mitte«, sagte Calyxa leise.

»Genug der Probleme. Ich wollte Ihnen nur zu Ihrer Darstellung der Kriegserlebnisse von Julian Comstock gratulieren.«

Ich dankte freundlich und tat bescheiden.

»Erbauliche Lektüre für junge Menschen ist dünn gesät. Ihre Arbeit ist beispielhaft, Mr. Hazzard. Sie hat zwar noch nicht das Siegel des Dominions, aber das lässt sich ändern.«

Das war ein großzügiges Angebot, das womöglich zu höheren Verkaufszahlen führte, und daher fand ich, wir sollten Diakon Hollingshead nicht unnötig brüskieren. Calyxa war indes auf Konfrontationskurs und gänzlich unbeeindruckt von Rang und Einfluss des Kirchenmannes.

»Colorado Springs ist eine große Stadt«, sagte sie. »Hat sie nicht Probleme genug, um die Sie sich kümmern könnten?«

»Aber sicher! Die Verführung treibt überall ihr Unwesen. Colorado Springs ist Herz und Seele des Dominions, aber Sie haben Recht, Mrs. Hazzard, auch in Colorado Springs gedeiht das Laster. Sogar in meiner eigenen Familie …«

Jetzt hielt er inne, als sei er sich nicht sicher, ob er fortfahren solle. Vielleicht merkte er, dass der Alkohol ihn redselig machte. Zu meinem Leidwesen fasste Calyxa nach: »Laster in der Familie eines Diakons?«

»Meine eigene Tochter ist ihm zum Opfer gefallen.« Er senkte die Stimme. »Normalerweise würde ich ja nicht darüber reden. Aber Sie scheinen eine rücksichtsvolle junge Frau zu sein. Sie entblößen nicht Ihre Arme wie so viele von den Damen hier, noch verunstalten Sie Ihre Haut mit Impfnarben.«

»Ich bin bekannt für meine Sittsamkeit«, sagte Calyxa, obwohl sie unbedingt so ein ärmelloses Kostüm hatte tragen wollen — dass sie es nicht tat, war allein Mrs. Comstock zu verdanken.

»Dann will ich Sie nicht weiter kränken mit …«

»Laster würden mich kränken, Diakon Hollingshead, aber nicht ihre Beschreibung. Wie soll man ein Problem aus der Welt schaffen, das man nicht beim Namen nennt?«

Sie köderte ihn; doch Hollingshead war zu rechtschaffen oder zu betrunken, um es zu bemerken. »Homosexualität«, sagte er verhalten. »Wissen Sie, was das Wort bedeutet, Mrs. Hazzard?«

»Die Rede von solchem Verhalten ist mir bisweilen zu Ohren gekommen. Ist Ihre Tochter …?«

»Gott bewahre! Nein. Marcy ist ein Musterkind. Einundzwanzig ist sie jetzt. Aber weil sie noch nicht verheiratet ist, zieht sie die Aufmerksamkeit einer Liga entarteter Frauen auf sich.«

»In Colorado Springs!«

»Ja, stellen Sie sich vor! Und das Problem ist einfach nicht auszurotten.«

»Was haben Sie denn unternommen?«

»Sowohl die Stadtpolizei als auch der investigative Arm des Dominions sind auf die Sache angesetzt. Unnötig zu sagen, dass ich Marcy auf Schritt und Tritt bewachen lasse — sie weiß natürlich nichts davon.«

»Halten Sie es wirklich für eine gute Idee, die eigene Tochter zu bespitzeln?«

»Sicher! Wenn es zu ihrem Besten ist.«

»Ist es das?«

»Die Überwachung hat Marcy mehr als einmal vor dem Verderben bewahrt. Marcy scheint nicht ausgehen zu können, ohne zufällig in irgendeine Lasterhöhle zu geraten. Sicher, wenn wir so ein Etablissement entdecken, wird es geschlossen. Mehr als eine von diesen entarteten Frauen hat versucht, sich bei Marcy anzubiedern. Sie wurden verhaftet und verhört.«

»Verhört — wozu?«

»Weil mehr dahintersteckt als Zufall«, sagte der beschwipste Diakon. »Bestimmt hat es irgendeine Gruppe von Abweichlern auf meine Tochter abgesehen. Die Verhöre sollten solche Verbindungen aufdecken.«

