Epilog: Kalidasas Triumph

In den letzten Tagen jenes letzten, kurzen Sommers kam, bevor die von den Polen herabreichenden Eisklauen sich um den Äquator schlossen, einer der Abgesandten von Starholm zum Felsen Jakkagala.

Er war ein Meister der Vielen und hatte sich erst vor kurzem zu menschlicher Gestalt konjugiert. Abgesehen von einer winzigen Einzelheit war die Konjugation vollkommen; dennoch befanden sich die rund ein Dutzend Kinder, die ihn im Autokopter begleiteten, in einem fortwährenden Zustand milder Hysterie — die jüngeren konnten sich vor Kichern kaum halten.

»Was ist so lustig?«, fragte Es in vollendetem Solar. »Oder handelt es sich um einen Witz, den Außenseiter nicht verstehen?«

Aber sie weigerten sich, dem Starholmer, dessen Sehfähigkeit ausschließlich im Infrarotbereich lag, zu erklären, dass die Haut des Menschen nicht ein wahlloses Mosaik aus grünen, roten und blauen Farbtönen war. Selbst als Es damit drohte, Es werde sich in einen Tyrannosaurus Rex verwandeln und sie alle verschlingen, waren sie immer noch nicht gewillt, Seine Neugierde zu befriedigen. Im Gegenteil, sie machten Ihm klar — Ihm, der über fünfzig Lichtjahre zurückgelegt und dreißig Jahrhunderte lang Wissen angesammelt hatte —, dass eine Masse von nur hundert Kilogramm wahrscheinlich keinen besonders imposanten Saurier abgeben würde.

Dem Wesen von Starholm machte es wenig aus. Es war geduldig und empfand die Kinder der Erde sowohl biologisch, als auch psychologisch als ungemein faszinierend. Dasselbe galt für die Jungen aller Arten — aller, war einschränkend zu bemerken, die Jungen hervorbrachten. Das Wesen von Starholm glaubte, nachdem Es neun solcher Arten studiert hatte, fast zu wissen, was es bedeutete, aufzuwachsen, zu reifen und zu sterben. Fast — aber nicht ganz.

Ausgebreitet vor dem Dutzend junger Menschen und dem einen Nichtmenschen lag das leere Land, seine einstmals grünen Felder und die dichten Wälder hinweggefegt von den eiskalten Stürmen aus Norden und Süden. Die schlanken Kokospalmen waren längst verschwunden, und auch ihre Nachfolger, die düsteren Fichten und Kiefern, waren nur noch nackte Skelette, deren Wurzeln der Dauerfrost vernichtet hatte. Es gab kein Leben mehr auf der Oberfläche der Erde. Nur in den Abgründen der Ozeane, die durch die innere Wärme des Planeten vor dem Zugriff des Eises geschützt waren, überlebten noch ein paar blinde, halbverhungerte Kreaturen.

Für ein Wesen indes, dessen Heimat sich um einen halb erloschenen roten Stern drehte, schien die Sonne, die vom wolkenlosen Himmel herabstrahlte, noch immer unerträglich hell. Zwar hatte sie ihre Wärme infolge der Krankheit, von der sie vor tausend Jahren befallen worden war, verloren; aber ihr kaltes, grelles Licht enthüllte jede Einzelheit des sterbenden Landes und brach sich glanzvoll in den immer näher kommenden Gletschern.

Für die Kinder war die Kälte eine aufregende Herausforderung. Während sie nackt durch die Schneewehen tanzten und puderige Wolken glitzernder Kristalle aufwirbelten, mussten ihre Symbionten sie immer wieder auf die Frostgefahr hinweisen. Sie waren nämlich noch zu jung, als dass sie abgestorbene Glieder hätten nachwachsen lassen können.

Der älteste unter den Jungen spielte den Angeber. Er kündigte an, er sei ein Feuerelement (das Wesen von Starholm notierte sich den Ausdruck für spätere Analyse) und werde eine Offensive gegen die Kälte durchführen. Danach sah man von ihm nur noch eine von Flammen durchzuckte Rauchwolke, die zwischen den alten Mauern hin und her tanzte und von den andern Kindern völlig ignoriert wurde.

