»Norm, wer ist Lanoy?« fragte Helaine Pomrath.
»Wer?«
»Lanoy!«
»Wo hast du denn den Namen gehört?«
Sie zeigte ihm die kleine Notiz und beobachtete dabei sein Gesicht. Sein Blick war unsicher.
»Ich habe das da gestern in deiner Tunika gefunden«, sagte sie. »Keine Arbeit? Fragen Sie nach Lanoy. Ich wundere mich nur, wer er sein könnte und wie er dir helfen könnte.«
»Er — ich glaube, er hat eine Art Arbeitsvermittlung. Ich weiß es nicht genau.« Pomrath fühlte sich sichtlich unbehaglich. »Jemand hat mir den Zettel in die Hand gedrückt, als ich aus der Traumbar kam.«
»Was soll es dir nützen, wenn keine Adresse draufsteht?«
»Man soll wohl nach dem Mann suchen«, erwiderte Pomrath. »Wie ein Detektiv. Ich habe keine Ahnung. Um ehrlich zu sein, ich hatte die Sache schon wieder vergessen. Gib her.«
Sie reichte ihm den Zettel. Er nahm ihn schnell und steckte ihn in die Tasche. Helaine gefiel es nicht, mit welcher Hast er das belastende Zettelchen in Sicherheit brachte. Sie hatte zwar keine Ahnung von seinen Plänen, aber sie konnte deutlich sehen, daß ihr Mann verlegen und schuldbewußt war.
Vielleicht wollte er mich überraschen, dachte sie. Vielleicht war er schon bei diesem Lanoy und hat sich nach einer Arbeit umgesehen. Wahrscheinlich wollte er es mir erst nächste Woche sagen, wenn unser Hochzeitstag ist. Und jetzt habe ich ihm die Freude verdorben. Ich hätte den Mund halten sollen.
Ihr Sohn Joseph trat splitternackt unter der Molekülbrause hervor. Seine Schwester war ebenfalls nackt. Sie stellte sich nach ihm auf die Plattform. Helaine richtete das Frühstück her.
»Wir haben heute Geographie in der Schule«, sagte Joseph.
»Wie schön«, meinte Helaine zerstreut.
»Wo ist Afrika?« wollte der Junge wissen.
»Weit weg. Irgendwo jenseits des Ozeans.«
»Kann ich nach Afrika gehen, wenn ich groß bin?« fragte er hartnäckig.
Von der Brause her kam ein schrilles Kichern. Marina wirbelte herum und sagte: »Afrika ist da, wo die Leute von Klasse Zwei wohnen. Du willst wohl Klasse Zwei werden, Jojo?«
Der Junge blitzte seine Schwester an. »Vielleicht. Vielleicht sogar Klasse Eins. Was weißt denn du schon? Du wirst überhaupt nichts. Ich habe jetzt schon etwas, was du nicht hast.«
Marina schnitt ihm eine Grimasse. Dennoch drehte sie sich um, um ihren noch unentwickelten Körper vor seinen neugierigen Augen zu verstecken. Pomrath sah von dem Morgen-Nachrichtenband auf und knurrte: »Hört auf, ihr beiden! Jojo, zieh dich an. Marina, komm endlich unter der Brause hervor.«
»Ich sagte doch bloß, daß ich nach Afrika möchte«, maulte der Junge.
»Du sollst deinem Vater nicht widersprechen«, sagte Helaine. »Außerdem ist das Frühstück fertig. Zieh dich an.«
Sie seufzte. In ihrem Kopf war ein Gefühl, als würde Glas gemahlen. Immer das Gestreit der Kinder. Norm wie ein Gast in der Ecke. Geheimnisvolle Zettel, die bei der Wäsche auftauchten. Vier fensterlose Wände, die sie einengten. Nein — es war mehr, als sie ertragen konnte. Sie verstand nicht, daß sie nicht schon längst Schluß gemacht hatte. Essen, schlafen, baden, lieben — alles in einem winzigen Raum. Tausende von Nachbarn, die in den gleichen Löchern steckten. Einmal im Jahr ein Picknick an einem Ort, der noch nicht ganz verbaut war — Brot und Spiele, macht die Proleten glücklich! Aber es tat weh, einen Baum zu sehen und dann wieder nach Appalachia zurückzukehren. Helaine fühlte sich elend. Das hatte sie nicht erwartet, als sie Norman Pomrath heiratete.
