III — Die Glocke

Der Abtrünnige

Von seinen vergeblichen Versuchen, das Universum zu verstehen, zur Verzweiflung getrieben, äußerte der weise Devadasa schließlich atemlos:

Alle Aussagen, die das Wort Gott enthalten, sind falsch.

Sofort erwiderte Somasiri, der ungeliebteste unter seinen Schülern: »Der Satz, den ich soeben ausspreche, enthält das Wort Gott. Ich kann beim besten Willen nicht erkennen, oh hoher Meister, was an dieser einfachen Aussage falsch sein könnte.«

Devadasa bedachte den Fall für geraume Zeit. Dann antwortete er, diesmal offenbar voller Befriedigung:

Nur Aussagen, die das Wort Gott nicht enthalten, können richtig sein.

Nach einer kurzen Denkpause erwiderte Somasiri: »Wenn sich diese Feststellung auf sich selbst anwenden lässt, oh Verehrungswürdiger, dann kann sie nicht richtig sein, denn sie enthält das Wort Gott. Wenn sie aber unrichtig ist …«

Zu diesem Zeitpunkt zerschmetterte Devadasa seine Bettlerschale auf Somasiris Schädel und erwarb sich somit das Recht, hinfort als der wahre Begründer der Zen-Religion verehrt zu werden.

(Aus einem unentdeckten Fragment der »Culavamsa«)


Am späten Nachmittag, als der Schein der Sonne nicht mehr mit voller Kraft auf den Stufen lag, begann der Ehrwürdige Parakarma seinen Abstieg. Bei Einbruch der Nacht würde er die höchstgelegene Pilgerraststätte erreichen und am darauffolgenden Tag den Fuß des Berges, die Welt der Menschen.

Der Mahajanake Thero hatte ihn weder mit Rat noch mit Entmutigung bedacht. Falls ihn das Scheiden seines Kollegen betrübte, hatte er es sich nicht anmerken lassen. Er hatte sich damit begnügt, in singendem Tonfall zu sagen: »Alle Dinge sind vergänglich«, die Hände zu verschränken und seinen Segen zu geben.

Dem Ehrwürdigen Parakarma, der einst Dr. Choam Goldberg gewesen war und es eines Tages womöglich wieder sein würde, fiel es schwer, einem Außenstehenden die Gesamtheit seiner Motive zu erläutern. »Das Richtige tun« ließ sich leicht sagen, aber schwer definieren.

Im Großen Tempel von Sri Kanda hatte er Seelenfrieden gefunden — aber das reichte nicht aus. Ihn und seine wissenschaftliche Ausbildung stellte die zweideutige Haltung des Ordens Gott gegenüber nicht mehr zufrieden. Diese Art Gleichgültigkeit war ihm zuletzt schlimmer erschienen als eine direkte Gottesleugnung.

Wenn so ein Ding wie ein rabbinisches Erbmerkmal überhaupt existierte, dann trug es Dr. Goldberg ganz gewiss in sich.

Wie viele vor ihm hatte Goldberg-Parakarma Gott in der Mathematik gesucht und sich dabei auch durch philosophische Zeitzünder wie Kurt Gödels unentscheidbare Propositionen aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert entmutigen lassen. Es war ihm unverständlich, wie man die dynamische Asymmetrie von Eulers fundamentaler und doch so wunderbar einfacher Gleichung


eπi + 1 = 0


betrachten konnte, ohne sich zu fragen, ob das Universum nicht doch die Schöpfung eines unendlich weit überlegenen Geistes sei.

Nachdem er sich zunächst mit einer Theorie der Kosmologie, die fast zehn Jahre überlebte, bevor sie widerlegt wurde, einen Namen gemacht hatte, war Goldberg weit und breit als ein neuer Einstein oder N'goya gefeiert worden. In einem Zeitalter der Ultraspezialisierung hatte er überdies bemerkenswerte Fortschritte in der Theorie der Aero- und Hydrodynamik erzielt — beides seit langem für tot gehaltene Wissensgebiete, auf denen niemand mehr mit Überraschungen rechnete.

Dann, am Höhepunkt seiner Laufbahn, hatte er eine religiöse Wandlung erlebt, die der Pascals vergleichbar war, wenn ihr auch die morbiden Untertöne jener fehlten. Das folgende Jahrzehnt hindurch war er voll und ganz zufrieden gewesen, sich in der Anonymität des Safrangewands zu verlieren und seinen brillanten Geist auf Fragen der Doktrin und der Philosophie zu konzentrieren. Er bedauerte das Zwischenspiel nicht, ja, er war nicht einmal sicher, ob er dem Orden wirklich den Rücken kehrte. Eines Tages würde ihn diese gewaltige Treppe womöglich wiedersehen. Aber seine von Gott gegebenen Talente rührten sich; es gab unendlich viel Arbeit zu tun, und er brauchte Werkzeuge, die man ihm auf Sri Kanda nicht zur Verfügung stellen konnte — und, was das anging, selbst auf der ganzen Erde nicht.

In diesem Augenblick empfand er nur geringe Feindseligkeit gegenüber Vannevar Morgan. Gänzlich ohne Absicht hatte der Ingenieur den entscheidenden Funken gezündet; in seiner ungeschickten Art war auch er ein Werkzeug Gottes. Aber es galt, den Tempel unter allen Umständen zu bewahren. In diesem Punkt war Parakarma fest und unerbittlich entschlossen — unabhängig davon, ob das Schicksal ihn jemals wieder in den Frieden und die Ruhe von Sri Kanda zurückbeordern würde.

So stieg der Ehrwürdige Parakarma zu der Welt hinab, der er einst entsagt hatte, wie ein neuer Moses, der vom Berg Gesetze brachte, die den Lauf der Welt verändern würden. Die Schönheiten des Landes und des Himmels, die ihn umgaben, sah er nicht. Denn sie waren völlig unbedeutend im Vergleich mit jenen, die nur er zu schauen vermochte, in der Armee mathematischer Gleichungen, die durch sein Bewusstsein marschierte.

Der kosmische Rammbock

»Ihr Problem, Dr. Morgan«, sagte der Mann im Rollstuhl, »ist, dass Sie sich auf dem falschen Planeten befinden.«

»Es kommt mir so vor«, erwiderte Morgan und musterte dabei das Gefährt, dessen sein Besucher sich bediente, »als könnte man über Sie dasselbe sagen.«

Der Vizepräsident (Investitionen) von Narodnij Mars lachte gemütlich.

»Ich wenigstens bin nur für eine Woche hier — dann geht's zurück zum Mond und einer zivilisierten Gravitation. Oh, ich komme ohne den Rollstuhl zurecht; aber ich habe es lieber so.«

»Ich hätte Sie gerne gefragt, warum Sie überhaupt auf die Erde kommen.«

»Ich tue es so selten wie möglich, aber manchmal muss man sich einfach an Ort und Stelle umsehen. Entgegen allgemein verbreitetem Glauben lässt sich eben nicht alles per Fernsteuerung erledigen. Ich bin überzeugt, Sie haben diese Erfahrung auch gemacht.«

Morgan nickte; es war die Wahrheit. Er erinnerte sich an all die Male, in denen die Struktur eines Materials, das Gefühl des Felsen oder Bodens unter seinen Sohlen, der Duft des Dschungels, das Prickeln eines Sprühregens eine entscheidende Rolle in einem seiner Projekte gespielt hatten. Eines Tages würden vermutlich auch solche Eindrücke sich auf elektronischem Weg übertragen lassen — man hatte es in der Tat schon getan, als Laborversuch und mit immensen Kosten. Aber es gab keinen Ersatz für die Wirklichkeit. Vor Nachahmungen musste man sich in Acht nehmen.

»Falls Sie eigens aus dem Grund zur Erde gekommen sind, mich zu besuchen«, antwortete Morgan, »so weiß ich die Ehre zu schätzen. Sollten Sie aber die Absicht haben, mir eine Position auf dem Mars anzubieten, dann vergeuden Sie Ihre Zeit. Ich genieße den Ruhestand und treffe mit Freunden und Verwandten zusammen, die ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen habe. Ich habe keinerlei Absicht, eine neue Karriere anzufangen.«

»Ich finde das erstaunlich. Sie sind immerhin erst zweiundfünfzig. Wie gedenken Sie, Ihre Freizeit zu verbringen?«

»Kein Problem. Ich könnte den Rest des Lebens mit irgendeinem meiner Lieblingsvorhaben zubringen. Es gibt mindestens ein Dutzend davon. Die Ingenieure des Altertums — Römer, Griechen, Inkas. Sie haben mich immer fasziniert, aber nie fand ich Zeit, mich mit ihnen zu befassen. Ich bin aufgefordert worden, eine Vorlesung über Ingenieurplanung für die Weltuniversität zu entwickeln und zu halten. Man hat mich beauftragt, ein Lehrbuch über Komplexstrukturen zu schreiben. Ich selbst möchte an meiner Hypothese zum Einsatz von Aktivelementen gegen dynamische Belastungen — Stürme, Erdbeben und so weiter — weiterarbeiten. Und schließlich bin ich noch immer ein Berater für General Tectonics. Außerdem schreibe ich einen Bericht über das Management der TCC.«

»Nicht auf Senator Collins' Ersuchen, nehme ich an?«

»Nein«, sagte Morgan mit grimmigem Lächeln. »Ich halte einen solchen Bericht für — nützlich. Außerdem verschafft er mir Entspannung.«

»Dessen bin ich sicher. Aber all diese Beschäftigungen sind nicht wirklich schöpferisch. Früher oder später werden sie Ihnen blass erscheinen — wie diese schöne norwegische Landschaft. Man wird müde, sich immer nur Seen und Fichten anzusehen, ebenso wie vom Schreiben und Reden. Sie sind die Art Mann, Dr. Morgan, der niemals zufrieden ist, solange er nicht an der Gestaltung des Universums mitarbeitet.«

Morgan antwortete nicht. Die Prognose saß so genau im Ziel, dass ihn Unbehagen ankam.

