I — Der Palast

Kalidasa

Die Krone wurde von Jahr zu Jahr schwerer. Als der verehrungswürdige Bodhidharma Mahajanake Thero sie ihm damals aufs Haupt setzte — wie hatte er dabei gezögert! —, da war Prinz Kalidasa von ihrer Leichtheit überrascht gewesen. Jetzt, zwanzig Jahre später, entledigte sich der König Kalidasa, wann immer die Etikette des Hofes es zuließ, gerne des juwelenbesetzten Goldbandes.

Hier, auf der windumtosten Höhe der Felsenfestung, war nicht viel davon zu spüren — von Etikette, versteht sich. Nur selten ersuchte ein Gesandter oder Bittsteller um Audienz. Viele, die die Reise nach Jakkagala unternahmen, kehrten auf dem letzten, steilen Stück der Strecke um, geradewegs zwischen den Kiefern des kauernden Löwen hindurch, der stets so aussah, als wolle er im nächsten Augenblick von der Felswand springen. Ein alter König konnte niemals auf diesem himmelan strebenden Thron sitzen. Eines Tages, dachte Kalidasa, würde auch er zu schwach sein, seinen eigenen Palast zu erreichen. Er zweifelte indes, dass er den Tag je erleben werde: Seine zahlreichen Feinde würden ihm die Erniedrigung durch das Alter ersparen.

Die Feinde machten in dieser Stunde mobil. Er blickte nach Norden, als könne er dort die Armeen seines Halbbruders schon heranmarschieren sehen, um Anspruch auf den blutbefleckten Thron von Taprobane zu erheben. Aber diese Gefahr lag noch in weiter Ferne, jenseits der vom Monsun gepeitschten See. Obwohl Kalidasa mehr Zutrauen zu seinen Spähern als zu seinen Astrologen hatte, beruhigte es ihn, zu wissen, dass sie in diesem Punkt einer Meinung waren.

Malgara hatte nahezu zwanzig Jahre damit verbracht, seine Pläne zu entwerfen und sich der Unterstützung durch fremde Könige zu versichern. Ein noch geduldigerer Feind aber befand sich in unmittelbarer Nähe, unermüdlich am Südhimmel lauernd. Der geometrisch vollkommene Kegel des Sri Kanda, des Heiligen Berges, wirkte, sich über die Zentralebene auftürmend, heute ungewöhnlich nahe. Seit den Anfängen der Geschichte hatte er das Herz eines jeden, der ihn zu sehen bekam, mit Ehrfurcht erfüllt. Es gab keine Sekunde, in der sich Kalidasa seiner brütenden Gegenwart und der Macht, die er symbolisierte, nicht bewusst war.

Dabei besaß der Mahajanake Thero weder Armeen noch kreischende Kriegselefanten, die sich mit schwingenden Stoßzähnen in die Schlacht warfen. Der Hohepriester war weiter nichts als ein alter Mann in einer orangefarbenen Toga, dessen einziges irdisches Besitztum aus einer Bettelschale und einem Palmenblatt zum Schutz gegen die Sonne bestand. Während die Mönche und die Akoluthen die Gesänge der Schriften rings um ihn zelebrierten, saß er mit untergeschlagenen Beinen in stoischer Ruhe — und spielte dabei mit dem Schicksal von Königen. Es war sehr sonderbar …

Die Luft war an diesem Tag so klar, dass Kalidasa den Tempel erkennen konnte, den die Entfernung zu einer winzigen, weißen Pfeilspitze unmittelbar auf dem Gipfel des Sri Kanda schrumpfen ließ. Er sah nicht wie Menschenwerk aus. Der König fühlte sich an noch größere Berge erinnert, die er in seiner Jugend zu Gesicht bekommen hatte, als er am Hof Mahindas des Großen halb Gast, halb Geisel gewesen war. Alle Berge, die Mahindas Reich beschützten, trugen solche Kappen, die aus einer glänzenden, kristallinen Masse bestanden, für die die Sprache von Taprobane keinen Namen kannte. Die Hindus glaubten, es sei eine Art Wasser, auf magische Art verwandelt; aber Kalidasa hatte für solchen Aberglauben nichts als Spott.

Jener elfenbeinerne Glanz war nur drei Tagesmärsche entfernt — einen längs der Königsstraße, durch Wald und Reisfelder, und zwei die ewig gewundene Treppe empor, die er niemals mehr betreten konnte, weil sich an ihrem Ende der einzige Feind befand, den er fürchtete und nicht besiegen konnte. Manchmal beneidete er die Pilger, wenn sie in der Nacht hinaufstiegen und ihre Fackeln eine dünne Linie aus Feuer über die Wand des Berges zogen. Der niedrigste Bettler konnte auf der Höhe des Berges das heilige Morgendämmern begrüßen und die Segnungen der Götter empfangen; aber der Herrscher dieses Landes konnte es nicht.

Er hatte sich freilich Trost verschafft, wenn auch nur vorübergehend. Vor ihm, durch Graben und Mauern geschützt, lagen die Teiche und Brunnen, die Lustgärten, für die er die Schätze des Königreichs geplündert hatte. Und wenn er ihrer müde wurde, dann waren da die Frauen vom Felsen — jene aus Fleisch und Blut, die er in letzter Zeit immer seltener zu sich hatte rufen lassen — und die zweihundert ewig gleichen Unsterblichen, mit denen er oft Gedanken austauschte, weil es niemand anders gab, dem er trauen konnte.

Donner rollte den Westhimmel entlang. Kalidasa vergaß den drohenden, brütenden Anblick des Berges und wandte sich dem westlichen Horizont zu, der die Hoffnung auf Regen weckte. Der Monsun kam diesmal spät. Die künstlichen Seen, die das komplexe Bewässerungssystem der Insel versorgten, waren fast leer. Um diese Jahreszeit hätte er von hier aus die glitzernde Oberfläche des mächtigsten unter ihnen sehen müssen — den, wie er wohl wusste, seine Untertanen noch immer nach seinem Vater zu nennen wagten: Paravana Samudra, Paravanas Meer. Der See war erst vor dreißig Jahren, nach generationenlanger Mühsal, fertiggestellt worden. In glücklicheren Zeiten hatte der junge Prinz Kalidasa stolz an der Seite seines Vaters gestanden, wenn die Flutschotte geöffnet wurden und das lebenspendende Wasser sich über das dürstende Land ergoss. Im ganzen Königreich gab es keinen lieblicheren Anblick als die spiegelnde, leicht gewellte Oberfläche des riesigen, von Menschen gemachten Sees, in dem sich die Türme und Kuppeln von Ranapura abbildeten, der Goldenen Stadt — dem einstmaligen Zentrum des Reiches, das er um seines Traumes willen aufgegeben hatte.

Ein weiteres Mal rollte der Donner, aber Kalidasa wusste, dass er seinem Versprechen nicht trauen durfte. Selbst hier, auf dem Gipfel des Teufelsfelsens, war die Luft ruhig und leblos. Nichts war zu spüren von den plötzlichen, aus willkürlicher Richtung fauchenden Böen, die das Kommen des Monsuns ankündigten. Bevor der Regen kam, würde zu der Liste seiner Sorgen womöglich noch eine Hungersnot hinzugefügt werden.

»Euer Majestät«, sagte die geduldige Stimme des Hofmeisters: »Die Gesandten sind aufbruchbereit. Sie möchten ihre Aufwartung machen.«

O ja — die zwei bleichgesichtigen Botschafter von jenseits des westlichen Meeres! Es tat ihm leid, sie gehen zu lassen. Sie hatten ihm, in ihrem scheußlichen Taprobani, viele Neuigkeiten berichtet und von manchen Wundern erzählt — obwohl sie zugaben, dass keines unter diesen dieser Palastfestung unmittelbar unter dem Himmel gleichkam.

Kalidasa wandte sich ab und stieg die Granitstufen zur Audienzhalle hinab. Hinter ihm kamen der Kammerdiener und seine Gehilfen. Sie trugen Gaben aus Elfenbein und Edelsteinen für die hochgewachsenen, stolzen Männer, die Lebewohl sagen wollten. Bald würden sie die Schätze von Taprobane übers Meer tragen, bis hin zu einer Stadt, die um Jahrhunderte jünger war als Ranapura. Eine Zeitlang würden sich damit die finsteren Gedanken des Kaisers Hadrian zerstreuen lassen.


Mahajanake Thero schritt gemächlich auf die nördliche Brüstung zu. Weit unter ihm lag das Schachbrettmuster der Reisfelder, das sich von Horizont zu Horizont erstreckte, mit den dunklen Linien der Bewässerungskanäle, weiter der blaue Schimmer von Paravanas Meer — und jenseits des Binnenmeers die geheiligten Kuppeln von Ranapura, die wie gespenstische Blasen im Luftmeer schwebten, unglaublich groß, wenn man sich vor Augen führte, wie weit die Entfernung war. Dreißig Jahre lang hatte er dieses ständig wechselnde Panorama beobachtet und war jetzt mehr denn je davon überzeugt, dass er niemals alle Einzelheiten seiner Komplexität begreifen werde. Farben und Konturen änderten sich mit der Jahreszeit — ja, sogar mit den Wolken, die am Himmel dahinzogen. Solange er auch lebte: Selbst am Tag seines Todes würde er etwas Neues zu sehen bekommen.

Nur eines störte in dieser exquisit geformten Landschaft. So geringfügig er aus dieser Höhe auch erscheinen mochte: Der graue Block des Teufelsfelsens wirkte wie ein Eindringling von einer anderen Welt. In der Tat berichtete die Sage, Jakkagala sei ein Bruchstück des kräuterbewachsenen himalajischen Berggipfels, das der Affengott Hanuman fallen ließ, als er mit Berg und Kräutern zugleich zu seinen verletzten Gefährten eilte, nachdem die Schlachten von Ramajana geschlagen waren.

Aus dieser Entfernung konnte man natürlich keine Einzelheiten von Kalidasas Narretei erkennen, mit Ausnahme einer dünnen Kontur, die die äußeren Mauern der Lustgärten umriss. Wer aber einmal mit dem Teufelsfelsen in Berührung gekommen war, der fand es unmöglich, ihn je wieder zu vergessen. Vor seinem geistigen Auge sah der Mahajanake Thero die gewaltigen Pranken des Löwen, die aus der senkrecht abstürzenden Wand des Felsens hervorragten, so deutlich, als stünde er zwischen ihnen. Weiter oben duckten sich die Festungsanlagen, auf denen — es fiel leicht, daran zu glauben — der fluchbeladene König bis auf den heutigen Tag wandelte.

Donner brach aus dem Himmel, wurde von Augenblick zu Augenblick lauter und erreichte schließlich eine solche Macht, dass selbst der Berg zu zittern begann. Wie eine unaufhörliche Serie von Explosionen rollte er quer über das Firmament und verlor sich schließlich im Osten. Noch viele Sekunden danach brach sich das Echo entlang des Horizonts. Niemand würde diesen Vorgang als Ankündigung der bevorstehenden Regen missdeuten; sie waren erst in drei Wochen fällig, und die Monsun-Kontrolle hatte sich noch nie um mehr als vierundzwanzig Stunden geirrt. Als die letzten Schallwellen verebbt waren, wandte sich der Mahajanake an seinen Begleiter.

»Das also hat man von festgelegten Einflugkorridoren«, sagte er mit mehr Erregung, als ein Priester sich hätte erlauben dürfen. »Haben wir Messdaten?«

Der junge Mönch sprach kurz in sein Armbandmikrofon und wartete auf eine Antwort.

»Ja. Die Spitze lag bei einhundertzwanzig, fünf Dezibel über dem bisherigen Rekord.«

»Schick die übliche Beschwerde an Kennedy- oder Gagarin-Kontrolle — wer auch immer dafür verantwortlich ist. Oder, noch besser: Schick sie an beide! Natürlich werden sie, wie üblich, nicht darauf reagieren.«

Während sein Blick den langsam zerfließenden Kondensstreifen am blauen Himmel entlangglitt, hatte Bodhidharma Mahajanake Thero — der fünfundachtzigste seines Namens — eine ganz und gar unmönchische Vision. Kalidasa hätte wahrscheinlich eine angemessene Therapie für Raumflug-Manager gehabt, die nur in Dollar pro Kilo Orbitalladung denken konnten … eine Therapie, die wahrscheinlich mit Aufspießen, eisenbehuften Elefanten oder kochendem Öl zu tun gehabt haben würde.

Vor zweitausend Jahren war das Leben so viel einfacher gewesen!

Der Ingenieur

Seine Freunde, deren Zahl von Jahr zu Jahr geringer wurde, nannten ihn Johan. Die Welt, wann immer sie sich seiner erinnerte, nannte ihn Radscha. Sein voller Name reflektierte fünfhundert Jahre menschlicher Geschichte: Johan Oliver de Alwis Sri Radschasinghe.

Es hatte eine Zeit gegeben, da hatten sich die Touristen, die den Felsen besuchten, mit Kameras und Bandgeräten um ihn gedrängt. Aber inzwischen gab es eine neue Generation, die sich kaum noch an die Tage erinnerte, da sein Gesicht das bekannteste im gesamten Sonnensystem gewesen war. Er bedauerte den Ruhm der Vergangenheit nicht, denn er hatte ihm den Dank der gesamten Menschheit eingetragen. Freilich waren da auch Augenblicke des Bedauerns gewesen wegen der Fehler, die er gemacht hatte — und Sorge um die Menschenleben, die vergeudet worden waren und die mit ein wenig mehr Umsicht und Geduld hätten bewahrt werden können. In der historischen Perspektive war es jetzt natürlich einfach, zu erkennen, was hätte getan werden müssen, um die Auckland-Krise zu vermeiden, um die zaudernden Unterzeichner der Verträge von Samarkand zusammenzubringen. Indem er sich selbst die Schuld für die unvermeidbaren Fehler der Vergangenheit gab, beging er einen Akt der Kurzsichtigkeit. Und doch gab es Augenblicke, in denen das Gewissen ihn mehr schmerzte als das allmählich nachlassende Zwicken des patagonischen Karabinergeschosses.

Niemand hatte geglaubt, dass er so lange im Ruhestand bleiben werde. »Sie werden in sechs Monaten wieder zurück sein«, hatte Weltpräsident Chu zu ihm gesagt. »Macht ist gewohnheitsbildend.«

»Nicht für mich«, hatte er wahrheitsgemäß geantwortet.

In der Tat hatte sich ihm die Macht aufgedrängt; er hatte niemals nach ihr gestrebt. Und es war stets eine ganz besondere, begrenzte Spielart der Macht gewesen — beratend, nicht ausübend. Er war nur Sonderassistent (amtierender Botschafter) für Politische Angelegenheiten, dem Präsidenten und dem Konzil unmittelbar verantwortlich, mit einem Mitarbeiterstab von niemals mehr als zehn — elf, wenn man ARISTOTELES hinzurechnete (von seiner Konsole aus hatte er bis auf den heutigen Tag Zugriff zu Aris Prozessoren und Speichern, und mehrmals pro Jahr unterhielten sie sich miteinander). Aber am Ende hatte das Konzil seinen Rat stets angenommen, und die Welt hatte ihm gutgeschrieben, was an sich auf das Konto der unbesungenen, unbeachteten Bürokraten der Friedensabteilung hätte gehen sollen.

Sonderbotschafter Radschasinghe hatte sich stets im Rampenlicht befunden, während er von einem Krisenherd zum andern eilte, hier ein Ego massierend, dort eine Gefahr entschärfend und überall die Wahrheit mit vollendetem Geschick manipulierend. Geradeheraus gelogen hatte er niemals — das wäre verderblich gewesen! Ohne Aris unfehlbares Gedächtnis hätte er unweigerlich die Kontrolle über die Gespinste aus Halbwahrheiten verloren, die er manchmal, um der Menschheit den Frieden zu erhalten, zu spinnen gezwungen war. Als er begann, das Intrigenspiel um seiner selbst willen zu genießen, war es an der Zeit gewesen, seine Kündigung einzureichen.

Das war zwanzig Jahre her, und er hatte seinen Entschluss niemals bereut. Diejenigen, die geunkt hatten, dass die Langeweile vollbringen werde, was den Versuchungen der Macht nicht gelungen war, kannten den Mann nicht, noch verstanden sie seine Herkunft. Er kehrte zu den Feldern und Wäldern seiner Jugend zurück und wohnte nur einen Kilometer von dem mächtigen, brütenden Felsen entfernt, der seine Kindheit beherrscht hatte. Seine Villa befand sich in der Tat innerhalb des weiten Grabens, der die Lustgärten umlief, und die Springbrunnen, die Kalidasas Architekt entworfen hatte, plätscherten jetzt, nach zweitausend Jahren Stille, in Johans Garten. Das Wasser floss noch immer durch dieselben steinernen Leitungen. Nichts war geändert worden; nur dass die Zisternen hoch oben auf dem Felsen jetzt mit Hilfe elektrischer Pumpen anstatt durch Staffeln von Sklaven versorgt wurden.

Dieses geschichtsdurchtränkte Stück Land als seinen Wohnsitz zu erwerben, hatte ihn mit größerer Genugtuung erfüllt als irgendein Ereignis in seiner langen Karriere. Ein Traum hatte sich erfüllt, von dem er niemals geglaubt hatte, dass er zu verwirklichen sei. Bei dem Erwerb hatte er sein gesamtes diplomatisches Geschick einsetzen müssen, außerdem eine mindere Art von Erpressung gegenüber dem Ministerium für Archäologie. Später hatte es im Parlament ein paar Fragen gegeben; glücklicherweise waren sie von niemand beantwortet worden.

Vor der Zudringlichkeit der Touristen — mit Ausnahme der hartnäckigsten — war er durch eine Erweiterung des Wassergrabens abgeschirmt und vor ihren Blicken durch eine dichte Wand mutierter Aschoka-Bäume, die das ganze Jahr über in Blüte standen. Die Bäume waren außerdem die Heimstatt mehrerer Affenfamilien, die lustig anzuschauen waren, aber manchmal die Villa überfielen und alles davontrugen, was nicht niet- und nagelfest war. Von Zeit zu Zeit gab es einen kurzen Krieg zwischen den Gattungen, mit Feuerwerkskörpern und von Band gespielten Gefahrenschreien, die die Menschen mindestens ebenso nervös machten wie die Affen, die übrigens unverzüglich zurückkehrten, da sie schon lange begriffen hatten, dass niemand ihnen wirklich etwas antun würde.

