8

Quellen war von der Unterredung mit seiner Schwester nicht sehr erbaut. Helaine hinterließ in ihm immer ein Gefühl der Scham. Sie war so sichtlich unglücklich, daß ihn schon ihr Anblick schmerzte. Jetzt sah sie schon fünf oder sechs Jahre älter als er aus. Er erinnerte sich an Helaine im Alter von dreizehn oder vierzehn, so jung und strahlend, so naiv, daß sie an die Wunder des Lebens glaubte. Und was war jetzt? Sie war noch keine Vierzig, eingesperrt in vier Wände, und hängte sich wie ein Dämon an ihren schwächlichen, verbitterten Mann, weil er das einzige war, das sie besaß.

Dennoch, sie hatte ihm ein paar brauchbare Informationen gegeben. Quellen war dieser Lanoy nicht aus dem Kopf gegangen, seit ihm der blasse Fremde den gefalteten Zettel zugeschoben hatte. Am nächsten Tag hatte Quellen eine Routineuntersuchung eingeleitet, aber es war nichts Brauchbares dabei herausgekommen. Einen einzelnen Namen konnte der Komputer nicht verarbeiten. Es gab Tausende von Lanoys auf der Welt, und Quellen konnte kaum alle auf eine kriminelle Tätigkeit hin überprüfen. Stichproben hatten nichts ergeben. Und nun kam Helaine mit ihrer intuitiven Überzeugung, daß Lanoy hinter dem Zeitreisegeschäft steckte. Und diese Frau, die sie erwähnt hatte, diese Beth Wisnack — Quellen notierte sich, daß seine Männer sie nochmals befragen sollten. Zweifellos war Beth Wisnack wegen des Verschwindens ihres Mannes bereits verhört worden, aber jetzt würde man gleich nach Lanoy fragen.

Quellen erwog die Möglichkeit, Norm Pomrath bewachen zu lassen, um ihn an einem vorzeitigen Verschwinden zu hindern. Man hatte ihm in recht deutlichen Worten gesagt, daß er Donald Mortensen in Ruhe lassen sollte und daß man keinerlei Einmischung bei irgendwelchen registrierten Zeitreisenden wünschte. Koll hatte den Befehl von Giacomin erhalten, der ihn wiederum von Kloofman persönlich hatte: »Hände weg von Mortensen!«

Sie hatten Angst, die Vergangenheit zu verändern. Quellen konnte die Furcht in ihnen spüren. Sie wurde stärker, je höher man hinaufging. Es lag in seiner Macht, die Säulen des Universums zum Einsturz zu bringen. Man konnte Donald Mortensen zum Beispiel zu einem Verhör bestellen und ihm einen Laserstrahl durch den Kopf jagen.

»Tut mir leid. Er widersetzte sich der Verhaftung und mußte getötet werden.«

Ja. Und dann würde Donald Mortensen niemals am vierten Mai in die Vergangenheit reisen. Was die gesamte Struktur der letzten Jahrhunderte verändern konnte. Sobald ich Mortensen erschieße, dachte Quellen, wird alles anders. Wir werden im Jahre 2257 von einer Armee glitschiger Tausendfüßler aus den Magellan-Wolken erobert — eine Eroberung, die die Nachkommen Donald Mortensens verhindert hätten, wenn ich ihn nicht so leichtsinnig niedergeschossen hätte.

Quellen hatte nicht die Absicht, den Zorn der Hohen Regierung auf sich zu ziehen, indem er in die Abreise Donald Mortensens eingriff. Aber Norm Pomrath stand nicht auf der Liste der Zeitreisenden. Betraf ihn dann Kloofmans Verbot? Mußte Quellen überhaupt alles vermeiden, was zur Verhinderung eines Zeitsprungs führen könnte?

Das war sinnlos. Deshalb kam Quellen zu dem Entschluß, daß er seinen Schwager überwachen konnte, ohne etwas Verbotenes zu tun. Er würde seine Schritte unternehmen, um Norm an der Zeitreise zu hindern. Vielleicht machte es Helaine glücklich. Vielleicht, dachte Quellen, führte es auch tatsächlich zur Lösung dieses unangenehmen Auftrags.