Die Kinder aßen und gingen in die Schule. Norm blieb in seiner Ecke und hörte immer noch sein Band. Hin und wieder tauschte er eine Neuigkeit mit ihr aus. »Danton will nächste Woche Dienstag ein neues Krankenhaus in Pazifika einweihen. Völlig automatisch, ein großer Homeostat und überhaupt keine technischen Mediziner. Hübsch, was? Die Ausgaben der Regierung werden gesenkt, wenn sie keine Angestellten zu bezahlen braucht. Und hör dir das an: Ab ersten Mai werden die Sauerstoffzuteilungen in allen Geschäftsgebäuden um zehn Prozent gesenkt. Sie behaupten, man wolle mit dieser Maßnahme mehr Sauerstoff an die einzelnen Haushalte liefern. Du wirst sehen, Helaine, im August spätestens kürzen sie auch den Haushaltssauerstoff. So geht es immer …«
»Norm, reg dich nicht auf.«
Er hörte nicht auf sie. »Weshalb mußte uns das alles treffen? Wir haben ein Recht auf ein besseres Leben. Vier Millionen Menschen pro Quadratmeter. Soweit kommt es noch. Bauen wir die Häuser tausend Stock hoch, damit alle Platz bekommen und einen Monat brauchen, bis sie zur nächsten Schnellbootrampe kommen, aber was macht es? Das ist der Fortschritt! Das ist …«
»Glaubst du, du kannst diesen Lanoy ausfindig machen und Arbeit durch ihn bekommen?« fragte sie.
»Was wir brauchen«, fuhr er fort, »ist eine Seuche. Selektiv, natürlich. Sie soll alle treffen, die keine Arbeitsqualifikationen nachweisen können. Damit wären die Stempler gleich um ein paar Milliarden weniger. Und das gesparte Geld kann man für Aufbauprogramme verwenden. Damit die übrigen Arbeit bekommen. Wenn das nichts nützt, muß man eben einen Krieg anfangen. Mit extraterrestrischen Feinden, mit dem Volk aus dem Krebsnebel. Einfach aus Patriotismus. Natürlich einen Krieg, den wir verlieren. Viel Kanonenfutter.«
Er schnappt noch über, dachte Helaine, als ihr Mann immer weiterredete. Es waren endlose Monologe, ganze Schwälle von Bitterkeit. Sie wollte nicht zuhören. Da er keinerlei Anstalten traf, die Wohnung zu verlassen, ging sie. Sie knallte das Geschirr in den Abfall und sagte: »Ich besuche die Nachbarn«, gerade als er sich über die Vorteile eines kontrollierten Nuklearkrieges zur Bevölkerungsverminderung ausließ. Leeres Geschwätz, das war alles, was Norm Pomrath zur Zeit fertigbrachte. Er mußte sich reden hören, damit er nicht ganz unterging.
Helaine fragte sich, wohin sie gehen sollte.
Beth Wisnack, die durch die Flucht ihres Mannes in die Vergangenheit Witwe geworden war, sah noch eingefallener, grauer und trauriger aus als bei Helaines letztem Besuch. Ihr Mund war vor unterdrückter Wut verkniffen. Unter der Oberfläche weiblicher Resignation lauerte der Haß. Wie konnte er es wagen, mir das anzutun? Wie konnte er mich so im Stich lassen?
