11

Am nächsten Morgen warteten Quellens Untersekretäre bereits in seinem Büro. Sie hatten einen dritten Mann bei sich, einen großen, unbeholfenen, schäbig gekleideten Fremden, dessen geknicktes Nasenbein an einen Geierschnabel erinnerte. Brogg hatte, wie Quellen bemerkte, die Sauerstoffzufuhr voll aufgedreht.

»Wer ist der Mann?« fragte Quellen. »Sie haben eine Verhaftung durchgeführt?« Sollte das etwa Lanoy sein? Es kam ihm unwahrscheinlich vor. Dieser armselige Prolet, der sich offenbar nicht einmal eine Plastikoperation für seine Nase leisten konnte, steckte keinesfalls hinter dem Zeitreisengeschäft.

»Sagen Sie dem Kriminalsekretär, wie Sie heißen«, meinte Brogg und stieß den Mann grob mit dem Ellbogen an.

»Brand«, erklärte der Fremde mit hoher, dünner Stimme. »Klasse Fünfzehn. Ich wollte wirklich nichts Unrechtes tun, Sir — es war nur so, daß er mir eine eigene Wohnung versprochen hat und Arbeit und frische Luft …«

Brogg unterbrach ihn. »Wir fanden den Mann in einem Lokal. Er hatte ein paar zu viel getrunken und erzählte jedem, daß er nun bald Arbeit bekommen würde.«

»Das sagte mir der Mann doch auch«, murmelte Brand. »Ich brauchte ihm nur zweihundert Credits hinzublättern, und er wollte mich an einen Ort schicken, wo jeder Arbeit hatte. Und ich sollte auch Geld zurückschicken können, um meine Familie nachkommen zu lassen.«

»Das kann nicht stimmen«, sagte Quellen. »Geld zurückschicken? In die andere Zeitrichtung?«

»Das sagte der Mann. Es hat so verlockend geklungen, Sir.«

»Verrückt«, sagte Brogg. »Wenn es einen Kontakt nach beiden Seiten gibt, werden unsere ganzen Berechnungen über den Haufen geworfen. Aber es ist einfach unmöglich.«

»Wie hieß der Mann?« erkundigte sich Quellen.

»Lanoy, Sir.«

Lanoy! Überall dieser Lanoy. Offenbar streckte er seine Fühler in alle Richtungen aus.

Brand murmelte: »Jemand hat mir das da gegeben und gesagt, ich solle mich mit ihm in Verbindung setzen.«

Er streckte Quellen eine verknitterte Notiz entgegen.


KEINE ARBEIT?
FRAGEN SIE NACH LANOY

»Diese Dinger sind überall«, sagte Quellen. Er griff in seine Tasche und holte den Zettel heraus, den man ihm auf der Flugrampe zugesteckt hatte. Er trug ihn jetzt schon seit ein paar Tagen wie einen Talismann mit sich herum. Nun legte er die beiden Zettel nebeneinander. Sie waren identisch.

»Lanoy hat eine Menge meiner Freunde fortgeschickt«, sagte Brand. »Er sagte mir, daß sie alle Arbeit hätten und glücklich seien, Sir …«

»Wohin schickt er sie denn?« fragte Quellen vorsichtig.

»Ich weiß nicht, Sir. Lanoy wollte es mir sagen, wenn ich ihm die zweihundert Credits brachte. Ich kratzte meine ganzen Ersparnisse zusammen. Ich war gerade auf dem Weg zu ihm und ging nur noch auf einen Sprung in das Lokal, und dann — und dann …«

»Dann fanden wir ihn«, ergänzte Brogg. »Er erzählte allen Umstehenden, daß er jetzt zu Lanoy ginge, um sich Arbeit geben zu lassen.«

»Hm. Haben Sie schon etwas von den Zeitreisenden gehört, Brand?«

»Nein, Sir.«

»Na ja, ist schon gut. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie bringen uns zu Lanoy.«

»Das kann ich nicht. Es wäre unfair. Alle meine Freunde …«

»Und wenn wir Sie zwingen?«

»Aber er wollte mir doch Arbeit verschaffen. Ich kann es nicht tun. Bitte, Sir.«

Brogg sah Quellen scharf an. »Lassen Sie mich es versuchen«, sagte er. »Lanoy wollte Ihnen also Arbeit geben, sagen Sie? Für zweihundert Credits?«

»Jawohl, Sir.«

»Und wenn ich Ihnen nun verspreche, daß Sie von uns umsonst Arbeit bekommen? Überhaupt keine Gebühr. Nur müssen Sie uns zu Lanoy bringen. Wir schicken Sie dann dahin, wo Lanoy Sie hingeschickt hätte. Und Ihre Familie kann kostenlos mitkommen.«

Quellen lächelte. Wenn es um die niedrigen Proletenklassen ging, war Brogg der bessere Psychologe. Soviel mußte man ihm zugestehen.