»Und — hat sich die Anstrengung gelohnt?«

»Leider nein. Nicht einmal unter extremen Bedingungen wollen diese Frauen zugeben, dass ihr Interesse an Marcy eine abgekartete Sache ist. Sie behaupten stur und steif, nichts von einer Verschwörung zu wissen.«

»Vernehmungen sind doch im Allgemeinen nicht so fruchtlos, oder?« Daran, wie Calyxa die Röte ins Gesicht stieg, konnte ich ablesen, wie sehr sie den Enthusiasmus des Diakons zu schätzen wusste, mit dem er sich des vertrackten Themas von Laster und Folter annahm.

»Nein, da haben Sie Recht. Unsere Ermittler wissen, wie man verstockten Individuen die Wahrheit entlockt — das Dominion schult sie intensiv darin.«

»Wie erklären Sie sich dann, dass Ihre Leute in diesem Fall versagen?«

»Die Wurzeln des Lasters reichen in ungeahnte Tiefen und bedienen sich aus mysteriösen Quellen — Licht schadet ihm, und es scheut instinktiv davor zurück«, sagte der Diakon verbittert.

»Und es keimt im eigenen Heim«, sagte Calyxa und fügte mit gesenkter Stimme hinzu: »On aurait peut-être de torturer votre fille, aussi.«

Ich erwartete, dass Diakon Hollingshead diese unverständliche Bemerkung übergehen würde. Tat er aber nicht. Stattdessen nahm er die Schultern zurück und straffte sich. Seine Miene hatte sich verhärtet.

»Je ne suis ni idiot ni inculte, Mrs. Hazzard«, sagte er. »Si vous vous moquez de moi, je me verrai dans l’obligation de lancer un mandat d’arrêt contre vous.«

Ich wusste nicht, was die Entgegnung bedeutete, sah aber, wie Calyxa die Farbe wechselte und einen Schritt zurückwich.

Der Kirchenmann sah mich an und lächelte wieder — nicht ganz ungezwungen, wie mir schien. »Noch einmal meine Anerkennung, Mr. Hazzard. Ihre Arbeit ehrt Sie. Sie werden Karriere machen. Hoffentlich kommt nichts dazwischen.« Er schlürfte einen Schluck aus seinem Glas und ging.


Ich möchte nicht, dass der Leser den Eindruck gewinnt, alle Eupatriden, denen wir auf dem präsidialen Empfang begegneten, seien Flegel oder Tyrannen gewesen. Viele, vielleicht die meisten, waren durchaus angenehme Zeitgenossen. Mehrere besaßen eine Jacht, und ihren lebhaften Gesprächen über nautische Dinge hörte ich mit Vergnügen zu — dabei hätte ich kein Großsegel reffen können, auch wenn mein Leben davon abgehangen hätte.

Mrs. Comstock kannte eine Reihe von Damen. Viele staunten, sie hier zu sehen, so lange nach dem Tod ihres Gatten. Doch sie waren die Launen präsidialer Gunst gewöhnt und nahmen die Schwägerin des Präsidenten geschwind wieder auf.

Sam verbrachte seine Zeit beim militärischen Kontingent, das heißt bei einer Handvoll angesehener Generäle und Generalmajore. Vermutlich taxierte er ihre Einstellung zum Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte und versuchte herauszufinden, was dieser Oberbefehlshaber mit Julian im Sinn hatte. Aber das alles ging über meinen Horizont. Julian selbst unterhielt sich mit einem, wie er mir sagte, echten Philosophen: einem Professor für Kosmologie an der neu reformierten Universität von New York. Dieser Mann, sagte Julian, habe sich viele interessante Theorien über die Lichtgeschwindigkeit, den Ursprung der Sterne und ähnlich gehaltvolle Dinge ausgedacht. Aber er stünde unter der Fuchtel des Dominions und könne den Diskurs nicht so frei führen, wie er es sich wünsche. Immerhin erfreue sich der Mann eines gewissen Zugangs zum Archiv des Dominions und ergehe sich in Andeutungen über die künstlerischen und wissenschaftlichen Schätze, die dort verborgen lägen.