»Ich nehme an, Sie stimmen mit mir überein. Was hätten Sie dazu zu sagen, wenn ich Ihnen erklärte, meine Bank sei ernsthaft an Ihrem Fahrstuhlprojekt interessiert?«

»Ich wäre skeptisch. Als ich ihnen den Vorschlag unterbreitete, sagten sie, es sei eine gute Idee, aber sie könnten sich in diesem Stadium noch nicht finanziell daran beteiligen. Alle Geldmittel wurden für die Entwicklung des Mars gebraucht. Es war die übliche Antwort: Wir werden Ihnen gerne helfen, sobald Sie der Hilfe nicht mehr bedürfen.«

»Das war vor einem Jahr. Inzwischen haben wir uns die Sache noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Wir möchten, dass Sie den Fahrstuhl zu den Sternen bauen — aber nicht auf der Erde. Auf dem Mars. Sind Sie interessiert?«

»Womöglich. Bitte fahren Sie fort.«

»Bedenken Sie die Vorteile. Nur ein Drittel der Schwerkraft, alle Krafteinflüsse, die mit der Schwerkraft zusammenhängen, sind entsprechend geringer. Der Synchronorbit liegt ebenfalls wesentlich näher — weniger als die Hälfte der Distanz, die auf der Erde benötigt wird. Damit entfällt die Mehrzahl der Ingenieurprobleme. Meine Leute schätzen, dass das System auf dem Mars um mehr als ein Zehnfaches billiger sein würde als auf der Erde.«

»Das mag richtig sein; aber ich müsste es durchrechnen.«

»Und das ist nur der Anfang! Wir haben teuflische Stürme auf dem Mars, trotz der dünnen Atmosphäre — aber gleichzeitig auch Berge, die weit über sie hinausragen. Ihr Sri Kanda ist nur fünf Kilometer hoch. Wir haben den Mons Pavonis — einundzwanzig Kilometer und genau auf dem Äquator gelegen! Und vorteilhafter noch: Auf dem Gipfel sitzen keine marsianischen Mönche mit einem ewig langen Pachtvertrag. Es gibt noch einen weiteren Grund, warum Mars für den Fahrstuhl wie geschaffen zu sein scheint. Deimos bewegt sich lediglich dreitausend Kilometer oberhalb des Synchronorbits. Wir haben also schon eine Masse von ein paar Millionen Megatonnen, die wir heranbugsieren und als Anker verwenden können.«

»Das würfe ein paar interessante Synchronisationsprobleme auf. Ich möchte gerne mit den Leuten sprechen, die diese Ideen entwickelt haben.«

»Das geht nicht so direkt. Sie sind alle auf dem Mars. Sie müssen zum Mars kommen.«

»Die Versuchung ist da, aber ich habe zuvor noch ein paar Fragen. Die Erde braucht den Fahrstuhl. Die Gründe dafür kennen Sie ohne Zweifel. Mars dagegen, scheint mir, könnte ohne ihn auskommen. Sie haben nur einen Bruchteil unseres Raumverkehrs und eine weitaus geringere Zuwachsrate. Ich muss gestehen, das Vorhaben erscheint mir nicht besonders sinnvoll.«

»Ich hatte mich schon gefragt, wann Sie darauf kommen würden.«

»Also — nun bin ich darauf gekommen …«

»Haben Sie von dem Unternehmen Eos gehört?«

»Nicht dass ich mich erinnern könnte.«

»Eos — die griechische Göttin der Morgenröte — die Verjüngung des Mars.«

»Oh, darüber weiß ich natürlich. Es hat mit dem Abschmelzen der Polkappen zu tun, nicht wahr?«

»Genau. Wenn es uns gelänge, alles Wasser und CO2 abzutauen, dann kämen gleichzeitig mehrere Dinge in Gang. Die Dichte der Atmosphäre würde ansteigen, bis Menschen ohne Schutzanzüge im Freien arbeiten können; zu einer späteren Zeit könnte die Luft wohl sogar atembar gemacht werden. Es gäbe fließendes Wasser, kleine Seen und vor allen Dingen: Vegetation, die Anfänge einer sorgfältig geplanten Biosphäre. Im Lauf von wenigen Jahrhunderten könnte sich der Mars zu einem zweiten Garten Eden entwickeln. Er ist der einzige Planet im ganzen Sonnensystem, der mit vorhandenen technischen Mitteln in einen solchen Umwandlungsprozess gesteuert werden kann. Venus wird womöglich für immer zu heiß dazu sein.«

»Und was hat das mit dem Fahrstuhl zu tun?«

»Wir müssen mehrere Millionen Tonnen Gerät in Marsumlauf bringen. Die einzig gangbare Methode, die Marsoberfläche aufzuheizen, ist mit Hilfe von Sonnenspiegeln — Hunderte von Kilometern im Durchmesser. Wir brauchen sie auf Dauer — zunächst, um die Polkappen zu schmelzen, und später, um eine annehmbare Temperatur aufrechtzuerhalten.«

»Sie könnten die Rohmaterialien von Ihren Bergwerken auf den Asteroiden beziehen, nicht wahr?«

»Einiges sicherlich. Aber die besten Spiegel für diesen Zweck macht man aus Natrium, und davon gibt's im Weltall nur wenig. Wir werden es von den Salzlagern der Tharsis abbauen müssen, die zum Glück unmittelbar am Fuß des Mons Pavonis liegen.«

»Welche Dauer wird das Unternehmen haben?«

»Wenn uns keine größeren Probleme in den Weg kommen, könnte die erste Phase in fünfzig Jahren abgeschlossen sein. Etwa an Ihrem einhundertsten Geburtstag, den Sie nach Aussage der Statistiker mit einer Wahrscheinlichkeit von 39 Prozent noch erleben werden.«

Morgan lachte.

»Ich bewundere Leute, die so gründlich recherchieren.«

»Wir könnten auf dem Mars nicht überleben, wenn wir nicht jedem Detail Beachtung schenkten.«

»Also gut — ich bin von Ihrem Plan beeindruckt, allerdings habe ich noch immer eine Menge Bedenken. Die Finanzierung zum Beispiel …«

»Die ist meine Sache, Dr. Morgan. Ich bin der Bankier, Sie der Ingenieur.«

»Richtig. Aber Sie scheinen eine Menge von der Technik zu verstehen, und ich war gezwungen, etliches über die Finanzkunst zu lernen, oft auf schmerzliche Art und Weise. Ich könnte eine Beteiligung an einem derartigen Vorhaben nicht einmal in Erwägung ziehen, bevor man mir einen in Einzelheiten gehenden Budgetplan vorlegt …«

»Kann vorgelegt werden …«

»Und das wäre erst der Anfang. Sie sind sich möglicherweise nicht darüber im Klaren, dass zunächst einmal noch ein erheblicher Betrag an Forschung in die verschiedensten Wissensgebiete gesteckt werden muss: Massenerzeugung von Hyperdraht, Stabilitäts- und Steuerprobleme — ich könnte die ganze Nacht darüber reden.«

»Das wird nicht notwendig sein. Unsere Ingenieure haben all Ihre Veröffentlichungen gelesen. Sie schlagen ein kleinmaßstäbliches Experiment vor, das die Lösungen einiger noch anstehender Probleme aufzeigt und die Brauchbarkeit des Prinzips beweist …«

»Daran gibt es keinen Zweifel.«

»Ich stimme mit Ihnen überein; aber es ist manchmal erstaunlich, welchen Unterschied eine kleine praktische Vorführung bewirkt. Das ist es, was wir gerne von Ihnen hätten. Entwerfen Sie ein Minimalsystem, nur einen Draht mit einer Transportlast von ein paar Kilogramm. Den Draht lassen Sie vom Synchronorbit auf die Erde herab — ja, auf die Erde. Wenn es hier funktioniert, dann ist es auf dem Mars ein Kinderspiel. Dann transportieren Sie etwas nach oben, nur um zu zeigen, dass Raketen nicht mehr gebraucht werden. Das Experiment wird vergleichsweise billig sein, wesentliche Aufschlüsse erbringen und gleichzeitig als eine Art Grundlagentraining dienen. Und uns erspart es Jahre der Debatte. Wir können uns an die Erdregierung, an den Solar-Fonds und andere interplanetarische Banken wenden und brauchen nur auf den geglückten Versuch zu verweisen.«

»Sie haben das wirklich alles schon ausgearbeitet. Wann erwarten Sie meine Antwort?«

»Wenn es nach mir ginge, in ungefähr fünf Sekunden. Aber es gibt offensichtlich keinen besonderen Grund zur Eile. Entscheiden Sie sich innerhalb angemessener Zeit.«

»Ausgezeichnet. Überlassen Sie mir Ihre Entwurfsunterlagen, Kostenanalysen und alle sonstigen Dokumente, die Sie greifbar haben. Ich müsste mich in etwa einer Woche hindurcharbeiten können — und dann bekommen Sie meine Entscheidung.«

»Ich danke Ihnen. Hier, meine Nummer. Sie können mich jederzeit erreichen.«

Morgan schob die Personalakte des Bankiers in den Speicherschlitz seines Kommunikators und wartete, bis das kleine Bildfeld die Antwort EINGABE BESTÄTIGT zeigte. Sein Entschluss war gefällt, noch bevor er die Karte seinem Besucher zurückgegeben hatte.

Falls die marsianische Analyse nicht einen grundlegenden Fehler enthielt — er hätte in diesem Augenblick eine große Summe gewettet, dass dies nicht der Fall war —, dann hatte sein Ruhestand ein frühzeitiges Ende erfahren. Es war ihm an ihm selbst schon des Öfteren und nicht ohne inneres Amüsement aufgefallen, dass er über vergleichsweise triviale Entscheidungen lange und angestrengt nachdachte, während er die Entschlüsse, die wahrhaft sein Leben betrafen, stets ohne Zögern traf. Er hatte immer gewusst, was getan werden musste, und sich nur selten geirrt.

In dieser frühen Phase jedoch war es klug, nicht zu viel intellektuelles und emotionelles Kapital in ein Vorhaben zu stecken, von dem sich immer noch herausstellen mochte, dass aus ihm nichts wurde. Der Bankier hatte sich inzwischen verabschiedet; er befand sich auf dem ersten Abschnitt seiner Reise nach Tranquility-Hafen, über Oslo und Gagarin. Morgan fand es unmöglich, sich den Beschäftigungen zu widmen, die er für den langen Nordabend geplant hatte. Seine Gedanken waren nicht bei der Sache; sie beschäftigten sich unablässig mit den neuen Zukunftsaussichten, die sich plötzlich vor ihm aufgetan hatten.

Nach ein paar Minuten ruhelosen Auf- und Abgehens nahm er schließlich an seinem Schreibtisch Platz und begann, seine Verpflichtungen in der Reihenfolge ihrer Dringlichkeit niederzuschreiben. Am Beginn der Liste standen also diejenigen, deren er sich am leichtesten entledigen konnte. Bald jedoch ging ihm für solche Routinebeschäftigung die Geduld aus. Irgendwo tief drunten in seinem Bewusstsein hatte etwas zu pochen begonnen und versuchte, ihn auf sich aufmerksam zu machen. Wenn er sich aber darauf konzentrieren wollte, dann entwischte es ihm — wie ein Wort, das einem »auf der Zunge liegt«, an das man sich aber partout nicht erinnern kann.

Mit einem enttäuschten Seufzer überließ er den Schreibtisch sich selbst und trat hinaus auf die Veranda, die an der Westwand des Hotels entlanglief. Es war sehr kalt; aber die Luft verhielt sich reglos, und die Kälte wirkte eher als ein Stimulus denn unangenehm. Der Himmel war ein Lichtteppich aus Sternen, und die gelbe Mondsichel sank auf ihr Spiegelbild auf der Oberfläche des Fjords zu, die so dunkel und glatt war, als bestünde sie aus poliertem Ebenholz.

Vor dreißig Jahren hatte er fast am selben Platz gestanden, mit einer jungen Frau, an deren Aussehen er sich nur noch undeutlich erinnerte. Sie hatten beide ihr erstes Examen gefeiert, und das war auch alles, was sie miteinander verband. Es war keine ernsthafte Affäre gewesen; sie waren jung und mochten einander — mehr nicht. Aber die Erinnerung, so vage sie auch sein mochte, hatte ihn ausgerechnet in diesem kritischen Augenblick seines Lebens zum Trollshaven-Fjord zurückgebracht. Was der zweiundzwanzigjährige Student wohl gesagt hätte, wenn ihm offenbart worden wäre, dass sein Weg ihn dereinst an diesen Ort freundlicher Erinnerungen zurückführen werde, drei Jahrzehnte in der Zukunft?