Einer von Taprobanes farbenprächtigeren Sonnenuntergängen färbte den westlichen Horizont, als das kleine elektrische Dreirad geräuschlos durch die Mauer der Bäume kam. Bei den Granitsäulen des Vorhofs hielt es an.

Aus langer und bitterer Erfahrung hatte Radschasinghe gelernt, niemals dem ersten Eindruck zu trauen, ihn aber auch nicht zu ignorieren. Er hatte halb und halb erwartet, in Vannevar Morgan einen Mann zu sehen, dessen Äußeres seinen Leistungen entsprach: groß und imposant. Stattdessen war der Ingenieur von weniger als Durchschnittsgröße und hätte auf den ersten Blick sogar als zierlich bezeichnet werden können. Aber der schlanke Körper bestand aus nichts als Sehnen, und rabenschwarzes Haar umrahmte ein Gesicht, das wesentlich jünger wirkte als einundfünfzig Jahre. Die Bilddarstellung aus Aris BIOG-Datei war ihm nicht gerecht geworden. Er hätte ein romantischer Dichter sein sollen, ein Konzertpianist — oder vielleicht ein großer Schauspieler, der Tausende mit seinem Talent in Atem hielt. Radschasinghe erkannte Kraft, wenn sie ihm vor Augen kam; und es war Kraft, der er jetzt gegenüberstand. Hüte dich vor kleinen Männern, hatte er oft zu sich gesagt — denn sie sind die Macher und Beweger dieser Welt.

Mit diesem Gedanken kam ein Gefühl leisen Unbehagens. Fast wöchentlich kamen alte Freunde und Feinde an diesen abgelegenen Ort, um Neuigkeiten mit ihm auszutauschen oder über die Vergangenheit zu reden. Er wusste solche Besuche zu schätzen, denn sie verliehen seinem Leben ein Muster der Kontinuität. Gewöhnlich kannte er bereits im Voraus den Grund für das Zusammentreffen und das Gesprächsthema. In diesem Fall jedoch gab es, soweit er das zu beurteilen vermochte, zwischen ihm und Morgan kein gemeinsames Interesse. Sie waren einander niemals zuvor begegnet, hatten niemals miteinander gesprochen. Um genau zu sein: Er hatte Mühe gehabt, Morgans Namen einzuordnen. Noch ungewöhnlicher war der Umstand, dass der Ingenieur ihn gebeten hatte, diese Zusammenkunft als vertraulich zu betrachten.

Radschasinghe hatte ihm dies zugestanden — aber nur mit einem Gefühl des Widerwillens. In seinem friedlichen Leben war kein Raum für Geheimniskrämerei mehr. Das Allerletzte, was er sich in diesem Augenblick wünschte, war, dass sein wohlgeordnetes Leben durch irgendein wichtiges Geheimnis durcheinandergebracht würde. Er hatte mit den Geheimdiensten für immer gebrochen; vor zehn Jahren — oder war es noch länger her? — hatte man auf sein eigenes Ersuchen die Leibwächter abgezogen. Aber was ihn am meisten ärgerte, war nicht die Heimlichtuerei, sondern seine eigene Verwirrung. Der Chefingenieur (Land) der Terran Construction Company war nicht Tausende von Kilometern weit gekommen, um sein Autogramm zu erbitten oder nach Touristenart Plattitüden daherzureden. Er verfolgte eine bestimmte Absicht; aber sosehr Radschasinghe auch den Verstand anstrengte, er kam nicht dahinter, welche das sein könnte.

Auch in seinen Tagen als Botschafter hatte Radschasinghe nie mit der TCC zu tun gehabt. Ihre drei Abteilungen — Land, Wasser, Raum — waren trotz ihrer gewaltigen Größe als Quellen aufregender Neuigkeiten völlig unergiebig, wenn man sie mit anderen Körperschaften der Weltföderation verglich. Lediglich aus Anlass einer technischen Katastrophe oder eines Frontalzusammenstoßes mit Umweltschützern oder Geschichtsenthusiasten trat die TCC hin und wieder ans Tageslicht. Das jüngste Ereignis dieser Art hatte mit der antarktischen Pipeline zu tun gehabt — jenem Wunder der Ingenieurwissenschaften des einundzwanzigsten Jahrhunderts, durch das verflüssigte Kohle aus den unerschöpflichen Flözen der Südpolregion in die Kraftwerke und Fabriken der Welt gepumpt worden war. In einem Anfall ökologischer Euphorie hatte die TCC vorgeschlagen, die letzten noch verbleibenden Abschnitte der Pipeline zu demolieren und das Land endgültig den Pinguinen zurückzugeben. Sofort war Protestgeschrei zu hören gewesen — von den Industriearchäologen, die das Vorhaben als Vandalismus brandmarkten, und von den Naturschützern, die darauf hinwiesen, dass die Pinguine in die verlassene Pipeline reinweg vernarrt seien. Sie bot ihnen Nistmöglichkeiten von einer Qualität, die sie nie zuvor gekannt hatten, und trug somit zu einer Bevölkerungsexplosion bei, die die Wale kaum noch unter Kontrolle halten konnten. Die TCC hatte ihr Vorhaben widerstandslos aufgegeben.

Radschasinghe wusste nicht, ob Morgan in dieses kleinere Debakel verwickelt gewesen war. Es machte kaum einen Unterschied, denn seit jüngstem wurde sein Name in Verbindung mit dem größten Triumph der TCC genannt.

Die Brücke der Brücken hatte man sie genannt. Zusammen mit dem Rest der Welt war Radschasinghe Augenzeuge gewesen, als der GRAF ZEPPELIN, selbst eines der Wunder dieser Zeit, den abschließenden Brückenabschnitt sanft himmelwärts trug. Die luxuriöse Innenausstattung des Luftschiffs war entfernt worden, um Gewicht zu sparen; man hatte das berühmte Schwimmbecken geleert, und die Reaktoren pumpten überschüssige Hitze in Ballonhüllen, um zusätzlichen Auftrieb zu erzeugen. Es war das erste Mal, dass ein Bruttogewicht von mehr als eintausend Tonnen drei Kilometer weit senkrecht in den Himmel hinaufgehoben wurde. Das gigantische Unternehmen war, zur Enttäuschung der Millionen, fehler- und reibungslos abgelaufen.

Kein Schiff würde jemals wieder die Säulen des Herkules passieren, ohne die mächtigste Brücke zu grüßen, die der Mensch je gebaut hatte — und in aller Wahrscheinlichkeit je bauen würde. Die Zwillingstürme am Zusammenfluss zwischen Mittelmeer und Atlantik waren die höchsten Strukturen der Welt und standen einander auf eine Distanz von fünfzehn Kilometern gegenüber — mit nichts zwischen sich außer dem unglaublichen, zierlichen Bogen der Brücke von Gibraltar. Es müsse ein Privileg sein, mit dem Mann zusammenzutreffen, der sie entworfen hatte, dachte Radschasinghe, auch wenn er eine Stunde zu spät kam.

»Ich bitte um Entschuldigung, Botschafter«, sagte Morgan, während er aus dem Dreirad kletterte. »Ich hoffe, die Verzögerung hat Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereitet.«

»Keineswegs. Meine Zeit gehört mir. Sie haben gegessen, hoffe ich?«

»Ja. Man hat meinen Anschluss in Rom annulliert; aber wenigstens bekam ich als Ausgleich dafür ein vorzügliches Mittagessen.«

»Wahrscheinlich besser, als man es im Hotel Jakkagala serviert. Ich habe dort ein Zimmer für Sie reservieren lassen — es ist nur einen Kilometer von hier. Wir werden unser Gespräch bis zum Frühstück verschieben müssen.« Morgan wirkte enttäuscht, fügte sich jedoch mit einem Schulterzucken ins Unvermeidliche.

»Na schön, ich habe ohnehin eine Menge Arbeit zu erledigen. Ich hoffe, das Hotel hat ausreichende Kommunikationsmöglichkeiten — oder doch wenigstens eine Standarddatenstation.«

Radschasinghe lachte. »Um sicher zu sein, setzen Sie nichts Komplexeres als ein Telefon voraus! Aber da fällt mir ein — ich habe eine bessere Idee! In rund einer halben Stunde bringe ich ein paar Freunde zum Felsen. Es gibt dort eine Klang-und-Licht-Vorführung, die ich bestens empfehle. Wenn Sie sich uns anschließen wollen — Sie sind eingeladen.«

Er sah, wie Morgan zögerte, als er nach einer höflichen Ausrede suchte.

»Sehr freundlich von Ihnen, aber ich muss mich wirklich mit meinem Büro in Verbindung setzen …«

»Sie können meine Datenstation benützen. Ich verspreche Ihnen — die Darbietung wird Sie faszinieren. Übrigens dauert sie nur eine Stunde. Oh, beinah hätte ich's vergessen — Sie möchten nicht, dass jemand von Ihrem Hiersein erfährt. Ich stelle Sie einfach als Dr. Smith von der Universität Tasmanien vor. Ich bin sicher, dass meine Freunde Sie nicht erkennen.«

Radschasinghe hatte nicht die geringste Absicht, seinen Besucher vor den Kopf zu stoßen, aber es war unübersehbar, dass Morgan sich momentan irritiert fühlte. Die Instinkte des Exdiplomaten erwachten zu plötzlichem Leben; er speicherte die Beobachtung für zukünftige Verwendung.

»Sicherlich nicht«, sagte Morgan, und Radschasinghe erkannte einen unmissverständlichen Unterton der Bitterkeit in seiner Stimme. »Dr. Smith ist eine gute Idee. Aber jetzt — dürfte ich Ihre Konsole benützen?«

Interessant, dachte Radschasinghe, als er seinen Besucher in die Villa führte, aber wahrscheinlich ohne Bedeutung. Vorläufige Diagnose: Morgan war ein Mann, dem die Widrigkeiten des Lebens zugesetzt hatten, vielleicht sogar enttäuscht. Der Grund war schwer zu erkennen, da er den Ruf einer Koryphäe genoss. Was mehr hätte er sich noch wünschen können? Die Antwort lag auf der Hand. Radschasinghe kannte die Symptome nur zu gut; in seinem Fall jedoch war die Flamme des Eifers längst niedergebrannt.

»Ruhm ist der Sporn«, rezitierte er in der Stille seiner Gedanken. Wie ging es noch weiter? »Die letzte Schwäche noblen Geistes … Verachte Freuden und mühe dich durch den Tag.«

So musste es sein. Auf diese Weise ließ sich die Unzufriedenheit erklären, die die noch immer empfindlichen Antennen seines Geistes registriert hatten. Und plötzlich erinnerte er sich daran, dass der gewaltige Bogen, der Europa und Afrika miteinander verband, fast ohne Ausnahme die Brücke genannt wurde … manchmal die Brücke von Gibraltar … aber niemals: Morgans Brücke.

Also gut, Dr. Morgan, dachte Radschasinghe bei sich selbst, wenn Sie auf der Suche nach Ruhm sind, werden Sie ihn hier nicht finden. Warum also, in drei Teufels Namen, sind Sie hier, im friedlichen, kleinen Taprobane?

Die Brunnen

Tagelang hatten sich Elefanten und Sklaven in der grausamen Glut der Sonne abgemüht, hatten eine endlose Kette von Gefäßen die steile Felswand hinaufgeschafft. »Ist es vollendet?«, hatte der König immer wieder gefragt. »Nein, Majestät«, lautete die Antwort des Obersteinmetzen, »der Kessel ist noch nicht voll. Aber morgen vielleicht …«

Das Morgen war schließlich Wirklichkeit geworden. Der gesamte Hof versammelte sich in den Lustgärten unter Sonnenschirmen aus bunt gefärbtem Tuch. Der König ließ sich mit Palmwedeln anfächeln; sie wurden von Bittstellern geschwungen, die dem Kammerdiener für dieses riskante Privileg teures Geld hatten bezahlen müssen. Es handelte sich um eine Ehre, die ihnen Reichtümer oder auch den Tod einbringen mochte.

Aller Augen ruhten auf der glatten Steilung des Felsens und auf den winzigen Gestalten, die sich in der Höhe bewegten. Eine Fahne flatterte, weiter unten ertönte für kurze Zeit der Ruf eines Horns. Am Fuß des Felsens zerrten Arbeiter hektisch an Hebeln und Seilen. Aber lange Zeit hindurch blieb das Ergebnis ihrer Bemühungen unsichtbar.

Missmut breitete sich über das Gesicht des Königs, und der Hofstaat begann zu zittern. Selbst die wedelnden Fächer wurden vorübergehend langsamer, bis die Palmwedelschwinger sich der Gefährlichkeit ihrer Lage bewusst wurden und die Arme wieder in raschere Bewegung versetzten. Dann hörte man einen lauten Schrei von den Arbeitern am Fuß des Jakkagala — ein Schrei der Freude und des Triumphs, der rasch näher rollte, während er von den Kehlen derer, die längs der blumengesäumten Pfade standen, aufgenommen und weitergegeben wurde. Zur gleichen Zeit näherte sich ein anderes Geräusch, nicht so laut, aber doch den Eindruck unwiderstehlicher, aufgestauter Kräfte vermittelnd, die auf ihr Ziel zueilten.

Eine nach der anderen, wie unter dem Zwang einer Zauberkraft aus der Erde berstend, sprangen die schlanken Wassersäulen dem wolkenlosen Himmel entgegen. In viermal Manneshöhe lösten sie sich zu Blumen aus Wasserstaub auf. Die Sonne durchleuchtete sie und erzeugte zahllose Regenbogen, die den Eindruck exotischer Schönheit noch deutlicher werden ließen. Noch nie zuvor hatten Menschenaugen ein solches Wunder sehen können.

Der König lächelte, und die Höflinge wagten wieder zu atmen. Diesmal waren die unterirdischen Röhren unter dem Druck des Wassers nicht geborsten. Die Steinmetzen, von denen sie verlegt worden waren, hatten somit — im Unterschied zu ihren glücklosen Vorgängern — ebenso viel Aussicht, ein hohes Alter zu erreichen wie sonst jemand, der im Dienst des Königs Kalidasa stand.

Fast ebenso unmerklich wie die Sonne im Westen verloren die Fontänen an Höhe. Mit einem Mal waren sie nur noch mannshoch; der mit so viel Mühe gefüllte Kessel war nahezu leer. Aber der König war zufrieden. Er hob die Hand; die Wasserstrahlen sanken und erhoben sich wieder, als machten sie vor dem Thron einen letzten Knicks, dann fielen sie endgültig in sich zusammen. Eine Zeitlang noch jagten sich kleine Wellen über die Oberfläche der schimmernden Teiche. Dann verschwanden auch sie, und die Teiche wurden wieder zu Spiegeln, in denen der Reflex des ewigen Felsens sich abbildete.

»Die Arbeiter haben gut gearbeitet«, sagte Kalidasa. »Man gebe ihnen die Freiheit!«

Wie gut sie gearbeitet hatten, das freilich würde niemand je erfahren; denn keiner durfte an den einsamen Visionen des Künstlers und Königs teilnehmen. Kalidasas Blick überflog die sorgfältig gepflegten Gärten, die Jakkagala umgaben, und empfand mehr Zufriedenheit als je zuvor in seinem Leben.

Hier, am Fuß des Felsens, hatte er das Paradies entworfen und geschaffen. Jetzt blieb ihm nur noch, droben auf dem Gipfel den Himmel einzurichten.

Der Teufelsfelsen

Das geschickt zusammengestellte Feuerwerk aus Licht und Klang besaß noch immer die Kraft, Radschasinghe in den Tiefen seines Bewusstseins zu berühren, obwohl er es ein Dutzend Mal gesehen hatte und jeden einzelnen Programmtrick kannte. Das Schauspiel war selbstverständlich obligatorisch für jeden Besucher des Felsens, obwohl Kritiker wie Professor Sarath sich darüber beklagt hatten, es sei weiter nichts als eine Historienkonserve für Touristen. Aber eine Historienkonserve war immer noch besser als überhaupt keine Historie, und das Schauspiel würde herhalten müssen, während Sarath und seine Kollegen sich noch immer über die genaue Folge der Ereignisse stritten, die sich vor zweitausend Jahren hier abgespielt hatten.

Das kleine Amphitheater war der Westwand des Jakkagala zugewandt. Die zweihundert Sitze waren mit großer Sorgfalt so angebracht worden, dass jeder Zuschauer die Laserprojektionen gerade aus dem richtigen Winkel zu sehen bekam. Die Vorstellung begann das ganze Jahr hindurch stets um dieselbe Zeit — 19:00 Uhr, wenn der letzte Widerschein des ewig gleichen tropischen Sonnenuntergangs vom Himmel verschwand.

Es war schon so dunkel, dass man den Felsen nicht mehr sehen konnte. Er verriet seine Anwesenheit nur durch den riesigen Schatten, der die Sterne des frühen Abendhimmels ausblendete. Plötzlich drang aus der Dunkelheit der langsame Schlag einer gedämpften Trommel. Eine ruhige, leidenschaftslose Stimme begann zu sprechen:

»Dies ist die Geschichte eines Königs, der seinen Vater ermordete und seinerseits von den Händen seines Bruders starb. In der blutbefleckten Geschichte der Menschheit sind Vorgänge dieser Art nicht selten. Dieser König aber hinterließ ein bleibendes Denkmal — und eine Legende, die die Jahrhunderte überdauerte …«

Radschasinghe warf Vannevar Morgan, der in der Dunkelheit zu seiner Rechten saß, einen verstohlenen Blick zu. Obwohl er sein Gesicht nur in Umrissen zu erkennen vermochte, sah er doch, dass sein Besucher bereits tief unter dem Eindruck der Erzählung stand. Zu seiner Linken fand er zwei weitere Gäste — alte Freunde aus den Zeiten seiner diplomatischen Tätigkeit — in gleicher Weise hingerissen. Er war gewiss, dass sie »Dr. Smith« nicht erkannt hatten. Und wenn doch, dann waren sie zumindest bereit, den Täuschungsversuch stillschweigend zu akzeptieren.