Die allgemeine Ausgelassenheit, angefacht durch Traubenwein und Ähnliches, erreichte bald einen neuen Höhepunkt. Die Musiker hatten den Ballsaal verlassen; nach Calyxa waren sie draußen hinter den Stallungen und rauchten Hasch, kehrten aber relativ aufgeräumt und guter Dinge zurück, gerade als Deklan Comstock sich zum dritten Mal auf einem seiner marmorierten Balkone zeigte.

Diesmal hieß er namentlich die Erlauchtesten unter den Anwesenden willkommen, darunter den Senatssprecher Diakon Hollingshead, mehrere prominente Großgrundbesitzer und den Leiter der Bundesgesundheitsbehörde sowie den chinesischen und den japanischen Botschafter (die sich von entgegengesetzten Seiten des Saals beäugten). Dann lächelte er sein ungesundes Lächeln und sagte: »Unter uns ist auch mein geliebter Neffe Julian Comstock, heimgekehrt von seinen Abenteuern, die er bei der Verteidigung der Vereinigten Staaten in Labrador erlebt hat, sowie sein gefeierter Biograf, Mr. Adam Hazzard, und sein früherer Lehrer, Sam Godwin.«

Ein Schauder jagte mir den Rücken hoch. Meinen Namen aus dem Mund dieses Mannes zu hören ging mir an die Nieren.

»Mr. Hazzard«, fuhr der Präsident fort, »ist ein großes und scharfsinniges Talent der schreibenden Zunft, und neulich kam mir zu Ohren, dass auch seine Gattin talentiert ist. Mrs. Hazzard ist Sängerin, und da kommt mir in den Sinn, ob sie uns nicht mit einer Ballade oder Ähnlichem erfreuen könnte — jetzt, da die Kapelle sich aufgewärmt hat. Mrs. Hazzard!« Er tat so, als ob er die Augen beschatten müsse. »Mrs. Hazzard, wären Sie so freundlich, die anwesenden Herrschaften zu unterhalten?«

Calyxas Kinn stand grimmig vorgeschoben — jetzt wollte Deklan Comstock sie demütigen und indirekt Julian, indem er sie als Varietésängerin entlarvte — andererseits traute sie sich nicht, die präsidiale Bitte auszuschlagen. »Halt mein Glas, Adam«, sagte sie kategorisch[68]; dann kletterte sie auf das Podium, wo die Musiker in Positur standen.

Diese Entwicklung überraschte den Kapellmeister genauso. Er sah sie verdutzt an, erwartete vielleicht, dass sie ihm einen vertrauten Liedtitel nannte — Where the Sauquoit Meets the Mohawk oder ein ähnlich seriöses Stück.

Doch Calyxa tat nie, was man von ihr erwartete, besonders nicht auf Zuruf eines Tyrannen wie Deklan Comstock. Sie ließ ihren Blick über das Meer eupatridischer Gesichter schweifen. Es war ein hochnotpeinlicher Augenblick. Sie sagte nichts, lächelte auch nicht, lüftete nur ihren aufgebauschten Rock und begann mit dem rechten Fuß zu stampfen. Das amüsierte einige Aristokraten, und es enthüllte ihre unvorteilhaften Fesseln; aber es lieferte einen knappen, martialischen Takt, den der Schlagzeuger alsbald aufnahm.

Dann begann sie ohne Auftakt zu singen:

By Piston, Loom, and Anvil, boys,

We clothe and arm the nation,

And sweat all day for a pauper’s pay,

And half a soldier’s ration …

Zuerst lähmendes Entsetzen. Viele Eupatriden im Saal kannten das Lied oder hatten es von den Lippen rebellischer Bediensteter in Küche oder Keller gehört. Und wenn sie es nicht selbst gehört hatten, dann kannten sie es vom Hörensagen. Jedenfalls machte der Text keinen Hehl daraus, für wen er Sympathie ergriff.

Die Stille und die Laute der Bestürzung aus der Zuhörerschaft entmutigten Calyxa nicht, obwohl selbst der Schlagzeuger ein- oder zweimal schwankte. Sie beendete den Refrain und begann sofort mit der ersten Strophe; die wie alle anderen Strophen dieses langen und epischen Liedes das Leid von Arbeitern verdammte, die für einen Industriellen oder Eigentümer schufteten.