Höflich bot Beth ihrem Gast eine Alkoholröhre an. Helaine lächelte, nahm das rote Plastikröhrchen und drückte es gegen den Armmuskel. Beth tat das gleiche. Die Ultraschall-Spitzen surrten. Das Anregungsmittel drang in den Blutstrom. Ein gutes Mittel für die, die die modernen Mixgetränke nicht mochten. Helaine entspannte sich. Sie horchte eine Zeitlang auf Beths gleichförmiges Gejammer.
Dann sagte Helaine: »Beth, kennst du einen gewissen Lanoy?«
Beth horchte sofort auf. »Lanoy? Welchen Lanoy? Wo hast du von ihm gehört? Was weißt du über ihn?«
»Nicht viel. Deshalb frage ich dich ja.«
»Ich habe den Namen gehört, das stimmt.« Ihre glanzlosen Augen belebten sich. »Bud hat ihn erwähnt. Ich hörte ihn mit einem anderen Mann darüber sprechen. Lanoy hin, Lanoy her … Es war in der Woche, bevor er mich verließ. Lanoy, sagte er. Lanoy wird alles in Ordnung bringen.«
Helaine griff nach einem zweiten Alkoholröhrchen, ohne Beths Aufforderung abzuwarten. In ihrem Innern war plötzlich eisige Kälte.
»Was wird Lanoy in Ordnung bringen?« fragte sie.
Beth Wisnack winkte resigniert ab. »Ich weiß nicht. Bud sprach über solche Dinge nie mit mir. Aber ich hörte ihn über Lanoy diskutieren. Es war ein dauerndes Geflüster. Kurz bevor er ging, sprach er nur noch von ihm. Ich habe meine Theorie über Lanoy. Willst du sie hören?«
»Natürlich.«
Lächelnd sagte Beth: »Ich glaube, daß Lanoy der Mann ist, der die Zeitreisen organisiert.«
Helaine hatte auch schon daran gedacht. Aber sie war hergekommen, um das Gegenteil zu erfahren, nicht um ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt zu sehen. Mit zitternden Händen glättete sie ihre Tunika, drehte sich herum und sagte: »Du glaubst wirklich? Hast du irgendeinen Grund dazu?«
»Bud sprach die ganze Woche über Lanoy. Dann verschwand er. Er hat über irgend etwas gebrütet, und es hatte mit Lanoy zu tun. Ich wußte ja nicht, worum es ging. Aber ich habe meine Theorien. Bud traf diesen Lanoy irgendwo. Sie machten ein Geschäft. Und — und …« Wieder brach der Haß durch. »Und dann verschwand Bud.« Sie sah Helaine an. »Weshalb fragst du?«
»Ich fand einen Zettel in Norms Kleidern«, sagte Helaine. »Eine Art Anzeige. Keine Arbeit? Fragen Sie nach Lanoy. Ich wollte wissen, was das bedeutete, und er wurde sehr verlegen. Er nahm mir den Zettel weg und versuchte mir weiszumachen, daß es eine Art Arbeitsvermittlung sei oder etwas Ähnliches. Ich konnte sehen, daß er log. Er verbarg mir etwas. Aber ich weiß nicht, was.«
»Du solltest dich um die Sache kümmern, Helaine.«
»Glaubst du, daß es so schlimm ist?«
»Ich glaube, daß es das gleiche wie bei Bud ist. Norm steht in Verbindung mit ihnen. Wahrscheinlich versucht er irgendwo das Geld aufzutreiben. Und dann schicken sie ihn zurück. Pfft! Verschwunden. Kein Mann mehr. Die Witwe Pomrath. Zwei unmündige Kinder.« Beth Wisnacks Augen hatten einen merkwürdigen Glanz angenommen. Die Aussicht, daß Helaines Mann unter die Zeitreisenden gehen könnte, schien sie nicht unglücklich zu machen. Elend ruft nach Gleichgesinnten. Helaine wußte das. Sollte jeder Ehemann in der Vergangenheit verschwinden! Vielleicht konnte Beth sich dann wieder freuen.