»Sein Name war Kalidasa. Er ward geboren einhundert Jahre nach Christus in Ranapura, der Goldenen Stadt — Jahrhunderte hindurch die Hauptstadt der Könige von Taprobane. Aber es lag ein Schatten über seiner Geburt …«

Die Musik wurde lauter, als Flöten und Saiteninstrumente sich den dumpfen Trommelschlägen beigesellten. Zusammen formten sie eine klagende und doch mächtige Melodie. Ein greller Lichtpunkt erschien plötzlich auf der Felswand. Er breitete sich aus — und plötzlich schien es, als ob ein Fenster in die Vergangenheit sich geöffnet hätte, um eine Welt zu enthüllen, die lebendiger und bunter war als das Leben selbst.

Die Darstellung, dachte Morgan, war vorzüglich. Er war froh, dass er wenigstens dieses eine Mal der Höflichkeit den Vorrang gegenüber seiner Arbeitswut eingeräumt hatte. Er erlebte die Freude des Königs Paravana, als die Favoritin unter seinen Konkubinen ihn mit seinem erstgeborenen Sohn beschenkte — und begriff, warum seine Freude nicht wusste, ob sie wachsen oder schrumpfen sollte, als genau vierundzwanzig Stunden später die Königin selbst einen direkteren Thronanwärter zur Welt brachte. Obwohl er der Erstgeborene war, hatte Kalidasa nicht den ersten Anspruch auf den Thron. Die Tragödie bahnte sich an.

»Und doch waren in den frühen Jahren ihrer Kindheit Kalidasa und sein Halbbruder Malgara die besten Freunde. Sie wuchsen zusammen auf, ohne von der Rivalität zu ahnen, die das Schicksal ihnen vorbestimmt hatte, oder von den Ränken, die rings um sie geschmiedet wurden. Die erste Unruhe zwischen den beiden hatte absolut nichts mit dem Zufall der Geburtenreihenfolge zu tun. Sie rührte vielmehr von einem harmlosen, in Unschuld gegebenen Geschenk her.

Zum Hof des Königs Paravana kamen Gesandte, die aus vielen Ländern Tribut brachten. Seide aus China, Gold aus Indien, handgeschmiedete Rüstungen aus dem kaiserlichen Rom. Und eines Tages kam ein einfacher Jäger aus dem Dschungel in die große Stadt und brachte mit sich ein Geschenk, von dem er hoffte, dass es der königlichen Familie gefallen werde …«

Ringsum hörte Morgan »ooh« und »aah« aus den Kehlen seiner unsichtbaren Mitzuschauer. Obwohl er selbst niemals eine Beziehung zu Tieren gehabt hatte, musste er doch zugeben, dass der winzige, schneeweiße Affe, der sich so zutraulich in Prinz Kalidasas Arme kuschelte, überaus liebenswert war. Aus dem faltigen kleinen Gesicht starrten zwei unnatürlich große Augen durch die Jahrhunderte, und hinweg über den geheimnisvollen, aber nicht unüberbrückbaren Graben, der Mensch und Tier voneinander trennte.

»Die Chroniken sagen aus, dass man seinesgleichen noch nie zuvor gesehen hatte. Sein Haar war weiß wie Milch, seine Augen besaßen die Farbe der Rubine. Einige hielten ihn für ein gutes Omen — andere wiederum für ein schlechtes, denn Weiß ist die Farbe des Todes und der Trauer. Die Befürchtungen der Letzteren waren nur allzu begründet.

Prinz Kalidasa liebte seinen kleinen Gespielen und nannte ihn Hanuman, nach dem tapferen Affengott des Ramajana. Des Königs Goldschmied baute einen kleinen goldenen Karren, in dem Hanuman feierlich thronte, während er zur Freude und Unterhaltung aller Zuschauer durch den Palast gezogen wurde.

Hanuman seinerseits liebte Kalidasa und ließ sich nur von ihm anfassen. Prinz Malgara erregte seine besondere Abneigung — als ob er von der zukünftigen Rivalität ahne. Dann, eines unglückseligen Tages, biss er den Thronerben.

Der Biss war winzig, seine Folgen gewaltig. Ein paar Tage später wurde Hanuman vergiftet, ohne Zweifel auf Befehl der Königin. Das war das Ende von Kalidasas Kindheit. Danach, so sagt man, empfand er niemals mehr Zuneigung oder Vertrauen zu einem anderen Menschen. Und seine Liebe für Malgara verwandelte sich in bittere Feindschaft.

Dies war auch nicht die einzige Unruhe, die sich aus dem Tod eines kleinen Affen ergab. Auf Befehl des Königs baute man für Hanuman ein besonderes Grabmal in der traditionellen Gestalt des glockenförmigen Schreins, Dagoba genannt. Dies war eine ganz und gar ungewöhnliche Anordnung, die sofort den Widerstand der Mönche hervorrief. Denn Dagobas durften nur für die Unterbringung von Buddha-Reliquien verwendet werden, und die Entscheidung des Königs erschien ihnen als ein Akt wohlüberlegten Frevels.

Das mag sehr wohl Paravanas wahres Motiv gewesen sein, denn er stand inzwischen unter dem Einfluss eines Hinduweisen und wandte sich allmählich gegen den buddhistischen Glauben. Obwohl Prinz Kalidasa noch viel zu jung war, um an diesem Konflikt teilzuhaben, richtete sich der Hass der Mönche alsbald gegen ihn. Damit begann eine Fehde, die in der nahen Zukunft das Königreich zerreißen würde.

Wie so viele andere Geschichten, die die alten Chroniken von Taprobane erzählen, blieb auch diese zweitausend Jahre lang unbewiesen und war weiter nichts als eine hübsche Legende über Hanuman und den jungen Prinzen Kalidasa. Dann aber, im Jahre 2015, entdeckte eine Gruppe von Harvard-Archäologen das Fundament eines kleinen Schreins auf dem Gelände des alten Königspalasts von Ranapura. Der Schrein schien mit Absicht zerstört worden zu sein, denn sämtliches Mauerwerk oberhalb des Fundaments war verschwunden.

Die übliche Grabkammer im Innern des Fundaments war leer. Ihr Inhalt war offenbar schon vor Jahrhunderten geplündert worden. Aber die Harvard-Leute besaßen Instrumente, von denen die alten Schatzjäger sich niemals hätten träumen lassen. Die Neutrino-Analyse fand eine zweite Grabkammer, viel tiefer gelegen als die erste. Die obere diente lediglich der Tarnung und hatte ihre Aufgabe in vollem Umfang erfüllt. Die untere Kammer dagegen enthielt noch immer ihre Bürde aus Liebe und Hass, die sie über die Jahrhunderte hinweg getragen hatte — bis zu ihrem heutigen Ruheort im Museum von Ranapura.«


Morgan hatte sich zeit seines Lebens, und mit Recht, für einen unsentimentalen Verstandesmenschen gehalten, der den Böen der Emotion ohne Schwierigkeit standzuhalten vermochte. Und doch brannten ihm in diesem Augenblick die Augen vor lauter Tränen. Er fühlte sich verlegen und hoffte, dass keiner seiner Begleiter etwas davon merkte. Wie lächerlich, dass ein bisschen Musik und eine rührselige Geschichte eine derartige Wirkung auf einen vernünftigen Menschen haben sollte! Er hätte niemals geglaubt, dass der Anblick eines Kinderspielzeugs ihn zum Weinen bringen könnte.

Dann aber zuckte es wie ein Blitz durch seine Erinnerung und brachte einen Augenblick zurück, der vierzig Jahre in der Vergangenheit lag und ihm verständlich machte, warum er so tief bewegt war. Er sah seinen geliebten Drachen, der über den Wipfeln des Parks in Sydney, in dem er einen beträchtlichen Teil seiner Kindheit zugebracht hatte, hin und her wippte. Er fühlte die warme Sonne und den sanften Wind auf seinem nackten Rücken — den treulosen Wind, der plötzlich zu wehen aufhörte, so dass der Drachen abstürzte. Er verfing sich in den Zweigen der riesigen Eiche, von der man sagte, sie sei älter als das ganze Land, und er, ohne zu wissen, was er tat, hatte an der Kordel zu zerren begonnen, um den Drachen frei zu bekommen. Das war seine erste Lektion in Festigkeitslehre gewesen, und er hatte sie bis auf den heutigen Tag nicht vergessen.

Die Schnur war gerade in dem Augenblick gerissen, als er Erfolg zu haben glaubte. Der Wind hatte den Drachen mitgenommen. Er rollte träge durch den Sommerhimmel und verlor dabei ständig an Höhe. Er selbst war zum Ufer hinabgerannt und hatte gehofft, dass der Drachen noch auf dem Land herunterkommen würde. Aber der Wind dachte nicht daran, die Stoßgebete eines Jungen zu erhören.

Lange Zeit hatte er dagestanden und geweint, während die zusammengeknäulten Überreste seines Spielzeugs über die Wasserfläche des Hafens trieben, wie ein entmastetes Segelboot, und hinaus auf das Meer zu, bis er sie nicht mehr sehen konnte. Das war eine jener trivialen Tragödien gewesen, die die Kindheit eines Menschen formen, ob er sich nun an sie erinnert oder nicht.

Aber was Morgan verloren hatte, war nur ein lebloses Spielzeug gewesen. Seine Tränen waren die der Hilflosigkeit gewesen, nicht der Trauer.

Prinz Kalidasa hatte einen wesentlich überzeugenderen Grund, unglücklich zu sein. In dem kleinen goldenen Karren, der noch immer so aussah, als sei er eben erst aus der Werkstatt des Goldschmieds gekommen, lag ein Häuflein winziger, weißer Knochen.

Morgan versäumte einen Abschnitt des Vortrags. Als er sich die Tränen endlich aus den Augen gewischt hatte, waren ein Dutzend Jahre vergangen, und ein komplexer Familienstreit wickelte sich ab. Er verstand nicht ganz, wer von wem umgebracht wurde. Aber als die Armeen aufhörten, Blutbäder untereinander anzurichten, und der letzte Dolch aus der Wunde eines Gemeuchelten gezogen war, da befanden sich Kronprinz Malgara und die Königinmutter auf der Flucht nach Indien. Kalidasa hatte sich des Thrones bemächtigt und seinen Vater in den Kerker gesteckt.

Der Usurpator hatte Paravana nicht etwa aus Sohnesliebe verschont, sondern weil er glaubte, dass der alte König einen geheimen Schatz besitze, den er für Malgara aufheben wollte. Solange Kalidasa daran glaubte, war Paravana sicher. Das wusste dieser. Aber schließlich wurde er des Versteckspielens müde.

»Ich will dir meinen wahren Reichtum zeigen«, sagte er zu seinem Sohn. »Gib mir einen Wagen, und ich bringe dich hin.«

Auf seiner letzten Reise fuhr Paravana — ungleich Hanuman — in einem uralten Ochsenkarren. Die Chroniken berichten, dass eines der Räder defekt war und die ganze Zeit über quietschte. Diese bedeutungslose Einzelheit musste wahr sein — kein Chronist hätte sich die Mühe gemacht, sie zu erfinden.

Kalidasa war sehr überrascht, als sein Vater ihn zu dem künstlichen See brachte, von dem aus die Felder des Königreichs bewässert wurden. Den größten Teil seiner Regierungszeit hatte er damit verbracht, dieses Werk zu vollenden. Er schritt am Ufer der gewaltigen Wasserfläche entlang und musterte die Statue, die ihn selbst in doppelter Lebensgröße darstellte.

»Leb wohl, alter Freund«, sagte er zu dem Steinbildnis, das die Macht und den Ruhm seiner Vergangenheit verkörperte und das für immer in seinen Händen eine Karte des Binnenmeers hielt. »Beschütze mein Erbe!«

Dann stieg er, wobei Kalidasa und seine Wachen ihn scharf im Auge behielten, die Stufen zum See hinab. Er hielt an der Wasserfläche nicht inne, sondern schritt hinaus, bis ihm das Wasser zur Hüfte reichte. Er fing ein wenig Flüssigkeit mit den Händen auf und schleuderte sie rückwärts über die Schulter. Dann wandte er sich voller Stolz und Triumph Kalidasa zu.

»Hier, mein Sohn«, schrie er und deutete dabei auf die meilenweite Fläche reinen, lebenspendenden Wassers hinaus, »hier liegt all mein Reichtum!«

»Tötet ihn!«, brüllte Kalidasa, halb von Sinnen vor Wut und Enttäuschung.

Die Soldaten gehorchten.


Also wurde Kalidasa der Herrscher von Taprobane, für einen Preis, den wenige Menschen zu entrichten bereit gewesen wären. Denn er lebte, wie die Chroniken berichten, ständig in Furcht »vor der nächsten Welt und vor seinem Bruder«. Früher oder später würde Malgara zurückkehren und seinen Anspruch auf den Thron anmelden.

Ein paar Jahre lang hielt Kalidasa, wie die Könige vor ihm, Hof in Ranapura. Dann verließ er die königliche Hauptstadt aus Gründen, über die die Geschichte sich ausschweigt, und wandte sich dem abgelegenen Monolithen Jakkagala zu, vierzig Kilometer weit von Ranapura und mitten im Dschungel. Einige meinten, er sei auf der Suche nach einer uneinnehmbaren Festung, die ihn vor der Rache seines Bruders schützen werde. Am Ende aber verzichtete er auf den Schutz, den sie ihm bot — und, wenn es wirklich nur eine Festung hätte sein sollen, warum war dann Jakkagala von Lustgärten umgeben, deren Anlage mindestens so viel Aufwand verschlungen haben muss wie die Mauern und der Wassergraben? Und vor allen Dingen: Wozu die Fresken?

Als der Kommentator diese Frage stellte, materialisierte die gesamte Westwand des Felsens aus der Dunkelheit — nicht in ihrem derzeitigen Zustand, sondern so, wie sie vor zweitausend Jahren ausgesehen haben musste. Eine Fläche, die einhundert Meter über dem Boden begann und sich quer über die Felswand erstreckte, war geebnet und mit Tünche bestrichen worden. Auf die Tünche aber hatte man viele Dutzende schöner Frauen gemalt, lebensgroß, von der Taille an aufwärts. Einige waren im Profil dargestellt, andere frontal, und alle Darstellungen folgten demselben Grundmuster.

Von ockerfarbener Haut und mit wollüstigen Brüsten, waren sie entweder nur in Geschmeide oder zusätzlich in hauchdünne, durchsichtige Gewänder gekleidet. Manche trugen komplizierte, hoch aufragende Frisuren, andere, so schien es, Kronen. Viele hielten Schüsseln mit Blumen, andere wiederum einzelne Blüten. Obwohl etwa die Hälfte von ihnen von dunklerer Hautfarbe war, waren sie nicht weniger exquisit geschmückt und frisiert.


»Einst gab es mehr als zweihundert Gestalten. Aber die Regen und die Winde der Jahrhunderte haben sie alle bis auf zwanzig, die durch einen Felsüberhang geschützt sind, zerstört …«


Das Bild glitt näher. Eine nach der anderen traten die letzten Überlebenden aus Kalidasas Traum aus der Dunkelheit hervor, zu der abgedroschenen, aber äußerst zutreffenden Melodie von Anitras Tanz. Obwohl die Erosion, der Zerfall und sogar Vandalen an ihnen gearbeitet hatten, war von ihrer Schönheit durch die Zeitalter hinweg nichts verlorengegangen. Die Farben bewahrten ihre Frische, unangefochten von dem grellen Licht der mehr als einer halben Million Sonnentage, die seit Kalidasas Zeit verstrichen waren. Mochten sie Göttinnen oder nur einfach Frauen sein — sie hatten die Legende des Felsens lebendig erhalten.

»Niemand weiß, wer sie waren, was sie darstellten und warum ihre Bildnisse mit so viel Mühe an einem derart unzugänglichen Ort angebracht wurden. Die bevorzugte Hypothese lautet, dass es sich um himmlische Wesen handelt und dass Kalidasas Tätigkeit hier darauf abzielte, einen Himmel auf der Erde zu schaffen, mit den dazugehörigen Göttinnen. Vielleicht hielt er sich für einen Gottkönig wie weiland die ägyptischen Pharaonen; vielleicht erklärt das, warum er sich das Bildnis der Sphinx borgte, um den Zugang zu seinem Palast zu schützen …«

Das Bild wechselte jetzt und zeigte den Felsen aus der Ferne, wie er sich in dem kleinen See an seinem Fuß spiegelte. Das Wasser war in Bewegung, die Umrisse Jakkagalas gerieten ins Schwimmen und lösten sich auf. Als das Wasser sich beruhigte und das Bild von neuem entstand, da war der Felsen von Mauern, Zinnen und Türmen gekrönt, die die gesamte Oberfläche des Gipfels bedeckten. Man konnte sie nicht deutlich sehen.

Sie blieben auf tantalisierende Art und Weise verschwommen, wie Bilder eines Traumes. Niemand würde je wissen, wie Kalidasas Palast in der Höhe wirklich ausgesehen hatte, bevor er von jenen zerstört wurde, die jegliche Erinnerung an den König tilgen wollten.


»Und dort lebte er, fast zwanzig Jahre lang, wartete auf den Untergang, von dem er wusste, dass er kommen werde. Seine Späher müssen ihm mitgeteilt haben, dass Malgara mit Unterstützung der Könige Südindiens seine Armeen in aller Ruhe mobilmachte.

Und schließlich zog Malgara heran. Von der Höhe des Felsens aus beobachtete Kalidasa die Eindringlinge, die sich aus dem Norden näherten. Vielleicht hielt er seine Position für uneinnehmbar; aber auf eine Probe ließ er es nicht ankommen. Er verließ die Sicherheit seiner mächtigen Festung und ritt nordwärts, um auf dem neutralen Boden zwischen den beiden Armeen mit seinem Bruder zusammenzutreffen. Man würde jedes erdenkliche Opfer bringen, um zu erfahren, welche Worte die beiden Männer bei ihrer letzten Begegnung sprachen. Einige behaupten, sie umarmten einander, bevor sie sich trennten. Das mag so gewesen sein.

Dann trafen die Armeen aufeinander wie die Wellen der See. Kalidasa focht auf eigenem Boden, mit Männern, die das Land kannten, und zuerst erschien es sicher, dass der Sieg ihm gehören werde. Aber dann ereignete sich einer jener Zufälle, die recht oft über das Schicksal von Völkern entscheiden.