Morgan empfand weder Nostalgie noch Selbstbedauern, eher heimliches Vergnügen. Er hatte es nie bereut, dass er und Ingrid in Frieden auseinandergegangen waren, ohne den üblichen Ehevertrag auf ein Jahr Dauer auch nur in Erwägung zu ziehen. Seitdem hatte sie drei Männer mehr oder weniger unglücklich gemacht und schließlich einen Job bei der Mondkommission ergattert. Morgan hatte sie aus den Augen verloren, und in diesem Augenblick fragte er sich, ob sie sich wohl irgendwo auf der schimmernden Sichel dort befinden mochte, deren Farbe der ihres goldenen Haares glich.

Genug mit der Vergangenheit. Morgan wandte seine Gedanken der Zukunft zu. Wo war der Mars? Zu seiner Blamage musste er zugeben, dass er nicht einmal wusste, ob der Planet heute Nacht überhaupt sichtbar war. Sein Blick glitt den Pfad der Ekliptik entlang, vom Mond zum strahlenden Leuchtfeuer der Venus und darüber hinaus; aber nirgendwo in diesem Durcheinander von glänzenden Lichtern fand er etwas, das er zweifelsfrei als den roten Planeten hätte identifizieren können. Er empfand Erregung bei dem Gedanken, dass er, der noch niemals über die Mondbahn hinausgekommen war, die gewaltigen roten Wüsten des Mars mit eigenen Augen zu sehen bekommen würde und die zwei kleinen Monde, wie sie sich innerhalb weniger Stunden durch ihre Phasen drehten.

In diesem Augenblick brach der Traum in sich zusammen. Morgan stand einen Augenblick wie gelähmt. Dann stürzte er zurück in sein Zimmer und vergaß von einem Augenblick zum andern die Schönheit der Sternennacht.

Es gab in seinem Zimmer keine Allzweckkonsole, also musste er hinunter ins Foyer, um sich die benötigte Information zu beschaffen. Wie das Pech es wollte, war die Zelle von einer älteren Dame besetzt, die sich bei ihrer Sache so umständlich tat, dass Morgan um ein Haar an die Tür gepocht hätte. Schließlich aber entfernte sie sich mit einer gemurmelten Entschuldigung, und als Morgan die Zelle betreten hatte, stand er dem gesammelten Wissen der gesamten Menschheit gegenüber.

In seinen Studentenjahren hatte er mehrere Informationsmeisterschaften gewonnen — Rennen gegen die Uhr, bei denen obskure Informationen zur Beantwortung von Fragen, die sadistische Schiedsrichter sich ausgedacht hatten, aus den Speicherinhalten von Computern gegraben werden mussten. (»Wie viel Regen fiel in der Hauptstadt des kleinsten irdischen Nationalstaats an dem Tag, an dem die zweithöchste im internationalen Fußball je erreichte Zahl von Toren geschossen wurde?« An diese Frage erinnerte er sich mit besonderer Zuneigung.) Seine Geschicklichkeit hatte im Lauf der Jahre zugenommen, überdies handelte es sich hier um eine Frage mit geringer Komplexität. Die Antwort erschien nach dreißig Sekunden auf dem Bildschirm, viel detaillierter, als er sie eigentlich brauchte.

Morgans Blick ruhte eine Zeitlang auf der Bildfläche. Dann schüttelte er in konsternierter Verwunderung den Kopf.

»Das können sie unmöglich übersehen haben!«, murmelte er. »Aber was können sie dagegen tun?«

Morgan drückte den KOPIE-Knopf und trug das dünne Blatt Papier mit sich zurück zu seinem Zimmer, wo er eine mehr in Einzelheiten gehende Analyse anfertigte. Das Problem lag mit derart unverschämter Klarheit auf der Hand, dass er eine Zeitlang fürchtete, er hätte eine ebenso offensichtliche Lösung übersehen und würde sich lächerlich machen, wenn er die Sache zur Sprache brachte. Aber es gab keinen denkbaren Ausweg …

Er sah auf die Uhr: Nach Mitternacht. Aber hier ging es um etwas, das sofort ins Reine gebracht werden musste.

Zu Morgans Erleichterung stellte sich heraus, dass der Bankier seinen NICHT-STÖREN-Knopf noch nicht aktiviert hatte. Er antwortete sofort, gab sich jedoch ein wenig überrascht.

»Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt«, sagte Morgan.

»Nein — wir setzen gerade zur Landung auf Gagarin an. Wo brennt's?«

»Über dem Mars. Der innere Mond, Phobos, ungefähr zehn Teratonnen, die sich mit zwei Kilometern pro Sekunde bewegen. Ein kosmischer Rammbock, der alle elf Stunden an dem Fahrstuhl vorbeikommt. Ich habe die Wahrscheinlichkeit noch nicht genau ausgerechnet, aber es wird unweigerlich alle paar Tage zu einem Zusammenstoß kommen.«

Am anderen Ende war es lange Zeit still. Dann sagte der Bankier: »Selbst ich hätte mir das ausrechnen können. Also hat offensichtlich jemand eine Lösung. Vielleicht müssen wir Phobos aus dem Weg schaffen.«

»Unmöglich: Die Masse ist viel zu groß.«

»Ich muss Mars anrufen. Die Verzögerung ist gegenwärtig zwölf Minuten. Innerhalb einer Stunde müsste ich wenigstens eine vorläufige Antwort für Sie haben.«

Hoffentlich, dachte Morgan. Und am besten eine plausible. Das heißt: Wenn mich diese Aufgabe wirklich interessiert.

Gottes Finger

Dendrobium macarthiae blühte gewöhnlich mit dem Südwestmonsun, aber dieses Jahr war es früh dran. Als Johan Radschasinghe in seinem Orchideenhaus stand und die vielblättrigen rosé-violetten Blüten bewunderte, erinnerte er sich daran, dass ihm letztes Jahr, als er die Blumen betrachten kam, ein Wolkenbruch eine halbe Stunde lang den Rückweg zur Villa abgeschnitten hatte.

Er betrachtete aufmerksam den Himmel. Nein, es gab kein Anzeichen von Regen. Es war ein wunderschöner Tag mit hohen, dünnen Wolkenstreifen, die das grelle Sonnenlicht ein wenig milderten. Aber da war etwas sehr Merkwürdiges …

Radschasinghe hatte so etwas noch nie zuvor gesehen. Direkt über ihm waren drei parallel zueinander verlaufende Wolkenbahnen durch eine kreisförmige Störung unterbrochen. Es schien sich um einen Wirbelsturm zu handeln, nur wenige Kilometer im Durchmesser, aber Radschasinghe fühlte sich an etwas gänzlich anderes erinnert: ein Astloch, das durch die Maserung eines glatt gehobelten Brettes brach. Er überließ seine geliebten Orchideen sich selbst und trat hinaus ins Freie, um die Erscheinung besser beobachten zu können. Jetzt sah er, dass der Wirbelwind sich langsam am Himmel entlangbewegte; in seinem Kielwasser blieben die zuvor geraden Wolkenstreifen verdreht zurück.

Im Geist sah Radschasinghe den Finger Gottes, der vom Himmel herabzeigte und eine Furche durch die Wolken zog. Obwohl er die Grundlagen der Wetterkontrolle durchaus verstand, hatte er nicht gewusst, dass man bereits mit solcher Genauigkeit zu arbeiten verstand. Mit bescheidenem Stolz erinnerte er sich, dass er vor fast vierzig Jahren bei den Anfängen der Wetterkontrolle mitgearbeitet hatte.

Es war nicht leicht gewesen, den verbleibenden Supermächten einzureden, sie müssten ihre Raumfestungen aufgeben und sie der Globalen Wetterbehörde überantworten. Seitdem waren die Laser, die einst die Menschheit bedroht hatten, auf sorgfältig ausgewählte Abschnitte der Atmosphäre gerichtet worden oder auf wärmeabsorbierende Zielpunkte in abgelegenen Landstrichen der Erde. Die in den Laserstrahlen enthaltene Energie war lächerlich gering im Vergleich zu der selbst des kleinsten Sturmes. Aber dasselbe gilt für den einsamen Stein, der eine Lawine auslöst, oder das Neutron, mit dem eine Kettenreaktion beginnt.

Darüber hinaus waren Radschasinghe die technischen Einzelheiten unbekannt. Er wusste, dass die Wetterkontrolle ein mächtiges Netzwerk von Monitorsatelliten unterhielt und mit Computern arbeitete, in deren elektronischen Gedächtnissen ein vollständiges Modell der Erdatmosphäre, der Landflächen und Meere gespeichert war. Er fühlte sich mehr wie ein von Ehrfurcht gelähmter Wilder, der den Wundern einer hochentwickelten Technologie gegenübersteht. Sein Blick folgte dem kleinen Zyklon, der zielbewusst westwärts strebte, bis er unter der Linie der Palmenkronen am Rande der Lustgärten verschwand.

Dann sah Radschasinghe auf zu den unsichtbaren Ingenieuren und Wissenschaftlern, die in ihren Himmelsgondeln um die Erde rasten.

»Sehr eindrucksvoll«, sagte er. »Ich hoffe, ihr wisst auch genau, was ihr da tut.«

Weltraumroulett

»Ich hätte mir denken können«, sagte der Bankier bedauernd, »dass es in einem der technischen Anhänge sein müsste, die ich nie lese. Sie haben inzwischen das ganze Dokument verarbeitet, also möchte ich von Ihnen hören, wie die Lösung aussieht. Sie haben mir nämlich Angst gemacht, verstehen Sie?«

»Die Lösung ist ebenso brillant wie offensichtlich«, antwortete Morgan. »Ich hätte von mir aus darauf kommen müssen.«

Was ihm — beizeiten — auch gelungen wäre, dachte er selbstsicher. Im Geist sah er die Rechnersimulationen der gigantischen Struktur, hin und her schwingend wie eine Violinsaite in Zeitlupenaufnahme. Im Hintergrund des Bildes ließ er zum hundertsten Mal den Film von der tanzenden Brücke ablaufen. Das waren alle Hinweise, derer er bedurft hätte.

»Phobos passiert den Turm alle elf Stunden, zehn Minuten. Glücklicherweise bewegt er sich nicht genau in derselben Ebene, sonst gäbe es jedes Mal einen Zusammenstoß. So aber verfehlt Phobos bei der Mehrzahl seiner Umläufe das Ziel. Die Zeiten, zu denen Gefahr besteht, lassen sich genau vorherberechnen, wenn nötig, bis auf die Millisekunde. Der Fahrstuhl, wie jedes Ingenieurprodukt, ist keine völlig starre Struktur. Er besitzt Eigenschwingungen, deren Frequenz nahezu so genau berechnet werden kann wie Planetenbahnen. Ihre Techniker schlagen daher vor, den Fahrstuhl zu stimmen, so dass seine normalen Schwingungen, die ohnehin nicht zu vermeiden sind, ihn vor dem Zusammenstoß mit Phobos bewahren. Jedes Mal, wenn der Mond an dem Fahrstuhl vorbeikommt, ist dieser woanders, ein paar Kilometer von der Gefahrenzone entfernt.«

Am anderen Ende war es lange Zeit still.