»Klingt fair«, meinte Brand. »Aber ich habe kein gutes Gefühl dabei. Lanoy war sehr nett zu mir. Doch wenn ich umsonst …«

»Ganz richtig, Brand.«

»Also gut, ich mache mit. Es ist wohl das einzig Mögliche.«

Quellen drehte die Sauerstoffzufuhr etwas zu. Brogg gab Leeward einen Wink, und der Untersekretär brachte Brand hinaus. »Unternehmen wir etwas, bevor er es sich anders überlegt«, sagte Quellen. »Er scheint noch zu schwanken.«

»Wollen Sie denn mitkommen, Sir?« fragte Brogg. In seinem unterwürfigen Tonfall war nur eine winzige Spur von Sarkasmus. »Es ist wahrscheinlich ein ziemlich schmutziger Stadtteil. Die Verbrecherviertel …«

Quellen runzelte die Stirn. »Sie haben recht«, sagte er. »Ich brauche nicht mitzukommen. Nehmt ihr beide ihn fest. Ich habe im Hause genug zu tun.«

Sobald sie gegangen waren, ließ sich Quellen bei Koll melden.

»Wir haben eine heiße Spur«, sagte er. »Brogg und Leeward haben einen Mann verhaftet, der mit Lanoy Kontakt aufnehmen wollte. Er bringt sie zu dem Mann.«

»Gute Arbeit«, sagte Koll kühl. »Das wird sicher eine interessante Untersuchung.«

»Ich erstatte Ihnen Bericht, sobald …«

»Lassen Sie das Thema eine Zeitlang ruhen. Spanner und ich diskutieren gerade über Verschiebungen innerhalb der Abteilung. Wir möchten in der nächsten Stunde nicht gestört werden.« Er legte auf.

Was sollte das nun wieder heißen? fragte sich Quellen. Die Kälte in Kolls Stimme — nun, es war nichts Ungewöhnliches, aber es war doch bedeutsam. Koll hatte ihn die ganze Woche wegen der Zeitreisengeschichte auf Trab gehalten. Und nun, da sie endlich einen Fortschritt gemacht hatten, nun, da sie einen Mann erwischt hatten, der sie zu dem geheimnisvollen Lanoy bringen konnte — da zeigte sich Koll ablehnend und völlig desinteressiert. Koll verbirgt etwas, dachte Quellen.

Sein Gewissen plagte ihn. Sofort kam das Mißtrauen wieder: Koll weiß über Afrika Bescheid. Die Reise, die ich letzte Nacht machte, wurde registriert. Es war das letzte Beweisstück, das er gegen mich brauchte. Jetzt werden sie die Verhaftung besprechen.

Zweifellos hatte man Brogg einen größeren Preis geboten, um sein Schweigen zu brechen. Und nun wußte Koll alles. Degradierung war das mindeste, was ihn erwartete.

Quellens Verbrechen war einmalig. Soviel er wußte, hatte es keiner außer ihm fertiggebracht, einen Weg aus dem überfüllten Appalachia zu finden, aus diesem steinernen Ungetüm, das sich über die östliche Hälfte Nordamerikas erstreckte. Von all den Millionen Einwohnern Appalachias hatte nur Joseph Quellen, Kriminalsekretär, die Klugheit besessen, ein Stück unregistriertes Land im Herzen Afrikas zu finden und sich dort ein zweites Heim zu bauen. Er konnte stolz darauf sein. Er besaß das übliche Klasse-Sieben-Apartment in Appalachia und eine Klasse-Zwei-Villa, von der die meisten Sterblichen nur träumten. Eine Villa an einem dunklen Strom im Kongo. Es war ein herrliches Leben für einen Mann, der gegen die höllischen Bedingungen von Appalachia rebellierte.

