10

Die Nacht ergriff von der Stadt Besitz. Quellen wechselte die Kleider, nachdem er eine Brause genommen hatte, die fast den gesamten Wochenvorrat an Wasser kostete. Er wählte etwas grelle Kleider — eine Rebellion gegen die Gesellschaft, in der sich Judith befand. Die Leute, die dem Erbrechens-Kult beiwohnten, gaben sich mit Absicht stockkonservativ. Er verachtete ihren düsteren Puritanismus. Und so zog er eine Tunika an, die mit glitzernden Fäden durchwirkt war und je nach Drehung grellrot, violett oder blaugrün aufleuchtete.

Er nahm kein Abendessen zu sich. Das wäre im Hinblick auf die Zeremonie des Abends ein unverzeihlicher Faux pas gewesen. Dennoch mußte er seinen Glukosespiegel nach der Anstrengung des Tages wieder anheben. Ein paar Tabletten besorgten das. Erfrischt schloß Quellen sein Apartment ab und ging ins Freie. Er traf Judith erst bei der Versammlung. Vielleicht konnte er anschließend mit ihr heimgehen. Sie lebte allein, seit auch sie Klasse Sieben erreicht hatte. Es wäre vernünftig und gutbürgerlich, sie zu heiraten und eine gemeinsame Zweizimmerwohnung zu beziehen. Quellen wußte es. Aber bis jetzt hatten sich in ihm noch keine gutbürgerlichen Gefühle entwickelt.

Judith hatte ihm gesagt, daß die Sitzung im Klasse-Vier-Heim eines gewissen Brose Cashdan stattfand. Der Mann war Verwalter eines Stati-Feld-Bezirks. Für Quellen war es eine interessante Feststellung, daß ein Transport-Boß einem Kult dieser Art huldigte. Gewiß, der Erbrechens-Kult stand nicht auf der Verbotsliste. Er war vielleicht nicht ethisch, aber zumindest nicht staatsgefährdend wie manche andere. Nur hatte Quellen bei seinem bisherigen Umgang mit hohen Verwaltungsbeamten das Gefühl gehabt, daß sie sich keine Extravaganzen leisteten. Möglich, daß dieser Cashdan eine Ausnahme darstellte. Und Quellen war auf das Haus neugierig. Er hatte noch nicht viele Klasse-Vier-Häuser gesehen.

Brose Cashdans Villa lag gerade noch innerhalb des Appalachia-Bezirks, so daß Quellen sie nicht per Stati-Feld erreichen konnte. Er mußte statt dessen das Schnellboot nehmen. Schade. Er verschwendete damit eine halbe Stunde. Er programmierte seinen Weg nach Norden. Der Sichtschirm im Innern simulierte einen Blick auf die vorbeiziehende Landschaft. Der Hudson lag silbrig im Mondschein. Dann kamen die Waldhänge des Adirondack-Reservats — ein paar tausend Morgen unberührter Wildnis inmitten der Stadt — und schließlich das gleißende Licht der Landerampe. Von der Rampe kam Quellen schnell zu Cashdans Heim. Er wußte, daß er etwas zu spät daran war, aber das bekümmerte ihn nicht weiter.

Es war eine tolle Villa. Quellen war auf eine solche Pracht nicht vorbereitet. Natürlich, Cashdan hatte nur das Recht auf einen einzigen Wohnsitz, im Gegensatz zu den Klasse-Zwei-Leuten, die verschiedene Häuser in der ganzen Welt haben konnten. Dennoch war es ein großartiges Gebäude. Es bestand in der Hauptsache aus Glas und synthetischen Säulen. Quellen zählte zumindest sechs Räume, einen kleinen Garten (!) und einen Landeplatz auf dem Dach. Er trat in die Vorhalle und sah sich nach Judith um.

Ein behäbiger Mann in den Sechzigern mit einer gestärkten weißen Tunika kam heraus, um ihn zu begrüßen. Quer über der Tunika war das goldene Band eingestickt.

»Brose Cashdan«, stellte sich der Fremde vor. Seine Stimme war tief und achtunggebietend. Quellen konnte sich vorstellen, daß der Mann eine Entscheidung nach der anderen mit fester Stimme vorbrachte und sich kaum um die Empfehlung eines Regierungsbeamten kümmerte.