Helaine zwang sich zur Ruhe.
»Hast du diesen Lanoy erwähnt, als dich die Polizei wegen Buds Verschwinden verhörte?« fragte sie.
»Ja, ich habe ihn genannt. Sie wollten wissen, ob Bud vor seinem Verschwinden unbekannte Leute getroffen hätte, und ich sagte, ich wüßte es nicht, aber er habe einige Male den Namen Lanoy erwähnt. Sie schrieben es auf. Ich weiß nicht, was sie damit anfingen. Bud können sie mir auf keinen Fall zurückbringen. Man kann nämlich nur in eine Richtung reisen. In die Vergangenheit. Sie haben keine Maschinen, um die Leute wieder hierherzusenden. Wer einmal weg ist, kommt nicht wieder. Wenn Norm also geht …«
»Er geht nicht«, sagte Helaine.
»Aber er trifft sich doch mit diesem Lanoy?« fragte Beth.
»Er hatte nur diesen kleinen Zettel. Es stand nicht mal eine Adresse darauf. Er sagte, er wüßte nicht, wo Lanoy zu finden sei. Und sicher sind wir schließlich auch nicht, ob der Mann etwas mit den Zeitreisen zu tun hat.«
Beths Augen blitzten. »Die Lanoy-Leute sind in Kontakt mit ihm. Das heißt, daß sie ihn jederzeit erreichen können. Also kann auch er sie erreichen. Und sie werden ihn in die Vergangenheit schicken. Er macht den Sprung, Helaine. Du kannst es mir glauben.«
Ein Schnellboot brachte sie zu dem prachtvollen Gebäude, in dem sich das Kriminalsekretariat befand. Durch ihre Hartnäckigkeit in den unteren Büros erfuhr Helaine, daß sich ihr Bruder heute im Dienst befand. Schließlich teilte man ihr mit, daß er sie sprechen würde, wenn sie sich ein Weilchen gedulden könnte. Die Maschine verlangte ihren Daumenabdruck, und sie gab ihn ab, und dann saß sie in einem nüchternen Vorraum mit purpurfarbenen Möbeln.
Helaine war die Welt der Geschäftsräume und Roboter nicht gewöhnt. Sie blieb in der Nähe ihres Hauses und besorgte die meisten Einkäufe per Fernbedienung. »Die Stadt« — die Welt am Ende der Schnellbootrampen — jagte ihr Angst ein. Sie zwang sich, kühl zu bleiben. Bei einer so ernsten Angelegenheit mußte sie ihrem Bruder ruhig gegenübersitzen.
»Der Kriminalsekretär möchte Sie sprechen«, verkündete eine ruhige, unpersönliche Stimme.
Sie wurde vor ihren Bruder gebracht. Quellen erhob sich, warf ihr ein kurzes, verlegenes Lächeln zu und bot ihr einen Sessel an. Der Sessel nahm sie auf und begann ihre Rückenmuskeln zu massieren. Helaine zuckte bei dem Gefühl zusammen und rutschte angstvoll nach vorne, als sich die unsichtbaren Hände an ihren Hüften zu schaffen machten. Die fein abgestimmten Sensoren spürten ihre Ablehnung und zogen sich zurück.
Sie sah ihren Bruder unsicher an. Quellen schien vor ihr die gleiche Scheu zu haben wie sie vor ihm. Er zupfte sich am Ohr, preßte die Lippen zusammen, knackte mit den Fingerknöcheln. Sie waren sich praktisch fremd. Bei Familienfeiern traf man sich hin und wieder, aber sie hatten sich seit langer Zeit nicht mehr richtig unterhalten. Er war ein paar Jahre älter als sie. Früher waren sie einander sehr nahe gestanden. Sie hatten sich gebalgt und gezankt wie jetzt Marina und Joseph. Helaine konnte sich noch gut daran erinnern, wie er sie als Junge immer neugierig angesehen hatte. Unvermeidlich in der Enge eines Raumes. Er hatte sie an den Haaren gezogen und ihr bei den Hausaufgaben geholfen. Dann hatte seine Ausbildung für den Regierungsdienst begonnen, und er war ihrer Welt fremd geworden. Und nun war sie eine nervöse Hausfrau und er ein geschäftiger Beamter, und sie hatte ein wenig Angst vor ihm.