»Ich brauche Brogg«, sagte er in den Tischlautsprecher.

Es stellte sich heraus, daß Brogg gerade außerhalb des Gebäudes eine Untersuchung führte. Leeward, der zweite Untersekretär, betrat Quellens Büro.

Der Kriminalsekretär sagte: »Vielleicht habe ich eine Spur gefunden. Mein Schwager Norm Pomrath soll angeblich den Kontakt von Leuten suchen, die mit der Zeitreise zu tun haben. Ich bin nicht sicher, ob das stimmt, aber ich möchte, daß es überprüft wird. Versehen Sie Pomrath mit einem Horcher und lassen Sie seinen Standort alle vierundzwanzig Stunden per Monitor überprüfen. Wenn er auch nur eine Silbe über die Zeitreise verliert, werden wir unsere Maßnahmen einleiten.«

»Jawohl, Sir«, sagte Leeward gleichgültig.

»Dann ist da noch die Angelegenheit Lanoy. Ist in der Zwischenzeit etwas Neues bekanntgeworden?«

»Noch nicht, Sir.«

»Ich habe erfahren, daß Pomraths angeblicher Kontaktmann dieser Lanoy ist. Das ist also unser Schlüsselwort. Sorgen Sie dafür, daß die Monitoren auf den Namen programmiert werden. Es soll ein Warnzeichen ertönen, sobald Pomrath ihn ausspricht. Und ich möchte, daß man mich dann sofort holt.«

Leeward ging und kümmerte sich um die Aufträge. Das bedeutete das Ende von Norm Pomraths Privatleben. Von jetzt bis zu dem Augenblick, in dem Quellen ihm den Horcher abnehmen ließ, konnte er weder seine Frau umarmen noch sich am Kopf kratzen, ohne daß ein Monitorsystem es aufzeichnete. Scheußlich. Auch Quellen war das Opfer eines solchen Horchers geworden, und er wußte, wie hinterhältig die Methode war. Denn auf diese Weise hatte der schuftige Brogg von der verbotenen Villa Quellens erfahren. Aber Quellen spürte kein eigentliches Bedauern über das, was er Norm Pomrath antat. Es ging um Helaines Wohl. Sie hatte ihn gebeten, Norm ins Gefängnis zu stecken, oder? Das hätte ihm noch viel weniger zugesagt. So hingegen würde er von der Verfolgung höchstwahrscheinlich nie erfahren. Und es konnte sein, daß er Quellen an den Ursprung des Zeitreise-Systems brachte. Auf alle Fälle würde es Pomrath schwerfallen, die Gegenwart zu verlassen, solange er überwacht wurde.

Quellen ließ das Problem Pomrath für den Augenblick ruhen und wandte sich dringenderen Sachen zu. Die allgemeinen Verbrechensberichte des Tages waren auf seinem Schreibtisch gelandet. So sehr er sich mit dem Zeitreise-Auftrag beschäftigte, er hatte doch noch andere Pflichten. So mußte er alle Einzelheiten über Verbrechen nachlesen, die in seinem Bereich in Appalachia verübt wurden. Der Aktenstoß war jeden Tag gleich groß. Und Quellen wußte, daß auch die Verbrechen im großen und ganzen die gleichen sein würden.

Er blätterte die Aufzeichnungen durch.

Das Schlimmste daran war, daß ihn die Berichte nicht mehr schockierten. Von Jahr zu Jahr wurde er weniger empfindlich. Als er noch neu im Amt war, ein blutiger Anfänger der Klasse Elf, hatte ihn das Ausmaß an menschlicher Grausamkeit betäubt. Jetzt sah er nur noch Statistik darin, numerierte Bänder, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hatten.