»Joseph Quellen. Ich …«

»Ich weiß. Sie wurden von Judith da Silva eingeladen. Natürlich. Judith ist drinnen. Seien Sie herzlich willkommen, Mister Quellen. Es freut uns, daß Sie sich uns anschließen wollen. Kommen Sie doch herein.«

Cashdan gelang es, seiner Stimme zugleich etwas Schmeichelndes und Befehlendes zu geben. Er schob Quellen in einen Raum, der mindestens sechs mal zehn Meter hatte und von Wand zu Wand mit einem grauen, schaumartigen Stoff ausgelegt war. An diesem Saal war nichts Nüchternes oder Puritanisches.

Acht oder neun Leute hatten sich in der Mitte des Raumes auf dem Boden niedergelassen. Judith war unter ihnen. Zu Quellens großer Überraschung hatte sie kein dunkles Kleid gewählt, wie es bei den meisten Versammlungen dieser Art üblich war. Offensichtlich galten für ein Treffen auf höherer Ebene andere Richtlinien. Sie trug ein Aufsprüh-Kleid mit blauen und grünen Grundtönen. Ein Stoffstreifen hielt die Brüste hoch und wand sich über ihre Hüften. Ihr Körper war mehr oder weniger bedeckt, aber da es sich lediglich um eine Farbschicht handelte, hätte sie ebensogut nackt kommen können. Quellen wußte, daß solche Extravaganzen der Mode nur in Kreisen ab Klasse Fünf vorkamen, und so erschien es ihm etwas gewagt, daß Judith sich derartig zurechtmachte. Quellen hatte das Gefühl, daß sie beide die einzigen Klasse-Sieben-Angehörigen in diesem Saal waren. Er lächelte Judith zu. Sie hatte eine schlanke Figur, wie sie der augenblicklichen Mode entsprach, und sie betonte sie, indem sie ihre Brüste bemalte.

Neben ihr saß ein dicker Mann, dessen Hals praktisch in Speckfalten verschwand. Er hatte einen kurzen, blaugetönten Bart, feuchte Lippen und einen friedlichen Gesichtsausdruck. Er wurde von einer zweiten Frau flankiert, die etwas älter als Judith wirkte und ein ähnlich schamloses Kleid trug. Bei Judith sah es gut aus. Aber die Fremde hatte einen hervorquellenden Busen und viel zu dicke Hüften. Sie sah Quellen mit schmachtenden Augen an, aber er warf ihr nur einen spöttischen Blick zu.

Die übrigen wirkten wohlhabend und intellektuell. Es waren vor allem Männer, alle gut gekleidet und offensichtlich gut genährt. Bei manchen hatte man sogar den Eindruck, sie seien ein wenig weibisch. Judith stand auf und stellte ihn vor. Die Namen glitten an Quellen vorbei, ohne in sein Bewußtsein einzudringen. Der Mann mit dem blauen Bart war Dr. Richard Galuber, Judiths Arzt. Und die schwammige Person neben ihm war seine Frau. Interessant. Quellen hatte nicht gewußt, daß der Arzt verheiratet war. Er hatte insgeheim den Verdacht gehegt, daß Judith seine Freundin war. Vielleicht stimmte es. Aber würde Dr. Galuber seine Geliebte und seine Frau bei so einer Sitzung zusammenbringen? Quellen konnte es sich nicht vorstellen. Aber Ärzte hatten oft verrückte Ansichten, und Quellen hatte erfahren, daß der Arzt seine Frau aus irgendeinem therapeutischen Beweggrund mitgenommen hatte.

Judith entfernte sich mit ihm ein Stückchen von der Gruppe und sagte: »Ich bin so froh, daß du gekommen bist, Joe. Ich dachte schon, du würdest dich wieder drücken.«

»Ich hatte es dir doch versprochen, oder?«

»Ja, ich weiß. Aber du hast die Tendenz, dich von potentiell feindlichen gesellschaftlichen Ereignissen fernzuhalten.«

Quellen war verärgert. »Schon wieder dieses therapeutische Gerede! Hör doch endlich auf damit, Judith. Ich bin ja gekommen.«

»Natürlich.« Ihr Lächeln wurde plötzlich herzlich. »Und ich freue mich darüber. Ich wollte nicht mit dir streiten. Komm, ich stelle dir Dr. Galuber vor.«

»Muß das sein?«

Sie lachte. »Du hast doch die Tendenz …«

»Schon gut, schon gut. Bringe mich zu diesem Dr. Galuber.«

Sie durchquerten den Saal. Quellen war durch Judiths Nacktheit irritiert. Ein Pigmentspray ist keine Kleidung. Er konnte ihre Figur unter der dunkelblauen Deckfarbe genau erkennen. Es war provozierend und beunruhigend.