Ein paar Minuten lang drehte sich das Gespräch um familiäre Dinge. Helaine sprach von den Kindern, von ihrem Leben, von ihren Interessen. Quellen sagte nur wenig. Er war Junggeselle, was die Kluft zwischen ihnen noch vertiefte. Helaine wußte, daß ihr Bruder eine Freundin namens Judith hatte, aber er sprach nur selten von ihr und schien auch nicht sehr oft an sie zu denken. Manchmal hegte Helaine den Verdacht, daß es diese Judith gar nicht gab, daß sie nur eine Tarnung für irgendein heimliches Laster war — homosexuelle Beziehungen vielleicht.
Sie brachte das Geplauder zu einem Ende, indem sie direkt nach Judith fragte. »Wie geht es ihr? Du wolltest uns doch einmal mit ihr besuchen, Joe.«
Quellen sah sie bei der Erwähnung ebenso unbehaglich an wie Norm, als sie ihn wegen des Zettels gefragt hatte. Er antwortete ausweichend. »Ich habe es ihr vorgeschlagen. Sie möchte dich und Norm gern einmal kennenlernen, aber im Augenblick ist es ungünstig. Judith ist mit Kindern etwas nervös. Aber ich bin sicher, daß wir uns noch einmal treffen.« Wieder dieses unsichere, hohle Lächeln. Dann ließ er das heikle Thema fallen und kam zur Sache. »Du hast doch nicht einfach so vorbeigesehen, Helaine?«
»Nein. Ich habe etwas mit dir zu besprechen. Die Nachrichtenbänder sagen, daß du die Nachforschungen über die Zeitreisen leitest.«
»Ja. Das stimmt.«
»Norm will den Sprung machen.«
Quellen richtete sich steif auf. Seine linke Schulter schien etwas höher als die rechte. »Wie kommst du auf die Idee? Hat er dir das selbst gesagt?«
»Nein, natürlich nicht. Aber ich vermute es. Er ist in letzter Zeit so deprimiert, weil er keine Arbeit findet.«
»Das ist nichts Neues bei ihm.«
»Es ist aber schlimmer als zuvor. Du solltest mal seine Gespräche hören. Er ist so verbittert, Joe. Er bringt nur noch Unsinn vor, einfach zusammenhanglose, böse Worte. Ich wollte, du könntest es dir anhören. Über kurz oder lang kommt es bei ihm zum Zusammenbruch. Ich spüre, wie sich sein Ärger staut.« Sie zuckte zusammen. Der Stuhl begann sie wieder zu massieren. »Er hat jetzt seit Monaten keine Arbeit mehr, Joe.«
»Ich weiß«, sagte Quellen. »Die Hohe Regierung arbeitet einen Plan aus, um die Arbeitslosigkeit zu reduzieren.«
»Schön und gut. Aber inzwischen hat Norm nichts zu tun, und ich glaube nicht, daß er es noch lange aushält. Er ist mit den Zeitreise-Agenten in Kontakt, und er wird den Sprung machen. Vielleicht steigt er sogar in diesem Augenblick in die Maschine.«
Ihre Stimme war schrill geworden. Sie konnte das Echo hören. Sie hatte das Gefühl, daß ihre Nerven jeden Augenblick durch die Haut dringen würden.