Etliche sahen sich um, als wollten sie sehen, wie Präsident Deklan Comstock reagierte. War er wütend? Gekränkt? Würde die Republikanische Garde dem Spuk ein jähes Ende machen?

Doch Deklan der Eroberer schien nicht zu zürnen. Er nahm stattdessen die Hand an die Schläfe wie zu einer gespielten Ehrenbezeigung.

Diese knappe Geste war für die Eupatriden das Signal, dass für heute Abend die üblichen Anstandsregeln außer Kraft gesetzt waren. Sie folgerten daraus, dass Calyxas Darbietung kein Protest, sondern ironisch gemeint war. Piston, Loom, and Anvil, gesungen im Regierungspalast! Die köstlich auf den Kopf gestellte Logik eines Bacchanals. Ein paar der scharfsinnigeren Aristokraten begannen rechtzeitig zu klatschen.

Das ermutigte die ganze Kapelle, mit einzustimmen. Die Musiker hatten keinerlei Problem mit der Melodie und fingen an, Calyxas kräftige Stimme mit allerlei kleinen Trillern und Arpeggios zu umspielen. Calyxa selbst sang weiter, als gingen sie diese Schnörkel nichts an: Allein das Lied zählte, und sie sang es …

»Ist sie nicht großartig«, sagte Julian und baute sich neben mir auf.

Einige im Saal wollten immer noch keinen Gefallen an der unpassenden Darbietung finden. Mr. Wieland, Mr. Palumbo und Diakon Hollingshead standen mit eigensinnig verschränkten Armen beisammen. Weil sie direkt mit Abhängigen arbeiteten, war das Lied für Wieland und Palumbo nur eines: eine Waffe, die auf ihren Lebensunterhalt zielte. Der Diakon war nicht so existenziell beteiligt, dafür aber ein treuer Anhänger des Status quo, und folterte mitunter Männer, die es wagten, so etwas in seiner Gegenwart zu singen. Nicht einmal die Großzügigkeit des Präsidenten konnte diese honorigen Herren dazu bewegen, in ihrer Wachsamkeit nachzulassen.

Ich machte mir wirklich Sorgen um ihr Wohlergehen. Wielands ohnehin rötliches Gesicht lief dunkelrot an, bis sein Kopf wie eine Rote Bete aussah, die man in einen Hemdkragen gezwängt hatte, und Palumba lag nicht weit zurück in diesem Wettstreit.

Julian hatte mir einmal eine Geschichte über Tiefseetaucher erzählt. Kippern sei es neuerdings möglich, in einem versiegelten Gummianzug, versorgt mit Atemluft, die ihnen durch einen Schlauch heruntergepumpt werde, in das nasse Duster versunkener Küstenstädte zu tauchen. Dieses Gewerbe sei wahnsinnig gefährlich, aber hin und wieder lukrativ. Insofern es regelrechte Schätze ans Licht befördere, die von anderen, längst abgeräumten Stellen an Land stammten. Nur dass der Kipper für jede wertvolle Antiquität, die so geborgen werde, sein Leben aufs Spiel setze.

Nun sei es eine typische Eigenschaft des Meeres, dass der Wasserdruck mit der Tiefe zunehme. Es kursiere eine Legende unter den Unterwasserkippern, hatte Julian gesagt, dass ein Taucher, der unangeleint in zu große Tiefe sinke, von der Faust des Meeres zerquetscht werde. Schlimmer noch, er werde vom Wasserdruck buchstäblich wie eine Tube Zahnpasta aufgerollt. Sein Leib, von Gummi umhüllt, werde erst zermalmt und dann dahin gepresst, wo sich bereits der Kopf befinde, nämlich in den Taucherhelm, in dem sich der ganze Kipper am Ende wie ein blutiger Eintopf konzentriere — bis selbst der Helm zerberste.

Das war natürlich eine große Sauerei.

Die ging mir durch den Kopf, während ich Wieland, Palumbo und Hollingshead beobachtete. Mit jeder weiteren Strophe — über den verschütteten Grubenarbeiter — die Näherin, die durch ihren Arbeitgeber in bittere Armut und Prostitution getrieben wird — den Gepäckträger, der von einem Zug überrollt wird, dessen Bremse sich gelöst hatte — mit jeder weiteren Strophe drängte mehr Blut in das Hirn dieser entrüsteten Herren, dass ich mir sagte, wenn sie jetzt nicht der Schlag trifft, dann platzt ihnen der Schädel.