»Ich sollte das vielleicht nicht zugeben«, sagte der Marsianer schließlich, »aber mir stehen die Haare zu Berge.«

Morgan lachte. »Es klingt in der Tat ein wenig nach russischem Roulett. Aber bedenken Sie, dass wir es mit genau berechenbaren Vorgängen zu tun haben. Wir wissen zu jedem Zeitpunkt, wo sich Phobos befindet, und wir kontrollieren die Auslenkung des Turmes einfach dadurch, dass wir den Verkehr entsprechend dosieren.«

Einfach, dachte Morgan, war nicht das richtige Wort; aber es musste jeder einsehen, dass es sich machen ließ. Er dachte an eine Analogie, die perfekt und ausgefallen war. Nein — es war keine gute Idee, sie dem Bankier auseinanderzusetzen.

Er war wieder bei der Tacoma-Narrows-Brücke. Ein Schiff sollte unter der Brücke hindurchfahren. Dummerweise war sein Mast einen Meter zu hoch.

Kein Problem. Unmittelbar vor der Ankunft des Schiffes donnerten ein paar schwere Lastwagen über die Brücke, ihre Abstände so berechnet, dass die von ihnen erzeugten Schwingungen die Eigenfrequenz der Brücke trafen. Eine sanfte Welle bewegte sich von Pfeiler zu Pfeiler entlang der Fahrstraße, ihr Maximalausschlag so berechnet, dass er mit dem Augenblick der Ankunft des Schiffes zusammenfiel. Die Mastspitze glitt unter der Brücke hindurch, mit Zentimetern Spielraum. Nach demselben Prinzip, aber in tausendfach größerem Maßstab würde der Sternenfahrstuhl, der sich vom Mons Pavonis himmelwärts erhob, den Mond Phobos an sich vorbeilassen.

»Ich bin froh über Ihre Zuversicht«, sagte der Bankier. »Was mich angeht, so werde ich jeweils eine Positionsbestimmung für Phobos anfertigen lassen, bevor ich den Fahrstuhl benutze.«

»Haben Sie gehört, dass ein paar von Ihren intelligenten jungen Leuten — intelligent sind sie ohne Zweifel, und für jung halte ich sie aufgrund ihres Mangels an Ehrfurcht vor der Natur — die kritischen Schwingungsperioden zu Touristenattraktionen machen wollen? Sie glauben, dass man einen höheren Fahrpreis verlangen könnte, wenn den Passagieren die Möglichkeit gegeben wird, Phobos sozusagen auf Armeslänge mit mehreren tausend Kilometern pro Stunde vorbeirasen zu sehen. Welch ein Schauspiel, meinen Sie nicht auch?«

»Ich male es mir lieber aus, als dass ich es mir ansehe, aber wahrscheinlich haben sie recht. Jedenfalls bin ich erleichtert, zu hören, dass es eine Lösung gibt. Ich stelle überdies mit Freude fest, dass unser technisches Wissen Sie beeindruckt. Bedeutet das, dass wir Ihre Entscheidung in Bälde erwarten dürfen?«

»Sie können sie jetzt gleich haben«, sagte Morgan. »Wann fangen wir an?«

Die Nacht vor dem Vesak-Fest

Es war seit siebenundzwanzig Jahrhunderten der wichtigste und heiligste Tag im taprobanischen Kalender. Zum Vollmond des Mai war Buddha geboren, hatte er die Erleuchtung erfahren, war er gestorben. Obwohl die Mehrzahl der Menschen im Vesak-Fest nichts anderes sah als in der anderen alljährlichen Festlichkeit, Weihnachten, war es noch immer eine Zeit für Meditation und inneren Frieden.

Schon seit langen Jahren garantierte die Monsun-Kontrolle, dass es an den Vesak-Nächten nicht regnen würde. Annähernd ebenso lang war es Radschasinghes Gewohnheit, zwei Tage vor dem Vollmond eine Pilgerfahrt, die sein Bewusstsein erfrischte, in die Stadt der Könige zu unternehmen. Dem eigentlichen Vesak-Fest hielt er sich fern. An diesem Tag war Ranapura übervölkert, viele unter den Besuchern würden ihn mit Sicherheit erkennen und seine Ruhe stören.

Nur der schärfste Blick vermochte zu erkennen, dass der riesige, gelbe Mond, der über den glockenförmigen Silhouetten uralter Grabmäler schwebte, noch kein vollkommener Kreis war. Sein Schein war so intensiv, dass nur die lichtstärksten unter den Satelliten und Sternen am wolkenlosen Nachthimmel zu sehen waren. Und kein Windhauch bewegte die Luft.

Zweimal, so berichtete die Legende, hatte Kalidasa auf dieser Straße angehalten, als er Ranapura für immer verließ. Der erste Halt hatte am Grabmal Hanumans, des geliebten Gefährten seiner Kindheit, stattgefunden. Den zweiten hatte er am Schrein des Sterbenden Buddha eingelegt. Radschasinghe hatte sich oft gefragt, welchen Trost der Anblick der Statue dem vom Schicksal verfolgten König bereitet haben mochte. Womöglich hatte er an demselben Ort angehalten, an dem Radschasinghe sich jetzt befand; denn von hier aus war die Aussicht auf die gewaltige, aus dem Felsen gehauene Statue am besten. Die liegende Gestalt war so vollendet proportioniert, dass man ganz nahe herangehen musste, bevor man erkannte, wie riesig das Bildnis war. Aus der Ferne konnte man sich unmöglich vorstellen, dass allein das Kissen, auf dem Buddhas Kopf ruhte, mehr als Manneshöhe besaß.

Radschasinghe hatte viel von der Welt gesehen, aber er kannte keinen zweiten Ort, der so voller Friede war. Manchmal hatte er den Eindruck, er könne hier bis in alle Ewigkeit sitzen, unter dem hellen Glanz des Mondes, ganz und gar unberührt von den Sorgen und dem Durcheinander des Lebens. Er hatte niemals versucht, die Zauberkraft des Schreines zu erforschen — aus Furcht, er könne sie durch seine Forschung zerstören. Einige ihrer Bestandteile waren indes offensichtlich. Alleine die Haltung des Erleuchteten, der nach einem langen und vornehmen Leben endlich mit geschlossenen Augen ruhte, strahlte Ruhe aus. Die fließenden Falten des Gewandes erfüllten den Betrachter mit Trost und Frieden; sie schienen aus dem Felsen zu strömen und bildeten Wellen aus erstarrtem Stein. Wie die Wellen der See sprachen sie auf Instinkte an, von deren Existenz der rationale Verstand nichts wusste.

In Augenblicken wie diesem, in denen die Zeit stillstand, allein mit Buddha und dem nahezu vollen Mond, empfand Radschasinghe, dass er nun endlich die Bedeutung des Nirwana begreifen könne — jenes unfassbaren Zustands, der nur durch Aussagen darüber, was er nicht ist, beschrieben werden kann. Empfindungen wie Ärger, Lust, Gier waren plötzlich machtlos, ja, kaum noch wahrnehmbar. Selbst das Verständnis der persönlichen Identität löste sich auf wie Morgennebel unter den Strahlen der Sonne.

Es war natürlich nicht von Dauer. Plötzlich drangen das Summen der Insekten und weit entferntes Hundegebell wieder in sein Bewusstsein, und er spürte die kalte Härte des Steines, auf dem er saß. Ruhe war ein Zustand, der sich nicht lange erhalten ließ. Mit einem Seufzer stand Radschasinghe auf und kehrte zu seinem Wagen zurück, der hundert Meter entfernt außerhalb des Tempelgeländes geparkt stand.

Er war gerade beim Einsteigen, als er den kleinen weißen Flecken bemerkte, der sich so deutlich gegen den Hintergrund abhob, als sei er an den Himmel gemalt. Er glitt jenseits der Bäume im Westen in die Höhe und stellte die eigenartigste Wolke dar, die Radschasinghe je zu sehen bekommen hatte, ein vollendet symmetrisches Ellipsoid mit derart scharfen Rändern, als bestünde es aus fester Materie. Einen Augenblick lang war er versucht, zu glauben, da steuere jemand ein Luftschiff durch den Nachthimmel von Taprobane; aber er sah keine Steuerflächen, und es gab keinerlei Motorengeräusch.

Dann kreuzte ein noch aufregenderer Gedanke seinen Sinn: Die Starholmer waren angekommen …

Absurd, natürlich. Selbst wenn sie ihre eigenen Radiosignale überholt hätten, sie wären niemals quer durch das ganze Sonnensystem geflogen und in den Himmel der Erde hinabgestoßen, ohne sämtliche Verkehrsradars zu aktivieren. Die Nachricht von ihrer Ankunft hätte sich schon längst verbreitet.

Es überraschte Radschasinghe, festzustellen, dass diese Überlegung ihn enttäuschte. Jetzt, als die Erscheinung näher kam, erkannte er unzweideutig, dass es sich um eine Wolke handelte: die Ränder lösten sich allmählich auf. Sie bewegte sich mit beeindruckender Geschwindigkeit, offenbar von einem privaten Wind getrieben, von dem hier unten auf der Erdoberfläche nichts zu spüren war.

Die Wissenschaftler der Monsun-Kontrolle waren wieder am Werk und versuchten ihre Künste an der Steuerung des Windes. Was, fragte sich Radschasinghe, würde ihnen als Nächstes in den Sinn kommen?

Raumstation Ashoka

Wie winzig die Insel aus dieser Höhe wirkte! Sechsunddreißigtausend Kilometer tief drunten erschien Taprobane nicht wesentlich größer als der Mond. Selbst die gesamte Landfläche erschien als Ziel viel zu klein, als dass jemand hätte versuchen mögen, sie zu treffen. Morgan aber zielte auf ein Stück Erdreich in ihrem Zentrum, nicht größer als ein Tennisplatz.

Bis auf den gegenwärtigen Augenblick war sich Morgan über seine Motive noch nicht im Klaren. Seine kleine Vorführung hätte er auch von der Raumstation Kinte aus abwickeln können, mit Ziel Kilimandscharo oder Mount Kenia. Der Umstand, dass Kinte sich am unstabilsten Punkt des gesamten Synchronorbits befand und ständig hin und her zockelte, um über Zentralafrika zu bleiben, spielte bei der geringen Dauer seines Experiments keine Rolle. Eine Zeitlang hatte ihm sogar der Chimborasso als Ziel vorgeschwebt; die Amerikaner hatten ihm angeboten, die Raumstation Columbus mit beachtlichen Kosten auf den entsprechenden Längengrad zu manövrieren. Schließlich aber war er trotz aller Ermutigungen in anderer Richtung zu seinem ursprünglichen Ziel zurückgekehrt: Sri Kanda.