Aber es kostete viel Geld, wenn man Mitwisser bestechen mußte. Quellen bewegte sich auf sehr dünnem Eis.

Eine Degradierung hatte zur Folge, daß er sein Einzelapartment nicht mehr behalten durfte, daß er sein Heim wieder mit einem Marok teilen mußte.

Es war nicht so schlimm gewesen, als Quellen noch Klasse Zwölf und darunter war. Einem jungen Menschen machte die Gegenwart anderer nicht so viel aus. Er hatte in Junggesellen-Schlafsälen gehaust, ohne sich etwas dabei zu denken. Aber sobald er Klasse Acht erreicht hatte und mit einem einzigen Zimmergefährten eine Wohnung benutzen mußte, konnte er es kaum ertragen.

Auf seine Art war Marok bestimmt ein netter Kerl gewesen, überlegte Quellen. Aber er war ihm mit seiner Lässigkeit und Schlamperei auf die Nerven gegangen. Seine dauernde Anwesenheit und seine dauernden Telefongespräche hatten Quellen an den Rand der Verzweiflung gebracht. Quellen hatte sich nach dem Tag gesehnt, an dem er Klasse Sieben erreichen würde und für sich leben konnte. Er wollte frei sein — frei, um sich vor der Masse zu verstecken.

Wußte Koll die Wahrheit? Quellen würde es bald erfahren.

Unruhig ging er durch den langen Korridor zu den Monitorräumen. Er konnte ebensogut nachsehen, was man inzwischen über Norm erfahren hatte. Das braune Metalltor glitt zur Seite, als Quellen seine Handfläche auf die Identifizierungsscheibe preßte. Er ging hinein. Überall summten Instrumente. Techniker begrüßten ihn. In der Luft war der Geruch eines antiseptischen Mittels. Man kam sich wie in einem Krankenhaus vor.

»Zum Pomrath-Monitor«, sagte Quellen.

»Hier entlang, Herr Kriminalsekretär.«

»Wer hört ihn ab?«

»Er läuft auf Automatik, Sir. Da sind wir schon.« Der Mann rückte ihm einen Pneumostuhl zurecht. Quellen ließ sich vor dem Tonband nieder. »Wollen Sie sich direkt einschalten?« fragte der Techniker. »Oder möchten Sie abhören, was wir vergangene Nacht aufgenommen haben?«

»Etwas von jedem.«

»Hier ist das Direktband und hier …«

»Ich weiß. Ich habe den Monitor schon benutzt.«

Der Techniker wurde rot und ging schnell weg. Quellen schaltete sich zuerst in das Direktband ein, aber er machte seinen Entschluß sofort rückgängig. Sein Schwager ging einer sehr menschlichen Tätigkeit nach. Quellen biß sich auf die Lippen. Mit schnellen, eckigen Bewegungen schaltete er das Band ein, auf das Pomraths Tun aufgenommen wurde, seit Brogg ihm den Horcher verpaßt hatte.

Quellen konnte natürlich nicht alles abhören. Er mußte eine gewisse Auswahl treffen. Wenn er das Band so überflog, fand sich bemerkenswert wenig Konversation. Pomrath war gestern abend in einer Traumbar gewesen. Anschließend war er heimgegangen und hatte mit Helaine gestritten. Quellen hörte zu.

POMRATH: Das ist mir völlig egal. Ich brauche meine Erholung.

HELAINE: Aber wir haben mit dem Abendessen auf dich gewartet. Und du kommst mit Drogen vollgepumpt an. Du hast nicht einmal Appetit.

POMRATH: Na und? Ich bin jetzt hier. Bring dein Abendessen. Ich werde es schon herunterwürgen.

Es kam noch mehr von der Sorte. Kleinliches Gezänk. Quellen übersprang eine Viertelstunde und merkte, daß sie immer noch stritten. Zwischen ihren Stimmen hörte man das Schluchzen seines kleinen Neffen und die verärgerten Kommentare Marinas. Es tat Quellen weh, daß die Familienstreitereien seiner Verwandten so gewöhnlich waren. Er ließ das Band schneller ablaufen. Nun wurden die Geräusche anders. Ein hartes, schnelles Atmen. Helaine seufzte.

POMRATH: Zufrieden, Liebling?

HELAINE: Ach, Norm!

