V — Der Aufstieg

Ein Ort der schweigenden Stürme

(Auszug aus Professor Martin Sessuis Ansprache aus Anlass der Verleihung des Nobel-Preises, Stockholm, 16. Dezember 2154.)


Zwischen Himmel und Erde liegt eine unsichtbare Region, von der sich die Philosophen des Altertums nicht träumen ließen. Erst zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts — am 12. Dezember 1901, um genau zu sein — begann sie, auf die Geschäfte des Menschen Einfluss zu nehmen.

An diesem Tag funkte Guglielmo Marconi die drei Punkte des Morsebuchstabens »S« über den Atlantik hinweg. Viele Experten hatten dieses Vorhaben von vornherein als unmöglich bezeichnet, da sich elektromagnetische Wellen nur geradlinig bewegten und nicht in der Lage waren, der Krümmung der Erdoberfläche zu folgen. Marconis Triumph läutete nicht nur das Zeitalter der globalen Kommunikation ein, sondern bewies überdies, dass es irgendwo in der Atmosphäre einen elektrifizierten Spiegel gibt, der Radiowellen zur Erde zurück reflektiert.

Die Kennelly-Heaviside-Schicht, wie sie ursprünglich genannt wurde, entpuppte sich alsbald als eine Region komplexen Aufbaus. Sie bestand, so entdeckte man, aus mindestens drei Unterschichten, die in Höhe und Intensität starken Schwankungen unterworfen sind. An ihrer oberen Grenze verschmelzen sie mit dem Van-Allen-Strahlungsgürtel, dessen Entdeckung den ersten Triumph des frühen Raumfahrtzeitalters darstellte.

Dieser weite Gürtel, der von fünfzig Kilometern bis zu einer Höhe von mehreren Erdradien hinausreicht, wird heutzutage als Ionosphäre bezeichnet. Seine Erforschung durch Raketen, Satelliten und Radiowellen ist ein kontinuierlicher Prozess, der seit nunmehr über zweihundert Jahren anhält. Ich möchte an dieser Stelle meiner Vorgänger in der ionosphärischen Forschung gedenken — der Amerikaner Tuve und Breit, des Engländers Appleton, des Norwegers Stornier und besonders des Mannes, der 1970 denselben Preis gewann, den ich heute zu erhalten die Ehre habe, Ihres Landsmannes Hannes Alfvén …

Die Ionosphäre ist das eigenwillige Kind der Sonne. Selbst bis auf den heutigen Tag ist ihr Verhalten nicht immer vorhersehbar. In den Tagen, in denen der Langstreckenfunk auf das Wohlverhalten der Ionosphäre angewiesen war, rettete sie viele Menschenleben — aber mehr Leben, als wir je erfahren werden, wurden verloren, weil verzweifelte Hilferufe in der elektrifizierten Schicht spurlos verschwanden.

Weniger als ein Jahrhundert hindurch, bis zur Ankunft der Kommunikationssatelliten, war die Ionosphäre unser unbezahlbarer, aber nicht immer zuverlässiger Diener. Für die drei Generationen, die ihn ausbeuteten, betrug sein Wert zahllose Milliarden Dollar.

Die Ionosphäre war also nur für kurze Zeit von Bedeutung für die Menschheit. Und doch wären wir, wenn sie nie existiert hätte, nicht hier. In diesem einen Sinn also war sie von lebenswichtiger Bedeutung selbst für den prä-technischen Menschen, bis zurück zum ersten Affenmenschen — ja, bis zurück zu den ersten Lebensmechanismen auf diesem Planeten. Denn die Ionosphäre ist ein Teil des Schildes, der uns vor der tödlichen Röntgen- und Ultraviolettstrahlung der Sonne beschützt. Wenn sie bis zum Meeresniveau hätte durchdringen können, so wäre vielleicht trotzdem Leben auf der Erde entstanden. Aber es hätte daraus nichts hervorgehen können, was uns auch nur entfernt ähnlich sähe.