Der Arzt sah Quellen mit berufsmäßiger Liebenswürdigkeit an. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mister Quellen. Ich habe schon viel von Ihnen gehört.«

»Oh, tatsächlich?« fragte Quellen nervös. Er war enttäuscht, daß Galuber nicht den rituellen mitteleuropäischen Akzent nachahmte, den die meisten anderen Ärzte benutzten. »Ich wußte gar nicht, daß Männer Ihres Berufsstandes Kultgemeinden dieser Art angehörten.«

»Wir stehen geistigen Übungen dieser Art positiv gegenüber«, sagte Galuber. »Weshalb sollten wir sie auch ablehnen?«

»Da haben Sie auch wieder recht.«

Der Arzt deutete auf seine Frau. »Jennifer und ich gehören jetzt seit mehr als einem Jahr dem Erbrechens-Kult an. Er hat uns zu mancher bemerkenswerten Einsicht verholfen, nicht wahr, Liebes?«

Mrs. Galuber schmachtete wieder. Sie sah Quellen so unverhohlen sinnlich an, daß er sich erschrocken zurückzog. »Es war eine große Erleuchtung für uns«, sagte sie. Sie hatte einen warmen, dunklen Alt. »Jede Art menschlichen Kontakts ist wohltuend, finden Sie nicht auch? Wir erlangen die Erfüllung, die unseren Nöten am meisten entgegenkommt.« Jennifer Galubers Fleisch schwabbelte, als sie herzlich lachte. Quellen sah verlegen weg. Er mußte gegen Übelkeit ankämpfen. Die Galubers führten wohl eine merkwürdige Ehe. Aber diese fette Hexe wird mich nicht dazu bringen, in menschlichen Kontakt mit ihr zu treten, dachte er.

Judith mischte sich wieder ein. »Ich rede Dr. Galuber seit Monaten zu, eines unserer Treffen zu besuchen. Aber bis jetzt hat er immer abgelehnt. Er fand, wir müßten warten, bis ich die richtige Stufe seiner Therapie erreicht hätte. Vorher wollte er mit einer Patientin nicht zu vertraulich verkehren.«

»Das ist natürlich nicht der einzige Grund«, meinte der Arzt wohlwollend. »In diesem Fall ging es noch darum, daß ich der Gruppe das Handikap meiner Frau zumuten mußte, was besondere Vorbereitungen erfordert. Sie müssen wissen, Jennifer ist eine Mutantin mit einer Galaktoseabwehr. Sie muß galaktosefreie Kost zu sich nehmen.«

»Ich verstehe«, sagte Quellen höflich.

»Es ist ein Erbfehler«, fuhr Galuber fort. »Sie kann Galaktose überhaupt nicht verdauen. Ein Enzymmangel. Es würden sich Galaktosevorläufer aufbauen und die Zellen zerstören. So lebt sie von Geburt an mit galaktosefreier Diät. Das führt selbstverständlich noch zu anderen Problemen. Da es sich um einen Enzymmangel handelt, kann sie Galaktose auch nicht aus endogenen Karbohydraten vertragen, denn das würde zu einem teilweisen Austausch der Galaktopiliden durch Glukopiliden im Hirn führen, ein äußerst schädliches Blutgruppenspektrum, weiterhin zu Abstoßungsprozessen bei Transplantationen und einer abnormalen Gehirnentwicklung — oh, die Folgen wären nicht auszudenken.«

»Ist die Krankheit heilbar?« fragte Quellen.

»Nicht im Sinne einer völligen pathologischen Wiederherstellung. Aber man kann sie behandeln. Erbliche Galaktoseverdauungsstörungen können durch eine Enzymsynthese kontrolliert werden. Dennoch muß sie Diät halten und gewisse Substanzen meiden, darunter auch diejenige, die einen wesentlichen Bestandteil der heutigen Zeremonie bildet. Also mußten wir unser eigenes, besonders präpariertes Material mitbringen. Eine Zumutung dem Gastgeber gegenüber.«

»Aber wo denken Sie hin!« hörte man den dröhnenden Baß von Brose Cashdan. »Eine Kleinigkeit! Wir freuen uns, daß Sie heute unser Gast sind, Mrs. Galuber.«

Quellen, den Galubers medizinischer Vortrag verwirrt hatte, war froh, als der Beginn der Zeremonie angekündigt wurde. Der Arzt hatte das Zeug sicher nur von sich gegeben, um seine überlegene Intelligenz herauszustreichen. Quellen war verärgert. Er verfluchte insgeheim Jennifer Galubers Enzymmangel, ihre Blicke und ihre Anhäufung von Galaktopiliden. Er löste sich aus ihrer Gesellschaft und folgte Judith zum Teppich im Mittelpunkt des Saales, wo die Zeremonie stattfinden sollte.