Quellens Miene hatte sich verändert. Er holte Luft, um sich zu entspannen und beugte sich freundlich vor. Seine Miene war die eines Psychiaters. Helaine erwartete, daß er sagen würde: »Wollen wir nun versuchen, dieser Wahnvorstellung auf den Grund zu gehen?« Statt dessen sagte er sanft: »Vielleicht regst du dich unnötig auf, Helaine. Wie kommst du auf den Gedanken, daß er mit den Verbrechern zusammenarbeiten könnte?«
Sie erzählte ihm von dem Zettel und Norms merkwürdiger Reaktion auf ihre Frage. Als sie den Inhalt zitierte, bemerkte Helaine zu ihrer Überraschung, daß Joes freundlicher Blick einen Augenblick angstvoll wurde. Dann hatte er sich wieder gefangen. Aber es war zu spät. Helaine war eine scharfe Beobachterin menschlicher Reaktionen.
»Du kennst diesen Lanoy?« fragte sie.
»Zufällig habe ich einen der Zettel gesehen, Helaine. Sie sind weit verbreitet. Man geht auf eine Schnellbootrampe, und plötzlich kommt jemand auf einen zu und drückt einem so ein Ding in die Hand. Sicher hat Norm es auf die gleiche Weise bekommen.«
»Und es ist eine Anzeige der Zeitreise-Agenten, nicht wahr?«
»Ich habe keinen Grund, das anzunehmen«, sagte er gedehnt. Man sah ihm an, daß er log.
»Aber du stellst doch Nachforschungen über Lanoy an? Ich meine, wenn er sich wirklich verdächtig macht …«
»Ja, wir überprüfen ihn. Und ich wiederhole, Helaine, daß wir bis jetzt noch keinen Grund zu der Annahme haben, Lanoy könnte mit den Zeitreisen zu tun haben.«
»Aber Beth Wisnack sagte, daß ihr Mann vor seinem Verschwinden dauernd von Lanoy sprach.«
»Wer?«
»Wisnack. Einer, der erst kürzlich den Sprung machte. Beth sagte mir rundheraus, daß Lanoy für Buds Verschwinden verantwortlich sei. Sie sagte auch, daß Norm bestimmt gehen würde.« Erregt rutschte Helaine auf dem Sessel hin und her. Das Gehirn des Stuhles nahm die Bewegung auf und begann sie wieder zu massieren.
»Wir können sehr leicht nachprüfen, ob Norm unter die Zeitreisenden gehen will«, meinte Quellen. Er drehte sich herum und hielt ihr eine Spule hin. »Hier ist eine komplette Aufzeichnung aller Zeitreisenden, die in der Vergangenheit registriert wurden. Die Liste wurde erst kürzlich für mich angefertigt, und ich hatte natürlich noch keine Zeit, sie vollständig durchzugehen. Sie enthält Hunderttausende von Namen. Aber wenn Norm den Sprung machte, werden wir es hier sehen.«
Er schaltete die Spule ein und begann sie durchzusehen. Halblaut murmelte er die alphabetisch geordneten Namen vor sich hin. Helaine saß steif da, während Quellen dem Buchstaben P immer näher kam. Ob er ihn fand?
Wenn Norm verschwunden war, mußte sich sein Name hier befinden. Sein Schicksal mußte hier zu lesen sein — sein Geschick und das ihre. Auf einer Kunststoffrolle. Sie würde erfahren, daß ihre Ehe dreihundert Jahre, bevor sie endete, zum Scheitern verurteilt war. Sie würde erfahren, daß der Name ihres Mannes vor Jahrhunderten eingetragen worden war — als der Name eines Flüchtlings aus dieser Zeit. Weshalb hatte man die Listen nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht? Sie wußte es. Weil die Erkenntnis auf den Betroffenen lasten würde, weil sie unter dem Schatten dieses Wissens aufwachsen müßten.