Kalidasas großer Kriegselefant, mit den königlichen Bannern bedeckt, wandte sich seitwärts, um einem Stück sumpfigen Grundes auszuweichen. Die Verteidiger glaubten, der König ziehe sich zurück. Der Mut verließ sie. Sie liefen nach allen Richtungen davon, wie Spreu vor dem Wind, sagen die Chroniken.

Kalidasa wurde auf dem Schlachtfeld gefunden, gefallen durch die eigene Hand. Malgara wurde König. Jakkagala aber überließ man dem Dschungel, der sein Geheimnis siebzehnhundert Jahre lang wahrte.«

Durchs Fernglas

»Mein geheimes Laster«, nannte es Radschasinghe mit Belustigung, aber auch mit Bedauern.

Es war Jahre her, seit er den Jakkagala zum letzten Mal bestiegen hatte. Er hätte zwar zum Gipfel hinauffliegen können, wann immer er wollte, aber das vermittelte ihm nicht das Gefühl, eine Leistung vollbracht zu haben. Wer auf dem leichten Weg dort hinaufgelangte, der versäumte die faszinierenden Einzelheiten der Architektur, mit denen der Pfad geschmückt war. Niemand konnte Kalidasas Gedanken zu verstehen hoffen, ohne seinen Schritten von den Lustgärten bis hinauf zu seinem Luftschloss zu folgen.

Immerhin gab es einen Ersatz, mit dem sich ein alternder Mann notfalls zufriedenstellen ließ. Vor Jahren hatte Radschasinghe ein kompaktes, leistungsfähiges 20-cm-Teleskop erworben. Mit seiner Hilfe konnte er die gesamte Westwand des Felsens bewandern und den Pfad verfolgen, den er so oft in der Vergangenheit erklommen hatte. Wenn er durchs Fernglas sah, fiel es ihm leicht, sich einzubilden, frei in der Luft zu hängen, so nahe an der granitenen Wand, dass er nur die Hand auszustrecken brauchte, um sie zu berühren.

An späten Nachmittagen, wenn die Strahlen der westlichen Sonne bis unter den Felsüberhang hinabreichten, stattete Radschasinghe oft den Fresken einen Besuch ab und machte den Damen des Hofes seine Aufwartung. Obwohl sie ihm alle gefielen, hatte er seine Favoritinnen. Manchmal sprach er zu ihnen und gebrauchte dabei die archaischsten Worte und Konstruktionen, die ihm einfielen — und wusste dabei, dass selbst sein ältestes Taprobani für die Frauengestalten noch tausend Jahre in der Zukunft lag.

Außer den Toten beobachtete er aber auch die Lebenden. Es amüsierte ihn, ihre Reaktionen zu analysieren, während sie sich den Felsen hinaufmühten, auf dem Gipfel Bilder voneinander machten oder die Fresken bewunderten.

Sie hatten keine Ahnung, dass sie von einem unsichtbaren — und neidischen — Zuschauer begleitet wurden, der sich mühelos neben ihnen her bewegte wie ein lautloser Geist, so nahe, dass er jede Einzelheit ihres Gesichtsausdrucks, ihrer Kleidung sehen konnte. Denn das Glas war in der Tat so vorzüglich, dass er die Unterhaltungen der Touristen hätte verstehen können, wenn er des Lippenlesens fähig gewesen wäre.

Diese Neigung konnte nicht als krankhaft bezeichnet werden, und sein kleines Laster war auch keineswegs ein Geheimnis, denn er teilte es bereitwillig mit seinen Besuchern. Das Fernglas war vorzüglich dazu geeignet, einen Fremden mit Jakkagala vertraut zu machen, und versah auch sonst eine Reihe nützlicher Funktionen. Mehrmals schon hatte Radschasinghe die Parkwächter auf Fälle versuchten Diebstahls aufmerksam machen können, und man hatte mehr als einen bass erstaunten Touristen dabei überrascht, wie er seine Initialen in die Felswand kratzte.

Radschasinghe benützte das Glas am Morgen nur selten, weil dann die Sonne auf der anderen Seite Jakkagalas stand und auf der schattigen Westwand nur wenig zu sehen war. Soweit er sich erinnerte, hatte er es noch niemals so kurz nach der Dämmerung gebraucht, während er noch die ergötzliche örtliche Sitte des »Tee-im-Bett« genoss, die vor dreihundert Jahren von den europäischen Pflanzern eingeführt worden war. Als er heute aber durch die große Glastür sah, die ihm einen Ausblick auf nahezu den gesamten Umfang des Jakkagala gestattete, sah er zu seinem Staunen eine winzige Gestalt, die sich über das Gipfelplateau bewegte. Besucher kletterten niemals so früh den Felsen hinauf — selbst der Aufzug zu den Fresken würde erst in einer Stunde in Betrieb genommen werden. Radschasinghe fragte sich, wer der Frühaufsteher wohl sein möge.

Er glitt aus dem Bett, stieg in den farbenfrohen Batik-Sarong und schritt hinaus auf die Veranda. Dort war das Teleskop auf einem soliden Steinsockel montiert. Während er in Gedanken wenigstens zum fünfzigsten Mal vermerkte, dass er eine neue Staubhülle für das Gerät kaufen müsse, schwang er das gedrungene Rohr in Richtung des Felsens.

»Ich hätte es mir denken können!«, sprach er nicht ohne Genugtuung zu sich selbst, als er hohe Vergrößerung eingestellt hatte. Also hatte die Vorstellung der vergangenen Nacht Morgan doch beeindruckt! Der Ingenieur überzeugte sich mit eigenen Augen, wie Kalidasas Architekten der Herausforderung begegnet waren, mit der man sie konfrontiert hatte.

Dann bemerkte Radschasinghe etwas, das ihn störte. Morgan bewegte sich mit forschem Schritt unmittelbar am Rand des Felsens entlang, nur wenige Zentimeter von dem senkrechten Absturz entfernt, dem nur wenige Touristen sich zu nähern wagten. Nur wenige hatten den Mut, auch nur auf dem Elefantenthron zu sitzen, mit den Beinen über dem Abgrund baumelnd. Morgan aber kniete tatsächlich neben dem Thron, hielt sich mit einem Arm lässig an den Ornamenten fest und beugte sich weit hinaus in das Nichts, während er die Felsfläche unter sich studierte. Radschasinghe hatte sich an hohen Orten, selbst an so vertrauten wie Jakkagala, niemals wohl gefühlt. Er konnte es kaum ertragen, dem Ingenieur zuzusehen.

Nach ein paar Minuten ungläubigen Beobachtens kam er zu dem Schluss, Morgan müsse einer jener seltenen Menschen sein, denen Höhen absolut nichts ausmachen. Radschasinghes Erinnerung, die noch immer vorzüglich war, aber ihm mitunter einen Streich spielte, versuchte, ihm etwas bewusst zu machen. War da nicht ein Franzose gewesen, der auf einem Seil die Niagarafälle überquert hatte? In der Mitte hatte er sogar haltgemacht, um sich eine Mahlzeit zuzubereiten! Wenn der Fall nicht so ausgiebig dokumentiert gewesen wäre, hätte Radschasinghe nie geglaubt, dass es so etwas geben könne.

Da war aber noch etwas, an das er sich in diesem Zusammenhang hätte erinnern sollen — ein Vorfall, der mit Morgan selbst zu tun hatte. Was konnte es sein? Morgan … Morgan … bis vor einer Woche noch hatte er so gut wie nichts über den Mann gewusst …

Ja, das war's! Es hatte eine Meinungsverschiedenheit gegeben, die die Nachrichtenmedien einen Tag lang oder so amüsierte. Das musste auch das erste Mal gewesen sein, dass er Morgans Namen hörte.

Der Chefingenieur der geplanten Gibraltar-Brücke hatte eine staunenerregende Ankündigung gemacht. Da alle Fahrzeuge auf der Brücke der automatischen Funksteuerung unterlagen, war das Anbringen von Mauern oder Geländern an den Seiten der Brücke absolut nutzlos. Durch ihren Wegfall ließen sich Tausende von Tonnen einsparen. Natürlich hielt jedermann dies für eine ausgesprochen fürchterliche Idee. Was würde geschehen, verlangte die Öffentlichkeit zu wissen, wenn das Leitsystem eines Fahrzeugs ausfiel und das Fahrzeug auf den Brückenrand zuhielt? Der Chefingenieur hatte die passenden Antworten parat, eher sogar zu viele Antworten.

Wenn das Leitsystem versagte, dann würden, wie jedermann wusste, die Bremsen automatisch in Tätigkeit treten und das Fahrzeug in weniger als einhundert Metern zum Stehen bringen. Nur auf den äußersten Fahrbahnen bestand überhaupt die Möglichkeit, dass ein Fahrzeug über den Rand kippen könne. Dazu war nötig, dass Funksteuerung, Sensoren und Bremsen gleichzeitig und total versagten. Ein solcher Fall könnte einmal alle zwanzig Jahre eintreten.

Bis dahin, gut. Aber dann fügte der Chefingenieur noch etwas hinzu. Womöglich war es nicht für eine Veröffentlichung gedacht; möglicherweise sagte er es halb im Spaß. Aber die Welt hörte ihn äußern, dass er, wenn ein solcher Unfall sich wirklich ereignen sollte, umso froher sein werde, je schneller das Fahrzeug über den Rand kippte, damit ja an seiner schönen Brücke nicht allzu viel Schaden entstand.

Natürlich bekam die Brücke ihr Geländer — stählerne Reflektorkabel entlang der äußeren Fahrbahnen — und soweit Radschasinghe wusste, war bis jetzt noch niemand ins Mittelmeer gefallen. Morgan allerdings schien nach der Art eines Selbstmörders entschlossen, sich hier auf Jakkagala der Schwerkraft zu opfern; anders ließen sich seine Handlungen nicht erklären.

Was hatte er jetzt schon wieder vor? Er kniete neben dem Elefantenthron und hielt eine kleine, rechteckige Schachtel in der Hand, von der Form und Größe eines altmodischen Buches. Radschasinghe bekam sie nur zum Teil zu sehen, und die Art und Weise, wie Morgan mit ihr umging, ergab überhaupt keinen Sinn. Möglicherweise handelte es sich um ein Analysegerät, obwohl nicht einzusehen war, warum der Ingenieur an der Zusammensetzung des Jakkagala interessiert sein sollte.

Wollte er dort oben etwas bauen? Nicht dass man es ihm erlaubt hätte, natürlich, und Radschasinghe konnte sich auch nicht vorstellen, welche Anziehungskraft der luftige Bauplatz ausüben könne. Die größenwahnsinnigen Könige waren selten geworden. Überdies erschien es ihm sicher, dass Morgan vor seinem Besuch in Taprobane nie von Jakkagala gehört hatte. Er schloss das aus den Reaktionen des Ingenieurs am vergangenen Abend.

Dann aber stieß Radschasinghe, der auf seine Selbstbeherrschung auch in den dramatischsten und unerwartetsten Lagen stolz war, einen unfreiwilligen Schreckensschrei aus. Vannevar Morgan war soeben höchst lässig rückwärts über den Rand des Felsens getreten, ins Leere hinaus.

Der Künstler

»Bringt den Perser zu mir!«, sprach Kalidasa, als er wieder zu Atem gekommen war. Der Aufstieg von den Fresken zum Elefantenthron war nicht schwierig, und vor allen Dingen war er jetzt völlig sicher, seitdem die Treppe, die an der Außenseite des Felsens hinabführte, eine Seitenwand erhalten hatte. Aber es war ermüdend. Wie viel Jahre noch, fragte sich Kalidasa, würde er diesen Ausflug ohne Hilfe unternehmen können? Natürlich hätte er sich von Sklaven tragen lassen können; aber das widersprach der Würde der Krone. Außerdem war es ein unerträglicher Gedanke, dass unberufene Augen die einhundert Göttinnen und die wiederum einhundert und ebenso schönen Dienerinnen zu sehen bekommen sollten, die den Hofstaat seines himmlischen Palasts bildeten.

Von jetzt an würde Tag und Nacht ein Wachtposten am Eingang zur Treppe stehen, die die einzige Verbindung zwischen dem Palast und Kalidasas Privathimmel bildete. Nach zehn Jahren der Mühe war sein Traum nunmehr in Erfüllung gegangen. Ganz gleich, welche Widersprüche die eifersüchtigen Mönche auf ihrem Berggipfel erheben mochten: Er war ein Gott!

Trotz seiner vielen Jahre in der Sonne von Taprobane war der Perser noch immer so hellhäutig wie ein Römer. Als er sich jetzt vor dem König verbeugte, erschien er diesem sogar noch blasser als sonst, und außerdem unruhig. Kalidasa musterte ihn nachdenklich und schenkte ihm, was sehr selten vorkam, ein Lächeln der Anerkennung.

»Du hast gute Arbeit geleistet, Perser«, sagte er. »Gibt es auf der Welt einen Künstler, der seine Sache hätte besser machen können?«

In Firdaz' Bewusstsein stritt die Vorsicht mit dem Stolz, bevor er zögernd antwortete:

»Ich kenne keinen, Majestät.«

»Und habe ich dich gut bezahlt?«

»Ich bin sehr zufrieden.«

Das, dachte Kalidasa, entsprach wohl kaum der Wahrheit. Der Perser hatte ständig um mehr Geld, mehr Helfer und um teure Materialien gebeten, die nur in fernen Ländern zu haben waren. Aber von Künstlern konnte man kein wirtschaftliches Verständnis erwarten. Firdaz hatte keine Ahnung, wie sehr der königliche Schatz infolge der atemberaubenden Kosten des Palasts und seiner Umgebung geschrumpft war.

»Und jetzt, da deine Arbeit hier beendet ist, wonach begehrst du?«

»Euer Majestät mögen mir erlauben, nach Isfahan zurückzukehren, damit ich mein Volk wiedersehe.«

Das war die Antwort, die Kalidasa erwartet hatte. Die Entscheidung, die jetzt getroffen werden musste, erfüllte ihn mit aufrichtigem Bedauern. Aber es gab einfach zu viele Könige längs des Weges nach Persien, die sich den Meisterkünstler von Jakkagala mit gierigen Fingern greifen würden. Der Schönheit der gemalten Göttinnen auf der Westwand aber durfte niemals eine Herausforderung entstehen.

»Es gibt da noch ein Problem«, sagte er tonlos, woraufhin Firdaz noch bleicher wurde und seine Schultern hängen ließ. Als König hätte Kalidasa keine Erklärung abzugeben brauchen; aber hier sprach ein Künstler zum andern. »Du hast mir geholfen, ein Gott zu werden. Die Kunde davon wurde in viele Länder getragen. Wenn du den Bereich verlässt, in dem ich dich schützen kann, wirst du anderen in die Hände fallen, die ähnliche Forderungen an dich stellen.«

Der Künstler antwortete nicht sofort. Einen Augenblick lang war nur das Stöhnen des Windes zu hören, der sich wie immer über das Hindernis in seinem Weg beklagte. Dann sprach Firdaz mit so matter Stimme, dass Kalidasa ihn kaum verstehen konnte: »Ich darf also nicht abreisen?«

»Du sollst reisen, beladen mit genug Reichtum, dass er dir für den Rest deines Lebens langt. Aber nur unter der Bedingung, dass du niemals für einen anderen Fürsten arbeitest.«

»Das Versprechen will ich gerne geben«, erwiderte Firdaz mit unangemessener Hast.

Traurig schüttelte Kalidasa den Kopf. »Ich habe gelernt, dem Wort von Künstlern nicht zu trauen«, sagte er, »besonders wenn sie sich nicht mehr in meinem Land befinden. Ich werde daher das Versprechen erzwingen müssen.«

Plötzlich sah Firdaz gar nicht mehr so unsicher aus, was Kalidasa überraschte. Es war fast, als habe er eine schwerwiegende Entscheidung getroffen und damit das Unbehagen von sich gestreift.

»Ich verstehe«, sagte er, wobei er sich zu voller Größe aufrichtete. Dann wandte er mit einem Ruck dem König den Rücken zu, als ob sein königlicher Herr nicht mehr existiere, und starrte geradewegs in die glutende Sonne.

Die Sonne, das wusste Kalidasa, war die Gottheit der Perser, und die Worte, die Firdaz jetzt murmelte, mussten ein Gebet in seiner eigenen Sprache sein. Es gab schlimmere Götter, und der Künstler starrte in die blendende Scheibe, als sei sie das Letzte, was er je zu sehen erwartete …

»Haltet ihn!«, schrie der König.

Die Wachen stürzten auf den Perser zu, aber sie kamen zu spät. Obwohl durch die Sonnenglut geblendet, bewegte sich Firdaz äußerst zielbewusst. Mit drei Schritten erreichte er die niedrige Mauer und sprang über sie hinweg. Er gab kein Geräusch von sich, während er den schier endlosen Fall tat, hinab zu den Gärten, an deren Planung er so viele Jahre gearbeitet hatte, noch hörte man ein Echo, als der Architekt von Jakkagala am Fuß seines Meisterwerks aufschlug.

Viele Tage lang war Kalidasa untröstlich; aber seine Trauer verwandelte sich in Zorn, als der letzte, nach Isfahan adressierte Brief des Persers abgefangen wurde. Jemand hatte Firdaz gewarnt, dass man ihn blenden werde, sobald sein Werk vollendet war. Das aber war eine verdammungswürdige Lüge. Kalidasa brachte nie in Erfahrung, von wem die Warnung ausgegangen war, obwohl nicht wenige aus seiner Umgebung eines langsamen Todes starben, bevor ihre Unschuld bewiesen wurde. Es stimmte ihn traurig, dass der Perser eine solche Unwahrheit geglaubt hatte. Hätte er sich nicht sagen müssen, dass ein Künstler dem andern niemals das Augenlicht raubt?

Denn Kalidasa war weder grausam noch undankbar. Er hätte Firdaz mit Gold beladen und ihm Diener mit auf den Weg gegeben, die ihm bis an sein Lebensende zu Diensten gewesen wären. Er hätte die Hände niemals wieder zu rühren brauchen und sich schon bald an ihren Verlust gewöhnt.

Der Palast des Gottkönigs

Vannevar Morgan hatte eine unruhige Nacht hinter sich, und das war überaus ungewöhnlich. Er war ein selbstbewusster Mann und machte es sich zur Gewohnheit, seine inneren Motive und Emotionen zu kennen. Wenn er nicht schlafen konnte, dann wollte er wissen warum.