Quellen sah peinlich berührt zu Boden. Seine Gefühle waren gemischt, als er auf die nächtlichen Gespräche seiner Schwester und seines Schwagers horchte. Einmal schämte er sich, zum anderen aber konnte er sich nicht dazu überwinden, das Band abzuschalten. Und so saß er unschlüssig da, während das Flüstern immer intimer wurde.

Ich sollte diesen Teil löschen, dachte Quellen. Wie entsetzlich neugierig wir manchmal sein können!

Mit einer entschlossenen Geste ließ er das Band schneller laufen. Nichts als die Geräusche von Schlafenden. Dann der Morgen. Die Kinder tappten umher. Pomrath trat unter die Molekülbrause. Helaine gähnte und fragte, welches Frühstück sie programmieren sollte.

POMRATH: Ich gehe heute früh aus.

HELAINE: Glaubst du, daß dieser Arbeitsvermittler etwas für dich hat?

POMRATH: Welcher Arbeitsvermittler?

HELAINE: Du weißt schon, der Zettel, den du bei dir hattest. Der Mann wollte dir doch Arbeit verschaffen.

POMRATH: Ach so, der.

Quellen wartete gespannt. Die Geräte zeigten eine ungewöhnliche Erregung bei Pomrath an. Sein Puls stieg an, ebenso seine Körpertemperatur. Dennoch schloß die Unterhaltung, ohne daß ein Wort über Lanoy gefallen wäre. Quellen übersprang wieder ein Stück. Er näherte sich der Direktübertragung.

POMRATH: Sie können mich doch zu Lanoy bringen, nicht wahr?

Der Monitor war so programmiert, daß eine Alarmanlage ausgelöst wurde, sobald das Wort »Lanoy« fiel. Ein winziges Zögern, bis der Komputer das Wort analysiert hatte, und dann ertönte das Zeichen. Ein rotes Licht blinkte auf dem Monitor-Schaltbrett. Eine Warnglocke rasselte. Dong! Dong!

Die Techniker kamen herbeigelaufen.

Dong.

»Schon gut«, sagte Quellen. »Ich überwache das Gerät. Schalten Sie diesen lästigen Alarm ab.«

Dong! Dong!

Quellen beugte sich vor. Auf seinen Handflächen stand Schweiß, als er zuhörte, wie sein Schwager die Familie doch betrog.


* * *

Pomrath war an diesem Morgen eine beträchtliche Strecke gefahren, ohne natürlich zu ahnen, daß seine Bewegungen ins Hauptquartier des Kriminalsekretariats übertragen wurden und daß man seine Worte und sogar seinen Herzschlag registrierte.

In den vergangenen Tagen, noch bevor der Horcher angebracht war, hatte er eine Menge Fragen gestellt. Die Zettel, die Lanoys Dienste anboten, waren ziemlich weit verbreitet. Aber eine Auskunft über Lanoys tatsächlichen Aufenthaltsort war nicht so leicht zu bekommen. Doch Pomrath besaß Ausdauer.

Er war jetzt entschlossen zu gehen.

Er konnte nicht mehr. Für Helaine und die Kinder war es natürlich scheußlich. Sie würden ihm sehr fehlen. Aber er hatte die Nase voll, und er spürte selbst, daß er am Rande eines Zusammenbruchs stand. Worte begannen ihre Bedeutung zu verlieren. Er konnte eine halbe Stunde ein Nachrichtenband anstarren, ohne die Bedeutung der Symbole auf dem gelben Kunststoff zu erfassen. Für ihn waren sie zu wimmelnden Mikroben geworden. KLOOFMAN. ARBEITSLOSIGKEIT. STEUERERHÖHUNG. DANTON. MANKLOOF. LOSKEITARBETIG. TONDAN. STEUER. KL. OOF. LOS. Tanzende kleine Tierchen. STEU. HÖH. Er mußte weg von hier. Endgültig weg. ANTO. ARBEI. FLOOK. FLOOK! FLOOK!

KLOOF!