Für das Wesen von Starholm jedoch bot sich hier ein interessantes Paradox. Warum hatten sich diese Geschöpfe auf die inneren Planeten zurückgezogen, wenn sie sich doch mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen, recht gut gegen die Kälte hätten zur Wehr setzen können — wie es ihre Vettern auf dem Mars taten? Auf diese Frage hatte Es bislang noch keine zufriedenstellende Antwort gefunden. Es bedachte von neuem die rätselhafte Erwiderung, die Ihm von ARISTOTELES — der Einheit, mit der Es sich am leichtesten verständigen konnte — zuteilgeworden war.

»Alles zu seiner Zeit«, hatte das Weltgehirn geantwortet. »Manchmal muss man gegen die Natur ankämpfen, manchmal muss man ihr gehorchen. Die wahre Weisheit besteht darin, die richtige Entscheidung zu treffen. Wenn der lange Winter vorüber ist, wird der Mensch erneuert und gestärkt zur Erde zurückkehren.«

Also war in den vergangenen Jahrhunderten die gesamte Erdbevölkerung durch die Äquatorialtürme himmelwärts geglitten und hatte sich sonnenwärts zu den jungen Ozeanen der Venus und den fruchtbaren Ebenen der gemäßigten Zone des Merkur ergossen. In fünfhundert Jahren, wenn die Sonne sich erholt hatte, würde sie aus dem Exil zurückkehren. Dann war Merkur wieder verlassen bis auf ein paar Siedlungen in den Polarregionen, aber Venus hatte sich bis dahin zu einer dauernden zweiten Heimat entwickelt. Das vorübergehende Erlöschen der Sonne hatte den Anreiz und gleichzeitig die Gelegenheit für die Zähmung des höllischen Planeten geboten.

So wichtig diese Dinge auch sein mochten, so interessierten sie das Wesen von Starholm doch nur am Rande. Seine eigentliche Wissbegierde war auf die feineren Aspekte der menschlichen Kultur und Gesellschaft konzentriert. Jede Art war einmalig, bot ihre eigenen Überraschungen, hatte ihre eigenen Neigungen. Die Gattung Mensch hatte das Wesen von Starholm mit dem verblüffenden Konzept der Negativinformationen bekannt gemacht — oder, wie sie in der Landessprache hießen: Humor, Phantasie, Sage.

Während Es sich um das Verstehen dieser Begriffe bemühte, hatte das Wesen von Starholm oft voller Verzweiflung zu Seinen selbst gesagt: Wir werden menschliche Geschöpfe niemals begreifen. Mitunter war Es so frustriert, dass Es eine unfreiwillige Konjugation befürchtete mit all den Risiken, die eine solche enthielt. Inzwischen jedoch hatte Es echten Fortschritt erzielt. Es erinnerte sich an die Zufriedenheit, die Es empfunden hatte, als Es den ersten Witz erzählte — und die Kinder alle lachten.

Der Trick war, mit Kindern zu arbeiten. Auch diesen Hinweis verdankte Es ARISTOTELES. »Es gibt ein altes Sprichwort: Das Kind ist der Vater des Menschen. Obwohl das biologische Konzept ›Vater‹ uns beiden in gleicher Weise fremd ist, hat es in diesem Zusammenhang doch eine sogar doppelte Bedeutung …«

Seitdem hoffte Es, dass die Kinder Ihm zu einem Verständnis der Erwachsenen verhelfen, in die sie sich einst selbst verwandeln würden. Manchmal sagten sie die Wahrheit; aber selbst wenn sie im Spiel (ein weiteres schwieriges Konzept) Negativinformationen von sich gaben, konnte das Wesen von Starholm dies mittlerweile an gewissen Zeichen erkennen.

Aber es gab Zeiten, wenn weder die Kinder noch die Erwachsenen, ja, nicht einmal ARISTOTELES wussten, was wahr war. Es gab offenbar ein kontinuierliches Spektrum, das mit beliebig feiner Abstufung von wilder Phantasie bis zu harten historischen Tatsachen reichte. An diesem letzteren Ende befanden sich Gestalten wie Columbus, Leonardo da Vinci, Einstein, Lenin, Newton und Washington, deren äußere Erscheinung aufgezeichnet war, in einigen Fällen sogar ihre Stimme. Am anderen Ende standen Figuren wie Zeus, Dornröschen, King Kong, Gulliver, Siegfried und Merlin, die unmöglich existiert haben konnten. Aber was fing man mit Robin Hood und Tarzan, Christus und Sherlock Holmes, Odysseus und Frankenstein an? Wenn man in Betracht zog, dass ihre Eigenschaften und Fähigkeiten durch Übertreibung verzerrt worden waren, dann mochte es sich sehr wohl um historische Persönlichkeiten handeln.