»Joe«, sagte Judith warnend, »zieh dich nicht wie das letzte Mal zurück. Du mußt dich von den Massenreaktionen lösen. Sieh die Dinge doch objektiv an. Was ist denn schon an einem bißchen Spucke?«

»Vermutlich nichts«, sagte er.

»Und dann an Verdauungssäften? Sie können dir nicht schaden. Es ist doch nur wegen der geistigen Gemeinschaft. Du darfst nicht so veraltet denken.«

»Ist das der Grund, weshalb du nackt zu einer gesellschaftlichen Veranstaltung kommst?« fragte er.

»Ich bin nicht nackt«, erklärte sie beleidigt.

»Nein. Du hast eine Farbschicht an.«

»Sie verbirgt alles, was wir aus Gründen der Moral verbergen müssen.«

»Sie stellt deine sekundären Geschlechtsmerkmale ziemlich bloß«, meinte Quellen. »Und so etwas nenne ich nackt.«

»Ach was. Die Hauptsache ist verdeckt. Du siehst mich nur nicht richtig an, Joe. Manchmal benimmst du dich lächerlich.«

Als er sie näher ansah, mußte er zugeben, daß sie wirklich nur nackt schien. Schlau, dachte er. Ihr schlanker Körper übte eine starke Anziehung auf ihn aus. Bei Helaine wirkte das Magere armselig und ausgezehrt, aber Judiths Körper hatte etwas Elegantes und Geschmeidiges. Quellen hätte sie am liebsten jetzt schon von dem Treffen weggebracht.

Aber erst mußte er noch die Zeremonie über sich ergehen lassen.

Die Mitglieder der Gruppe sammelten sich am Rand einer mit Teppichen ausgelegten Grube. Brose Cashdan als der Gastgeber holte eine glänzende, metallische Schüssel, in der eine teigige Masse von der Größe eines Männerkopfes ruhte. Das war die Substanz des Liebesfestes — ein unverdauliches Algenprodukt mit besonderen Eigenschaften, die einen Brechreiz hervorriefen. Zweifellos Mrs. Galubers Galaktosemangel angepaßt.

»Dr. Galuber hat sich freundlicherweise bereiterklärt, die Zeremonie zu eröffnen«, sagte Cashdan.

Die Lichter wurden gedämpft. Galuber nahm die glänzende Schale entgegen und stellte sie auf seine Knie. Dann nahm er feierlich eine Handvoll von dem Teig und stopfte ihn in sich hinein. Er begann zu kauen.

Es gab eine Menge Kulte. Quellen gehörte keinem davon an, aber nicht einmal er konnte es vermeiden, daß er hin und wieder an einer Zeremonie teilnehmen mußte. Im allgemeinen geschah es auf Judiths Drängen. Sie sah sich alles an, sie war ständig auf der Suche nach innerer Erfüllung. Und so rannte sie von Kult zu Kult, von Arzt zu Arzt. Quellen hatte sie sogar im Verdacht, daß sie schon verbotenen Kulthandlungen beigewohnt hatte, vielleicht gar der verbotenen Flaming-Bess-Religion. Er konnte sich vorstellen, wie Judith tanzte, während ein Verrückter die extrasensorische Flamme anzündete und wilde Stimmen nach einem Sturz der Hohen Regierung schrien. Noch vor einer Generation waren ein paar Mitglieder der Klasse Eins von diesen heulenden Feueranzündern ermordet worden. Der Kult lebte insgeheim immer noch fort.

Doch die meisten anderen Kulte waren harmlose Angelegenheiten — abstoßend vielleicht, aber nicht kriminell. So wie dieser hier. Durch das Kauen und Erbrechen der teigartigen Masse sollte eine Art Harmonie zwischen den Teilnehmern entstehen. Cashdan stimmte eine Verdauungslitanei an. Galuber stopfte sich immer noch den Teig in den Mund. Wieviel hatte wohl noch in seinem Fettbauch Platz? Jennifer Galuber betrachtete ihren Gatten voller Stolz. Der Arzt schlang immer noch. Sein Gesicht war verwandelt, seine Blicke gingen ins Leere. Jennifer glühte.

