5

Martin Koll ordnete umständlich die Papiere auf seinem Schreibtisch, um vor Quellen seine Verwirrung zu verbergen. Der Kriminalsekretär hatte Koll soeben einen sehr beunruhigenden Vorschlag gemacht, einen Vorschlag, der weitreichende Folgen haben konnte. Koll wiederum mußte ihn der Hohen Regierung zur Beurteilung vorlegen. Am liebsten hätte er Quellen an einem rostigen Nagel aufgespießt, um sich für diese unangenehme Sache zu rächen. Zugegeben, es war ein kluger Vorschlag. Aber Klugheit paßte gar nicht zu Quellen. Der Mann war gründlich, systematisch und einigermaßen geschickt, aber das war doch noch lange kein Grund, seinem Vorgesetzten mit einer derartig zweischneidigen Sache zu kommen.

»Mal sehen, ob ich Sie recht verstehe«, sagte Koll, der nur allzu gut verstand. »Ihre Nachforschungen in der Zeitreise-Affäre haben ergeben, daß sich unter den Aufgezeichneten ein Mann namens Mortensen befindet, der nächsten Monat die Reise machen soll. Diesen Mann gibt es tatsächlich. Und Sie schlagen nun vor, ihn zu beschatten und zu seinem Kontaktmann zu verfolgen. Man soll ihn von der Reise in die Vergangenheit abhalten, indem man zuvor diejenigen verhaftet, die das Reisegeschäft betreiben.«

Quellen nickte. »Jawohl.«

»Sie sind sich doch im klaren darüber, daß das ein direktes Eingreifen in die Vergangenheit ist, etwas, das man bisher noch nie gewagt hat?«

»Ich weiß«, sagte Quellen. »Deshalb kam ich auch her, um mir Ihre Erlaubnis zu holen. Ich stehe zwischen zwei Befehlen: den Mann zu fangen, der die Zeitreisen organisiert, und den Geschichtsablauf nicht zu verändern. Offensichtlich steht Mortensen mit dem Verbrecher in Kontakt, wenn der vierte Mai das tatsächliche Abreisedatum ist. Wenn wir also jemanden auf ihn ansetzen …«

»Ja«, sagte Koll trocken, »das sagten Sie bereits. Ich kann mir Ihre Schwierigkeiten vorstellen.«

»Haben Sie irgendwelche Instruktionen für mich?«

Koll blätterte wieder nervös in seinen Papieren. Er hatte den Verdacht, daß Quellen das absichtlich tat, daß er sich freute, ihn festnageln zu können. Koll erkannte sehr wohl die Einmaligkeit der Situation. Seit zehn Jahren ließ er nun Quellen nach seiner Pfeife tanzen. Er gab ihm eine heiße Sache nach der anderen und sah mit Vergnügen zu, wie Quellen seine begrenzten Fähigkeiten zur Lösung der Probleme einsetzte. Koll mußte zugeben, daß er Quellen sogar mit etwas Sadismus behandelte. Es war nicht unfair. Koll durfte seine persönlichen Fehler wie jeder andere haben, und es erschien ihm durchaus in Ordnung, daß er seine Aggressionsgefühle an dem ruhigen Quellen ausließ. Dennoch, es war unangenehm, daß Quellen sich jetzt auf diese Weise rächte.

Nach einem Augenblick peinlichen Schweigens erklärte Koll: »Ich kann Ihnen noch keine Instruktionen geben. Ich muß die Sache mit Spanner besprechen. Und höchstwahrscheinlich müssen wir uns noch von anderer Stelle beraten lassen.«

Damit meinte er die Hohe Regierung. Koll entging das kleine Lächeln nicht, das einen Augenblick über Quellens Züge huschte. Kein Zweifel, Quellen machte der Auftritt Spaß.

»Ich werde nichts weiter unternehmen, bis ich Ihre Zustimmung habe, Sir«, sagte der Kriminalsekretär.