Glücklicherweise konnte in diesem Zeitalter der rechnergestützten Entscheidungen selbst ein Spruch des Weltgerichtshofs in wenigen Wochen herbeigeführt werden. Der Tempel hatte selbstverständlich Beschwerde eingelegt. Morgans Argument war gewesen, ein wissenschaftliches Experiment von kurzer Dauer, durchgeführt außerhalb des Tempelgeländes, ohne Geräusch, Umweltverschmutzung oder sonstige schädliche Einflüsse, könne unmöglich als Belästigung ausgelegt werden. Wenn man ihn an der Ausführung des Versuchs hinderte, wären all seine bisherigen Studien in Frage gestellt, es wäre ihm die Möglichkeit genommen, die Richtigkeit seiner Berechnungen zu überprüfen, und ein für die Republik Mars lebenswichtiges Projekt erlitte einen ernstzunehmenden Rückschlag.

Das Argument war äußerst plausibel, und Morgan selbst war von der Richtigkeit der Mehrzahl seiner Behauptungen überzeugt. Ebenso überzeugt waren die Richter, mit einem Stimmenverhältnis von fünf zu zwo. Obwohl sie sich durch solche Dinge nicht hätten beeinflussen lassen sollen, war es ein geschickter Schachzug gewesen, die Republik Mars zu erwähnen. Die RM war beim Weltgerichtshof bereits mit drei komplizierten Fällen anhängig, und die Richter wurden allmählich müde, Präzedenzfälle des interplanetarischen Rechts zu schaffen.

Morgan indes trug in dem analytisch kühlen Teil seines Bewusstseins die Kenntnis, dass seine Handlung keineswegs nur der Logik entsprang. Er war nicht der Mann, der eine Niederlage mit Gleichmut akzeptierte. Die Geste der Vergeltung bereitete ihm eine gewisse Genugtuung. Auf einer noch tieferen Ebene seines Bewusstseins verwarf er jedoch dieses kleinliche Motiv; eine derart kindische Reaktion war seiner nicht würdig. Was er wirklich wollte, war, sein Selbstbewusstsein wiederaufzubauen und seinen Glauben an den Erfolg seines Vorhabens zu stärken. Obwohl er sich über das Wie und das Wann noch im Unklaren war, verkündete er der Welt — und den hartschädeligen Mönchen jenseits der uralten Mauern: »Ich komme wieder.«

Die Raumstation Ashoka kontrollierte nahezu alles, was mit Kommunikation, Meteorologie, Umweltbeobachtung und Raumfahrt im indochinesischen Sektor zu tun hatte. Wenn sie jemals zu funktionieren aufhörte, stünden augenblicklich eine Milliarde Menschenleben auf dem Spiel. Es war daher nicht verwundlich, dass Ashoka über zwei absolut selbständige Subsatelliten verfügte, Bhaba und Sarabhai, die einhundert Kilometer entfernt waren. Aber selbst wenn eine unausdenkbare Katastrophe alle drei Stationen zerstörte, könnten Kinte und Imhotep im Westen und Konfuzius im Osten Notdienste leisten. Die Menschheit hatte anhand bitterer Erfahrungen gelernt, Verletzbarkeit durch Verteilung der Gefahrenpunkte zu verringern.

Hier, so weit von der Erde entfernt, gab es keine Touristen, Feriengäste oder Durchreisende. Diese beschränkten sich auf Höhen von ein paar tausend Kilometern und überließen die hochgelegene Synchron-Umlaufbahn den Wissenschaftlern und Technikern — aber auch von ihnen war keiner je nach Ashoka gekommen.

Das Kernstück des »Unternehmens Bindfaden« schwebte in einer der mittelgroßen Anlegekammern der Raumstation und wartete auf die abschließende technische Prüfung. Es sah nicht besonders eindrucksvoll aus. Seine äußere Erscheinung gab keinen Hinweis auf die Mannjahre und die Millionen, die seine Entwicklung verschlungen hatte.

Der mattgraue Kegel, vier Meter lang, mit einem Durchmesser von zwei Metern an der Basis, schien durch und durch aus Metall zu bestehen. Es bedurfte eines aufmerksamen Blicks aus der Nähe, um den dicht gewundenen Faden zu erkennen, der die Oberfläche bedeckte. Und nicht nur die Oberfläche. Abgesehen von einem schlanken Kern und den Plastikstreifen, die Hunderte von Windungslagen voneinander trennten, bestand der ganze Kegel aus einem sich allmählich verjüngenden Faden Hyperdraht — vierzigtausend Kilometer lang.

Zwei längst überholte und voneinander verschiedene Technologien waren für die Herstellung des unscheinbaren grauen Zylinders wieder zum Leben erweckt worden. Vor dreihundert Jahren hatten transozeanische Telegrafen über unterseeische Kabel zu funken begonnen. Vermögen waren verloren worden, bis man die Kunst erlernte, Tausende von Kilometern Kabel auf- und danach mit gleichbleibender Geschwindigkeit von Kontinent zu Kontinent wieder abzurollen, ungeachtet der Stürme und aller anderen Gefahren der See. Ungefähr ein Jahrhundert später waren die ersten primitiven Lenkraketen, die sich mit ein paar hundert Kilometern pro Stunde bewegten, mit Hilfe von dünnen Drähten, die sich während des Zielanflugs abwickelten, kontrolliert worden. Morgans Vorhaben übertraf die Reichweite der Kriegsmuseumsstücke um das Tausend-, ihre Geschwindigkeit um das Fünfzigfache. Allerdings hatte er mehrere Vorteile. Sein Projektil bewegte sich, mit Ausnahme der letzten einhundert Kilometer, durch Vakuum. Und sein Ziel würde wahrscheinlich nicht auszuweichen versuchen.

Die Projektmanagerin machte Morgan durch ein verlegenes Hüsteln auf sich aufmerksam.

»Es gibt immer noch ein Problem, Doktor«, sagte sie. »Wir haben zwar das Abspulen fest im Griff — alle Tests und Rechnersimulationen sind zufriedenstellend, wie Sie gesehen haben. Aber das Rückspulen bereitet den Sicherheitsleuten Kopfzerbrechen.«

Morgan blinzelte überrascht. Mit dieser Frage hatte er sich so gut wie gar nicht befasst. Es schien auf der Hand zu liegen, dass das Rückspulen des Drahtes im Vergleich zum Abrollen trivial war. Gewiss doch brauchte man nicht mehr als eine motorisierte Winde, womöglich mit ein paar Zusatzvorrichtungen, die den geringen, stetig abnehmenden Durchmesser des Hyperdrahtfadens berücksichtigten. Aber er wusste, dass man in der Raumtechnik niemals etwas als gegeben hinnehmen durfte und dass die Intuition — besonders die Intuition eines erdgebundenen Technikers — mitunter ein teuflischer Ratgeber war.

Wie ging das doch? Wenn das Experiment beendet ist, schneiden wir das erdseitige Ende los, und Ashoka wickelt den Draht wieder auf. Wenn man natürlich an einem Ende einer vierzigtausend Kilometer langen Leine zu ziehen beginnt, dann tut sich ein paar Stunden lang überhaupt nichts. Bis der Impuls das andere Ende erreicht, vergeht ein halber Tag. Die Spannung wird also aufrechterhalten und — oh!

»Man hat ein paar Berechnungen angestellt«, fuhr die Managerin fort. »Wenn der Draht endlich in Fahrt kommt, dann rollen etliche Tonnen mit einer Geschwindigkeit von eintausend Kilometern pro Stunde auf diese Station zu. Den Sicherheitsleuten gefällt das überhaupt nicht.«

»Verständlich. Was erwarten sie von uns?«

»Dass wir eine geringere Rückspulgeschwindigkeit ansetzen und den Impuls dauernd unter Kontrolle halten. Falls es gefährlich wird, müssen wir die Station verlassen und die Rückspulung draußen abwickeln.«

»Bedeutet das eine Verzögerung?«

»Nein. Wir haben einen Plan für den Notfall entwickelt. Wir bringen das Ding in fünf Minuten durch die Schleuse nach draußen, wenn es nötig wird.«

»Und zurück?«

»Ohne Mühe.«

»Hoffentlich haben Sie recht. Diese Angelschnur kostet ein gutes Stück Geld. Und ich brauche sie noch.«

Ja — aber wo?, fragte sich Morgan, wobei er die langsam wachsende Sichel der Erde anstarrte. Es war vielleicht besser, zuerst das Marsprojekt zum Abschluss zu bringen, selbst wenn er dafür mehrere Jahre Exil in Kauf nehmen musste. Sobald Mons Pavonis in Betrieb war, blieb der Erde keine andere Wahl als nachzuziehen. Er zweifelte nicht daran, dass die letzten Hindernisse irgendwie aus dem Weg geräumt werden würden.

Dann gab es eine Brücke über den Abgrund, den er jetzt hinabstarrte, und der Ruhm, den Gustave Eiffel sich vor dreihundert Jahren erworben hatte, würde vor dem seinen verblassen.

Die erste Talfahrt

Es würden mindestens noch zwanzig Minuten vergehen, bis man etwas zu sehen bekam. Trotzdem befanden sich alle, die eigentlich in den Kontrollstand gehörten, draußen im Freien und starrten zum Himmel hinauf. Selbst Morgan vermochte der Versuchung kaum zu widerstehen und bewegte sich langsam auf die Tür zu.

In seiner unmittelbaren Nähe — und nie weiter als ein paar Meter entfernt — befand sich Maxine Duvals neuester Assistent, ein Athlet von siebenundzwanzig Jahren. Auf den Schultern trug er die üblichen Utensilien seines Handwerks: Zwillingskameras in der traditionellen Rechts-vorwärts-links-rückwärts-Anordnung. Über den Kameras schwebte eine Kugel von der ungefähren Größe einer Grapefruit. Die Antenne im Innern der Kugel vollbrachte wundersame Dinge: Wohin und wie schnell sich ihr Träger auch immer bewegte, sie blieb stets auf den nächsten Nachrichtensatelliten ausgerichtet. Am anderen Ende dieser komplexen Funkleitung saß Maxine Duval bequem in ihrem Studio, sah durch die Augen und hörte durch die Ohren ihres »zweiten Selbst«, ohne jedoch wie dieses die Lungen in der dünnen, kalten Luft strapazieren zu müssen. Diesmal hatte sie sich den bequemeren Teil ausgewählt; aber es ging bei weitem nicht immer so.

Morgan hatte sich auf das Arrangement mit einigem Zögern eingelassen. Er wusste, dass dies ein historischer Augenblick war, und akzeptierte Maxines Versicherung, »mein Mann wird Ihnen nicht in die Quere kommen«. Er war sich auf der anderen Seite aber deutlich all der Dinge bewusst, die bei einem so neuartigen Experiment schiefgehen konnten — besonders während der letzten hundert Kilometer des Abstiegs durch die Atmosphäre. Schließlich und endlich jedoch konnte er sich darauf verlassen, dass Maxine sowohl Fehlschlag als auch Erfolg ohne Sensationalismus behandeln würde.