Sie sangen jetzt alle. Auch Judith. Leise, getragene Klänge.

Sie stieß ihn an. »Du auch«, flüsterte sie.

»Ich kenne den Text nicht.«

»Dann summe einfach mit.«

Er zuckte mit den Schultern. Galuber hatte die letzten Reste der Teigmasse verschlungen. Sicher war sein Bauch schmerzhaft aufgequollen. Das Zeug war wie Gummi. Und das Mittel, das den Brechreiz auslöste, wirkte erst, wenn man soviel im Magen hatte, daß die peristaltischen Bewegungen begannen. Dann konnte das Erbrechen losgehen.

Judith, die neben Quellen saß, bat darum, in das Einssein aufgenommen zu werden. Ein Nirwana durch Aufstoßen, dachte Quellen kühl. Wie war das möglich? Und was tat er hier? Der Singsang brach sich an den Glaswänden und machte ihn ganz taub. Es war ein Wechselgesang, und er konnte nicht umhin, im Rhythmus mitzuschwanken. Seine Lippen bewegten sich. Er hätte mitgemacht, wenn er die Worte gekannt hätte. Er bemerkte, daß er vor sich hinsummte. Cashdan, der die Zeremonie immer noch leitete, wurde lauter. Er hatte einen großartigen Baß mit einer starken Resonanz.

Galuber saß reglos in der Mitte der Grube. Seine Augen waren geschlossen. Die Hände lagen auf dem Bauch. Er hatte ein gerötetes Gesicht. Er allein saß still im Mittelpunkt der schwankenden Versammlung. Quellen zwang sich, ein objektiver Beobachter zu bleiben. Er sah, wie Judiths Gesicht in innerer Ekstase erstrahlte. Ein junger Mann, der an einen Zwitter erinnerte, schnellte hin und her, als habe er einen Hochspannungsdraht berührt.

Endlich war Dr. Galuber soweit.

Der Arzt übergab sich mit ruhiger Würde. Schweiß stand auf seiner geröteten Stirn. Peristaltische Bewegungen strengten immer an, auch wenn das Schmerzzentrum durch einen besonderen Zusatz besänftigt war. Mit Anstand hielt er bis zum Ende durch. Die Schale war gefüllt.

Sie wurde herumgereicht.

Hände umklammerten den feuchten Teig. Nimm und iß, hier ist die Substanz der Gruppe. Sei eins mit der Gruppe. Brose Cashdan aß. Jennifer Galuber aß. Judith nahm ihre Portion entgegen. Quellen hatte plötzlich ein feuchtes Stück Teig in der Hand.

Seine Hand hob sich zitternd zu den Lippen. Er spürte Judiths Hüfte warm neben der seinen. Nimm und iß. Galuber lag steif in der Grube, von Ekstase ergriffen.

Quellen aß.

Er kaute hastig und unterdrückte jedes Zögern. Die besondere Eigenschaft der unverdaulichen Substanz war es, daß man sie genießen konnte, wenn sie schon einmal mit Verdauungssäften gemischt war. Galuber hatte sie also für die anderen aufbereitet. Quellen schluckte. Merkwürdigerweise fühlte er sich nicht einmal abgestoßen. Er hatte schon Ameisen, rohe Schnecken, Seeigel und andere exotische Delikatessen genossen und dabei nicht einmal die Chance eines geistigen Erlebnisses zugesichert bekommen. Weshalb sollte er also zögern?

Die anderen Teilnehmer weinten vor Freude. Tränen glitzerten auf Judiths Farbschicht. Quellen hatte immer noch eine bemerkenswert objektive Meinung über das Universum. Er hatte an der mystischen Vereinigung nicht teilgenommen, obwohl er den Ritus beachtet hatte. So wartete er geduldig, bis die anderen sich von ihrer Ekstase erholt hatten.

»Willst du die nächste Runde zelebrieren?« flüsterte Judith ihm zu.