Vielleicht war Calyxa ein bisschen verstimmt durch die freundliche Aufnahme, die ihre Darbietung fand, denn ihre Verse wurden radikaler und bezeichneten Eigentümer als Tyrannen oder Senatoren als Dummköpfe. »Ich bin mir nicht sicher, ob das besonders schicklich ist«, sagte Mrs. Comstock neben mir. Doch der Präsident grinste immer noch (alles andere als fröhlich), und die allermeisten Eupatriden hielten weiterhin die Kränkungen für Ironie und entblödeten sich nicht, sie zu belächeln (viele hinter vorgehaltener Hand).

Ich dachte schon, Calyxa würde nichts mehr einfallen — was ja vielleicht ganz gut gewesen wäre —, da trat sie an den vorderen Rand des Podiums, richtete direkt und unmissverständlich ihren Blick auf den Industriellen Nelson Wieland, stampfte den Takt und sang:

I know someone, a blacksmith’s son,

Who learned to mill old steel —

He cast the parts

For rich men’s carts,

But the heat took a toll,

And the fumes of the coal —

He was broken at the wheel, oh!

Broken at the wheel!

By Piston, Loom, and Anvil, boys,

We clothe and arm the nation …[69]

Sollte es noch Zweifel geben, dass sie diese Strophe eigens für Mr. Wieland improvisiert hatte, dann sicher nicht bei Mr. Wieland. Die Augen quollen ihm förmlich aus dem Kopf. Er ballte die Fäuste — ja, der ganze Mann schien sich zu ballen. Es war, als hätte ihn die Tiefsee gepackt.

Calyxa, anscheinend zufrieden mit der Reaktion, die sie provoziert hatte, beendete den Refrain und wandte sich an den Landwirt Billy Palumbo und stampfte und sang:

The indentured men in the Owner’s pen

Are bought and sold like cattle;

But a man’s got a mind,

And an Owner might find

That all he bought

Is an awful lot

Of Revolutionary Chattel, oh!

Revolutionary Chattel …[70]

Mr. Palumbo war nicht weniger überfordert als Mr. Wieland. Ich verfolgte mit ernsthafter Sorge, wie ihm vom Kragen bis zum Scheitel die Adern hervortraten, und wieder musste ich an den berstenden Unterwasserkipper denken.

Dann, wie hätte es anders sein können, war Diakon Hollingshead an der Reihe. Als sie den Refrain wiederholte, funkelte der Diakon sie an. Doch Calyxa hatte die Blicke ihrer Brüder ausgehalten, was wollte da ein Kirchenmann, und wenn er noch so einflussreich war. Ihre Stimme war ihr Knüppel, und sie würde ihn schwingen. Und sie sang — con brio, wie die Komponisten sagen:

The Colorado maid was not afraid

When the Deacon’s henchmen caught her,

She suffered in her pride,

But they beat her till she cried,

And when her courage grew thin

She confessed her sin:

›I was kissed by the Deacon’s daughter! Oh!

Kissed by the Deacon’s daughter!‹

By Piston, Loom, and Anvil, boys …[71]

Es gab einen jähen Lichtblitz, gefolgt von einem Donnerschlag — aber der Diakon war unversehrt —, das Feuerwerk auf der Great Lawn hatte begonnen. Die Kapelle war verstummt, und alle strömten mehr oder weniger befreit ins Freie.


Die Nacht war warm. Über dem Regierungspalast krachte und prasselte das Feuerwerk zum Unabhängigkeitstag. Calyxa saß neben mir, sie war noch außer Atem; ich war stolz auf sie, aber ich war auch in Sorge.

Wahrscheinlich konnte ich das Prüfsiegel für die Abenteuer des Captain Commongold (alias Julian Comstock) vergessen. Na, wenn schon, das Heft verkaufte sich auch so ganz gut. Eines stand fest, falls Deklan Comstock die Absicht gehabt hatte, Calyxa zu demütigen, dann hatte er sie gewaltig unterschätzt.