Eine einfachere Welt, das war es, was er brauchte. Er mußte an einen Ort, den die Menschheit noch nicht verseucht hatte. Jawohl. Lanoy war die Antwort. Pomraths Kopf schmerzte. Er hatte das Gefühl, daß seine Stirnadern anschwollen. »Können Sie mir sagen, wo ich Lanoy finde?« Sein Kopf würde platzen. Das Gehirn würde plötzlich auf der Straße liegen. »Ich habe keine Arbeit. Ich muß Lanoy sprechen.« FLOOK! KLOOF! »Lanoy?«

Ein untersetzter Mann mit teigigem Gesicht, dessen untere Zähne herausgefault waren, sagte: »Ich bringe Sie zu Lanoy. Macht vier Units.«

Pomrath gab sie ihm. »Wohin muß ich gehen? Was muß ich tun?«

»Nehmen Sie das Schnellboot. Linie Sechzehn.«

»Und wo steige ich aus?«

»Steigen Sie erst einmal ein. Alles Weitere ergibt sich.«

Pomrath eilte auf die Schnellbootrampe zu. Er ging gehorsam an Bord. Es schien ein angenehmer Zufall, daß ihm jemand so freundlich Auskunft geben konnte, wie er diesen Lanoy erreichte. Doch einen Augenblick später mußte er sich eingestehen, daß es wahrscheinlich kein Zufall gewesen war. Der Mann mit dem teigigen Gesicht war wohl ein Agent von Lanoy, der ihm heimlich gefolgt war. Natürlich. Seine Augen schmerzten. In der Luft lag etwas Rauhes, Körniges. TONDAN! LOSKEIT! Pomrath drückte sich in eine Ecke des Schnellboots. Ein Mädchen in einer Mönchskapuze und mit geschorenem Kopf kam auf ihn zu. »Zu Lanoy?« fragte sie leise.

»Weshalb nicht?«

»Steigen Sie auf die Northpass-Linie um.«

»Wenn Sie meinen.«

»Es ist der einzige Weg.« Sie lächelte ihm zu. Ihre Haut schien die Farbe zu wechseln — von einem sanften Grün zu einem Ultragelb. KLOOF. STEUER. Pomrath zitterte. Er fragte sich, was Helaine sagen würde, wenn sie es erfuhr. Würde sie weinen? Würde sie bald wieder heiraten? Würden die Kinder seinen Namen beibehalten? Oder starb der Name Pomrath aus? Ja. Denn er würde in der Vergangenheit einen anderen Namen annehmen müssen. TONDAN! Sollte er sich Kloofman nennen? Eine raffinierte Ironie. Mein Urenkel ein Mitglied der Hohen Regierung. Die Möglichkeit bestand.

Pomrath verließ das Schnellboot. Das Mädchen in der Mönchskapuze blieb an Bord. Woher wußten sie, wer er war und was er vorhatte? Plötzlich hatte er Angst. Die Welt war voll von Ungereimtheiten. Betet für meine Seelenruhe, dachte er. Ich bin so müde. OOF! TON!

Er wartete an der Rampe. Rings um ihn stachen die Türme der häßlichen Gebäude in die Luft, die man im vorigen Jahrhundert erbaut hatte. Sie rissen Löcher in den Himmel. Er befand sich jetzt am Rande der Slum-Zone. Er hatte keine Ahnung, in welchen stinkenden Stadtteil man ihn schicken würde. Das nächste Schnellboot kam an. Pomrath bestieg es, ohne zu fragen. Ich bin in euren Händen, dachte er. LANOY! YONAL! Es ist mir egal. Ganz egal. Nur fort von hier!

Die Reise ging nach Norden. War er immer noch in Appalachia? Der Himmel war dunkel. Vielleicht auf Regen programmiert. Ein schneller Guß, um die Straßen zu reinigen. Und was geschah, wenn Danton plötzlich einen Regen aus Schwefelsäure befahl? Zischendes, rauchendes Pflaster, schreiende Bürger, die ihre Haut zu schützen versuchten. Das neueste Mittel zur Bevölkerungskontrolle. Tod aus dem Himmel. Geschieht euch ganz recht, wenn ihr ins Freie geht. Das Schnellboot hielt an. Pomrath stieg aus und wartete auf der Rampe. Regen fiel. Die Tropfen klatschten auf den Bürgersteig.

»Ich bin Pomrath«, sagte er zu einer freundlichen alten Dame.

»Lanoy erwartet Sie. Kommen Sie.«

Zehn Minuten später befand er sich in einer ländlichen Umgebung. Am Rand eines Sees stand eine Hütte. Geheimnisvolle Gestalten gingen ein und aus. Pomrath wurde vorwärtsgeschoben. Eine sanfte Stimme sagte: »Lanoy erwartet Sie hinten.«

Er war ein kleiner Mann mit einer großen Nase. Er trug Kleider, die zweihundert Jahre alt zu sein schienen.