Die Verbrechen erschienen ohne Motiv. Die Hohe Regierung hatte fast alle Ursachen der früheren Verbrechen abgeschafft — Hunger, Not, unbefriedigte Triebe. Jeder erhielt sein Geld, ob er Arbeit hatte oder nicht, und es gab genug Nahrung für alle, gesunde, wenn auch nicht besonders schmackhafte Kost. Niemand wurde zu Raub oder Diebstahl gezwungen, weil seine Familie am Verhungern war. Drogen für Süchtige waren überall zu haben. Die Regierung sorgte dafür, daß Bedürfnisse aller Art befriedigt werden konnten. Es hieß daß diese Maßnahmen ein Zeichen der Reife seien. Dadurch, daß die Hohe Regierung fast alle Dinge genehmigte, mußte niemand ein Verbrechen begehen. Denn das Verbotene reizt mehr als das Erlaubte.

Sicher. Die Motive für ein Verbrechen waren zum größten Teil ausgeschaltet. Aber das Verbrechen selbst blieb. Quellen hatte genügend Beweise für diese düstere Tatsache. Diebstahl, Mord, Vergewaltigungen — jetzt waren sie eine Art Sport. Man brauchte keinen zwingenden Grund mehr. Besonders das höhere Bürgertum war voll von heimlichen Verbrechern. Respektierliche Klasse-Sechs-Bürger ließen sich die schrecklichsten Dinge einfallen. Dicke Matronen aus Klasse Fünf lauerten Fremden in dunklen Seitenwegen auf. Kinder nahmen an Scheußlichkeiten teil. Sogar Gesetzesvertreter umgingen das Gesetz. Sie bauten sich heimlich Häuser in Gebieten, die für Angehörige der Klasse Zwei vorbehalten waren. Aber Quellens Verbrechen tat wenigstens den anderen Menschen nicht weh. Während andere …

Da war ein Bericht über einen Mann, der an den Hydroponikanlagen arbeitete. Er hatte ein biologisches Verbrechen begangen: Er hatte in den Körper eines anderen Menschen lebende Materie verpflanzt. Es hieß, daß er einen Kollegen betäubt und mittels einer Ultraschall-Sonde eine tödliche Dosis einer neuentwickelten asiatischen Fleischfresser-Art eingeführt hatte. Diese Pflanze hatte nach und nach das ganze Kreislaufsystem des Opfers zerfressen. Und weshalb hatte der Mann das getan? »Weil ich seine Reaktion sehen wollte«, erklärte er.

Da war ein Klasse-Sechs-Lehrer an einer großen Universität in Appalachia, der ein junges Mädchen in sein luxuriöses Apartment eingeladen hatte und verführen wollte. Als sie sich weigerte, betäubte er ihr Schmerzzentrum und verstümmelte sie für immer. Weshalb? »Eine Sache des männlichen Stolzes«, erklärte er dem Beamten, der ihn verhaftete.

Er hatte seinem Stolz Genüge getan. Aber das Mädchen würde nie wieder Freude oder Schmerz empfinden können, wenn ihr die Ärzte nicht halfen.

Und hier überflog Quellen den Bericht von einer kultischen Veranstaltung, die in einer Tragödie geendet hatte, statt in mystischer Verklärung. Ein Anhänger des Erbrechens-Kultes hatte in seine Schale drei Kristalle pseudolebenden Glases geworfen, bevor er sie weitergab. Das Glas, das sich in der entsprechenden Umgebung ausdehnte, hatte die inneren Organe der Opfer durchdrungen. »Es war alles ein schrecklicher Irrtum«, erklärte der Verbrecher. »Meine Absicht war es, selbst einen der Kristalle zu schlucken und mit ihnen den Schmerz und die endgültige Loslösung zu teilen.«

Die Geschichte entsetzte Quellen besonders. Die meisten dieser Alpträume ließen ihn unberührt, aber zufällig war Judith eine Anhängerin dieses Kultes, und seit Helaines Besuch spukte Judith dauernd in seinen Gedanken herum. Quellen hatte sie seit seiner letzten Rückkehr aus Afrika weder gesehen noch gesprochen. Und Judith hätte leicht ein Opfer dieser teuflischen Glaskristalle sein können. Vielleicht sogar ich, dachte Quellen entsetzt. Ich muß Judith bald einmal anrufen. Ich habe sie in letzter Zeit vernachlässigt.

Er blätterte weiter die Berichte durch.