Für die Dauer des Feuerwerks saßen wir auf einer hölzernen Tribüne. In einer abgesperrten Loge saßen der Präsident und ein paar enge Vertraute, unter ihnen zu meinem Leidwesen Diakon Hollingshead. Calyxa und ich saßen mit Julian, Sam und Mrs. Comstock bei den weniger bedeutenden Eupatriden.

»Bei solchen Ereignissen gibt es immer Kleinigkeiten, die einem zu denken geben«, sagte Sam mit gesenkter Stimme. »Wer ist geladen, wer nicht — wer redet mit wem — wer lächelt, wer runzelt die Stirn —, alles kann man deuten, gerade so wie jemand, der aus den Karten prophezeit.«

»Und was prophezeist du?«, wollte ich wissen.

»Der Großadmiral ist nicht da. Das ist ungewöhnlich. Es gibt keine Repräsentanten der Kalifornischen Armee — reichlich ominös. Das Dominion wird bevorzugt. Der Senat wird übergangen.«

»Ich wüsste nicht, was ich daraus ableiten sollte.«

»Warten wir, bis der Präsident das Wort ergreift. Dann fällt die Axt, Adam — falls sie fällt.«

»Buchstäblich oder sprichwörtlich?«, fragte ich ängstlich.

»Bleibt abzuwarten«, sagte Sam.

Das war alarmierend; aber da ich keinen Einfluss auf die präsidialen Machenschaften hatte, versuchte ich wenigstens das Feuerwerk zu genießen. Der chinesische Botschafter hatte als Geschenk für den Präsidenten die Einfuhr pyrotechnischer Spezialitäten aus seiner Republik veranlasst. Die Chinesen sind nämlich in allem, was mit Waffen und Schießpulver zu tun hat, einsame Experten. Und so leistete die Anwesenheit und offenkundige Großzügigkeit ihres Botschafters dem Gerücht Vorschub, Deklan Comstock beabsichtige — sozusagen als Replik auf das chinesische Geschütz der Deutschen —, modernes Kriegsgerät aus China zu kaufen.[72]

Somit war das himmlische Spektakel die beste Reklame für chinesische Wertarbeit. Noch nie hatte ich solche feurigen Kapriolen gesehen. Oh, in Williams Ford hatten wir auch Feuerwerke abgebrannt — wirklich schöne, und ich war als Junge begeistert gewesen. Aber das hier war ein paar Nummern größer. Die warme Sommerluft roch nach Kordit, und der Nachthimmel barst und prasselte — Magische Sternexplosionen, Blaues Feuer, Wirbelnde Salamander, Donnerkeile. Fast so laut wie ein Artillerieduell. Ich musste mich zusammennehmen, wenn Geräusche und Gerüche unliebsame Erinnerungen weckten. Der Winter in Chicoutimi. Ich fror. Calyxa legte mir tröstend den Arm um die Schulter.

Nach einer guten halben Stunde endete das Schauspiel mit einem Feuerkreuz, das wie der Segen eines pyromanischen Engels über Süd-Manhattan hing. Die Kapelle spielte The Star-Spangled Banner. Die versammelten Eupatriden applaudierten nach Kräften; und dann war es an der Zeit, dass Deklan Comstock seine abschließende Rede hielt.

Der Regierungspalast war voll elektrifiziert, für die Generatoren zeichneten die klügsten Ingenieure Amerikas verantwortlich. Die Bühne, die man eigens für den Präsidenten errichtet hatte, war in grelles Kunstlicht gebadet.65 Er stieg die hölzernen Stufen hinauf, trat hinter das Rednerpult und stützte sich mit beiden Armen ab. Dann sah er auf und begann zu sprechen.

Er fing an mit Bibelzitaten und Gemeinplätzen, die zum Festtag passten. Er sprach über die Nation und wie sie durch Rebellion gegen das gottlose britische Empire entstanden sei. Er zitierte den großen patriotischen Philosophen des 19. Jahrhunderts, Mr. John C. Calhoun. Er schilderte, wie Öl und Atheismus die ursprüngliche Nation verdorben hätten und wie die sogenannte Rekonstruktion direkt nach der Falschen Drangsal die politischen Verhältnisse neu geordnet hätte. Er sprach von den beiden großen Generälen, die in nationalen Krisen als Präsidenten amtiert hätten, Washington und Otis, und warf mit ihren Namen um sich, als sei er mit den beiden zur Schule gegangen.