Während er das erste Dämmerlicht die Decke seines Hotelzimmers entlangkriechen sah und den glockenähnlichen Rufen exotischer Vögel lauschte, brachte er seine Gedanken in Ordnung. Er hätte es niemals bis zum leitenden Ingenieur bei Terran Construction gebracht, wenn er nicht die Fähigkeit besessen hätte, sein Leben so einzurichten, dass es nicht zu Überraschungen kam. Obwohl niemand gegen die Launen des Zufalls und des Schicksals gefeit sein konnte, hatte er es mit den geeigneten Vorsichtsmaßnahmen doch so weit gebracht, dass seine Karriere und vor allen Dingen sein Ruf einigermaßen gesichert waren. Er war bezüglich seiner Zukunft so zuversichtlich, wie es ein Mensch nur sein konnte. Selbst wenn er auf der Stelle tot umfiel, würden die Programme, die er in seiner Computerbank gespeichert hatte, seinen geliebten Traum bis über das Grab hinaus beschützen.

Bis gestern war ihm der Name Jakkagala völlig fremd gewesen. Mehr noch: Bis vor ein paar Wochen wusste er nur wenig über Taprobane, bis seine Suche ihn mit unausweichlicher Logik auf die Insel hinsteuerte. Um diese Zeit hätte er schon längst wieder unterwegs sein sollen; dabei hatte seine Mission noch nicht einmal begonnen. Dass sein Terminplan durcheinandergeriet, machte ihm wenig aus. Was ihn störte, war der Eindruck, dass er von Kräften gelenkt wurde, die sich seinem Verständnis entzogen. Doch war ihm das Gefühl, unter dem Einfluss einer fremden Macht zu stehen, nicht fremd. Er hatte es zuvor erfahren, als er seinen verlorenen Drachen im Kiribilli-Park steigen ließ, neben den grauen Monolithen, die einstmals die Pfeiler der längst zerstörten Hafenbrücke von Sydney gewesen waren.

Jene zwei Felsen hatten seine Kindheit beherrscht und sein Schicksal bestimmt. Vielleicht wäre er sowieso ein Ingenieur geworden; aber durch den Zufall seines Geburtsorts war festgelegt worden, dass er ein Brückenbauer sein werde. So kam es, dass er als Erster zu Fuß von Marokko nach Spanien ging, drei Kilometer hoch über den Wassern des Mittelmeers. Nicht im Traum hätte er in jenem Augenblick des Triumphs an die weitaus größere Herausforderung gedacht, die später auf ihn zukommen würde.

Wenn er die Aufgabe löste, die ihm jetzt gestellt war, dann würde sein Ruhm Jahrhunderte überdauern. Schon jetzt waren Verstand, Körper und Willenskraft bis aufs äußerste angespannt. Er hatte keine Zeit für müßige Zerstreuung. Aber die Leistungen eines Ingenieurarchitekten, der seit zweitausend Jahren tot war und einer absolut fremden Kultur angehörte, hatten ihn fasziniert. Außerdem lockte ihn Kalidasas Geheimnis. Welches Ziel verfolgte er, als er diese Anlagen errichtete? Der König mochte ein Ungeheuer gewesen sein; aber etwas in seinem Charakter brachte eine Saite in Morgans Gemüt zum Schwingen.

Der Sonnenaufgang war erst in dreißig Minuten; es blieben ihm noch zwei Stunden bis zum Frühstück mit Botschafter Radschasinghe. Das reichte. Zudem würde sich eine weitere Gelegenheit womöglich nie ergeben.

Morgan verstand es, Zeit zu sparen. Hose und Pullover hatte er in weniger als einer Minute angezogen. Die sorgfältige Auswahl des Schuhwerks dauerte dagegen wesentlich länger. Es war Jahre her, seit er ernsthafte Klettertouren unternommen hatte, aber trotzdem gehörten zu seiner Standardausrüstung ein paar feste, aber leichte Stiefel. In seinem Beruf fand er für sie häufigen Gebrauch. Er hatte die Zimmertür schon hinter sich geschlossen, als ihm plötzlich noch etwas einfiel. Einen Augenblick lang stand er zögernd im Gang. Dann lächelte er und hob die Schultern. Man wusste nie … — und außerdem konnte es nichts schaden.

Morgan kehrte in das Zimmer zurück, öffnete seinen Koffer und entnahm ihm eine kleine, flache Schachtel, die etwa die Größe und Form eines Taschenrechners besaß. Er prüfte die Ladung der Batterien und die manuelle Steuerfunktion, dann befestigte er das Gerät am Schloss seines Gürtels. Jetzt war er für den Vorstoß in Kalidasas gespenstisches Königreich vorbereitet, und gewappnet gegen alle Dämonen, die darin hausen mochten.

Die Sonne stieg auf und übergoss ihn mit wohltuender Wärme, als Morgan durch die Lücke in der mächtigen Mauer schritt, die die äußere Verteidigungslinie der Festung darstellte. Vor ihm, von einem engen Steinsteg überbrückt, lag das stille Wasser des großen Grabens, der sich geradlinig zu beiden Seiten je einen halben Kilometer weit erstreckte. Eine kleine Flotte von Schwänen glitt voller Erwartung durch das Schilf auf ihn zu und schwamm indigniert wieder davon, als offenbar wurde, dass er kein Futter brachte. Auf der anderen Seite des Steges gelangte er an eine niedrigere Mauer, die er mit Hilfe einer in das Mauerwerk eingearbeiteten Treppe überstieg. Danach lagen die Lustgärten unmittelbar vor ihm, und im Hintergrund erhob sich der mächtige, senkrecht ansteigende Felsen.

Die Springbrunnen entlang der Mittelachse der Gärten hoben und senkten sich in trägem Rhythmus, als ob sie alle im gleichen langsamen Takt atmeten. Kein menschliches Wesen war in Sicht. Das ganze verwunschene Reich gehörte ihm allein. Auch während der siebzehnhundert Jahre, die zwischen Kalidasas Tod und der Wiederentdeckung durch Archäologen des neunzehnten Jahrhunderts verstrichen und in denen der Dschungel sie überwucherte, war die Stadtfestung nicht verlassener gewesen als in diesem Augenblick.

Morgan schritt die Reihe der Brunnen entlang und spürte ihren Sprühregen auf der Haut. Einmal blieb er stehen, um die herrliche Steinmetzarbeit der Rinnen zu bewundern, die das überschüssige Wasser aufnahmen. Er fragte sich, wie die Hydraulikingenieure des Altertums das Wasser in die nötige Höhe gebracht hatten, um die Brunnen zu betreiben, und mit welchen Drücken sie zu manipulieren verstanden. Die senkrecht aufsteigenden Wasserstrahlen mussten denen, die sie als Erste zu Gesicht bekamen, in der Tat wunderbar erschienen sein.

Jetzt lag vor ihm eine steile Flucht granitener Stufen, deren Trittfläche so unbequem eng war, dass Morgans Stiefel kaum darauf passten. Hatten die Leute, die diesen außerordentlichen Palast bauten, wirklich so kleine Füße, fragte er sich. Oder war es ein schlauer Einfall des Architekten, um unfreundliche Besucher abzuwimmeln? Für Soldaten wäre es sicherlich schwierig gewesen, diesen sechzig Grad steilen Hang zu stürmen — auf Stufen, die für Liliputaner gemacht waren.

Es kam eine kleine Plattform, dann noch einmal eine Treppenflucht, genauso beschaffen wie die erste. Schließlich fand sich Morgan in einer langen, sanft ansteigenden Galerie, die in die Flanke des Felsens geschnitten war. Er war jetzt bereits fünfzig Meter oberhalb der Ebene, aber der Ausblick wurde ihm durch eine hohe, mit einem glatten, gelben Bewurf überzogene Mauer versperrt. Weiter oben hing der Fels so weit über, dass er sich vorkam, als bewege er sich durch einen Tunnel; denn über ihm war nur noch ein schmales Band des Himmels zu sehen.

Der Bewurf der Mauer sah völlig neu und frisch aus. Man konnte sich kaum vorstellen, dass die Maurer vor zweitausend Jahren die Kelle aus der Hand gelegt hatten. Hier und da jedoch war die schimmernde, spiegelglatte Oberfläche durch gekratzte Buchstaben verunziert, wo Besucher sich hatten verewigen wollen. Sehr wenige Inschriften waren in einem Alphabet geschrieben, das Morgan zu lesen verstand, und das letzte Jahresdatum, das er fand, war 1931. Danach hatte offenbar das Ministerium für Archäologie dafür gesorgt, dass solcher Vandalismus unterblieb. Die meisten der Kritzeleien waren in der fließenden, gerundeten Schrift des Taprobani. Morgan erinnerte sich von der Vorstellung am vergangenen Abend her, dass es sich bei vielen der Inschriften um Gedichte handelte, die bis zum zweiten und dritten Jahrhundert zurückdatierten. Eine kurze Zeit nach Kalidasas Tod hatte Jakkagala seine erste Blütezeit als Touristenziel erlebt, die hauptsächlich von den Legenden lebte, von denen der fluchbeladene König umgeben war.

Mitten auf der Steingalerie gelangte Morgan an die Tür des kleinen Aufzugs, der zwanzig Meter weit zu den berühmten Fresken hinaufführte. Sie war verschlossen. Er reckte den Hals, um die Gemälde zu sehen; aber sie waren durch den Boden des Gitterkäfigs verdeckt, von dem aus die Touristen sie in Augenschein nahmen. Der Käfig hing wie das Nest eines metallenen Vogels an der sich nach auswärts neigenden Wand des Felsens. Manche Touristen, hatte Radschasinghe ihm erzählt, warfen einen Blick auf den schwindelerregenden Standort des Käfigs und beschlossen alsbald, sich mit Bildpostkarten zufriedenzugeben.

Zum ersten Mal begriff Morgan wirklich eines der größten Geheimnisse von Jakkagala. Es ging nicht darum, wie die Fresken gemalt worden waren — ein einfaches Bambusgerüst hätte dieses Problem gelöst —, sondern warum. Als sie fertiggestellt waren, konnte niemand sie richtig betrachten. Von der unmittelbar darunter hinwegführenden Galerie aus erschienen sie verzerrt, und dem Beobachter am Fuß des Felsens erschienen sie als winzige, unentzifferbare Farbkleckse. Vielleicht waren sie, wie von mancher Seite geäußert wurde, von rein religiöser oder magischer Bedeutung wie jene Steinzeitmalereien, die man in den Tiefen fast unzugänglicher Höhlen findet.

Die Fresken würden warten müssen, bis der Aufseher kam und den Lift aufschloss. Es gab noch viel anderes zu sehen; er hatte bis jetzt erst ein Drittel der Strecke bis zum Gipfel zurückgelegt, und die Galerie, an die Oberfläche des Felsens geklebt, stieg weiterhin sanft an.

Die hohe, gelbe Mauer machte einer niedrigen Brüstung Platz, und Morgan bekam die Landschaft der Umgebung wieder zu Gesicht. Dort unten lag die ganze Weite der Lustgärten, und zum ersten Mal erfasste er nicht nur ihre gewaltige Ausdehnung (war Versailles größer?), sondern auch das Geschick der architektonischen Planung und den klugen Einsatz des Wassergrabens und der äußeren Festungsmauern gegen den von außen hereindrängenden Dschungel.

Niemand wusste, welche Bäume, Büsche und Blumen hier zu Kalidasas Lebzeiten gewachsen waren, aber das Muster der künstlichen Seen und der Kanäle, der Pfade und Springbrunnen war noch genau dasselbe wie damals. Während er auf die tanzenden Strahlen der Springbrunnen hinabblickte, erinnerte sich Morgan plötzlich an ein Zitat aus dem Kommentar der vergangenen Nacht:


»Von Taprobane bis zum Paradies sind es vierzig Meilen. Man kann dort das Plätschern der Brunnen des Paradieses hören.«


Er genoss die Bezeichnung, während er sie halblaut aussprach: Brunnen des Paradieses.

Hatte Kalidasa hier, auf der Erde, einen Garten zu schaffen versucht, in dem sich selbst Götter wohl fühlen würden, um seinen eigenen Anspruch auf Göttlichkeit zu unterstreichen? Wenn das so war, dann ließ sich verstehen, warum die Priester ihn der Lästerung beschuldigt und sein gesamtes Werk mit einem Fluch belegt hatten.

Schließlich endete die Galerie, die die gesamte westliche Felswand überquert hatte, am Fuß einer weiteren steilen Treppe. Diesmal allerdings waren die Stufen großzügiger bemessen. Aber der eigentliche Palast lag noch immer in weiter Ferne, denn die Treppe endete auf einem ausgedehnten, offenbar künstlichen Plateau. Hier befanden sich die Überreste des gigantischen Löwenungeheuers, das einstmals die Landschaft beherrscht und jedem Betrachter Schrecken eingeflößt hatte. Die Tatzen des gewaltigen, kauernden Tieres sprangen geradewegs aus der Felswand hervor; die Klauen allein waren von halber Mannesgröße.

Sonst war nichts mehr übrig — bis auf eine weitere Granittreppe, die durch die Steintrümmer führte, aus denen einst der Schädel der Bestie bestanden haben musste. Selbst die Trümmer aber waren noch immer ehrfurchtgebietend. Wer sich dem Sitz des Königs zu nahen wagte, musste zuerst den weit aufgerissenen Rachen des Ungeheuers durchsteigen.

Das letzte Stück des nicht nur senkrecht, sondern mit leichtem Überhang ansteigenden Felsens wurde mit Hilfe einer Reihe eiserner Leitern bewältigt, die mit Schutzgeländern ausgestattet waren, um nervösen Touristen die nötige Sicherheit zu verleihen. Die wahre Gefahr aber, so hatte man Morgan gewarnt, war nicht der Schwindel. Schwärme üblicherweise friedlicher Hornissen bewohnten kleine Höhlungen im Felsen, und Touristen, die zu viel Geräusch verursachten, hatten sie manchmal aufgestört — mit höchst unangenehmen Folgen.

Vor zweitausend Jahren war diese, die Nordseite des Felsens mit Mauern und Zinnen besetzt gewesen, die einen angemessenen Hintergrund für die taprobanische Sphinx abgaben, und hinter den Mauern musste eine Treppe gewesen sein, die einen ohne Mühe zum Gipfel hinaufbrachte. Inzwischen aber hatten die Zeit, das Wetter und die zerstörende Hand des Menschen das alles beseitigt. Nur noch der nackte Fels war übrig, besät mit Myriaden horizontaler Schlitze und enger Vorsprünge, die einst die Fundamente der verschwundenen Steinmetzenarbeit getragen hatten.

Plötzlich war der Kletterweg zu Ende. Morgan befand sich auf einer kleinen Insel, die zweihundert Meter über einem Gelände aus Bäumen und Feldern schwebte, das nach allen Richtungen hin eben war — mit Ausnahme des Südens, wo die Zentralberge den Horizont gliederten. Er war von aller Welt isoliert und fühlte sich doch als Herr all dessen, was seine Augen sahen. Das letzte Mal, dass er ein derartiges Gefühl empfunden hatte, war gewesen, als er zwischen Europa und Afrika inmitten der Wolken stand. Dies war der Wohnsitz eines Gottkönigs, und die Ruinen seines Palasts umgaben ihn auf allen Seiten.

Ein verwirrendes Durcheinander zerfallener Mauern — keine mehr als hüfthoch —, Haufen wettergegerbter Bausteine und granitgepflasterte Pfade bedeckten die gesamte Fläche des Gipfelplateaus, bis hin zu dem steil abstürzenden Rand. Morgan entdeckte eine große Zisterne, die tief in den soliden Untergrund eingegraben war, vermutlich ein Vorratsbehälter für Wasser. Solange der Proviant nicht ausging, konnte eine Handvoll entschlossener Männer diesen Ort bis in alle Ewigkeit verteidigen. Wenn aber Jakkagala wirklich als Festung geplant worden war, so waren seine Verteidigungsanlagen niemals auf ihre Zuverlässigkeit geprüft worden. Kalidasas schicksalhafte letzte Begegnung mit seinem Bruder hatte weit jenseits der Festungsmauern stattgefunden.

Morgan stöberte durch die Fundamente des Palasts, der einst den Felsen gekrönt hatte, und vergaß dabei fast die Zeit. Er versuchte, die Gedanken des Architekten nachzuvollziehen, anhand der Bruchstücke, die von dessen Arbeit noch übrig waren. Warum gab es hier einen Pfad? Hatte diese eingestürzte Treppe einst zu einem oberen Stockwerk geführt? Wenn diese sargförmige Aussparung im Boden eine Badewanne war, wie hatte man das Wasser beschafft, wie war die Wanne entleert worden? Seine Forschungen faszinierten ihn so, dass ihn die rasch ansteigende Temperatur, die die aus einem wolkenlosen Himmel strahlende Sonne verursachte, nicht störte.

Weit unten erwachte die smaragdgrüne Landschaft zum Leben. Wie buntgefärbte Käfer bewegte sich ein Schwarm kleiner Robottraktoren auf die Reisfelder zu. Und weiter drüben war, so unwahrscheinlich es auch sein mochte, ein hilfreicher Elefant damit beschäftigt, einen umgestürzten Bus wieder auf die Straße zu setzen, die er anscheinend verlassen hatte, als er mit zu hoher Geschwindigkeit in eine Kurve gegangen war. Morgan konnte sogar die schrille Stimme des Reiters hören, der unmittelbar hinter den riesigen Ohren hockte. Ein Strom von Touristen ergoss sich aus der Richtung des Hotels Jakkagala kommend, wie eine Ameisenarmee über die Lustgärten. Er würde die Einsamkeit nicht mehr lange genießen können.

Immerhin hatte er seine Erforschung der Ruine einigermaßen zum Abschluss gebracht — obwohl man natürlich ein ganzes Leben damit hätte verbringen können, sie im Detail zu studieren. Es tat gut, sich eine Weile auszuruhen, auf einer schön behauenen Granitbank unmittelbar am Rand des zweihundert Meter tiefen Absturzes, mit freiem Ausblick über den gesamten Südhimmel.

Morgans Blick glitt die gezackte Linie der fernen Berge entlang. Sie war noch immer zum Teil verhüllt von bläulichem Dunst, den die Morgensonne noch nicht aufgelöst hatte. Während Morgan die Dunstwolke ohne sonderliches Interesse musterte, ging ihm plötzlich auf, dass das, was er für ein Wolkengebilde gehalten hatte, keineswegs ein kurzlebiges Produkt des Windes und der Luftfeuchtigkeit war. Die perfekte Symmetrie, mit der es über seine minderen Brüder hinausragte, ließ sich nicht missdeuten!