Nicht alle Verbrechen waren so phantasievoll. Da war das übliche Quantum an Raufereien, Messerstechereien, Lasertoten und ähnlichem. Aber der Bereich, in dem sich die Verbrechen abspielten, war ungeheuer groß, und besonders ausgeprägte Scheußlichkeiten bildeten ein Charakteristikum der Zeit. Quellen legte ein Blatt nach dem anderen zur Seite, schrieb hier eine Bemerkung und dort eine Empfehlung dazu. Dann schob er das Material weg.

Er hatte bisher noch keine Gelegenheit gehabt, die Spule mit Material B durchzusehen, die Brogg für die Zeitreise-Untersuchung hergerichtet hatte. Brogg hatte gesagt, sie enthielte Beweise von Zeitreisen außerhalb der Zeitzone von 1979 bis 2106. Quellen legte die Spule ein und lehnte sich zurück, um sie zu betrachten.

Brogg hatte gewissenhaft Hunderte von Erzählungen geheimnisvoller Vorkommnisse und Spukerscheinungen gesammelt, die man als Zeitreisen auslegen konnte. Er hatte sich unendliche Mühe gegeben. »Es liegt der Gedanke nahe«, hatte Brogg geschrieben, »daß die Hauptperiode der Zeitreisen innerhalb der vergangenen fünfhundert Jahre liegt, daß es aber Fälle gibt, in denen Zeitwanderer in eine sehr viel früher liegende Periode geschickt wurden.«

Schon möglich, dachte Quellen. Er sah sich die Berichte an.

Material: Zeugnis des Chronisten Giraldus Cambrensis, geboren auf Schloß Manorbier in Pembrokeshire um 1146 nach Christus. Giraldus berichtete von einem rothaarigen jungen Mann, der unerwartet im Schloß eines Ritters namens Eliodore de Stakepole in Westwales auftauchte:


Dieser merkwürdige Mann sagte, sein Name sei Simon. Er übernahm die Schlüssel des Seneschalls und auch dessen Stelle. Doch er war ein so kluger und kunstfertiger Bediensteter, daß im Hause nie etwas verlorenging oder fehlte. Und das Anwesen blühte auf. Wenn der Herr oder die Herrin etwas wünschten, so hatten sie es noch nicht ausgesprochen, als er schon ihre Gedanken las und sich sofort auf den Weg machte, ohne erst den Befehl abzuwarten. Er wußte, wo sie ihr Gold und ihre Edelsteine verborgen hatten. Und er sprach des öfteren zu ihnen: »Wozu diese kleinliche Horten von Gold und Silber? Ist das Leben nicht kurz? Darum macht es euch schön, gebt euer Gold aus, sonst scheidet ihr hin, ohne das Leben und das Gut genossen zu haben, das ihr so geizig verwahrt.« Er sah darauf, daß es das Gesinde und die Bauern gut hatten, und ließ ihnen ausgewählte Speisen und Getränke zukommen … Dieser merkwürdige rothaarige Mann setzte keinen Fuß über eine Kirchenschwelle, er besaß kein Brevier, und er brachte kein katholisches Wort über die Lippen. Er hegte auch keine religiösen Gefühle. Er schlief nicht im Herrenhaus. Aber er war doch stets bereit, wenn er irgendwo gebraucht wurde.


Der Chronist berichtet weiter, daß die Stakepole-Kinder auf den geheimnisvollen Simon aufmerksam wurden und ihn heimlich zu beobachten begannen.


Und eines Nachts, als sie hinter einem Hollerbusch hervorlugten, während der fremde Mann in das stille Wasser des Mühlteiches starrte, sahen sie, wie er die Lippen bewegte, als spräche er mit einem Unbekannten.

Das berichteten sie ihrem Vater, und der tugendsame Ritter handelte.

Als sie ihm die Schlüssel abnahmen, fragte die Hausherrin: ›Wer seid Ihr?‹

Er erwiderte: ›Gezeugt hat mich eine Bauersfrau dieser Gemeinde, der ein Dämon in Gestalt ihres eigenen Ehgemahls beischlief.‹

Er nannte den genarrten Mann mit Namen, und es stellte sich heraus, daß er seit einiger Zeit tot war. Die Mutter lebte noch, und als man sie streng befragte, bekannte sie die Tat in einem öffentlichen Geständnis.