Wie alle großen Berichterstatter blieb Maxine Duval gefühlsmäßig nicht unberührt von den Ereignissen, über die sie berichtete. Sie schilderte objektiv und ohne Auslassung alle Gesichtspunkte, die sie für wesentlich hielt. Sie machte dabei keinen Hehl aus ihren Gefühlen, erlaubte ihnen jedoch nicht, ihre Darstellung zu färben. Sie hatte enormen Respekt vor Morgan und betrachtete ihn mit der neidischen Ehrfurcht des Menschen, dem alle schöpferische Fähigkeit abgeht. Seit der Fertigstellung der Brücke von Gibraltar hatte sie darauf gewartet, was der Ingenieur als Nächstes unternehmen würde. Sie war nicht enttäuscht worden. Aber obwohl sie Morgan Glück wünschte, mochte sie ihn nicht wirklich. Nach ihrer Ansicht verwandelten ihn die Energie und die Unaufhaltsamkeit seines Ehrgeizes in etwas, das zugleich mehr als lebensgroß und weniger als menschlich war. Sie konnte nicht umhin, ihn mit Warren Kingsley, seinem Stellvertreter, zu vergleichen. Der war ein durch und durch netter, angenehmer Mensch. (»Und ein besserer Ingenieur als ich«, hatte Morgan einst ziemlich ernsthaft zu ihr gesagt.) Aber niemand erfuhr je von Kingsley; er würde stets im Schatten seines beeindruckenden Vorgesetzten stehen. Und damit völlig zufrieden sein.

Warren hatte ihr mit viel Geduld die erstaunlich komplexe Mechanik der Talfahrt erklärt. Dem Laien erschien es die einfachste Sache der Welt, einen Gegenstand von einem Ort, der sich über dem Äquator befand, zu diesem hinabfallen zu lassen. Aber die Astrodynamik war voll von Widersprüchen. Wenn man zu bremsen versuchte, bewegte man sich schneller; der kürzeste Weg verbrauchte den meisten Treibstoff. Wenn man in eine Richtung zielte, bewegte man sich in eine andere … und das waren erst die Auswirkungen der Gravitation. Im vorliegenden Fall war die Lage wesentlich verwickelter. Niemand hatte je zuvor versucht, ein Objekt, das an vierzigtausend Kilometern Draht baumelte, durch den Weltraum zu steuern. Das Programm der Station Ashoka hatte bisher reibungslos funktioniert und die Sonde bis an den Rand der irdischen Atmosphäre gebracht. In ein paar Minuten würde die Kontrolle der restlichen Talfahrt von den Technikern auf Sri Kanda übernommen werden. Kein Wunder, dass Morgan angespannt wirkte.

»Van«, sagte Maxine sanft, aber bestimmt über den Privatkanal: »Hören Sie auf, den Daumen zu lutschen. Sie sehen wie ein Baby aus.«

Morgan war zunächst ärgerlich, dann überrascht — aber schließlich entspannte er sich mit einem leicht verlegenen Lachen.

»Ich bedanke mich für die Warnung«, sagte er. »Ich möchte ungern mein öffentliches Image ruinieren.«

Bedauernd und belustigt zugleich musterte er den Daumen, an dem ein Glied fehlte. »Ha — der Ingenieur ist mit seiner eigenen Bombe in die Luft gegangen!«, lachten die selbsternannten Spötter, und es würde wohl noch eine Zeitlang dauern, bis sie sich wieder beruhigten. Hunderte von Malen hatte er andere gewarnt, zum Schluss aber war er selbst ein wenig zu sorglos gewesen und hatte sich mit einem Stück Hyperdraht, dessen Eigenschaften er demonstrieren wollte, ein Stück Finger abgeschnitten. Er hatte praktisch keinen Schmerz gespürt, und die ganze Sache war ohne Komplikationen abgelaufen. Eines Tages würde er etwas gegen die fehlende Daumenspitze unternehmen; aber gerade jetzt konnte er es sich einfach nicht leisten, sich eine ganze Woche lang an einen Organregenerator anschnallen zu lassen.

»Höhe zwo fünf null«, sprach eine ruhige, unpersönliche Stimme aus dem Kontrollstand. »Geschwindigkeit eins eins sechs null Meter pro Sekunde. Drahtspannung neunzig Prozent nominal. Fallschirm öffnet sich in zwei Minuten.«

Morgan war wieder so gespannt wie zuvor — und wachsam. Wie ein Boxer, dachte Maxine, der einen unbekannten, aber gefährlichen Gegner beobachtet.

»Wie ist die Windlage?«, bellte er.

Eine zweite Stimme antwortete, weitaus weniger unpersönlich als die erste:

»Ich kann es fast nicht glauben«, sagte sie in besorgtem Tonfall, »aber Monsun-Kontrolle hat soeben eine Sturmwarnung herausgegeben.«

»Wir haben keine Zeit für Späße!«

»Sie machen keinen Spaß; ich habe eben zurückgerufen.«

»Aber sie haben uns garantiert, dass es keine Böen von mehr als dreißig Kilometern pro Stunde geben wird!«

»Das haben sie soeben auf sechzig hinaufgesetzt — Moment: achtzig. Da muss irgendetwas schiefgegangen sein …«

»Das kann man wohl sagen«, murmelte Maxine Duval. Dann instruierte sie ihren Assistenten: »Mach dich unsichtbar — du darfst ihnen jetzt nicht im Weg stehen — aber lass dir nichts entgehen!« Sie überließ es dem Kameramann, mit diesen etwas widersprüchlichen Anweisungen fertigzuwerden, und schaltete auf ihren Informationskanal. In weniger als dreißig Sekunden ermittelte sie die meteorologische Station, die für das Wetter im Gebiet Taprobane verantwortlich war. Verärgert, aber nicht überrascht stellte sie fest, dass die Station zurzeit keine Anrufe aus der Öffentlichkeit entgegennahm.

Sie überließ es ihrem findigen Stab, dieses Hindernis zu umgehen, und schaltete zurück zum Berg. Sie war erstaunt, um wie viel sich die Lage selbst in diesen paar Augenblicken verschlechtert hatte.

Der Himmel war dunkler geworden, und die Mikrofone registrierten in der Ferne das noch undeutliche Rumoren des nahenden Sturmes. Maxine hatte derart abrupte Wetterumschläge auf hoher See erfahren und sich ihrer bei Schiffsrennen des Öfteren zu ihrem Vorteil bedient. Aber hier handelte es sich einfach um einen Fall von unglaublichem Pech. Sie empfand Mitgefühl für Morgan, dessen Träume und Hoffnungen Gefahr liefen, von diesem unplanmäßigen, von diesem unmöglichen Sturm davongeblasen zu werden.

»Höhe zwo null null. Sondengeschwindigkeit eins eins fünf zwo Meter pro Sekunde. Spannung fünfundneunzig Prozent des Nominalwerts.«

Die Spannung war also, in doppeltem Sinn, am Wachsen. Das Experiment konnte in dieser Phase nicht mehr abgebrochen werden. Morgan musste einfach weitermachen und das Beste hoffen. Maxine Duval hätte gerne zu ihm gesprochen; aber sie wusste, dass sie ihn in diesen Augenblicken nicht unterbrechen durfte.

»Höhe eins neun null. Geschwindigkeit eins eins null null. Spannung einhundertundfünf Prozent. Erster Fallschirm öffnet sich — JETZT!«

Damit war die Sonde der Erdatmosphäre ausgeliefert. Der geringe Treibstoffrest würde dazu verwendet werden, das Objekt in das Fangnetz am Berghang zu steuern. Die Kabel, die das Netz hielten, hatten unter der Wucht des auffrischenden Windes zu summen begonnen.

Morgan erschien plötzlich vor dem Kontrollstand und starrte in den Himmel hinauf. Dann wandte er sich um und blickte geradewegs in die Kamera.

»Was immer auch geschieht, Maxine«, sagte er langsam und mit Bedacht, »der Versuch ist jetzt bereits zu fünfundneunzig Prozent erfolgreich. Wir haben sechsunddreißigtausend Kilometer zurückgelegt, und es verbleiben weniger als zweihundert.«

Maxine Duval antwortete nicht. Sie begriff, dass Morgans Worte nicht für sie bestimmt waren, sondern für die Gestalt in dem komplizierten Rollstuhl unmittelbar neben dem Eingang zum Kontrollstand. Das Fahrzeug identifizierte den Fahrgast; nur ein Erdfremder bedurfte eines solchen Geräts. Die Medizin verstand es längst, alle Arten von Muskeldefekt zu heilen — die Physik tat sich mit der Gravitation wesentlich schwerer.

Wie viel Einfluss, wie viele Interessen sich in diesem Augenblick auf diesen Berggipfel konzentrierten! Wahre Naturkräfte — die Narodnij-Mars-Bank — die Autonome Nordafrikanische Republik — Vannevar Morgan (selbst eine ernstzunehmende Naturkraft) — und jene sanften, aber unversöhnlichen Mönche in ihrem windumtosten Horst.

Maxine Duval flüsterte ein paar Anweisungen an ihren Assistenten. Die Kamera bewegte sich aufwärts. Dort war der Gipfel, gekrönt von den blendend weißen Mauern des Tempels. Hier und dort sah Maxine hinter den Zinnen das leuchtende Orange von Roben, die im Wind flatterten. Sie hatte es nicht anders erwartet: die Mönche schauten zu.

Der Zoom brachte sie so nahe herbei, dass man einzelne Gesichter sehen konnte. Maxine war nie mit dem Maha Thero zusammengetroffen (ein Interview war höflich abgelehnt worden), aber sie war dennoch sicher, dass sie ihn erkennen würde. Der Priester ließ sich jedoch nirgendwo sehen. Womöglich befand er sich im Allerheiligsten und konzentrierte sein Bewusstsein auf geistige Exerzitien.

Maxine Duval war nicht sicher, ob Morgans Hauptgegner noch der naiven Praxis des Betens huldigte. Aber wenn er in der Tat um diesen unglaublichen Sturm gebetet hatte, so stand er im Begriff, erhört zu werden. Die Götter des Berges erwachten aus dem Schlaf.

Die letzte Strecke

Mit dem Fortschritt der Technologie wächst die Verwundbarkeit; je mehr der Mensch die Natur in die Gewalt bekommt, desto anfälliger wird er für künstliche Katastrophen. Die jüngste Geschichte beweist dies ausreichend, zum Beispiel: der Untergang von Marina City (2127), der Einsturz der Tycho-B-Kuppel (2098), das Abtreiben des Arabischen Eisbergs (2062) und das Schmelzen des Thor-Reaktors (2009). Wir dürfen sicher sein, dass die Liste in der Zukunft mit noch imposanteren Eintragungen fortgesetzt wird. Die womöglich erschreckendsten Aspekte der Entwicklung sind diejenigen, die psychologische, nicht nur technologische Faktoren enthalten. In der Vergangenheit bedrohte ein verrückt gewordener Bombenleger oder Heckenschütze nur eine Handvoll Menschen. Heutzutage würde es einem durchgedrehten Techniker nicht schwerfallen, eine ganze Stadt auszuradieren. Die Rettung in letzter Sekunde der O'Neill-Raumkolonie II im Jahre 2047 ist ein ausführlich dokumentiertes Beispiel solch mit Absicht herbeigeführter Katastrophen. Vorfälle dieser Art ließen sich — wenigstens theoretisch — durch sorgfältige Auslese und ausfallsichere Prozeduren verhindern, obwohl die Letzteren allzu oft nur dem ersten Teil ihres Namens Ehre machen.