Und damit war er endlich bei seinem Thema: Krieg. Seine Stimme bekam Farbe, und seine Gesten zeugten von Engagement.

»Dauerhafter Frieden ist ein Traum«, sagte er, »sosehr wir uns nach Frieden sehnen — es herrscht Krieg! Krieg ist ein integraler Bestandteil der göttlichen Ordnung. Ohne Krieg würde die Welt in Egoismus und Materialismus versinken. Der Krieg ist gleichsam das Depot der Ehre, und wer von uns könnte eine Welt ohne den himmlischen Luxus der Ehre ertragen? Jener Glaube verdient besonderes Vertrauen und besondere Zuneigung, der einen Soldaten bewegt, sein Leben in blindem Gehorsam wegzuwerfen — für eine Sache, die er kaum versteht; auf einem Feldzug, von dem er kaum Ahnung hat; unter einer Strategie, die ihm nichts sagt.[73] Auf dem Schlachtfeld, wo die Laune einer Kugel oder das Schwanken eines Bajonetts über Leben oder Tod entscheidet, ist das Leben in seinem Element und läuft zur Hochform auf.«

»Der Tod aber auch«, sagte Julian, doch Sam legte den Finger an die Lippen.

»In Labrador«, erklärte Deklan der Eroberer, »hatten wir bemerkenswerte Erfolge und ein paar bedauerliche Misserfolge. Ich muss nicht hinzufügen, dass es keinen Krieg ohne Rückschläge gibt. Nicht jeder Feldzug kann zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht werden. Aber in den letzten Monaten weist die Anzahl der Misserfolge auf eine erschreckende Möglichkeit hin. Ich meine die Möglichkeit, dass in der Laurentischen Armee Verräter am Werke sind.« Der ganze Habitus des Präsidenten wurde plötzlich grimmig und unerbittlich, und seine Zuhörer zogen die Köpfe ein. »Daher habe ich heute drastische Maßnahmen ergriffen, um unsere Streitkräfte zu konsolidieren und zu optimieren. Mehrere Generalmajore — ich will sie hier nicht beim Namen nennen — werden während dieser Rede unter Arrest gestellt. Sie werden öffentliche Verfahren und ausreichend Gelegenheit bekommen, ihre Kollaboration mit den Deutschen zuzugeben und ihrer Zerknirschung Ausdruck zu verleihen.«

Sam stöhnte leise, denn unter den anonymen Generalmajoren waren höchstwahrscheinlich Männer, die er kannte und respektierte.

»Die Positionen dieser Verräter«, fuhr Deklan der Eroberer fort, »werden mit Männern besetzt, die sich im Kampf qualifiziert haben. Und daher können wir uns mit neuer Zuversicht der Aufgabe widmen, endlich unsere Herrschaft über diesen gottgefälligen Kontinent zu festigen und unseren Anspruch auf den strategisch wichtigen Wasserweg im Norden durchzusetzen.«

Er trank einen Schluck Wasser. Ohne Feuerwerk war die Nacht mit einmal sehr finster.

»Doch es gibt nicht nur Schlechtes zu berichten. Keineswegs! Wir waren auch erfolgreich. Ich erinnere nur an den Saguenay-Feldzug und die Befreiung von Chicoutimi aus den Händen der mitteleuropäischen Besatzer. Und lassen Sie mich — ich gebe zu, nicht ganz ohne familiären Stolz — wiederholen, dass mein eigener Neffe Julian eine Schlüsselrolle in dieser Schlacht gespielt hat.«

Hier lächelte der Präsident wieder und hielt nach Applaus heischend inne, den ihm die nervösen Eupatriden auch sofort zollten.

»Komm aufs Podium, Julian«, rief der Präsident, »und trete an meine Seite!«

Das war die Demütigung, mit der sich Deklan Comstock den ganzen Abend getragen hatte. Calyxa als Sängerin zu präsentieren war nur das Vorspiel gewesen. Er schmückte sich mit dem wehrlosen Sohn des Mannes, den er ermordet hatte.