»Das wäre anzuraten«, erwiderte Koll.

Quellen ging. Koll grub die Fingernägel in die Handflächen, bis seine Hände schmerzten. Dann drückte er mit schnellen Bewegungen auf die Knöpfe, die die Spule aus dem Tonband lösten. Spanner sollte sich seine Unterhaltung mit Quellen anhören. Und danach …

Spanner war im Augenblick nicht da. Er ging irgendeiner Beschwerde einer anderen Abteilung nach. Koll schwitzte. Er wollte, Quellen hätte sich für diesen Mortensen-Unsinn eine Zeit ausgewählt, in der Spanner zugegen war. Aber zweifellos gehörte auch das zu Quellens teuflischem Plan. Koll war wütend, daß ihn dieser kleine Sekretär so verfolgte. Er schloß die Augen und sah Quellens Bild vor sich: lange gerade Nase, blaßblaue Augen, fließendes Kinn. Ein gewöhnliches Gesicht, das man leicht vergaß. Manche mochten es sogar ein hübsches Gesicht nennen. Martin Koll hatte noch niemand hübsch genannt. Andererseits war er klüger. Weit klüger als dieser armselige Quellen. Wenigstens hatte das Koll bis zum heutigen Nachmittag geglaubt.

Eine Stunde später kam Spanner zurück. Als er sich hinter seinem Schreibtisch niederließ, glich er einem Raubtier, das eine reichhaltige Mahlzeit hinter sich hat. Koll gab ihm die Spule.

»Spielen Sie das ab. Und dann sagen Sie mir, was Sie davon halten.«

»Können Sie mir keine Zusammenfassung geben?«

»Spielen Sie es lieber ab. Es ist einfacher«, meinte Koll.

Spanner tat ihm den Gefallen und benutzte den Kopfhörer. Koll war erleichtert, daß er nicht alles noch einmal anhören mußte. Als die Spule abgelaufen war, sah Spanner auf. Er zupfte sich am Kinn und meinte: »Eine gute Möglichkeit, die Leute zu erwischen, nicht wahr?«

Koll schloß die Augen. »Überlegen Sie einmal wie ich: Wir halten Mortensen fest. Er macht den Sprung in die Vergangenheit nicht. Er hat nicht die fünf Kinder, die man ihm zuschreibt. Drei dieser fünf Kinder haben, sagen wir, bedeutende geschichtliche Richtungen eingeleitet. Einer von ihnen wird meinetwegen der Vater des Mörders von Generalsekretär Tse. Einer von ihnen wird der Großvater des Mädchens, das die Cholera nach San Franzisko einschleppte. Einer von ihnen schafft die Linie, die bei Flaming Bess endet. Wenn nun Mortensen nie sein Ziel in der Vergangenheit erreicht, wird keiner von den dreien geboren.«

»Sehen wir es anders«, sagte Spanner. »Mortensen geht in die Vergangenheit. Er hat fünf Kinder. Zwei der Mädchen werden alte Jungfern. Das dritte ertrinkt, als es sich auf zu dünnes Eis wagt. Der eine Sohn ist ein gewöhnlicher Arbeiter und hat ein paar Kinder, die es nie zu etwas bringen, und der fünfte …«

»Woher wissen Sie, was es bedeutet, wenn man einen einzigen Arbeiter aus der Matrix der Vergangenheit entfernt?« fragte Koll. »Wir können nicht einmal einkalkulieren, welche Änderungen durch das Entfernen einer alten Jungfer entstehen. Wollen Sie es riskieren, Spanner? Wollen Sie die Verantwortung übernehmen?«

»Nein.«

»Ich auch nicht. Wir hätten jetzt schon seit vier Jahren Zeitreisende zurückhalten können, wenn wir die Aufzeichnungen nur durchgesehen hätten. Niemand hat es getan. Niemand hat es bisher vorgeschlagen. Erst unser Freund Quellen kam auf die verrückte Idee.«