»Pomrath?«

»Hm.«

»Was sind Sie? Klasse Zwölf?«

»Vierzehn«, bekannte Pomrath. »Können Sie mich von hier wegbringen? Bitte.«

»Aber selbstverständlich«, sagte Lanoy.

Pomrath warf einen Blick auf den See. Es war ein abscheulicher Ort. Es wimmelte von Mikroben und ähnlichem Getier. Große Inseln mit fleischigen Algen trieben auf der öligen Wasseroberfläche.

»Ist das nicht hübsch?« fragte Lanoy. »Sechs Jahrhunderte fortdauernde Verseuchung, ohne daß die Regierung etwas dagegen tut. Hin und wieder wird eine Rede gehalten. Das ist alles. Die Erneuerungszone wird in frühestens zwanzig Jahren bis hierher ausgeweitet. Möchten Sie ein Bad nehmen?«

Pomrath schauderte. »Ich kann nicht schwimmen. Bitte, sorgen Sie dafür, daß ich schnell von hier wegkomme.«

»Die Algen heißen Cladaphora. Manchmal kommen Biologen her, um sie zu bewundern. Sie erreichen Längen bis zu dreißig Metern. Dann haben wir noch Schlammwürmer hier und Venusmuscheln. Wie in Urzeiten. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sie hier leben. Sie wären schockiert, wenn Sie den Sauerstoffgehalt des Wassers kennen würden.«

»Mich schockiert nichts mehr«, sagte Pomrath. »Bitte!«

»Die Darmbakterien sind besonders stark vertreten«, fuhr Lanoy fort. »Ich glaube, es sind 10 000 000 pro hundert Milliliter. Das ist zehntausendmal zuviel für die menschliche Sicherheit. Hübsch, nicht wahr? Kommen Sie herein, Pomrath. Es ist nicht so leicht, die Zeitreise zu machen.«

»Heutzutage ist nichts leicht.«

»Aber wägen Sie selbst ab.« Lanoy führte ihn ins Innere der Hütte. Pomrath sah zu seiner Verblüffung, daß hier nichts von Verfall zu entdecken war. Alles blitzte vor Sauberkeit. Eine Wand trennte das Häuschen in zwei große Räume. Lanoy ließ sich in eine Hängematte fallen und schaukelte darin wie eine Spinne in ihrem Netz. Pomrath blieb stehen. »Ich kann Sie ins Jahr 1990 zurückbringen, wenn Sie wollen«, sagte Lanoy. »Oder nach 2076 oder in fast jedes andere Jahr. Lassen Sie sich von den Aufzeichnungen nicht täuschen. Wir haben mehr Möglichkeiten, als die Öffentlichkeit ahnt. Der Prozeß wird laufend verbessert.«

»Schicken Sie mich irgendwohin.«

»Korrekter gesagt — in irgendeine Zeit. Aber bedenken Sie: Ich schicke Sie ins Jahr 1990. Können Sie sich das vorstellen? Sie werden nicht einmal die Sprache richtig verstehen. Sie werden einen komischen Dialekt sprechen, der den anderen unverständlich ist. Ihre Grammatik wird entsetzlich sein. Kennen Sie den genauen Unterschied zwischen den Fällen? Wissen Sie, wann man welche Zeiten verwendet?«

Pomrath spürte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. Er verstand nicht, weshalb Lanoy soviel Worte machte. Er hatte genug Worte gehört.

Lanoy lachte. »Lassen Sie sich von mir keine Angst einjagen. Sie brauchen diese Dinge nicht zu wissen. Schon damals fing man an, die Sprache schlampig zu gebrauchen. So schlimm wie heute war es natürlich noch nicht, aber es liegen ja auch Jahrhunderte der Weiterentwicklung dazwischen. Es wird ein paar Wochen dauern, bis Sie sich verständlich machen können. Und in ein paar Wochen können Sie viele Schwierigkeiten bekommen. Sind Sie darauf vorbereitet, daß man Sie in ein Irrenhaus stecken könnte? Schockbehandlung, Zwangsjacke, die ganze Barbarei unserer Vorfahren?«