Interessant, dachte Quellen. Woher hat Brogg diese Dinge? Es konnte sich bei dem Rothaarigen sehr gut um einen Zeitreisenden handeln, der durch einen Zufall zu weit in die Vergangenheit geraten war. Und es gab noch mehr Zeugnisse von Chronisten aus Klöstern. Nach Broggs Zusammenstellung war das zwölfte und dreizehnte Jahrhundert eine wahre Fundgrube für solche unerklärlichen Fälle. Und es waren nicht immer nur Menschen aufgetaucht. Quellen las einen Bericht aus dem Jahre 1171, der im Eulogium Historiarium der Malmesbury-Abtei stand:


In der Weihnacht, der Geburtsstunde des Herrn, vernahm man Donner und Blitz wie noch nie zuvor. Und zu Andover wurde ein Pfaffe um Mitternacht vor versammelter Gemeinde vom Blitz niedergeschlagen, ohne daß er verletzt wurde … und zwischen seinen Füßen lief ein Wesen hin und her, das wie ein Schwein aussah …


Brogg hatte einen Parallelfall in den Annales Francorum Regium des Mönches Bertin gefunden. In einem Eintrag des Jahres 856 stand zu lesen:


Im August las Teotogaudus, Bischof zu Trier, vor Klerikern und Laien das Hochamt, als eine gar schreckliche Wolke, begleitet von Donner und Blitz, die ganze Kirchengemeinde erschreckte und das Geläute der Glocken übertönte. Die ganze Kirche wurde so von Dunkelheit erfüllt, daß die Menschen kaum ihre Nachbarn sehen konnten. Und plötzlich erschien ein riesiger Hund aus einer Öffnung in der Erde und rannte um den Altar herum.


Schweine? Hunde? Ob es die ersten Versuche waren, Lebewesen in die Vergangenheit zu befördern? Er konnte sich vorstellen, daß die Maschine noch neu und unerprobt war und daß man zuerst Tiere in das Feld gebracht hatte. Diese Tiere waren es dann, die die abergläubischen Menschen des Mittelalters zu Tode erschreckt hatten. Wahrscheinlich waren anfangs Irrtümer in der Berechnung der Zeit noch häufig vorgekommen, denn mit Absicht hatten die Erfinder der Maschine die Tiere und Menschen bestimmt nicht in ein Zeitalter jenseits der Industrierevolution versetzt.

Aber Broggs Material enthielt nicht nur Episoden aus dem Mittelalter. Eine ganze Menge Beispiele stammten aus späteren Zeiten. Quellen studierte den Fall eines jungen Mädchens, das an einem Aprilabend im Jahre 1817 vor einer Hütte in Bristol erschienen war und in »einer fremden Sprache« um Essen gebettelt hatte.

Woher wußte man dann, was sie wollte? Die Spule gab keine Antwort darauf. Quellen erfuhr statt dessen, daß man das unverständlich redende Mädchen vor den Magistrat, einen gewissen Samuel Worral, gebracht hatte, der sie zu sich ins Haus nahm, anstatt sie wegen Landstreicherei zu verhaften. (Verdächtig! fand Quellen.) Er fragte sie gründlich aus. Sie schrieb ihre Antworten in einer unbekannten Schrift, die Symbole wie Kämme, Vogelkäfige und Bratpfannen aufwies. Sprachforscher versuchten ihre Worte zu analysieren. Schließlich kam ein Mann, den man als »Gentleman aus Westindien« beschrieb. Er befragte sie in malayischer Sprache und bekam verständliche Antworten.

Sie sei, so erklärte sie, die Prinzessin Caraboo, die von Piraten aus ihrer javanischen Heimat entführt worden war und nach vielen Abenteuern in England an Land flüchten konnte. Durch den »Gentleman aus Westindien« übermittelte die Prinzessin viele Einzelheiten des Lebens in Java. Dann aber meldete sich eine Frau aus Devonshire, eine gewisse Mrs. Willcocks, die erklärte, bei dem Mädchen handle es sich in Wirklichkeit um ihre im Jahre 1791 geborene Tochter Mary. Mary Willcocks gestand ihren Betrug und wanderte nach Amerika aus.