Im ersten Augenblick der Erkenntnis war sein Verstand wie leer. Ein Gefühl des Wunderbaren erfüllte ihn — und eine fast abergläubische Ehrfurcht. Er hatte nicht gewusst, dass man den Heiligen Berg von Jakkagala aus so klar sehen konnte. Aber dort war er, langsam dem Schatten der Nacht entgleitend, vorbereitet auf einen neuen Tag. Und, wenn Morgan mit seinen Plänen Erfolg hatte, auf eine neue Zukunft.

Er kannte alle Maße des Berges auswendig. Er hatte Karten der Oberfläche aus Stereobildern zusammengestellt und jeden Quadratmeter auf Satellitenaufnahmen studiert. Aber ihn zum ersten Mal mit eigenen Augen zu sehen, verlieh der Sache eine neue Dimension der Wirklichkeit. Bisher war alles Theorie gewesen. Manchmal nicht einmal das. Oftmals in den hässlichen, grauen Stunden vor der Morgendämmerung war Morgan unter Albträumen aus dem Schlaf geschreckt, hatte sich gefragt, ob sein Projekt nicht in Wirklichkeit eine monströse Phantasie sei, die ihn, anstatt ihm Ruhm zu bringen, zum Gespött der Welt machen würde. »Morgans Spinnerei« hatten einige unter seinesgleichen die Brücke genannt. Welchen Namen würden sie seinem jüngsten Traum geben?

Aber Hindernisse, die von Menschen gemacht waren, hatten ihn bisher noch nie aufzuhalten vermocht. Die Natur war sein wahrer Gegenspieler — der freundliche Feind, der niemals schwindelte und immer ehrlich spielte, allerdings auch niemals versäumte, den winzigsten Fehler, das kleinste Versehen auszunützen. Die Gesamtheit der Kräfte der Natur aber nahmen in diesem Augenblick für ihn Gestalt an in dem fernen, bläulichen Kegel, den er so gut kannte, ohne je einen Fuß auf seine Oberfläche gesetzt zu haben.

Wie Kalidasa es von diesem Punkt aus so oft getan hatte, starrte Morgan über die fruchtbare, grüne Ebene, maß die Größe der Herausforderung und plante seine Strategie. Für Kalidasa stellte Sri Kanda sowohl die Macht der Priesterschaft als auch die der Götter dar, die sich beide gegen ihn verbunden hatten. Seitdem waren die Götter verschwunden, aber die Priester gab es noch immer. In Morgans Planung waren sie eine unbekannte Größe. Er würde sie daher mit vorsichtigem Respekt behandeln.

Es war Zeit für den Abstieg. Er durfte sich nicht wiederum verspäten, vor allem nicht durch eigenes Verschulden. Als er sich von dem Stein erhob, auf dem er gesessen hatte, materialisierte in seinem Bewusstsein ein Gedanke, der die ganze Zeit über im Unterbewussten an ihm genagt hatte. Es war eigenartig, dass jemand einen derart prächtigen Sitz, getragen von zwei wundervoll aus dem Stein getriebenen Elefanten, unmittelbar am Rand des Absturzes hätte anbringen sollen …

Morgan war nie der Mann gewesen, der einer intellektuellen Herausforderung widerstehen konnte. Er beugte sich weit über den Abgrund hinaus und versuchte von neuem, seinen Verstand in Resonanz mit dem eines Kollegen zu bringen, den es schon seit zweitausend Jahren nicht mehr gab.

Malgara

Selbst seine Vertrauten vermochten Prinz Malgaras Gesichtsausdruck nicht zu deuten, als er ein letztes Mal den Bruder anblickte, mit dem er seine Kindheit geteilt hatte. Das Schlachtfeld war ruhig geworden; selbst die Verwundeten hatten zu schreien aufgehört, nachdem ihre Schmerzen durch ein heilendes Kraut oder ein barmherziges Schwert gestillt worden waren.

Nach geraumer Zeit wandte sich der Prinz an die in gelbe Gewänder gehüllte Gestalt, die neben ihm stand: »Du hast ihn gekrönt, Verehrungswürdiger Bodhidharma. Jetzt erweise ihm noch einen Dienst. Sieh, dass ihm die Ehre zuteilwird, die einem König gebührt.«

Die Antwort des Priesters kam nicht sofort. Schließlich entgegnete er sanft: »Er hat unsere Tempel zerstört und die Priester davongejagt. Wenn er überhaupt einen Gott verehrte, dann war es Shiva.«

Auf Malgaras Gesicht erschien das furchteinflößende Lächeln, das der Mahajanake in den Jahren, die ihm noch verblieben, so gut kennenlernen würde.

»Verehrter Tempelherr«, sagte der Prinz mit einer Stimme, aus der das Gift troff, »er war der erstgeborene Sohn Paravanas des Großen, er saß auf dem Thron von Taprobane, und das Übel, das er angerichtet hat, stirbt mit ihm. Wenn der Leichnam verbrannt ist, wirst du dafür Sorge tragen, dass die Überreste auf angemessene Weise bestattet werden, bevor du auch nur mit einem Fuß Sri Kanda wieder betrittst!«

Der Mahajanake Thero deutete eine Verneigung an, mehr nicht. »Es wird geschehen, wie du es wünschst.«

»Und noch etwas«, fuhr Malgara fort, wobei er sich zu seinen Begleitern wandte: »Der Ruhm von Kalidasas Brunnen drang selbst bis nach Indien zu uns. Wir wollen sie uns einmal anschauen, bevor wir auf Ranapura marschieren …«

Vom Mittelpunkt der Lustgärten, die seine Freude gewesen waren, stieg der Rauch von Kalidasas Scheiterhaufen in den wolkenlosen Himmel und verscheuchte die Aasvögel, die sich von nah und fern versammelt hatten. Mit grimmiger Zufriedenheit, wenn auch hin und wieder durch plötzliche Erinnerungen beunruhigt, sah Malgara den Qualm, Symbol seines Triumphs, sich spiralförmig aufwärts winden. Er verkündete allem Land, dass eine neue Herrschaft begonnen hatte.

Als ob es die uralte Rivalität fortzusetzen gedächte, forderte das Wasser der Brunnen das Feuer heraus, sprang in die Höhe und stürzte wieder herab, die spiegelnde Oberfläche der Teiche zertrümmernd. Plötzlich aber, lange bevor die Flammen ihr Werk vollendet hatten, begannen die Reservoire leer zu laufen, und die Fontänen zerfielen. Sie würden sich erst wieder aufrichten, nachdem das kaiserliche Rom längst nicht mehr war, nachdem die Armeen des Islams ihre Banner quer durch Nordafrika getragen hatten, nachdem die Erde von einem Mann namens Kopernikus ihres Throns im Mittelpunkt des Universums beraubt worden war, nach der Unterzeichnung der Unabhängigkeitserklärung und nachdem der Mensch den Fuß auf den Mond gesetzt hatte …

Malgara wartete, bis der Scheiterhaufen mit einem letzten Funkenregen in sich zusammensank. Als die Reste des Rauches gegen die hoch aufragende Wand des Jakkagala hin zogen, hob er den Blick zu dem Palast auf dem Gipfel des Felsens und starrte ihn lange Zeit nachdenklich an.

»Der Mensch versuche die Götter nicht«, sagte er schließlich. »Man soll ihn zerstören!«

Der Draht

»Sie hätten mir um ein Haar zu einem Herzschlag verholfen«, sagte Radschasinghe vorwurfsvoll, während er den Kaffee eingoss. »Zuerst dachte ich, Sie hätten irgendeine Art Antischwerkraftgerät. Aber selbst ich weiß, dass es das nicht gibt. Wie haben Sie es fertiggebracht?«

»Ich bitte um Entschuldigung«, antwortete Morgan lächelnd. »Wenn ich gewusst hätte, dass Sie mich beobachteten, hätte ich Sie gewarnt. Die Sache war ursprünglich gar nicht geplant. Ich hatte mir nur den Felsen ansehen wollen, aber dann begann mich die Steinbank zu fesseln. Ich fragte mich, warum sie so unmittelbar am Rand des Absturzes stand, und fing an zu forschen.«

»Es ist gar kein Geheimnis dabei. Früher gab es dort einmal eine Plattform, wahrscheinlich aus Holz, die über den Rand des Felsens hinausragte, und eine Treppe, die vom Gipfel zu den Fresken hinabführte. Man kann noch die Fugen sehen, wo sie an der Felswand befestigt war.«

»Das habe ich inzwischen entdeckt«, sagte Morgan mit leisem Bedauern. »Ich hätte mir denken sollen, dass das Rätsel schon längst gelöst war.«

Seit zweihundertundfünfzig Jahren, dachte Radschasinghe. Durch einen exzentrischen, nimmermüden Engländer namens Arnold Lethbridge, Taprobanes ersten Direktor für Archäologie. Er ließ sich an der Außenseite des Felsens hinab, genauso wie Morgan. Oder vielleicht doch nicht genauso …

Morgan hatte inzwischen die Metallschachtel zum Vorschein gebracht, mit der das Wunder vollbracht worden war. Ihre einzige Ausrüstung bestand aus ein paar Schaltknöpfen und einer kleinen Anzeigeleiste. Sie sah aus wie ein billiges Kommunikationsgerät.

»Das ist es«, sagte er stolz. »Da Sie mich bei meinem hundert Meter weiten Vertikalspaziergang beobachtet haben, können Sie sich vermutlich recht gut vorstellen, wie es funktioniert.«

»Ich hatte natürlich eine Idee, aber selbst mit dem leistungsstarken Glas konnte ich sie nicht bestätigen. Ich hätte schwören können, dass da absolut nichts war, was Sie vor dem Absturz wahrte.«

»Das war nicht die Vorführung, die ich ursprünglich im Sinn hatte. Aber ich sehe, Sie sind beeindruckt. Meine übliche Präsentation geht etwa so: Bitte stecken Sie den Finger durch diesen Ring.«

Radschasinghe zögerte. Morgan hielt den Metallring, der etwa die doppelte Größe eines Eherings besaß, so vorsichtig, als sei er elektrisch geladen.

»Bekomme ich einen Schlag?«, fragte er.

»Keinen Schlag. Aber Sie werden überrascht sein. Versuchen Sie, den Ring von mir fortzuziehen.«

Nicht besonders zuversichtlich griff Radschasinghe nach dem Ring — und ließ ihn augenblicklich fast wieder fallen. Das Ding war lebendig! Er stand unter einer Spannung, die es auf Morgan zuzog, oder vielmehr auf die Schachtel in Morgans Händen. Die Schachtel gab jetzt ein surrendes Geräusch von sich, und Radschasinghe spürte, wie sein Finger von einer geheimnisvollen Kraft vorwärts gezogen wurde. Magnetismus, fragte er sich. Natürlich nicht. Kein Magnet wirkte auf diese Weise. Seine vorläufige, aber unwahrscheinliche Hypothese musste richtig sein. Es gab einfach keine andere Erklärung. Morgan und er spielten Tauziehen miteinander, ganz normal — nur mit dem Unterschied, dass sie ein unsichtbares Tau benutzten.

Wie sehr Radschasinghe die Augen auch anstrengte, er sah keine Spur eines Fadens oder Drahtes, der den Ring, um den er den Finger gehakt hatte, mit der Schachtel verband, die Morgan jetzt wie ein Angler handhabte, der seinen Fang an Land bringen will. Er streckte die freie Hand aus, um den scheinbar hindernisfreien Zwischenraum zu erforschen; aber der Ingenieur schlug sie ihm mit rascher Bewegung beiseite.

»Tut mir leid!«, sagte er. »Jeder versucht das, sobald er erkennt, was hier vorgeht. Aber Sie könnten sich böse schneiden.«

»Also ist da wirklich ein unsichtbarer Draht! Schlau — aber was kann man damit anfangen außer ein paar Zaubertricks?«

Morgan grinste. »Ich kann Ihnen nicht verübeln, dass Sie zu einem solchen Schluss kommen. Es ist die übliche Reaktion. Allerdings falsch. Der Grund, warum Sie den Draht nicht sehen können, liegt darin, dass er nur ein paar Mikron dick ist. Er ist wesentlich dünner als ein Spinnenfaden.«

Dieses eine Mal, dachte Radschasinghe, war der abgedroschene Vergleich wirklich gerechtfertigt. »Das ist unglaublich! Was … woraus besteht er?«

»Der Draht ist das Produkt von rund zweihundert Jahren Festkörperphysik. Es handelt sich um einen kontinuierlichen, pseudoeindimensionalen Diamantkristall. Er besteht allerdings nicht wirklich aus reinem Kohlenstoff. Spurenelemente, in sorgfältig berechneten Mengen, sind eingeschlossen. Dieses Zeug kann man in Mengen nur an Bord der Orbitalfabriken herstellen, wo die Schwerkraft den Wachstumsprozess des Kristalls nicht beeinflusst.«

»Faszinierend«, murmelte Radschasinghe fast im Selbstgespräch. Er zog ein wenig an dem Ring, um sich zu überzeugen, dass die Spannung noch existierte und er nicht etwa nur träumte. »Ich kann mir vorstellen, dass man für so etwas eine Menge technischer Anwendungen findet. Um Käse zu schneiden, zum Beispiel …«

Morgan lachte. »Ein einzelner Mann kann mit diesem Gerät einen Baum fällen, in ein paar Minuten. Aber der Draht muss mit Vorsicht gehandhabt werden. Wir mussten besondere Spulen für das Ab- und Aufwickeln entwerfen; wir nennen sie ›Spinetten‹. Diese hier ist batteriegetrieben, für Vorführzwecke. Der Motor hält eine Last von ein paar hundert Kilo aus, und ich finde jeden Tag neue Anwendungsmöglichkeiten. Die heutige kleine Vorstellung war durchaus nicht die erste.«

Zögernd hakte Radschasinghe seinen Finger aus der metallenen Öse. Der Ring fiel zunächst, dann begann er zu pendeln, ohne dass man hätte sehen können, woran er hing. Morgan drückte einen Knopf und holte ihn ein.

»Sie sind den langen Weg nicht gekommen, nur um mich zu beeindrucken, Dr. Morgan — obwohl ich gestehen muss, dass ich beeindruckt bin. Ich will wissen, was all das mit mir zu tun hat!«

»Eine ganze Menge, Herr Botschafter«, antwortete der Ingenieur, der sich nun ebenso ernst und formell gab wie sein Gastgeber. »Sie haben ganz recht mit der Annahme, dass sich für dieses Material eine Unmenge Anwendungen finden lassen. Einige von diesen fangen wir jetzt erst an zu erahnen. Und eine dieser Anwendungen wird, auf die eine oder andere Weise, ihre friedliche kleine Insel zum Mittelpunkt der Welt machen. Nicht nur der Welt — des gesamten Solsystems. Durch diesen Draht wird Taprobane zu dem Ort, von dem aus man die Planeten erreicht. Und später vielleicht — die Sterne.«

Die größte aller Brücken

Paul und Maxine zählten zu seinen besten Freunden; aber bis auf diesen Tag waren sie, soweit Radschasinghe wusste, einander nie begegnet, noch hatten sie sich auch nur miteinander unterhalten. Nicht dass es für eine solche Begegnung irgendeinen zwingenden Grund gegeben hätte: Niemand außerhalb von Taprobane hatte je von Professor Sarath gehört, aber das gesamte Sonnensystem wusste auf Anhieb, wer Maxine Duval war.

Seine beiden Besucher hatten es sich in den Sesseln der Bibliothek bequem gemacht, während Radschasinghe an der Hauptschaltkonsole saß. Alle drei beobachteten sie die vierte Gestalt, die bewegungslos mitten im Raum stand.

Ein wenig zu bewegungslos, um genau zu sein. Ein Zeitreisender aus der Vergangenheit, dem die elektronischen Alltagswunder dieser Epoche unbekannt waren, hätte nach kurzer Untersuchung wahrscheinlich geschlossen, er habe es mit einer wunderbar detaillierten Wachsfigur zu tun. Eine eingehendere Analyse hätte allerdings zwei Unstimmigkeiten ans Tageslicht gebracht. Die Wachsfigur war transparent, so dass man helle Hintergrundlichter durch sie hindurch sehen konnte. Und die Füße lösten sich über dem Teppich zu einem diffusen Nebel auf.

»Kennen Sie diesen Mann?«, fragte Radschasinghe.

»Ich habe ihn nie zuvor gesehen«, erwiderte Sarath sofort. »Um Ihretwillen hoffe ich, dass er wichtig genug ist, um mich von den Maharamba-Ausgrabungen fortzuholen. Wir waren gerade dabei, die Grabkammer zu öffnen!«

»Und ich musste meinen Trimaran vor dem Startschuss des Bootrennens am Saladin-See im Stich lassen«, sagte Maxine Duval mit einem leicht verärgerten Unterton in ihrer der ganzen Welt bekannten Kontraaltstimme. »Natürlich kenne ich ihn. Was will er — eine Brücke von Taprobane nach Indien bauen?«

Radschasinghe lachte. »Nein. Wir haben seit zweihundert Jahren einen vollkommen hinreichenden Fahrdamm. Es tut mir leid, dass ich Sie beide hierhergeschleppt habe. Sie, Maxine, haben mir Ihren Besuch allerdings seit zwanzig Jahren immer wieder versprochen.«

»Das ist wahr«, seufzte sie. »Aber ich verbringe so viel Zeit in meinem Studio, dass ich manchmal die Wirklichkeit vergesse — und meine fünftausend teuren Freunde und fünfzig Millionen nähere Bekannte.«

»Zu welcher Kategorie zählen Sie Dr. Morgan?«

»Ich bin — oh, drei- oder viermal mit ihm zusammengetroffen. Wir drehten ein Sonderinterview, als die Brücke fertiggestellt war. Er ist ein sehr beeindruckender Mensch.«

Ein solches Kompliment, von Maxine Duval kommend, hatte großes Gewicht, dachte Radschasinghe. Seit mehr als dreißig Jahren galt sie als die wohl angesehenste Vertreterin ihres anspruchsvollen Berufs. Man hatte sie mit Ehren und Trophäen überhäuft: dem Pulitzer-Preis, der Global-Times-Trophäe, der David-Frost-Medaille, um nur einige wenige zu nennen. Sie war nach einer zweijährigen Walter-Cronkite-Professur für elektronischen Journalismus an der Columbia-Universität erst vor kurzem ins aktive Berufsleben zurückgekehrt.