»Ich weiß nicht«, meinte Spanner. »Ehrlich gesagt, ich dachte selbst schon daran.«

»Aber Sie sagten nichts.«

»Na schön. Ich hatte noch nicht die Zeit, an die Folgen zu denken. Aber ich bin sicher, daß auch andere, die mit dem Zeitreisenproblem beschäftigt sind, auf den Gedanken kamen. Vielleicht ist es sogar schon durchgeführt worden.«

»Gut«, sagte Koll. »Rufen Sie Quellen an und sagen Sie ihm, daß er für seinen Plan offiziell um Zustimmung nachsuchen soll. Dann unterzeichnen Sie.«

»Nein. Wir werden beide unterzeichnen.«

»Ich lehne es ab, die Verantwortung zu übernehmen.«

»In diesem Fall muß ich das gleiche tun.«

Sie lächelten einander kühl an. Die Schlußfolgerung war klar.

»In diesem Fall«, meinte Koll, »müssen wir den Oberen die Entscheidung überlassen.«

»Einverstanden. Das übernehmen Sie.«

»Feigling!« knurrte Koll.

»Weshalb? Quellen hat die Sache Ihnen vorgetragen. Sie haben mit mir darüber gesprochen, und meine Ratschläge haben Ihre eigenen Gefühle bestätigt. Jetzt liegt der Fall wieder bei Ihnen. Bringen Sie ihn bei den Oberen vor.« Spanner lächelte freundlich. »Sie haben doch keine Angst davor, oder?«

Koll rutschte unbehaglich in seinem Sessel hin und her. Bei seiner Autorität und Verantwortung hatte er das Recht, sich direkt an die Hohe Regierung zu wenden. Er hatte von dem Recht schon ein paarmal Gebrauch gemacht, aber immer mit Widerwillen. Natürlich sprach er mit den Oberen nicht von Angesicht zu Angesicht. Er kannte ein paar Klasse-Zwei-Leute persönlich, aber der Kontakt mit Klasse Eins erfolgte über den Bildschirm. Einmal hatte Koll mit Danton gesprochen und dreimal mit Kloofman, aber er war keineswegs sicher, ob es sich bei den Gestalten um echte Menschen handelte. Wenn jemand sagte, er sei Kloofman, wenn er mit Kloofmans Stimme sprach und den Bildern von Kloofman ähnlich sah, bedeutete das noch nicht, daß es einen Menschen namens Peter Kloofman überhaupt gab.

»Ich werde anrufen und sehen, was sich ergibt«, meinte Koll.

Er wollte den Anruf nicht von seinem eigenen Schreibtisch aus machen. Plötzlich verlangte es ihn nach Bewegung. Koll stand auf, etwas zu hastig, und ging hinaus, hinunter in die Halle, wo eine verdunkelte Telefonzelle stand. Der Schirm flackerte hell auf, als er auf die Taste drückte.

Man wagte es natürlich kaum, den Hörer aufzunehmen und Kloofman anzurufen. Man hatte dazu eigene Verbindungsleute. Kolls Kontakt zur Spitze erfolgte über David Giacomin, den Vizekönig für internationale Verbrechensbekämpfung. Giacomin gehörte zur Klasse Zwei und existierte tatsächlich. Koll hatte ihn gesehen, er hatte sogar zwei Stunden in seinem Privatreich in Ostafrika verbracht — eines der denkwürdigsten und quälendsten Ereignisse in Kolls ganzem Leben.

Er wählte Giacomins Nummer. In weniger als einer Viertelstunde zeigte sich der Vizekönig auf dem Schirm und lächelte auf Koll herab — in der jovialen Art, die sich nur ein Mitglied der Klasse Zwei leisten konnte. Giacomin war ein Mann um die Fünfzig mit kurzgeschorenem, eisgrauen Haar, einem schiefen Mund und einer zerfurchten Stirn. Sein linkes Auge mußte irgendwann in der Vergangenheit zerstört worden sein. Statt dessen trug er einen Empfänger aus Kunststoff, dessen Zuleitungen direkt zum Hirn führten.