»Es ist mir egal, wenn Sie mich nur von hier fortschaffen.«

»Die Polizei wird Sie verhören. Geben Sie nicht Ihren richtigen Namen an, Pomrath. Sie sind nicht in den Listen der Zeitreisenden aufgeführt, und das heißt, daß Sie niemals Ihren Namen genannt haben. Versuchen Sie es ja nicht. Erfinden Sie einen Namen. Wenn Sie im Jahre 1979 oder später landen, können Sie zugeben, daß Sie ein Zeitreisender sind. Wenn Sie früher landen, sind Sie völlig auf sich allein gestellt. Ehrlich gesagt, ich würde es nicht versuchen. Ich glaube nicht, daß Sie das Format für so eine Reise haben. Sie sind intelligent, Pomrath, aber die Sorgen haben Sie aufgerieben. Gehen Sie kein Risiko ein. Machen Sie die normale Zeitreise und geben Sie sich in der Vergangenheit zu erkennen. Dann schaffen Sie es.«

»Was kostet die Sache?«

»Zweihundert Credits. Eine lächerliche Summe. Reicht kaum für die Energiekosten.«

»Ist die Reise sicher?«

»So sicher wie eine Schnellbootfahrt«, lachte Lanoy. »Aber denken Sie noch einmal nach. Keine Hohe Regierung, die über Sie wacht. Dutzende von Nationalstaaten. Lokale Streitereien. Steuerorgane, die einander bekämpfen. Damit müssen Sie fertigwerden. Aber ich glaube, Sie schaffen es.«

»Schlimmer als hier kann es nicht sein.«

»Sind Sie verheiratet, Pomrath?«

»Ja. Ich habe zwei Kinder und liebe sie sehr.«

»Wollen Sie Ihre Familie mitnehmen?«

»Ist das möglich?«

»Ja. Mit einem gewissen Risikofaktor. Wir müssen Sie einzeln schicken. Massenbegrenzung. Sie könnten im Abstand von einem Dutzend Jahren ankommen. Zuerst die Kinder, dann vielleicht Sie und zuletzt Ihre Frau.«

Pomrath zitterte. »Angenommen, ich gehe als erster. Können Sie festhalten, in welche Zeit ich geschickt wurde, damit meine Familie nachkommen kann, wenn meine Frau es wünscht?«

»Natürlich. Wir werden uns darum kümmern. Ich setze mich mit Mrs. Pomrath in Verbindung. Ich werde ihr freistellen, ebenfalls die Reise zu machen. Die meisten Frauen tun es nicht, aber sie soll zumindest die Möglichkeit haben. Nun, Pomrath? Sind Sie immer noch dabei?«

»Das wissen Sie ganz genau.«

Quellen, der die Unterhaltung abhörte, saß wie in Trance da. Er fühlte sich eiskalt. Er konnte Lanoy nicht sehen, er wußte nicht, wo das Gespräch stattfand, aber er erkannte, daß sein Schwager im Begriff war, den Scharen von Zeitreisenden zu folgen. Und er konnte nichts dagegen unternehmen. Wenn nicht Brogg und Leeward das Hauptquartier Lanoys im Handumdrehen fanden und ihn verhafteten …

»Sir, Untersekretär Brogg möchte Sie sprechen«, sagte eine Stimme.

Quellen erhob sich vom Monitor. Ein normales Telefon wurde ihm in die Hand gedrückt. Quellen nahm den Hörer auf.

»Wo sind Sie?« fragte er. »Haben Sie Lanoys Spur schon?«

»Wir arbeiten immer noch daran. Es stellte sich heraus, daß Brand den genauen Ort nicht wußte. Er kannte nur jemanden, der ihn über eine weitere Mittelsperson zu Lanoy bringen wollte.«

»Ich verstehe.«

»Aber die geographische Lage steht nun fest. Wir kreisen das Gebiet ein und suchen es per Televektor ab. Es ist jetzt nur noch eine Sache der Zeit, bis wir Lanoy persönlich haben.«

»Wieviel Zeit?« fragte Quellen eisig.

»Etwa sechs Stunden«, erwiderte Brogg. »Plus oder minus neunzig Minuten. Aber heute nageln wir ihn sicher fest.«

Sechs Stunden, dachte Quellen. Plus oder minus. Und dann hatten sie Lanoy verhaftet.

Aber Norm Pomrath hatte inzwischen den Sprung in die Vergangenheit gewagt.

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