»Siehst du?« sagte Quellen triumphierend. »Er steht nicht auf der Liste.«
»Heißt das, daß er den Sprung nicht gemacht hat?«
»Ich würde es behaupten.«
»Aber kannst du sicher sein, daß wirklich alle Zeitreisenden registriert wurden?« fragte Helaine. »Was ist, wenn eine ganze Menge so davonkamen?«
»Möglich wäre es natürlich.«
»Und die Namen«, fuhr sie fort. »Wenn Norm in der Vergangenheit einen falschen Namen angab, dann würdest du ihn auch nicht auf der Liste finden. Habe ich recht?«
Quellen sah sie düster an. »Es besteht immer die Möglichkeit, daß er unter einem Pseudonym lebte«, gab er zu.
»Du weichst mir aus, Joe. Du kannst einfach nicht sicher sein, ob er die Reise machte. Auch nicht mit der Liste.«
»Und was soll ich tun, Helaine?«
Sie atmete tief ein. »Du könntest Lanoy festnehmen, bevor er Norm in die Vergangenheit schickt.«
»Ich muß Lanoy erst finden«, stellte Quellen fest. »Und dann muß ich ihm beweisen, daß er mit der Sache zu tun hat. Bis jetzt haben wir nicht den geringsten Beweis — nur deine Vermutungen.«
»Dann verhafte Norm.«
»Was?«
»Hänge ihm irgendein Vergehen an und sperre ihn ein. Gib ihm ein paar Jahre Therapieaufenthalt in einer Anstalt. Dann ist er aus dem Verkehr gezogen, bis die Zeitreise-Affäre vorbei ist. Nenne es meinetwegen Schutzhaft.«
»Helaine, ich kann das Gesetz nicht willkürlich anwenden. Auch nicht bei meiner Familie.«
»Er ist mein Mann, Joe. Ich will ihn behalten. Wenn er in die Vergangenheit zurückgeht, verliere ich ihn für immer.« Helaine erhob sich. Sie schwankte und mußte sich an Quellens Schreibtisch festhalten. Wie konnte sie ihm verständlich machen, daß sie sich am Rand eines Abgrunds befand? Wenn Norm den Sprung wagte, war es ihr Tod. Sie kämpfte um ihren Mann. Und da saß ihr Bruder, hüllte sich in sein Mäntelchen der Selbstgerechtigkeit und tat nichts, während die kostbaren Sekunden verstrichen.
»Ich werde tun, was ich kann«, versprach Quellen. »Ich werde mir diesen Lanoy näher ansehen. Wenn du Norm herschicken willst, spreche ich mit ihm über diese Sache. Vielleicht kann ich herausbringen, was er vorhat. Ja. Das ist vielleicht das beste. Schicke ihn her.«
»Wenn er vorhat, den Sprung zu wagen«, meinte Helaine, »wird er es dir wahrscheinlich nicht sagen. Er wird um dieses Gebäude einen Bogen von fünf Meilen machen.«
»Dann sage ihm, daß ich mit ihm über einen Job reden möchte. Hat er sich nicht oft genug beklagt, daß ich zu wenig für ihn tue? Schön, er soll herkommen. Er wird glauben, daß ich eine freie Stelle für ihn habe. Und ich werde ihn wegen der Zeitreise-Angelegenheit aushorchen. Vorsichtig natürlich. Wenn er etwas weiß, werde ich es erfahren. Dann zerschlagen wir den Ring der Verbrecher, und er kann nicht mehr reisen. Wie klingt das, Helaine?«
»Ermutigend. Ich werde mit ihm sprechen. Ich werde ihn herschicken. Wenn er nicht schon verschwunden ist.«
Sie ging auf die Tür zu. Ihr Bruder lächelte wieder. Helaine beeilte sich. Sie hatte Angst, daß Norm bereits für immer abgereist war, während sie hier saß und redete. Sie mußte sofort nach Hause. Und sie mußte ihn genau im Auge behalten, bis die Krise vorbei war.
»Viele Grüße an Judith«, sagte sie und lief hinaus.