Sie war reifer und ruhiger geworden, aber nicht langsamer. Sie hatte aufgehört, die feurige Chauvinistin zu sein, die einmal bemerkt hatte: »Da Frauen sich besser zum Hervorbringen von Kindern eignen, nehme ich an, dass die Natur den Männern zum Ausgleich ein anderes Talent verliehen hat. Ich komme nur im Augenblick nicht darauf, welches.«

An ihrer Femininität hatte es niemals einen Zweifel gegeben. Sie hatte viermal geheiratet, und die Kriterien, die sie bei der Auswahl ihrer Assistenten anwendete, waren in aller Mund. Im Allgemeinen waren Nachrichtenassistenten, gleich welchen Geschlechts, stets jung und athletisch. Niemand sonst konnte sich ungeachtet einer Last von zwanzig Kilo Nachrichtengerät mit der nötigen Schnelligkeit bewegen. Maxines Assistenten waren darüber hinaus ohne Ausnahme sehr männlich und sehr gutaussehend. Es galt in Journalistenkreisen als feststehend, dass sie nicht nur berufliche Dienste versahen. Entsprechende Bemerkungen wurden jedoch offen und ohne beleidigenden Hintergedanken gemacht; denn selbst ihre ärgsten Rivalen mochten Maxine fast in demselben Maß, wie sie sie beneideten.

»Es tut mir leid wegen des Bootrennens«, sagte Radschasinghe, »aber ich nehme zur Kenntnis, dass die MARLIN III auch ohne Ihr Dazutun spielend gewonnen hat. Sie werden mir später zugeben, dass dies hier in der Tat wichtiger ist. Aber warum lassen wir nicht Morgan für sich selbst sprechen!«

Er ließ den Pause-Schalter am Projektor los, und die Statue erwachte sofort zum Leben.

»Mein Name ist Vannevar Morgan. Ich bin Chefingenieur Abteilung Land bei Terran Construction. Mein letztes Projekt war die Brücke von Gibraltar. Heute möchte ich zu Ihnen über ein wesentlich weitreichenderes Vorhaben sprechen.«

Radschasinghe sah sich um. Morgan besaß ihre Aufmerksamkeit, wie es nicht anders zu erwarten gewesen war.

Er lehnte sich in seinen Sessel zurück und wartete darauf, dass das inzwischen vertraute und trotzdem noch immer fast unglaubliche Panorama sich entfaltete. Eigenartig, dachte er zu sich selbst, wie schnell man sich an die Unzulänglichkeiten der Projektion gewöhnt. Die Positionskontrollen arbeiteten alles andere als fehlerfrei. Und selbst der Umstand, dass Morgan sich bewegte, während er tatsächlich an Ort und Stelle blieb, sowie die unperspektivische Darstellung seiner Umgebung vermochten den Eindruck der Realität nicht zu trüben.

»Das Raumzeitalter ist fast zweihundert Jahre alt. Über mehr als die Hälfte dieser Zeitspanne hat sich unsere Zivilisation daran gewöhnt, von einer Armee von Satelliten abhängig zu sein, die die Erde umkreist. Globaler Nachrichtenaustausch, Wettervorhersage, Wetterkontrolle, Informationssammlung über Ressourcen zu Wasser und zu Land, Post- und Informationssysteme — wenn sie ohne ihre im Raum kreisenden Hilfssysteme auskommen müssten, bräche das Mittelalter wieder über uns herein. In dem entstehenden Chaos würden Krankheit und Hungersnot einen großen Teil der Menschheit ausradieren.

Wenn wir über die Erdbahn hinausblicken, sehen wir die autarken Kolonien auf Mars, Merkur und Mond und die Bergwerke, die den unschätzbaren Mineralreichtum der Asteroiden abbauen. Wir sehen die Anfänge interplanetarischen Handels. Es hat ein wenig länger gedauert, als die Optimisten seinerzeit vorhersagten; aber es ist jetzt klar, dass die Eroberung des irdischen Luftraums nur ein kurzes Vorspiel zur Eroberung des Weltraums war.

Inzwischen erhebt sich allerdings ein fundamentales Problem, das allem weiteren Fortschritt im Weg steht. Zwar haben Wissenschaftler und Techniker die Rakete zum zuverlässigsten aller Antriebssysteme entwickelt …«

»Er übersieht Fahrräder«, murmelte Sarath.

»… aber Raumfahrzeuge besitzen noch immer einen unerfreulich geringen Wirkungsgrad. Schlimmer noch: Ihre Auswirkung auf die Umwelt lässt einem das Blut in den Adern stocken. Trotz aller Bemühungen, die Raumflugkorridore zu kontrollieren, stört der Lärm der Starts und Landungen das Leben von vielen Millionen Menschen. Abfallprodukte, die in den oberen Schichten der Atmosphäre zurückbleiben, haben klimatische Veränderungen ausgelöst, die womöglich zu ernsthaften Folgeerscheinungen führen. Jedermann erinnert sich noch an die Hautkrebskrise der zwanziger Jahre, verursacht durch einen Ultraviolettdurchbruch — und an die immensen Kosten der Chemikalien, die gebraucht wurden, um die Ozonosphäre wiederherzustellen.

Wenn wir aber den Anstieg des Verkehrsvolumens bis zum Ende des Jahrhunderts extrapolieren, dann stellen wir fest, dass die Erde/Orbit-Tonnage um fast fünfzig Prozent anwachsen wird. Ohne einen unerträglichen Verlust an Lebensqualität lässt sich das nicht erreichen — womöglich nicht einmal ohne Bedrohung unseres Daseins. Die Triebwerksingenieure aber sind demgegenüber machtlos. Die Raketentriebwerke haben die absolute Grenze der Leistungsfähigkeit, die durch Naturgesetze diktiert werden, fast schon erreicht.

Wo ist die Alternative? Seit Jahrhunderten träumen Menschen von der Antischwerkraft oder ›Hypertriebwerken‹. Niemand hat je auch nur den geringsten Hinweis darauf gefunden, dass solche Dinge möglich sind. Im Gegenteil: Wir glauben heute, dass es sie nicht gibt. Aber ausgerechnet in jenem Jahrzehnt, als der allererste Satellit startete, entwickelte ein phantasiebegabter, kühner russischer Ingenieur ein Konzept, das die Rakete überflüssig machen sollte. Es vergingen Jahre, bevor Juri Artsutanow von irgendjemand ernst genommen wurde. Und unsere Technologie hat zwei Jahrhunderte gebraucht, um die Mittel bereitzustellen, die für die Verwirklichung seines Traumes gebraucht werden.«

Jedes Mal, wenn er die Aufzeichnung abspielte, erschien es Radschasinghe, als ob Morgan erst an diesem Punkt richtig lebendig wurde. Der Grund ließ sich leicht bestimmen. Er befand sich jetzt auf vertrautem Terrain und vermittelte nicht mehr Informationen aus fremden Wissensgebieten. Und bei aller Zurückhaltung, aller Sorge konnte Radschasinghe nicht umhin, an seiner Begeisterung teilzunehmen. Sie war ein Phänomen, das er in der gegenwärtigen Phase seines Lebens nur noch selten zu kosten bekam.

»Gehen Sie in irgendeiner sternklaren Nacht hinaus ins Freie«, fuhr Morgan fort, »und betrachten Sie das zur Alltäglichkeit herabgesunkene Wunder des Raumzeitalters — die Lichtpunkte, die niemals auf- oder untergehen, sondern bewegungslos am Himmel stehen. Wir — sowie unsere Eltern und deren Eltern — nehmen die Existenz synchroner Satelliten und Raumstationen, die sich über dem Äquator mit derselben Winkelgeschwindigkeit bewegen wie die Erde selbst, so dass sie immer über demselben Punkt der Oberfläche hängen, als etwas Selbstverständliches hin.

Die Frage, die Artsutanow sich stellte, war von kindlicher Genialität. Jemand mit nur einem hellen Kopf wäre nie darauf gekommen — oder hätte die Idee sofort als absurd verworfen.

Wenn die Gesetze der Himmelsmechanik es einem Gegenstand erlauben, reglos an ein und derselben Stelle zu verharren, müsste es dann nicht möglich sein, von dort ein Seil herabzulassen — und einen Fahrstuhl zu bauen, der die Erde mit dem Weltraum verbindet?

Die Theorie war vollkommen in Ordnung, aber der Verwirklichung stellten sich enorme Probleme in den Weg. Selbst oberflächliche Berechnungen ergaben, dass kein verfügbares Material die nötige Festigkeit besaß; selbst der beste Stahl müsste unter dem eigenen Gewicht zerreißen, noch lange bevor er den Abgrund zwischen dem sechsunddreißigtausend Kilometer hohen stattdessen und der Erdoberfläche überbrückt hatte.

Es liegt jedoch die Festigkeit selbst der besten Stähle noch weit von der Grenze entfernt, die die Theorie vorhersagt. Auf mikroskopischer Basis sind im Labor Materialien mit weitaus größerer Zugfestigkeit hergestellt worden.

Wenn man sie in großen Mengen hätte produzieren können, wäre Artsutanows Traum verwirklichbar geworden und die Wirtschaftlichkeit des Weltraumtransports in eine neue Dimension eingetreten.

Noch vor dem Ausgang des zwanzigsten Jahrhunderts begannen technische Laboratorien, superfeste Materialien zu produzieren, sogenannte Hyperdrähte. Sie waren jedoch unheimlich teuer und kosteten das Mehrfache ihres Gewichts in Gold. Für ein System, das den Raumverkehr von und zur Erde zu bewältigen hatte, wurden aber Millionen von Tonnen des superfesten Materials gebraucht. Und somit blieb der Traum weiterhin ein Traum.

Bis vor ein paar Monaten. Heute können die Raumfabriken unbegrenzte Mengen Hyperdraht herstellen. Jetzt endlich können wir den Fahrstuhl zu den Sternen bauen — oder den Orbitalturm, wie ich ihn lieber nenne. Denn in einem gewissen Sinn ist es ein Turm, der durch die Atmosphäre hinaufreicht in die Weite des Alls …«

Morgan löste sich auf wie ein Geist unter dem Einfluss des Exorzismus, und an seiner statt erschien ein fußballgroßes Abbild der Erde, das sich langsam um die eigene Achse dreht. Eine Armlänge von der Erdoberfläche entfernt, stets über demselben Punkt des Äquators schwebend, markierte ein blinkendes Licht den Standort eines geosynchronen Satelliten.

Von dem Licht gingen zwei schimmernde Linien aus — eine stach geradewegs zur Erde hinab, die andere bewegte sich in die genau entgegengesetzte Richtung, in den Raum hinaus.

»Wenn man eine Brücke baut«, ließ sich Morgans jetzt körperlose Stimme vernehmen, »fängt man an beiden Enden an und hört in der Mitte auf. Im Fall des Orbitalturms ist die Prozedur genau umgekehrt. Man baut gleichzeitig aufwärts und abwärts, von dem synchronen Satelliten aus, und das Bauprogramm muss sehr genau eingehalten werden. Es geht nämlich darum, den Schwerpunkt der Struktur nicht von dem stationären Objekt fortwandern zu lassen. Denn wenn das geschieht, ändert es seine Umlaufbahn und fängt an, langsam über die Erdoberfläche zu treiben.«

Der absteigende Lichtstrahl erreichte in diesem Augenblick den Erdäquator; die Bewegung des auswärts gerichteten Strahls hielt in der gleichen Sekunde an.

»Die Gesamthöhe muss mindestens vierzigtausend Kilometer betragen, und die ersten hundert, die die Atmosphäre durchdringen, stellen wahrscheinlich den kritischen Abschnitt dar; denn innerhalb der Atmosphäre ist der Turm Stürmen ausgesetzt. Er wird erst dann stabil sein, wenn er sicher in der Erdoberfläche verankert wurde.

Aber dann werden wir zum ersten Mal in unserer Geschichte eine Treppe zum Himmel besitzen, eine Brücke zu den Sternen. Ein ganz einfacher Fahrstuhl, von billiger Elektrizität angetrieben, wird die lärmende und teure Rakete ersetzen, die sich von da an ihrer eigentlichen Aufgabe widmen kann: dem Langstreckentransport durch den Weltraum. Sehen Sie sich einen der denkbaren Baupläne des Turmes an …«

Das Bild der sich drehenden Erde verschwand. Der Projektor zeigte den Turm, wie die imaginäre Kamera sich ihm in rasender Fahrt näherte und schließlich seine Mauern durchdrang, um den Querschnitt der Struktur bloßzulegen.

»Sie sehen, dass es vier identische Röhren gibt — zwei für den Aufwärts-, zwei für den Abwärtsverkehr. Stellen Sie sich das als eine vierspurige Untergrund- oder Eisenbahn vor, von der Erdoberfläche zum Synchronorbit.

Kabinen mit Passagieren, Fracht, Treibstoff bewegen sich mit Geschwindigkeiten von mehreren tausend Kilometern pro Stunde auf- und abwärts durch die Röhren. Fusionsmeiler, in regelmäßigen Abständen entlang des Röhrensystems installiert, besorgen die notwendige Energie. Da neunzig Prozent der verwendeten Energie wiederaufbereitet werden können, belaufen sich die Nettotransportkosten pro Person auf wenige Dollar. Während die Kabinen sich erdwärts bewegen, fungiert ihr Antrieb als magnetische Bremse, die Elektrizität erzeugt. Ungleich landenden Raumfahrzeugen verschwenden sie ihre kinetische Energie nicht, indem sie die Atmosphäre aufheizen, sondern wandeln sie in Energie um, die dem System wieder zugeführt werden kann. Man kann sagen, dass die Abwärtskabinen die Leistung erzeugen, die von den Aufwärtskabinen gebraucht wird. Mit anderen Worten: Der Fahrstuhl wird den hundertfachen Wirkungsgrad selbst der fortgeschrittensten Raketen entwickeln.

Außerdem sind der Verkehrsmenge, die der Fahrstuhl handhaben kann, keine Grenzen gesetzt. Weitere Röhren können nach Bedarf hinzugefügt werden. Sollte jemals der Tag kommen, an dem eine Million Menschen gleichzeitig die Erde besuchen oder sie verlassen wollen, der Turm käme damit zurecht. Bedenken Sie, dass die U-Bahnen unserer großen Städte einst nicht Geringeres leisteten …«

Radschasinghe drückte einen Knopf und brachte dadurch Morgan mitten im Satz zum Schweigen.

»Der Rest ist ziemlich technisch. Er erklärt, wie der Turm als kosmischer Katapult eingesetzt werden kann, der Transportladungen zum Mond und zu den Planeten peitscht, ohne dass auch nur eine einzige Rakete abgefeuert wird. Ich meine, Sie haben genug gehört, um das Prinzip zu verstehen.«

»Mein Verstand ist angemessen verwirrt«, sagte Professor Sarath. »Aber was, in aller Welt, hat das mit mir zu tun? Oder mit Ihnen?«

»Alles zu seiner Zeit, Paul. Möchten Sie etwas dazu sagen, Maxine?«

»Vielleicht kommt der Tag, an dem ich Ihnen verzeihe. Diese Sache könnte sich zur Schlagzeile des Jahrzehnts, vielleicht des Jahrhunderts, entwickeln. Aber wozu die Eile? Warum diese Heimlichtuerei?«

»Eine Menge von dem, was hier vorgeht, ist mir selbst unverständlich. Dabei rechne ich auf Ihre Hilfe. Ich vermute, dass Morgan mit diesem Vorhaben an mehreren Fronten zu kämpfen hat. Er plant eine öffentliche Ankündigung in der nahen Zukunft, möchte aber nicht vorprellen, solange er eines gewissen Rückhalts nicht sicher ist. Er gab mir diese Aufzeichnung, nachdem ich zugesichert hatte, dass sie nicht über öffentliche Kanäle verbreitet würde. Deswegen musste ich Sie zu mir bitten.«

»Weiß er von dieser Zusammenkunft?«

»Natürlich. Er war erfreut, als ich ihm sagte, dass ich mit Ihnen sprechen wolle, Maxine. Er vertraut Ihnen offenbar und wünscht sich Sie als Verbündete. Was Sie angeht, Paul, so habe ich Morgan versichert, dass Sie ein Geheimnis bis zu sechs Tagen für sich behalten können, ohne einen Schlaganfall zu erleiden.«

»Nur wenn es einen ausgezeichneten Grund dafür gibt!«

»Ich verstehe allmählich«, sagte Maxine Duval. »Verschiedenes hat mich gestört, aber jetzt ergibt es langsam einen Sinn. Zum Beispiel: Morgans Vorhaben ist ein Raumprojekt; Morgan aber ist Chefingenieur Land

»Na und?«

»Müssen Sie noch fragen, Johan? Stellen Sie sich die internen Bürokratiekämpfe vor, wenn die Raketeningenieure und die Raumfahrtindustrie von dieser Sache Wind bekommen! Es geht um Einflussbereiche mit einem Budget von Billionen Dollar! Wenn Morgan nicht scharf aufpasst, wird man ihm eines Tages sagen: Vielen Dank für die Idee — von hier an machen wir weiter. Es war nett, Sie kennenzulernen.«

»Ich weiß, was Sie meinen. Andererseits hat er ein vorzügliches Argument auf seiner Seite. Immerhin ist der Orbitalturm ein Gebäude, nicht ein Fahrzeug.«

»Nicht mehr, wenn die Rechtsanwälte die Sache durchgehechelt haben! Es gibt nur wenige Gebäude, deren Obergeschosse sich um zehn Kilometer pro Sekunde oder so rascher bewegen als der Keller.«

»Vielleicht haben Sie recht. Übrigens: Als mir bei dem Gedanken an einen Turm, der ein gutes Stück des Weges bis zum Mond hinaufreicht, schwindlig wurde, ermahnte mich Dr. Morgan: ›Stellen Sie sich nicht einen Turm vor, der in die Höhe ragt, sondern eine Brücke, die in die Weite geht.‹ Ich bemühe mich noch immer, allerdings ohne sonderlichen Erfolg.«

»Oh!«, sagte Maxine Duval plötzlich. »Das ist ein weiteres Stück in Ihrem Puzzle. Die Brücke!«

»Wie meinen Sie das?«

»Wussten Sie, dass der Aufsichtsratsvorsitzende von Terran Construction, der Superesel Senator Collins, die Brücke nach sich selbst benannt haben wollte?«

»Nein. Das erklärt manches. Aber ich mag Collins eigentlich. Die paar Male, die wir zusammentrafen, fand ich ihn recht angenehm und intelligent. War er zu seiner Zeit nicht ein erstklassiger Geothermingenieur?«

»Vor tausend Jahren«, winkte Maxine ab. »Und Sie bedrohen seinen Ruf nicht. Zu Ihnen kann er es sich leisten, nett zu sein.«

»Wie also wurde die Brücke vor diesem Schicksal bewahrt?«

»Es gab eine kleine Palastrevolution, angezettelt von den leitenden Ingenieuren der TCC. Dr. Morgan war daran selbstverständlich in keiner Weise beteiligt.«

»Deswegen also hält er seine Karten bedeckt! Ich empfinde mehr und mehr Bewunderung für ihn. Jetzt aber hat sich ein Hindernis vor ihm aufgetan, mit dem er nicht fertig wird. Er hat es erst vor ein paar Tagen entdeckt, und seitdem ist er keinen Schritt vorwärtsgekommen.«

»Lassen Sie es mich erraten«, sagte Maxine. »Das ist eine gute Übung — hilft mir, an der Spitze zu bleiben. Ich erkenne, warum er hierherkommt. Das erdgebundene Ende des Systems muss sich am Äquator befinden, sonst ist es nicht senkrecht. Es würde aussehen wie seinerzeit der Turm von Pisa, bevor er umfiel.«

»Ich verstehe nicht …«, sagte Professor Sarath, während er die Arme in hilflosen Gesten bewegte. »Oh, natürlich …« Seine Stimme verlor sich in nachdenklichem Schweigen.