»Auf keinen Fall.«

»Joe …«

»Bitte. Ich bin hergekommen, nicht wahr? Ich nehme an dem Fest teil. Aber ich will nicht der Hauptdarsteller sein.«

»Es ist üblich, daß Gruppenfremde …«

»Ich weiß. Aber ohne mich. Ich überlasse die Ehre gern einem anderen.«

Sie sah ihn vorwurfsvoll an. Quellen erkannte, daß er versagt hatte. Der heutige Abend sollte wohl eine Art Test sein, und er hatte ihn fast bestanden. Fast …

Brose Cashdan hatte eine zweite Schüssel mit der zeremoniellen Teigmasse geholt. Wortlos nahm Jennifer Galuber die Schüssel und begann sich vollzustopfen. Der Arzt, von der Anstrengung immer noch ganz erschöpft, saß in sich zusammengesunken da und paßte kaum auf. Die Zeremonie wiederholte sich. Quellen nahm wie beim erstenmal teil, ohne etwas zu spüren.

Anschließend näherte sich Cashdan Quellen und fragte leise: »Möchten Sie die nächste Runde für uns feiern?«

»Tut mir leid«, sagte Quellen. »Es geht wirklich nicht. Ich muß mich bald verabschieden.«

»Wie bedauerlich. Wir hatten gehofft, daß Sie ganz teilnehmen würden.« Cashdan lächelte verträumt und schob die Schale einem anderen hin.

Quellen packte Judith am Handgelenk und zog sie auf die Seite. »Komm mit mir heim«, flüsterte er drängend.

»Wie kannst du jetzt an so etwas denken?«

»Du bist schließlich nicht sehr keusch angezogen. Und du hast zwei Runden erlebt. Willst du jetzt mitkommen?«

»Nein«, sagte sie fest.

»Und wenn ich die nächste Runde noch abwarte?«

»Nein. Auch dann nicht. Du wirst die Zeremonie schon selbst anführen müssen — und es ernst meinen. Sonst könnte ich später keine Gefühle für dich aufbringen. Ehrlich, Joe, wie kann ich mich einem Mann hingeben, mit dem mich keine geistige Verwandtschaft verbindet?«

Mit erregter Stimme erwidert er: »Tu mir das nicht an, Judith. Du mußt fair bleiben. Gehen wir jetzt.«

Statt einer Antwort drehte sie sich um und schloß sich wieder der Gruppe an. Die dritte Runde sollte beginnen. Cashdan warf Quellen einen aufmunternden Blick zu, doch der schüttelte den Kopf und verließ schnell den Saal. Draußen warf er noch einen Blick durch die Glaswände und sah Judith mit zurückgeworfenem Kopf und verzückt geöffneten Lippen. Auch die Galubers waren in Ekstase. Das Bild der fetten Jennifer Galuber brannte sich unauslöschlich in Quellens Gehirn. Er floh.

Er war kurz nach Mitternacht daheim, aber sein Apartment bot ihm keinerlei Trost. Er mußte fort. Schnell trat er in das Stati-Feld und ließ sich nach Afrika bringen.

Dort war der Morgen heraufgezogen. Ein leichter Sprühregen fiel, aber die Sonne schimmerte golden durch den grauen Schleier. Die Krokodile schwammen wie immer träge in den Fluten. Ein Vogel schimpfte. Die Zweige waren schwer von der Nässe und beugten sich zu der fetten schwarzen Erde herunter. Quellen wollte sich von dem Frieden einfangen lassen. Er streifte die Schuhe ab und ging ans Flußufer hinunter. Der Schlamm schob sich durch seine Zehen. Ein kleines Insekt stach ihn in die Wade. Ein Frosch sprang ins Wasser, und auf der dunklen Fläche entstanden Ringe, die sich immer weiter ausbreiteten. Ein Krokodil öffnete faul die vorstehenden Augen. Die schwere, süße Luft drang in Quellens Lungen.

Aber er fand keinen Trost.

Dieser Ort gehörte ihm, aber er hatte ihn sich nicht verdient. Er konnte hier keinen echten Frieden finden. Und in Appalachia fand er ebenfalls keine Ruhe. Die Welt war ihm zu groß. Er war nur ein Splitter davon. Er dachte an Judith. Sie haßt mich, dachte er. Oder sie hat Mitleid mit mir, aber die Wirkung ist die gleiche. Sie wird mich nie wiedersehen wollen.

Er wollte nicht in dieser herrlichen Umgebung bleiben, solange seine Laune so gedrückt war.

Quellen trat wieder in das Stati-Feld und wurde über den Ozean zurück in sein Apartment getragen. In Appalachia herrschte tiefe Nacht. Quellen schlief sehr schlecht.

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