»Was gibt es, Koll?« fragte er liebenswürdig.

»Sir, einer meiner Untergebenen hat eine sehr ungewöhnliche Methode vorgeschlagen, mit deren Hilfe man Auskunft über die Zeitreise-Affäre bekommen könnte. Es sind nun einige Zweifel darüber entstanden, ob wir diesen Weg einschlagen sollen oder nicht.«

»Warum erzählen Sie mir nicht die ganze Geschichte?« fragte Giacomin. Seine Stimme war so sanft und tröstend, als wolle er einem Patienten das Geheimnis seiner Neurose entlocken.


* * *

Eine Stunde später, gegen Ende des Arbeitstages, erfuhr Quellen von Koll, daß man hinsichtlich Mortensen noch nichts erreicht hatte. Koll hatte mit Spanner und dann mit Giacomin gesprochen, und nun wollte Giacomin mit Kloofman sprechen. In ein paar Tagen würde einer der Oberen das letzte Wort in der Mortensen-Angelegenheit sprechen. Quellen sollte inzwischen nichts unternehmen. Schließlich war bis zum vierten Mai noch eine Menge Zeit.

Quellen freute sich keineswegs über den Wirbel, den er verursachte. Es war ein kluger Gedanke, sich auf Mortensens Spur zu setzen. Aber manchmal war zu viel Klugheit gefährlich. Quellen wußte, daß er Koll eingeheizt hatte. Das machte sich nie bezahlt. Und er konnte sich vorstellen, daß auch Koll Giacomin lästig gefallen war und daß nun Giacomin Kloofman verärgerte. Das bedeutete, daß Quellens kluger Vorschlag auf dem Weg durch die Instanzen überall Ärger aufwirbelte. Als Quellen jünger war und danach strebte, an die Spitze von Klasse Sieben zu gelangen, hätte er sich nichts so sehr gewünscht wie diese Beachtung. Jetzt war er Klasse Sieben, er hatte das kleine Privatapartment, das ihm alles bedeutete, und eine weitere Beförderung konnte ihm wenig einbringen. Außerdem belastete sein illegales Heim in Afrika sein Gewissen. Er wollte auf keinen Fall, daß ein Mitglied der Hohen Regierung sagte: »Dieser Quellen ist ein schlauer Bursche — finden Sie alles über ihn heraus, was Sie können.« Quellen hatte nur den Wunsch, unbeachtet zu bleiben.

Dennoch hatte er die Idee mit Mortensen nicht unterdrücken können. Er hatte seine Pflichten zu erfüllen, und sein privater Lebenswandel machte ihn in dienstlichen Dingen nur um so gewissenhafter.

Bevor Quellen an diesem Tag das Büro verließ, verlangte er nach Stanley Brogg.

Der bullige Assistent sagte sofort: »Wir haben ein weites Netz ausgespannt, Sekretär. Es ist nur noch eine Sache von Tagen oder Stunden, bis wir die Identität des Kerls kennen.«

»Gut«, sagte Quellen. »Mir ist noch eine weitere Methode eingefallen. Aber wir müssen vorsichtig zu Werk gehen, weil sie offiziell noch nicht genehmigt ist. Da ist ein Mann namens Donald Mortensen, der am vierten Mai den Zeitsprung wagen will. Sie können es in den Akten nachprüfen, die Sie mir gaben. Ich möchte, daß man ihn aufspürt. Sein Tun und seine Verbindungen sollen genau überprüft werden. Aber es muß mit äußerster Feinfühligkeit geschehen. Das kann ich nicht stark genug betonen, Brogg.«