Es gibt außerdem die überaus interessante, glücklicherweise jedoch sehr seltene Art der Entwicklung, bei der das betroffene Individuum sich in einer derart gehobenen Position befindet oder über solche Macht verfügt, dass niemand von seinem Tun erfährt, bevor es zu spät ist. Die Katastrophen, die von solch wahnsinnigen Genies (es scheint für sie keine treffendere Bezeichnung zu geben) herbeigeführt werden, sind oft weltweit in ihrer Auswirkung, wie zum Beispiel in A. Hitlers (1889–1945) Fall. In einer überraschend großen Zahl von Fällen wird über die Tätigkeit solcher Personen aufgrund einer Verschwörung des Schweigens der Öffentlichkeit nichts bekannt.

Ein klassisches Beispiel ist vor kurzem mit der sehnsüchtig erwarteten und immer wieder hinausgezögerten Veröffentlichung der Memoiren von Madame Maxine Duval ans Licht gekommen. Aber bis auf den heutigen Tag sind einige Aspekte des Falles noch teilweise unklar.

(Die Zivilisation und ihre Unzufriedenen: J. K. Golizin, Prag, 2175)


»Höhe eins fünf null, Geschwindigkeit fünfundneunzig — wiederhole: fünfundneunzig, Wärmeschild abgeworfen.«

Mithin war die Sonde sicher in die Atmosphäre eingedrungen und hatte sich ihrer überschüssigen Geschwindigkeit entledigt. Aber es war noch immer viel zu früh zum Applaudieren. Die Sonde musste nicht nur noch einhundertfünfzig vertikale Kilometer zurücklegen, sondern darüber hinaus dreihundert horizontale — und der heulende Sturm machte die Sache nicht eben leichter. Zwar besaß das Objekt noch einen kleinen Treibstoffrest, aber seine Bewegungsfreiheit war beschränkt. Wenn der Kontrolleur den Berg beim ersten Versuch verfehlte, würde er keine zweite Chance bekommen.

»Höhe eins zwo null. Bis jetzt keine atmosphärische Einwirkung.«

Die kleine Sonde ließ sich vom Himmel herab wie eine Spinne an ihrem Faden. Hoffentlich, dachte Maxine Duval, haben sie genug Draht. Wie furchtbar, wenn ihnen ein paar Kilometer vor dem Ziel der Draht ausginge! Tragödien solcher Art hatten sich vor dreihundert Jahren ereignet, als die ersten Unterseekabel verlegt wurden.

»Höhe acht null. Kurs nominal. Spannung einhundert Prozent. Leichte Luftreibung.«

Die obere Atmosphäre machte sich bemerkbar, wenn auch nur für die empfindlichen Messgeräte an Bord des winzigen Fahrzeugs.

Ein kleines, ferngesteuertes Teleskop war in der Nähe des Kontrollstands installiert worden und hatte inzwischen begonnen, dem Kurs der noch immer unsichtbaren Sonde zu folgen. Morgan schritt darauf zu, und Duvals Assistent folgte ihm wie ein Schatten.

»Schon was zu sehen?«, wisperte Duval ein paar Sekunden später. Morgan schüttelte ungeduldig den Kopf.

»Höhe sechs null. Abweichung nach links — Spannung einhundertundfünf Prozent — ich korrigiere: einhundertzehn.«

Noch weit unter der kritischen Grenze, dachte Maxine Duval. Aber der Ablauf der Ereignisse dort oben auf der anderen Seite der Stratosphäre begann sich zu beschleunigen. Morgan musste die Sonde jetzt schon sehen können …

»Höhe fünf fünf — ich gebe einen Zwei-Sekunden-Impuls für die Kurskorrektur.«

»Ich hab's!«, rief Morgan. »Ich kann die Flamme sehen!«

»Höhe fünf null. Spannung einhundertundfünf Prozent. Kurs ist schwer zu halten — Windstöße.«

Es war unvorstellbar, dass die kleine Sonde sechsunddreißigtausend Kilometer weit gekommen sein sollte, um jetzt auf den letzten fünfzig Kilometern steckenzubleiben. Wenn man aber bedachte: Wie viel Flugzeuge waren von ihrem Schicksal auf den letzten Metern ereilt worden?

»Höhe vier fünf. Starker Seitenwind. Verlässt den Kurs. Drei-Sekunden-Impuls.«

»Hab's verloren«, sagte Morgan ärgerlich. »Eine Wolke kam dazwischen.«

»Höhe vier null. Schwere Windstöße. Spannung erreicht einsfünfzig — ich wiederhole: einsfünfzig Prozent.«

Das war schlimm. Maxine wusste, dass die Beanspruchungsgrenze bei zweihundert Prozent lag. Ein kräftiger Ruck, und das Experiment war beendet.

»Höhe drei fünf. Wind wird schlimmer. Ein-Sekunden-Impuls. Treibstoff fast verbraucht. Spannungsspitze bei einssiebzig.«

Noch dreißig Prozent mehr, dachte Maxine, und selbst der Wunderdraht müsste zerreißen — wie jedes andere Material, dessen Zugbelastung überschritten wurde.

»Entfernung drei null. Turbulenz nimmt zu. Weite Abdrift nach links. Kann keine Kurskorrektur berechnen — die Bewegungen sind zu erratisch.«

»Ich hab's wieder!«, schrie Morgan. »Es ist durch die Wolken!«

»Entfernung zwo fünf. Nicht mehr genug Treibstoff, um das Ding zurück auf Kurs zu bringen. Schätze, wir landen rund drei Kilometer abseits.«

»Spielt keine Rolle!«, rief Morgan. »Setzen Sie ab, wo Sie können!«

»Wird gemacht. Entfernung zwo null. Windkräfte zunehmend. Stabilisierung geht zum Teufel. Ladung beginnt zu rotieren.«

»Bremse lockern — lassen Sie den Draht frei spulen!«

»Schon gemacht«, sagte die aufreizend ruhige Stimme. Maxine hätte sich unschwer ausmalen können, sie höre eine Maschine sprechen, wenn ihr nicht bekannt gewesen wäre, dass sich Morgan für diese Aufgabe ein Raumlotsen-As ausgeborgt hatte. »Fehlfunktion am Spuler. Ladung rotiert mit fünf Umdrehungen pro Sekunde. Draht wahrscheinlich verwickelt. Spannung eins acht null Prozent. Eins neun null. Zwei null null. Entfernung eins fünf. Spannung zwo eins null. Zwo zwo null. Zwo drei null.«

Das geht nicht mehr lange gut, dachte Maxine Duval. Nur noch fünfzehn Kilometer, und der verdammte Draht hatte sich in der rotierenden Sonde verfangen.

»Spannung null — wiederhole: null

Das war's! Der Draht war gerissen und bewegte sich in diesem Augenblick schon wieder schlangengleich sternenwärts. Ohne Zweifel würden ihn die Techniker von Ashoka wieder einholen, aber inzwischen hatte Maxine Duval genug von der Theorie begriffen, um zu verstehen, dass das Aufspulen eine langwierige und komplizierte Aufgabe war. Und die kleine Ladung würde irgendwo dort drunten in den Feldern und Dschungeln von Taprobane aufschlagen. Immerhin, wie Morgan gesagt hatte, war der Versuch zu mehr als fünfundneunzig Prozent erfolgreich. Beim nächsten Mal, wenn der Wind sich anständig verhielt …

»Da ist es!«, schrie jemand.

Zwischen zwei Wolkenschiffen, die den Himmel entlangsegelten, war ein glänzender Stern aufgeleuchtet. Er sah aus wie ein Meteor bei Tageslicht. Ironischerweise, als wolle sie ihre Konstrukteure verspotten, hatte die chemische Fackel, deren eigentliche Aufgabe gewesen wäre, die Navigation auf dem letzten Streckenabschnitt zu erleichtern, von selbst gezündet. Selbst damit erfüllte sie jedoch eine nützliche Funktion. Sie machte es einfacher, die abgestürzte Sonde zu finden.

Maxines Assistent schwenkte die Kamera so, dass sie den strahlenden Tagesstern an der Bergkuppe vorbeischießen und im Osten verschwinden sehen konnte. Nach ihrer Schätzung würde er in einer Entfernung von nicht mehr als fünf Kilometern zu Boden gehen. Dann sagte sie: »Gib mir Dr. Morgan. Ich möchte mit ihm sprechen.«

Sie hatte ein paar aufmunternde Bemerkungen machen wollen, laut genug, so dass der marsianische Bankier sie hören konnte. Sie hatte ihre Zuversicht zum Ausdruck bringen wollen, dass der nächste Versuch ein voller Erfolg sein werde. Sie war noch dabei, ihre kleine Ermunterungsrede abzufassen, als ein Ereignis eintrat, das sie ihr Vorhaben alsbald vergessen ließ. Von nun an würde sie sich das Geschehen der nächsten dreißig Sekunden im Geist immer wieder vorspielen, bis sie es auswendig kannte. Aber niemals würde sie sicher sein, dass sie es völlig verstand.

Des Königs Legionen

Vannevar Morgan war an Rückschläge gewöhnt. Er hoffte zuversichtlich, dass es sich bei diesem hier um einen von geringerer Bedeutung handelte. Seine eigentliche Sorge war, als er die Fackel jenseits der Bergschulter verschwinden sah, dass Narodnij Mars das Geld, das sie in den Versuch gesteckt hatte, als hinausgeworfen betrachten würde. Der scharfäugige Beobachter in dem komplizierten Rollstuhl war ausgesprochen schweigsam. Es schien, als habe die Schwerkraft der Erde seine Zunge ebenso gelähmt wie seine Glieder. Aber jetzt sprach er Morgan an, bevor dieser das Wort an ihn richten konnte.

»Nur eine Frage, Dr. Morgan. Ich verstehe, dass dieser Sturm unvorhersehbar war — aber er hat stattgefunden. Und er mag ein weiteres Mal stattfinden. Was geschieht, wenn ein solcher Sturm auftritt, während wir den Turm bauen?«

Morgans Verstand arbeitete fieberhaft. Es war unmöglich, in so kurzer Zeit eine präzise Antwort zu geben — und dazu litt er noch immer unter dem Schock des im letzten Augenblick misslungenen Experiments.

»Im schlimmsten Fall müssen wir die Arbeiten vorübergehend einstellen. Es könnte zu Spurverschiebungen kommen. In dieser Höhe gibt es keine Windkräfte, die der Turmstruktur selbst gefährlich werden könnten. Selbst unser Experimentierdraht wäre sicher gewesen, wenn wir ihn hätten verankern können.«

Er hoffte, eine angemessene Analyse gegeben zu haben; in ein paar Minuten würde Warren Kingsley ihn wissen lassen, ob er recht hatte oder nicht. Zu seiner großen Erleichterung antwortete der Marsianer, offenbar zufriedengestellt: »Danke, mehr wollte ich nicht wissen.«

Morgan jedoch bestand darauf, seinen Fall glasklar zu machen.