Brogg hatte einen Zettel beigelegt, auf dem er zu folgendem Schluß kam:

»Wegen der Behörden mußte hier ein komplizierter Betrug stattfinden. Ein Mädchen erschien auf geheimnisvolle Weise. Ein Mann meldete sich und behauptete, ihre Sprache zu verstehen. Eine ältere Frau erklärte alles als Schwindel. Aber die Berichte stimmen nicht. Das Mädchen könnte eine Besucherin aus der Zukunft gewesen sein und der ›Gentleman aus Westindien‹ ein weiterer Zeitwanderer, der versuchte, ihre Herkunft zu verschleiern, indem er sie als Prinzessin von Java ausgab. Als die Sache allmählich gefährlich wurde, trat eine dritte Zeitreisende auf, die retten wollte, was noch zu retten war. Wie viele Zeitreisende gab es wohl im Jahre 1817?«

Quellen hatte das Gefühl, daß Brogg eine etwas zu rege Phantasie besaß. Er sah sich den nächsten Fall an.

Cagliostro: Er erschien in London, später in Paris und sprach mit einem unbekannten Akzent. Überirdische Kräfte. Aggressiv, begabt, unkonventionell. Man beschuldigte ihn, daß er in Wirklichkeit Joseph Balsamo, ein sizilianischer Bandit sei. Man konnte es jedoch nie beweisen. Er verdiente sich im Europa des achtzehnten Jahrhunderts einen schönen Batzen Geld, indem er mit alchimistischen Pülverchen, Liebestränken, Jugendelixieren und anderen Mitteln handelte. Er wurde leichtsinnig, kam 1785 in die Bastille, floh, besuchte andere Länder, wurde wieder verhaftet und starb 1795 im Gefängnis. Ein Betrüger? Ein Quacksalber? Ein Zeitreisender? Alles war möglich. Alles, dachte Quellen traurig, sobald man sich einmal näher mit diesen Vorfällen befaßte.

Kaspar Hauser: Er schwankte an einem Mainachmittag des Jahres 1828 durch die Straßen von Nürnberg. Offensichtlich sechzehn bis siebzehn Jahre alt. (Etwas jung für einen Zeitreisenden, dachte Quellen. Vielleicht täuschte die Erscheinung.) Er konnte nur zwei Sätze in deutscher Sprache sagen. Als man ihm einen Bleistift und Papier gab, schrieb er: »Kaspar Hauser«. Man nahm an, daß dies sein Name sei. Er kannte die einfachsten Gegenstände nicht und war mit dem Alltagsleben nicht im geringsten vertraut. Zweifellos durch einen Irrtum der Zeitmaschine in der falschen Epoche gelandet.

Aber er lernte schnell. Eine Zeitlang behielt man ihn wegen Landstreicherei im Gefängnis, dann übergab man ihn einem Lehrer, Professor Daumer. Er lernte ausgezeichnet Deutsch und schrieb einen autobiographischen Bericht, in dem er erklärte, er sei in einer kleinen dunklen Zelle aufgewachsen und habe von Brot und Wasser gelebt. Aber der Polizist, der ihn gefunden hatte, erklärte: »Er hatte eine gesunde Gesichtsfarbe. Er erschien weder blaß noch schwach wie jemand, der längere Zeit eingesperrt gewesen war.«