»Schön. Mortensen heißt der Mann.«

»Mit äußerster Feinfühligkeit! Wenn der Mann merkt, daß wir ihn überwachen, kann es eine peinliche Situation für uns werden. Degradierung und Schlimmeres. Also, merken Sie sich eines: Der Mann muß völlig ahnungslos bleiben. Sonst geht es Ihnen schlecht.«

Brogg lächelte verschlagen. »Sie würden mich um ein paar Stufen strafversetzen, wenn ich einen Fehler mache?«

»Höchstwahrscheinlich.«

»Ich glaube nicht, daß Sie das wagen würden, Sekretär.«

Quellen erwiderte ruhig den Blick des Dicken. Brogg wurde in letzter Zeit aggressiv. Er genoß die Macht, die er über Quellen besaß. Seine zufällige Entdeckung der Villa in Afrika war die große Qual in Quellens Leben.

»Verschwinden Sie«, sagte Quellen. »Und denken Sie daran, daß die Sache Mortensen vorsichtig angefaßt werden muß. Es ist sehr gut möglich, daß die Hohe Regierung die Untersuchung abbrechen läßt, und dann ist keiner von uns zu beneiden.«

»Ich verstehe«, sagte Brogg. Er ging.

Quellen überlegte, ob er das Richtige getan hatte. Was geschah, wenn über Giacomin der Befehl kam, Mortensen in Ruhe zu lassen? Nun, Brogg war ziemlich schlau — zu schlau manchmal. Und wenn die Oberen seinem Plan zustimmten, blieb einfach nicht mehr genug Zeit, um die Verfolgung aufzunehmen. Quellen mußte das Projekt vorher starten.

Er hatte für den Augenblick getan, was er konnte. Flüchtig kam ihm der Gedanke, Brogg den ganzen unangenehmen Fall zu übergeben und sich nach Afrika zurückzuziehen. Aber er kam zu dem Entschluß, daß das eine Herausforderung an das Schicksal wäre. So verschloß er sein Büro und ging nach unten, um das nächste Schnellboot zu seinem Klasse-Sieben-Apartment zu nehmen. Er wußte, daß er in den nächsten Wochen nur hin und wieder für ein paar Stunden nach Afrika entfliehen konnte. Er wurde in Appalachia festgehalten, bis die Krise mit den Zeitreisen vorüber war.

Als Quellen in sein Apartment zurückkam, entdeckte er, daß seine Lebensmittelvorräte am Schwinden waren. Und da er die nächste Zeit hier verbringen mußte, beschloß er, sie aufzustocken. Manchmal gab Quellen seine Bestellung per Telefon auf, aber heute nicht. Er befestigte das Schild Privat über seiner Tür und begab sich per Flugrampe zu seinem Lebensmittelladen.

Während er nach unten fuhr, bemerkte er einen blassen Mann in einer losen purpurnen Tunika, der die Rampe in entgegengesetzter Richtung nach oben kam. Quellen kannte ihn nicht, aber das war kein Wunder. In dem Menschengewühl von Appalachia lernte man nicht viele Leute näher kennen, nur ein paar Nachbarn und Angestellte wie den Ladenbesitzer des Apartmenthauses.

Der blasse Mann sah Quellen neugierig an. Er schien mit seinen Blicken etwas sagen zu wollen. Quellen hatte bei der Begegnung ein unbehagliches Gefühl. Bei seiner Arbeit hatte er genug über Leute erfahren, die Fremde auf den Straßen belästigten. Da gab es die übliche Annäherung aus sexuellen Gründen, aber auch die, bei der einem irgendeine höllische Droge in die Adern gepumpt wurde. Andere Leute injizierten einem aus Sadismus Krebserreger. Und dann gab es noch die Geheimagenten, die eine Molekülsonde so im Körper des Opfers anbrachten, daß sie von jedem Ort aus jedes Wort mithören konnten, das man sprach. Solche Dinge waren alltäglich.