Der Elefantenthron hatte sich in dreitausend Jahren sehr wenig geändert; noch nie aber hatte auf ihm das Gewicht eines derart fremdartigen Besuchers gelastet. Das Wesen von Starholm blickte südwärts und verglich die schimmernde, fünfhundert Meter breite Säule, die sich dort vom Gipfel des Berges erhob, mit Ingenieurbauten, die Es auf anderen Welten gesehen hatte. In Anbetracht des Umstands, dass die menschliche Rasse noch jung war, handelte es sich hier um eine beeindruckende Leistung. Obwohl er stets so wirkte, als werde er im nächsten Augenblick umfallen, stand der Turm nun schon seit fünfzehnhundert Jahren fest auf seinen Füßen.

Natürlich nicht in seiner gegenwärtigen Form. Die ersten hundert Kilometer waren jetzt eine Stadt — auf einigen ihrer weit auseinanderliegenden Ebenen bis auf den heutigen Tag bewohnt — durch die sechzehn Spurenpaare an manchen Tagen mehr als eine Million Fahrgäste befördert hatten. Nur zwei Spuren waren derzeit noch in Betrieb. In wenigen Stunden würden das Wesen von Starholm und Seine Begleiter eine davon hinauffahren, zur Ringstadt, die den Planeten umspannte.

Das Geschöpf von Starholm stellte seine Augen auf teleskopische Sicht um und blickte den Himmel entlang. Ja — dort war sie, am Tag schwer zu erkennen, umso leichter dafür in der Nacht, wenn sie das an der Erde vorbeiströmende Sonnenlicht erstrahlen ließ. Das dünne, schimmernde Band, das den Himmel in zwei Halbkugeln teilte, war eine Welt für sich, Heimat für eine halbe Milliarde Menschen, die ihr Leben in ewiger Schwerelosigkeit verbrachten.

Und in unmittelbarer Nachbarschaft der Ringstadt schwebte das Raumschiff, mit dem der Abgesandte und all die anderen Komponenten der Vielheit die interstellaren Abgründe überbrückt hatten. Es wurde dieser Tage zur Abfahrt vorbereitet — nicht etwa mit großer Eile, sondern etliche Jahre vor dem Abflugtermin — zum nächsten, sechshundert Jahre dauernden Abschnitt der langen Reise. Für das Wesen von Starholm bedeutete diese Zeitspanne wenig, denn Es würde sich erst am Ende des Fahrtabschnitts rekonjugieren. Dann aber stand Es womöglich der größten Herausforderung Seiner langen Karriere gegenüber. Zum ersten Mal war eine Sternensonde, kurz nachdem sie in ein Sonnensystem eingeflogen war, zerstört oder doch mindestens zum Schweigen gebracht worden. Womöglich war es auf die geheimnisvollen Jäger der Morgendämmerung gestoßen, die in ferner Vergangenheit, nahe dem Anfang aller Zeiten, ihre Spuren auf so vielen Welten hinterlassen hatten. Wäre das Wesen von Starholm solcher Gefühle fähig gewesen, so hätte es jetzt, während es seine Zukunft sechshundert Jahre vom heutigen Tag bedachte, Sorge und Furcht empfinden müssen.

Jetzt aber stand Es auf dem schneebestaubten Gipfel des Jakkagala und betrachtete des Menschen Fahrstuhl zu den Sternen. Es winkte den Kindern (sie wussten stets genau, wenn Es wirklich Wert darauf legte, dass man Ihm gehorchte) und deutete auf den Berg im Süden.

»Ihr wisst genau«, sagte Es, »dass Erdhafen-Eins zweitausend Jahre nach diesem Palast hier erbaut wurde.« Die Kinder nickten schweigend Zustimmung. »Warum also«, fragte das Wesen von Starholm und bewegte dabei den zeigenden Finger vom Zenit bis zur Kuppe des Berges, »warum nennt ihr die Säule dort — Kalidasas Turm?«

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