Viele Widersprüche. Ganz Europa horchte auf. Jeder hatte seine eigene Version über die geheimnisvolle Herkunft des Kaspar Hauser. Einige sagten, er sei der Kronprinz von Baden, den die morganatische Frau des Großherzogs hatte entführen lassen. Das wurde geleugnet. Schließlich erbrachte man sogar einen Gegenbeweis. Andere behaupteten, er sei ein Schlafwandler oder Verrückter. Oktober 1829: Kaspar Hauser wird mit einer Wunde an der Stirn aufgefunden, die ihm angeblich ein Mann in einer schwarzen Maske beigebracht hat. Polizisten bewachen ihn. Verschiedene weitere Attentate. 14. Dezember 1833: Kaspar Hauser wird sterbend in einem Park gefunden. Er hat eine tiefe Stichwunde in der linken Brust. Behauptet, ein Fremder habe ihn angegriffen. Im Park wird nicht die Spur einer Waffe gefunden. Auch Fußabdrücke sind nicht zu sehen. Man vermutet, daß er sich die Wunde selbst beigebracht hat. Ein paar Tage später stirbt er mit den Worten: »Mein Gott! Daß ich so in Schmach und Schande sterben muß!«

Quellen spannte die Spule aus. Schweine, Hunde, Prinzessin Caraboo, Kaspar Hauser — es war ganz unterhaltend. Man konnte zu der Überzeugung kommen, daß in der ganzen menschlichen Geschichte Zeitreisende herumirrten — nicht nur in einer Periode zwischen 1979 und 2106. Schön. Aber diese Tatsachen trugen wenig dazu bei, Quellens unmittelbare Probleme zu lösen.

Er wählte Judiths Nummer. Ihr Gesicht erschien auf dem Bildschirm, blaß, nüchtern, ernst. Man konnte Judith keineswegs hübsch nennen. Ihr Nasenansatz war zu hoch, die Stirn etwas vorgewölbt, die Lippen wirkten schmal, und das Kinn war zu lang. Ihre Augen standen sehr weit auseinander. Aber dennoch war sie sehr anziehend. Quellen hatte schon ernsthaft überlegt, ob er sich in sie verlieben sollte. Doch das hatte seine Schattenseiten. Wenn er einem Menschen seine Gefühle anvertraute, mußte er über kurz oder lang sein Versteck in Afrika verraten. Und das wollte er nicht. Judith dachte sehr streng. Sie würde ihn vielleicht anzeigen.

»Hast du dich vor mir versteckt, Joe?« fragte sie.

»Ich war sehr beschäftigt. Arbeit über Arbeit. Es tut mir leid, Judith.«

»Übernimm dich nicht. Ich bin auch allein ganz gut zurechtgekommen.«

»Das glaube ich gern. Was macht dein Arzt?«

»Dr. Galuber? Dem geht es gut. Er würde dich gern kennenlernen, Joe.«

Quellen versteifte sich. »Tut mir leid, Judith, ich glaube nicht, daß ich eine therapeutische Behandlung brauche.«

»Schon zum zweitenmal, daß dir etwas leid tut.«

»Es tut mir …«, begann Quellen, und dann lachten sie beide.

»Du solltest Dr. Galuber auch privat kennenlernen«, sagte Judith. »Er kommt zu unserem nächsten Treffen.«

»Und wann findet das statt?«

»Heute abend. Kommst du hin?«

»Du weißt, daß ich den Erbrechens-Kult nicht sonderlich reizvoll finde, Judith.«

Sie lächelte frostig. »Ich weiß. Aber es wird Zeit, daß du ein wenig aus deinem Schneckenhaus hervorkommst. Du bist zu viel allein, Joe. Wenn du Junggeselle bleiben willst, ist das deine Sache, aber deswegen brauchst du doch nicht gleich wie ein Eremit zu leben.«

»Wenn ich eine Münze in einen therapeutischen Komputer stecke, bekomme ich den gleichen tiefschürfenden Rat.«

»Schon möglich. Kommst du nun zu unserem Treffen?«

Quellen dachte an den Fall, den er erst vor einer Stunde studiert hatte — an dem ein Kult-Teilnehmer Glaskristalle verteilt und die Todesqualen seiner Kultgenossen beobachtet hatte. Er stellte sich vor, wie er sich vor Schmerzen wand, während Judith herzzerbrechend weinte und klagte, wie es ihr Kult gebot.

Er seufzte. Eigentlich hatte sie recht. In letzter Zeit hatte er zu allein gelebt. Er mußte einmal von der Arbeit Abstand gewinnen.

»Gut«, sagte er. »Ich komme zu eurem Treffen, Judith.«

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