»Also«, fuhr Maxine fort: »Es gibt nur eine begrenzte Anzahl verwendbarer Örtlichkeiten entlang des Äquators — er geht zumeist durch Wasser, nicht wahr? — und Taprobane ist offenbar eine davon. Allerdings ist mir nicht klar, welche Vorteile es gegenüber Afrika und Südamerika hat. Oder will Morgan sich einfach gegen jeden Zufall absichern?«

»Wie üblich erweist sich die logische Kraft Ihrer Phantasie als phänomenal. Sie sind auf dem richtigen Weg — aber weiter werden Sie nicht kommen. Morgan hat zwar redlich versucht, mir das Problem zu erklären; aber ich verstehe die wissenschaftlichen Einzelheiten noch immer nicht. Wie dem auch sei: Afrika und Südamerika sind für den Raumfahrstuhl nicht geeignet. Das hängt mit instabilen Punkten im Gravitationsfeld der Erde zusammen. Nur Taprobane kommt in Frage. Um genau zu sein: Nur ein einziger Punkt in Taprobane. Und an dieser Stelle kommen Sie ins Spiel, Paul!«

»Mamada — ich?!«, rief Professor Sarath, der vor lauter Überraschung in sein eingeborenes Taprobani verfiel.

»Ja, Sie. Zu seinem nicht geringen Ärger hat Dr. Morgan soeben entdeckt, dass der Ort, den er für sein Unternehmen unbedingt braucht, bereits beschlagnahmt ist — um es gelinde auszudrücken. Er braucht meinen Rat, wie man Ihren guten Freund Buddy am besten ausquartiert.«

Die Reihe, erstaunt zu sein, war an Maxine. »Wen?«, wollte sie wissen.

Sarath antwortete ohne Zögern.

»Den Verehrungswürdigen Anandatissa Bodhidharma Mahajanake Thero, den Hohenpriester des Tempels auf Sri Kanda«, sprach er mit erhobener Stimme in eigentümlichem Singsang, als rezitiere er eine Litanei. »Also darum geht es!«

Eine Zeitlang herrschte Schweigen. Dann breitete sich der Schimmer spitzbübischer Freude über das Gesicht des emeritierten Professors für Archäologie an der Universität von Taprobane, Paul Sarath, aus.

»Ich habe mir schon immer gewünscht zu erfahren«, sagte er träumerisch, »was geschieht, wenn eine unwiderstehliche Kraft auf ein unbewegliches Objekt trifft.«

Die schweigsame Prinzessin

Als seine Besucher gegangen waren, entpolarisierte Radschasinghe die Fenster der Bibliothek und saß lange in nachdenklichem Schweigen, während er hinaus auf die Bäume starrte und auf die Felsenwand des Jakkagala, die hinter ihnen lag. Genau um vier Uhr schreckte ihn die Ankunft des Nachmittagstees aus seinem Sinnen.

»Rani«, sagte er, »Dravindra soll meine Schuhe hervorholen, wenn er sie finden kann. Ich will auf den Felsen hinauf.«

Rani tat, als wolle sie das Tablett vor lauter Überraschung fallen lassen.

»Um Gottes willen!«, rief sie in gespieltem Entsetzen. »Sie wissen nicht, was Sie tun! Denken Sie an Doktor McPhersons Warnung …«

»Dieser schottische Quacksalber liest mein Kardiogramm immerfort rückwärts. Und außerdem, mein Liebling, wofür soll ich noch leben, wenn du und Dravindra von mir gegangen seid?«

Das war nicht ganz im Spaß gesagt, und er schämte sich seines Selbstmitleids augenblicklich; denn es war Rani nicht entgangen, und Tränen erschienen in ihren Augen.

Sie wandte sich ab, so dass er ihre Rührung nicht sehen konnte, und sagte auf Englisch: »Ich habe angeboten zu bleiben — wenigstens für Dravindras erstes Jahr …«

»Ich weiß es, und es fiele mir nicht im Traum ein, das Angebot anzunehmen. Er braucht dich — es sei denn, dass Berkeley sich grundlegend gewandelt hat, seit ich zuletzt dort war. (Er braucht dich aber nicht mehr als ich, wenn auch aus anderem Anlass, fügte er in Gedanken hinzu.) Und ob du nun selbst einen akademischen Grad erwerben willst oder nicht, es ist niemals zu früh, sich an das Dasein als Frau eines Universitätspräsidenten zu gewöhnen.«

Rani lächelte. »Nach all den schrecklichen Beispielen, die ich gesehen habe, bin ich nicht sicher, dass das mein bevorzugtes Schicksal ist.« Sie schaltete zurück auf Taprobani. »Sie meinen es nicht wirklich ernst, oder doch?«

»Ganz ernst. Nicht bis zum Gipfel — nur bis zu den Fresken. Es ist fünf Jahre her, seit ich das letzte Mal dort war. Wenn ich noch länger warte …« Es war nicht nötig, den Satz zu vollenden.

Rani musterte ihn eine Zeitlang schweigend und entschied sodann, dass es nutzlos war, weiter auf ihn einzureden.

»Ich sage es Dravindra«, erklärte sie. »Und Dschaja — falls sie Sie auf dem Rückweg tragen müssen.«

»Gut. Allerdings meine ich, dass Dravindra das allein fertigbrächte.«

Rani dankte ihm mit einem freundlichen Lächeln, in dem sich Stolz und Freude mischten. Mit diesem Paar, dachte Radschasinghe, hatte er den glücklichsten Zug in der Staatslotterie getan. Er hoffte, dass für sie die zwei Jahre Sozialdienst ebenso erfreulich gewesen waren wie für ihn. In diesem Zeitalter zählten persönliche Bedienstete zu den seltensten unter allen Luxusgütern und wurden nur Personen mit hervorragendem Verdienst zugestanden. Radschasinghe kannte keinen anderen Privatbürger, der über drei davon verfügte.

Um Kraft zu sparen, fuhr er auf dem durch Sonnenenergie angetriebenen Dreirad durch die Lustgärten; Dravindra und Dschaja zogen es vor, zu Fuß zu gehen, wobei sie behaupteten, es sei schneller. (Sie hatten recht, aber das lag daran, dass sie Abkürzungen nehmen konnten.) Er kletterte sehr langsam und legte mehrere Pausen ein, um wieder zu Atem zu kommen. Schließlich erreichte er den langen Gang der unteren Galerie mit der Spiegelwand, die parallel zu der Felsfläche verlief.

Von den üblichen neugierigen Touristen beobachtet, war eine junge Archäologin aus einem der afrikanischen Länder dabei, die Wand unter dem Lichtkegel einer polarisierenden Lampe nach unentdeckten Inschriften abzusuchen. Radschasinghe hätte sie warnen mögen, dass die Aussicht auf Erfolg praktisch gleich null war. Paul Sarath hatte zwanzig Jahre seines Lebens damit verbracht, jeden Quadratmillimeter der Wandoberfläche abzusuchen, und sein dreibändiges Werk »Jakkagala Graffiti« war ein Monumentalprodukt der Gelehrsamkeit, das niemals würde überarbeitet werden müssen — und sei es auch nur aus dem Grund, dass niemand so gut wie er archaische taprobanische Inschriften zu lesen verstand.

Sie waren beide noch jung gewesen, als Paul sein Lebenswerk begann. Radschasinghe erinnerte sich, genau an diesem Ort gestanden zu haben, als der damalige Stellvertretende Schriftenexperte des Ministeriums für Archäologie selbst die unentzifferbarsten Kratzer in dem gelben Wandbelag nachgezeichnet und die Gedichte, die an die Schönheiten weiter oben am Felsen gerichtet waren, entziffert hatte. Selbst nach so vielen Jahrhunderten berührten die Zeilen noch immer eine Saite im Herzen des Menschen:

Ich bin Tissa, Hauptmann der Wache.

Fünfzig Meilen kam ich, die Rehäugigen zu sehen, aber sie sprechen nicht zu mir.

Verdiene ich das?


Mögt ihr hier bleiben für eintausend Jahre wie der Hase, den der König der Götter dem Mond ins Gesicht gemalt hat.

Ich bin der Priester Mahinda vom Tempel Tuparama.

Die letztere Hoffnung war zum Teil in Erfüllung gegangen. Die Damen des Felsens hatten zweimal die Zeitspanne überdauert, die der Priester ihnen gewünscht hatte, und waren bis in ein Zeitalter vorgedrungen, das weit jenseits seiner exotischsten Träume lag. Aber wie wenige nur hatten überlebt! Ein paar Inschriften bezogen sich auf »fünfhundert goldhäutige Jungfrauen«; selbst wenn man den Verfassern dichterische Freiheit zugestand, war klar, dass nicht einmal ein Zehntel der ursprünglichen Fresken das Wirken der Zeit und das Wüten des Menschen überdauert hatten. Aber die zwanzig, die noch verblieben, waren nun für immer sicher. Ihre Schönheit war in zahllosen Filmen, Bändern und Kassetten gespeichert.

Einen stolzen Schreiber, der es für unnötig gehalten hatte, seinen Namen zu nennen, hatten sie mühelos überdauert:

Ich ließ die Straße räumen, so dass Pilger die schönen Mädchen auf der Fläche des Felsens sehen konnten. Ich bin der König.

Im Lauf der Jahre hatte Radschasinghe — selbst Träger eines königlichen Namens und zweifellos der Besitzer vieler adliger Erbmerkmale — oft an diese Worte gedacht. Deutlicher als alles andere zeigten sie die Vergänglichkeit der Macht, die Nutzlosigkeit des Ehrgeizes. »Ich bin der König.« Jawohl — aber welcher König? Der Herrscher, der auf diesen Steinen gestanden hatte — damals, vor achtzehnhundert Jahren, waren sie noch nicht so abgenutzt gewesen —, mochte ein fähiger und intelligenter Mann gewesen sein; aber er hatte sich nicht vorstellen können, dass je die Zeit kommen würde, in der man über ihn ebenso wenig wusste wie über den niedrigsten seiner Untertanen.

Die Identität des Verfassers ließ sich jetzt nicht mehr aufspüren. Einer von mindestens einem Dutzend Könige kam in Frage. Ein paar von ihnen hatten jahrelang regiert, andere nur ein paar Wochen, und nur wenige waren eines friedlichen Todes gestorben. Niemand würde je erfahren, ob der König, der es für unnötig hielt, seinen Namen zu nennen, Mahatissa II. oder Bhatikabhaja gewesen war, Vidschajakumara III. oder Gadschabahukagamani, Candamukhasiva, Moggallena I., Kittisena, Sirisamgabodhi … oder womöglich einer der Namenlosen, die in den Falten der langen und verwickelten Geschichte Taprobanes verlorengegangen waren.

Der Fahrstuhlführer war erstaunt, den vornehmen Gast zu sehen, und grüßte Radschasinghe unterwürfig. Während die Kabine langsam aufwärtsstieg, dachte er daran, wie er vor noch nicht allzu langer Zeit den Aufzug als nicht vorhanden betrachtet und stattdessen die Wendeltreppe benutzt hatte, über die jetzt Dravindra und Dschaja, mehrere Stufen auf einmal nehmend, hinaufeilten.

Klickend kam der Fahrstuhl zum Stillstand. Er trat auf die kleine Stahlplattform, die aus der Felswand hervorragte. Neben und hinter ihm gähnten einhundert Meter Abgrund, aber der kräftige Stahlkäfig bot mehr als hinreichende Sicherheit. Nicht einmal der entschlossenste Selbstmörder hätte von hier aus einen Sprung in die Tiefe tun können.

Hier in dieser seichten Felsenbucht, die der Zufall geschaffen hatte, befanden sich die Überlebenden von Kalidasas himmlischem Hofstaat, durch die Rundung des Felsens vor den Unbilden des Wetters geschützt. Radschasinghe begrüßte sie schweigend und sank dankbar in den Sessel, den der Touristenführer zu ihm hinschob.

»Ich möchte zehn Minuten lang allein sein«, sagte er ruhig. »Dschaja, Dravindra — seht zu, ob ihr mir die Touristen vom Hals halten könnt.«

Seine Begleiter musterten ihn zweifelnd — ebenso der Führer, dem es ans Herz gelegt worden war, die Fresken niemals unbewacht zu lassen. Aber wie gewöhnlich bekam Botschafter Radschasinghe seinen Wunsch erfüllt, ohne dass er laut zu werden brauchte.

»Aju bowan«, grüßte er die schweigenden Gestalten, als er schließlich allein war. »Es tut mir leid, dass ich euch so lange vernachlässigt habe.«

Er wartete höflich auf eine Antwort; sie aber schenkten ihm nicht mehr Beachtung als all den anderen Bewunderern, die im Lauf von zwanzig Jahrhunderten vor ihnen gestanden hatten. Radschasinghe war nicht enttäuscht. Er hatte sich an ihre Gleichgültigkeit gewöhnt. Sie trug, fand er, zu ihrem Charme bei.

»Ich habe ein Problem, meine Lieben«, fuhr er fort. »Ihr habt die Invasoren von Taprobane kommen und gehen sehen, seit Kalidasas Zeit. Ihr habt den Dschungel Jakkagala wie die Flut umspülen und dann wieder zurückweichen sehen, getrieben von der Axt und dem Pflug. Aber nichts hat sich in all den Jahren wirklich verändert. Die Natur war freundlich zum kleinen Taprobane, ebenso die Geschichte — Taprobane wurde in Ruhe gelassen …

Jetzt aber kann es sein, dass die Jahrhunderte der Ruhe sich dem Ende nähern. Vielleicht wird unser Land zum Mittelpunkt der Welt werden — vieler Welten sogar. Es kann sein, dass der große Berg dort im Süden, den ihr so lange angeblickt habt, der Schlüssel zum Universum wird. Wenn es so geschieht, dann wird das Taprobane, das wir kennen und lieben, nicht mehr sein.

Womöglich kann ich nicht viel ausrichten — aber ich habe noch ein wenig Kraft zu helfen oder Widerstand zu leisten. Ich habe noch immer viele Freunde. Wenn ich will, kann ich diesen Traum — diesen Albtraum? — aufhalten, wenigstens bis zum Ende meines Lebens. Soll ich das tun? Oder soll ich diesen Mann unterstützen — unabhängig davon, welches seine wahren Motive sein mögen?«

Er wandte sich seiner Favoritin zu — der einzigen, die den Blick nicht abwandte, wenn er zu ihr hinsah. Die anderen Jungfrauen starrten in die Ferne oder studierten die Blumen, die sie in den Händen hielten. Diese eine aber, die er seit seiner Jugend liebte, schien, aus einem bestimmten Winkel betrachtet, seinem Blick standzuhalten.

»Oh, Karuna! Es ist nicht ehrlich von mir, dir solche Fragen zu stellen. Was weißt du schon von den wirklichen Welten jenseits des Himmels, oder von dem Drang des Menschen, sie zu erobern? Du warst zwar einst eine Göttin, aber Kalidasas Himmel war nichts als eine Illusion. Gleichgültig — welch fremde Zukünfte du auch schauen magst, ich werde nicht an ihnen teilhaben. Wir kennen einander seit langer Zeit — nach meinen Maßstäben. Ich werde euch auch weiterhin von der Villa aus anschauen, aber von Angesicht zu Angesicht stehen wir einander heute zum letzten Mal gegenüber. Lebt wohl, meine Schönen, und habt Dank für die Freude, die ihr mir die Jahre hindurch gebracht habt. Grüßt mir die, die nach mir kommen!«

Als er aber die Wendeltreppe hinabstieg, den Fahrstuhl ignorierend, da war ihm gar nicht nach traurigem Abschiedsgesang zumute. Im Gegenteil, es war ihm, als hätte er ein paar Jahre von sich abgeschüttelt (und überhaupt: zweiundsiebzig Jahre war so alt nun auch wieder nicht). Dravindra und Dschaja entging die neugewonnene Lebendigkeit nicht. Er sah ihre Augen aufleuchten.

Das Leben im Ruhestand war wirklich ein wenig langweilig geworden. Was er und Taprobane brauchten, war frische Luft, die die Spinnweben fortblies — wie der Monsun, der nach Monaten schwüler, windloser Hitze neues Leben brachte.

Ob Morgan Erfolg hatte oder nicht, sein Vorhaben besaß die Kraft, die Phantasie zu beflügeln und die Seele zu laben. Kalidasa hätte Neid empfunden — und seine Zustimmung erteilt.

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