Julian rührte sich erst nicht. Als hätte der Befehl seine Sinne nur flüchtig gestreift. Es war Sam, der ihn anschubste. »Mach einfach, was er sagt«, flüsterte Sam. »Schluck deinen Stolz hinunter, Julian, dieses eine Mal, und tu, was er sagt — geh schon, oder er lässt uns umbringen.«

Julian bedachte Sam mit einem leeren Blick, dann stand er auf. Alle, an denen er vorbeikam, mussten merken, wie widerstrebend er den Weg zum präsidialen Podium zurücklegte. Er stieg die Stufen hinauf, als erwarte ihn oben der Galgen, was vielleicht nicht ganz abwegig war.

»Lieber Julian«, sagte der Präsident und umarmte ihn so, wie ein ehrlicher Onkel seinen geliebten Neffen umarmt.

Julian erwiderte die Umarmung nicht. Er ließ die Hände an der Hosennaht. Ich konnte nachempfinden, wie sehr ihn der körperliche Kontakt mit dem Brudermörder anwiderte.

»Du bist noch so jung und hast mehr vom Krieg gesehen als die meisten von uns. Was hattest du für einen Eindruck vom Saguenay-Feldzug?«

Julian blinzelte.

»Es war eine ziemlich blutige Angelegenheit«, murmelte er in seinen dünnen Bart.

Aber Deklan Comstock hatte nicht vor, ihm Redefreiheit einzuräumen. »Blutig — allerdings«, sagte der Präsident. »Aber wir sind keine Nation, die beim Anblick von Blut zurückschreckt, und kein Volk, das zu zartbesaitet ist, um seinen Mann zu stehen. Wir dürfen alles — sogar grausam, ja, sogar rücksichtslos sein, denn wir waren weltweit die Ersten, die Ihr Schwert nicht erhoben haben, um andere zu versklaven oder zu unterjochen, sondern um sie aus ihrer Knechtschaft zu befreien. Wir dürfen nicht mit Blut geizen! Lasst Blut fließen, wenn Blut allein die alte säkulare Welt ertränken kann. Her mit dem Schmerz, her mit dem Tod, wenn Schmerz und Tod uns vor den tyrannischen Zwillingen namens Atheismus und Europa bewahren können.«

Ein paar Beifallsbekundungen wurden laut, aber nicht in unserem Abschnitt der Tribüne.

»Julian kennt aus erster Hand den Preis und die Kostbarkeit der Freiheit. Er hat bereits sein Leben als anonymer Gefreiter aufs Spiel gesetzt. Opfer genug für einen Mann, werden Sie denken, und in normalen Zeiten würde ich Ihnen zustimmen. Aber wir haben keine normalen Zeiten. Der Feind bedrängt uns. Barbarische Waffen werden gegen unsere Soldaten eingesetzt. In der nordöstlichen Wildnis wimmelt es von fremdländischen Feldlagern. Und die Grenzen von Neufundland sind schon wieder in Gefahr. Deshalb sind wir aufgerufen, Opfer zu bringen.« Bei dieser ominösen Ankündigung hielt er inne. »Wir alle sind aufgerufen, Opfer zu bringen. Ich schließe mich da nicht aus! Ich muss, wie jeder andere Bürger, auf mein Glück verzichten, wenn es dem größeren nationalen Interesse zuwiderläuft. Und so glücklich ich bin, den Sohn meines Bruders wieder im Schoß der Familie zu wissen, so wenig kann die Nation in dieser kritischen Stunde auf einen Soldaten von Julians Erfahrung verzichten. Ich beabsichtige daher, den bereits suspendierten Befehlshaber der Nördlichen Division der Laurentischen Armee, Generalmajor Griffin, durch meinen geliebten Neffen zu ersetzen.«

Man hörte förmlich, wie es den Zuhörern den Atem verschlug. Er wollte uns wirklich glauben machen, dass er Julian ins Herz geschlossen hatte! Erneut brandete Applaus auf. Begeisterte Rufe wie »Julian! Julian Comstock!« stiegen in die brenzlige Nacht.

Julians Mutter beteiligte sich nicht an dem Jubel. Sie schien einer Ohnmacht nahe und legte den Kopf an Calyxas Schulter.

»Erst Bryce«, flüsterte sie. »Jetzt Julian.«

»Das ist die Axt, die ich meinte«, sagte Sam.

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