»Lesen Sie das«, murmelte der bleiche Mann.

Er schob sich an Quellen heran und drückte ihm eine gefaltete Notiz in die Hand. Quellen konnte die Berührung nicht vermeiden. In diesem kurzen Moment hätte ihm der Fremde alles antun können. Vielleicht verwandelte sich schon in diesem Augenblick sein Knochenmark in Brei. Aber es schien, als wollte der Mann wirklich nur für etwas werben. Als er fort war, entfaltete Quellen den kleinen Zettel und las ihn:


KEINE ARBEIT?
FRAGEN SIE NACH LANOY

Das war alles. Sofort trat Quellens kriminalistischer Spürsinn in Aktion. Wie die meisten Gesetzesbrecher im öffentlichen Dienst war er äußerst streng in der Verfolgung anderer Gesetzesbrecher, und irgend etwas an dieser kleinen Notiz roch nach Illegalität. Hatte dieser Lanoy eine Art Stellenvermittlung? Aber das war doch Sache der Regierung. Quellen drehte sich hastig um. Er dachte daran, den blassen Mann zu verfolgen. Aber er sah nur noch einen Zipfel der purpurnen Tunika. Dann war der Fremde verschwunden.

Keine Arbeit? Fragen Sie nach Lanoy.

Quellen fragte sich, wer Lanoy war und welches Wundermittel er feilbot. Er entschloß sich, Leeward oder Brogg mit der Untersuchung der Angelegenheit zu beauftragen.

Er verstaute den Zettel sorgfältig in seiner Tasche und betrat den Laden. Die bleiverkleidete Tür schwang zurück, um ihn einzulassen. Roboter glitten an den Regalen auf und ab, füllten Waren nach oder erledigten Bestellungen. Der rotgesichtige kleine Mann, der den Laden führte — eigentlich unnötig, aber welche Hausfrau ließ sich schon gern von einem Roboter bedienen? — begrüßte Quellen mit ungewöhnlicher Liebenswürdigkeit.

»Oh, der Herr Kriminalsekretär! Sie haben uns schon lange nicht mehr die Ehre gegeben, Herr Kriminalsekretär. Ich fragte mich schon, ob Sie umgezogen seien. Aber das ist doch unmöglich, nicht wahr? Sie hätten mir sicher Bescheid gesagt, wenn man Sie befördert hätte.«

»Ja, natürlich, Greevy. Ich war in letzter Zeit nicht viel hier. Eine Menge Nachforschungen.« Quellen runzelte die Stirn. Er wollte nicht, daß man überall über seine lange Abwesenheit erfuhr. Schnell und mit fahrigen Bewegungen nahm er den Katalog und begann die Nummern abzulesen. Konservendosen, Pulverkonzentrate, Grundnahrungsmittel. Er übergab seine Liste einem Roboter, während der Ladenbesitzer wohlwollend zusah.

»Ihre Schwester war gestern hier«, sagte Greevy.

»Helaine? Ich habe sie in letzter Zeit selten gesehen.«

»Sie sieht nicht gut aus, Herr Kriminalsekretär. Schrecklich mager. Ich wollte ihr etwas Stärkendes verkaufen, aber sie nahm es nicht. War sie schon bei den Ärzten?«

»Ich weiß wirklich nicht«, sagte Quellen. »Ihr Mann hat doch eine medizinische Ausbildung. Er ist zwar kein Arzt, aber doch ein Techniker, und er würde es erkennen, wenn ihr ernstlich etwas fehlte. Wenn er noch denken kann.«

»Das ist unfair, Herr Kriminalsekretär. Ich bin sicher, daß Mister Pomrath glücklich wäre, wenn er Arbeit bekäme. Ich weiß es. Niemand legt gern die Hände in den Schoß. Ihre Schwester sagt, daß er sehr unter der Arbeitslosigkeit leidet. Ich sollte es Ihnen zwar nicht sagen —« Er beugte sich flüsternd zu ihm herüber — »aber man ist in Ihrer Familie etwas verbittert über Sie. Man glaubt vielleicht, daß Sie mit Ihrem politischen Einfluß …«