»Auf Mons Pavonis gäbe es ein solches Problem natürlich überhaupt nicht. Die Luftdichte dort beträgt nur ein Hundertstel …«

Es war Jahrzehnte her, dass er den Laut gehört hatte, der ihm in diesem Augenblick donnernd und brausend die Ohren füllte. Es war ein Ton, den niemand je hätte vergessen können. Sein dröhnender Klang drang mühelos über das Heulen des Sturmes hinweg und weckte in Morgan eine Erinnerung, die ihn halbwegs um die Erde trug, fort von dem sturmumtosten Berghang unter die Kuppeln der Hagia Sophia, wo er stand und in stummer, staunender Bewunderung das Werk von Menschen begutachtete, die sechzehnhundert Jahre vor seiner Zeit gestorben waren. Und in seinen Ohren rollte der Klang der mächtigen Glocke, die einst die Gläubigen zum Gebet gerufen hatte.

Die Erinnerung an Istanbul schwand dahin; er befand sich wieder auf dem Berg, verwirrter als zuvor.

Was hatte der Mönch ihm erzählt? Kalidasas unerwünschtes Geschenk hatte jahrhundertelang geschwiegen und erhob seine Stimme nur im Augenblick einer Katastrophe? Hier hatte es keine Katastrophe gegeben, aus dem Gesichtswinkel der Mönche eher das Gegenteil. Einen Augenblick lang zog Morgan in Erwägung, die Sonde könne innerhalb des Tempelgeländes abgestürzt sein. Aber nein — das war undenkbar. Sie war kilometerweit an der Bergspitze vorbeigeflogen. Außerdem war sie viel zu klein, als dass sie nennenswerten Schaden hätte anrichten können.

Er starrte zum Kloster hinauf, von wo die eherne Stimme der großen Glocke noch immer gegen den Sturm andröhnte. Die orangefarbenen Gewänder waren von den Zinnen verschwunden; die Mönche hatten sich zurückgezogen.

Irgendetwas berührte sanft seine Wange; er schüttelte es mit einer automatischen Kopfbewegung von sich. Selbst das Denken fiel ihm schwer, solange der mörderische Lärm die Luft erfüllte und auf sein Gehirn einhämmerte. Wahrscheinlich war es am besten, wenn er zum Tempel hinaufging und sich bei dem Maha Thero höflich erkundigte, was geschehen war.

Ein weiteres Mal spürte er die sanfte, seidenweiche Berührung auf der Wange, und diesmal sah er aus den Augenwinkeln einen gelben Farbfleck. Seine Reflexe waren schon immer schnell gewesen; er griff zu und verfehlte sein Ziel nicht.

Das Insekt lag zerdrückt in seiner Hand und hauchte unter Morgans Blick die letzten Sekunden seines kurzen Lebens aus. Morgan hatte das Empfinden, das Universum, das er kannte, sei am Zittern und habe begonnen, sich aufzulösen. Seine unglaubliche Niederlage hatte sich in einen noch unverständlicheren Sieg verwandelt. Er aber empfand keinen Triumph — nur Verwirrung und Staunen.

Er erinnerte sich jetzt an die Legende von den Goldenen Schmetterlingen. Vom Sturm getrieben, waren Hunderte, Tausende von ihnen den Berghang heraufgefegt worden, um auf dem Gipfel zu sterben. Kalidasas Legionen hatten endlich ihr Ziel erreicht — die Rache gehörte ihnen.

Exodus

»Was ist los?«, sagte Scheich Abdullah. Das, meinte Morgan zu sich selbst, ist eine Frage, die ich nie werde beantworten können. Aber er antwortete: »Der Berg gehört uns, Herr Präsident; die Mönche ziehen aus. Es ist unglaublich! Wie kann eine zweitausend Jahre alte Legende …?« Er schüttelte den Kopf in staunendem Unverständnis.

»Wenn genug Menschen an eine Legende glauben, wird sie Wirklichkeit.«

»Wahrscheinlich haben Sie recht. Aber an der Sache ist mehr als nur das — der gesamte Ablauf der Ereignisse erscheint so völlig unmöglich!«

»Das ist ein Wort, mit dem man vorsichtig umgehen sollte. Lassen Sie mich Ihnen eine kurze Geschichte erzählen. Ein lieber Freund, ein großer Wissenschaftler, inzwischen verstorben, versuchte des Öfteren, mich mit der Feststellung zu ärgern, dass Politik die Kunst des Möglichen sei und daher eine Anziehungskraft nur auf zweitrangige Geister ausübe. Die erstrangigen seien nämlich, so behauptete er, nur an dem Unmöglichen interessiert. Und wissen Sie, was ich darauf antwortete?«

»Nein«, sagte Morgan.

»Welch ein Glück, dass es unser so viele gibt — denn irgendjemand muss sich ja schließlich um den Lauf der Welt kümmern. Aber Spaß beiseite: Wenn wirklich das Unmögliche eingetreten ist, so sollten Sie es dankbar hinnehmen.«

Ich nehme es hin, dachte Morgan zögernd. Es ist etwas Fremdartiges um eine Welt, in der ein Milliarden von Tonnen schwerer Turm nur auf den Leibern von ein paar toten Schmetterlingen gebaut werden kann.

Und wie ironisch war die Rolle, die der Ehrwürdige Parakarma gespielt hatte, der sich jetzt gewiss wie eine Schachfigur in den Händen übelwollender Götter vorkam. Der Direktor der Monsun-Kontrolle war an Herz und Seele gebrochen, und Morgan hatte seine Entschuldigungen mit ungewöhnlicher Großmut entgegengenommen. Es war ihm nicht schwergefallen zu glauben, dass der geniale Dr. Choam Goldberg die Mikrometeorologie revolutioniert hatte, dass niemand seine Arbeiten wirklich begriff und dass er schließlich bei der Durchführung eines seiner Experimente das Opfer eines Nervenzusammenbruchs geworden war. Es würde kein zweites Mal vorkommen. Morgan hatte seine — durchaus aufrichtige — Hoffnung zur baldigen Genesung des Wissenschaftlers zum Ausdruck gebracht und mit dem Instinkt des Bürokraten, den er zusätzlich zu seinen Fähigkeiten als Techniker besaß, dem Direktor zu verstehen gegeben, dass er in Zukunft mit dem Entgegenkommen der Monsun-Kontrolle rechne. Der Direktor hatte sich mit Dankesversicherungen verabschiedet und sich ohne Zweifel darüber gewundert, dass er so leicht davongekommen war.

»Eine Frage aus Neugierde«, sagte der Scheich: »Wohin ziehen die Mönche um? Ich könnte ihnen unsere Gastfreundschaft anbieten. Unsere Kultur hat stets andere Glaubensrichtungen willkommen geheißen.«

»Ich weiß es nicht, und selbst Botschafter Radschasinghe hat keine Ahnung. Als ich ihn danach fragte, sagte er: Es wird ihnen nicht schlechtgehen. Ein Orden, der seit dreitausend Jahren ein frugales Leben zelebriert, kann nicht eben arm sein.«

»Hmm. Vielleicht könnten wir ein wenig von ihrem Reichtum gebrauchen. Ihr Projekt wird jedes Mal, wenn wir zusammentreffen, um einen Sprung teurer.«

»Nicht wirklich, Herr Präsident. Die jüngste Schätzung enthält einen reinen Buchhalterposten für Arbeiten im erdfernen Raum, für deren Finanzierung Narodnij Mars sich inzwischen zur Verfügung gestellt hat. Sie finden für uns einen Kohlenstoff enthaltenden Asteroiden und bugsieren ihn in eine Erdumlaufbahn. Sie verstehen davon wesentlich mehr als wir, und wir bekommen damit die Lösung eines unserer größten Probleme geschenkt.«

»Und was ist mit dem Kohlenstoff für ihren eigenen Turm?«

»Sie haben unbegrenzte Vorkommen auf Deimos — genau dort, wo sie sie brauchen. Narodnij vermisst derzeit alle in Frage kommenden Abbauorte. Die eigentliche Fertigung wird jedoch abseits von Deimos stattfinden müssen.«

»Darf ich fragen warum?«

»Wegen der Schwerkraft. Selbst Deimos hat ein paar Zentimeter pro Sekunde im Quadrat. Hyperdraht kann nur unter vollkommenen Null-g-Bedingungen hergestellt werden. Auf andere Weise kann eine perfekte Kristallstruktur von ausreichender Länge nicht garantiert werden.«

»Ich danke Ihnen, Van. Begebe ich mich in Gefahr, wenn ich frage, warum Sie den grundlegenden Entwurf abgeändert haben? Mir gefiel Ihr Bündel von vier Röhren — zwei auf- und zwei abwärts. Unter einer herkömmlichen U-Bahn konnte ich mir etwas vorstellen — selbst wenn sie um neunzig Grad geschwenkt war.«

Nicht zum ersten Mal — und sicher nicht zum letzten — war Morgan überrascht von der Sicherheit, mit der der alte Mann sein Gedächtnis handhabte, und seinem Verständnis für das Detail. Bei ihm durfte man niemals etwas als selbstverständlich voraussetzen. Seine Fragen entstammten zwar manchmal reiner Neugierde — der spitzbübischen Neugierde eines Mannes, der seiner selbst so sicher war, dass er auf seine Würde keine Rücksicht zu nehmen brauchte —, aber er vergaß nichts, was auch nur von der geringsten Bedeutung war.

»Unsere anfänglichen Pläne waren zu sehr erdorientiert. Wir verhielten uns etwa so wie die ersten Automobilbauer, die immerfort pferdelose Wagen produzierten. Unser neuer Entwurf sieht einen quadratischen Turm vor, auf dessen Seiten vier Fahrspuren verlaufen. Stellen Sie sie sich als vier vertikale Eisenbahnen vor. Am oberen Ende misst der Turm vierzig Meter pro Seite, am erdseitigen Ende nur noch zwanzig.«

»Wie ein Stalag… Stalak…«

»Stalaktit, ja. Vom Standpunkt des Ingenieurs aus wäre der Eiffelturm eine brauchbare Analogie — auf den Kopf gestellt und hunderttausendmal in die Länge gezogen.«

»So viel?«

»Ungefähr.«

»Schön. Ich nehme an, es gibt kein Naturgesetz, das besagt, dass man einen Turm nicht nach unten hängen lassen kann.«

»Wir haben auch einen, der aufwärts strebt, erinnern Sie sich? Von der Masseverankerung im Synchronorbit nach draußen. Damit die Struktur stets unter angemessener Spannung steht.«

»Und die Station Mitte? An der haben Sie doch hoffentlich nichts geändert?«

»Nein. Sie befindet sich noch immer am selben Platz — in fünfundzwanzigtausend Kilometern Höhe.«

»Gut. Ich weiß, ich werde sie nie zu Gesicht bekommen; aber ich male es mir gerne aus …« Er murmelte auf arabisch. »Wir haben auch eine Legende, müssen Sie wissen. Die von Mohammeds Sarg, der zwischen Himmel und Erde schwebt — genau wie die Station Mitte.«

»Wir werden dort einen Empfang für Sie veranstalten, Herr Präsident, wenn wir den Turm einweihen.«

»Selbst wenn Sie Ihren Terminplan einhielten — und ich muss zugeben, dass Sie ihn beim Bau der Brücke nur um ein Jahr überzogen —, wäre ich bis dahin achtundneunzig. Nein, ich glaube nicht, dass ich es schaffen werde.«

Aber ich, dachte Vannevar Morgan. Denn jetzt weiß ich, dass die Götter auf meiner Seite sind — was immer Götter sein mögen.

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