»Ich kann nichts für sie tun. Überhaupt nichts!« Quellen merkte, daß er zu laut sprach. Was ging es diesen verdammten Krämer an, ob Norman Pomrath Arbeit hatte oder nicht? Weshalb mischte er sich ein? Quellen beherrschte sich mühsam. Er entschuldigte sich für seinen Zornesausbruch und verließ den Laden.

Auf der Straße blieb er einen Augenblick stehen und sah der vorbeiströmenden Menge zu. Die Kleider glänzten in allen Farben. Man hörte alle Sprachen. Die Welt war ein riesiger Bienenstock. Trotz aller Geburtenbeschränkungen schien das Gewimmel täglich stärker zu werden. Quellen sehnte sich nach der stillen Oase, die er sich unter so großen Opfern erworben hatte. Je mehr er von den Krokodilen sah, desto weniger konnte er den Mob ertragen, der sich durch die überfüllten Städte schob.

Und dennoch war es eine geordnete Welt. Jeder hatte seine Nummer. Jeder war registriert. Jeder wurde überwacht. Wie konnte man auch eine Welt von dreißig Milliarden regieren, wenn man ihr nicht eine gewisse Ordnung gab? Und doch wußte Quellen aufgrund seiner Stellung, daß unter dieser geordneten Oberfläche alle Arten von illegalen Dingen vorkamen — nicht, wie bei ihm selbst, der verständliche Versuch, aus der Masse auszubrechen, sondern verbrecherische, unverzeihliche, lasterhafte Dinge. Man brauchte nur an die Drogen zu denken. In allen fünf Kontinenten waren Labors dabei, neue Zusammensetzungen herzustellen, sobald eine Droge verboten wurde. Gerade jetzt brachten sie wieder ein paar teuflische Alkaloide auf den Markt, und sie machten es auf die gemeinste Art. Da ging ein ahnungsloser Mensch in eine Traumbar und hoffte auf eine halbe Stunde Halluzinationen. Statt dessen handelte er sich eine Sucht ein. Oder eine Frau wurde in einem Schnellboot von einem Mann angerempelt und tat es als plumpe Annäherung ab. Zwei Tage später mußte sie entdecken, daß sie süchtig geworden war, und die Ärzte hatten alle Mühe, das Gift zu analysieren.

Verbrechen, dachte Quellen. Häßliche, unmenschliche Dinge. Wir besitzen keine Menschlichkeit mehr. Wir tun anderen grundlos weh, nur aus einem sadistischen Trieb heraus. Und wenn wir Hilfe suchen, stoßen wir auf Angst und Ablehnung. Bleibt mir fern! Laßt mich in Ruhe!

Und nun dieser Lanoy. Quellen griff nach dem kleinen Zettel. Irgend etwas war hier faul, aber der Mann ging so vorsichtig vor, daß er bis jetzt noch nicht die Aufmerksamkeit des Kriminalsekretariats auf sich gelenkt hatte. Was sagte der Komputer über Lanoy? Wie gelang es diesem Lanoy, seine illegale Tätigkeit vor seiner Familie oder seinen Zimmergefährten zu verbergen? Bestimmt lebte er nicht allein. Ein Gesetzloser befand sich sicher nicht in Klasse Sieben. Lanoy war irgendein schlauer Prolet, der zu seiner privaten Bereicherung ein Schwindelgeschäft betrieb.

Quellen fühlte eine merkwürdige Verbundenheit zu dem unbekannten Lanoy, so sehr er auch vermied, das zuzugeben. Lanoy mischte also auch im Spiel der Großen mit. Sicher lohnte es sich, ihn kennenzulernen.

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