Weil die Ionosphäre ebenso wie die Atmosphäre von der Sonne kontrolliert wird, besitzt auch sie ihr Wetter. Wenn auf der Sonne Störungen auftreten, dann brausen planetenumspannende Stürme aus geladenen Teilchen auf sie ein, und das Magnetfeld der Erde zerrt sie in Schleifen und Trichter. Bei solchen Gelegenheiten verliert sie ihre Unsichtbarkeit. Sie enthüllt sich uns in den leuchtenden Vorhängen des Nordlichts, eines der ehrfurchterweckendsten Schauspiele der Natur, das die kalte Polarnacht mit seinem unwirklichen Glanz erfüllt.

Selbst heute verstehen wir noch längst nicht alle Prozesse, die sich innerhalb der Ionosphäre abspielen. Unsere Studien werden dadurch erschwert, dass Forschungsraketen und -satelliten sich mit Geschwindigkeiten von Tausenden von Kilometern pro Stunde bewegen; es war uns niemals möglich, einfach stillzustehen und an einem festen Ort längerdauernde Untersuchungen durchzuführen. Jetzt, zum ersten Mal, bietet uns der Bau des geplanten Orbital-Turms die Möglichkeit, feste Observatorien in der Ionosphäre einzurichten. Es ist natürlich auch möglich, dass der Turm allein durch seine Existenz die Eigenschaften der Ionosphäre beeinflusst. Einen Kurzschluss aber, wie Dr. Bickerstaff uns einreden will, wird er mit Sicherheit nicht herbeiführen.

Man mag fragen, warum wir uns die Mühe machen, die Ionosphäre weiterhin zu erforschen, da sie doch für die Kommunikation nicht mehr von Bedeutung ist. Nun, ganz abgesehen von ihrer Schönheit, ihrer Fremdartigkeit und ihrer rein wissenschaftlichen Anziehungskraft, ist ihr Verhalten unmittelbar mit dem der Sonne, der Herrin unseres Schicksals, verbunden. Wir wissen heute, dass die Sonne nicht der stets gleichbleibende, wohlerzogene Stern ist, an den unsere Vorfahren glaubten. Die Sonne ist kurzzeitigen ebenso wie langzeitigen Schwankungen unterworfen. Gegenwärtig erholt sie sich noch immer von dem sogenannten Maunder-Minimum der Jahre 1645 bis 1715, in dessen Folge das Erdklima weitaus milder wurde, als es seit dem frühen Mittelalter je gewesen war. Aber wie lange wird diese Erwärmung andauern? Wann kommt der unvermeidliche Umkehrpunkt, und welche Folgen haben wir für das Klima, das Wetter und sämtliche anderen Aspekte der menschlichen Zivilisation zu gewärtigen? Nicht nur auf diesem Planeten, sondern ebenso auch auf den anderen! Denn sie sind allesamt Kinder der Sonne …

Einige sehr spekulative Theorien besagen, dass die Sonne im Begriff ist, in eine Periode der Instabilität einzutreten, die eine neue Eiszeit herbeiführen kann — umfassender als alle aus der Vergangenheit bekannten. Wenn diese Theorien sich als richtig erweisen, dann benötigen wir auch das letzte kleine bisschen Information, um unsere Vorbereitungen zu treffen. Selbst wenn wir ein Jahrhundert zuvor gewarnt werden, mag uns die Zeit nicht ausreichen.

Die Ionosphäre hat bei unserer Erschaffung Pate gestanden; sie schuf die weltweite Nachrichtenrevolution; es mag durchaus in ihrer Macht liegen, auch unser weiteres Schicksal zu kontrollieren. Aus diesem Grund ist es notwendig, dass wir fortfahren, diesen weiten und turbulenten Bereich solarer und elektrischer Kräfte zu studieren — diesen geheimnisvollen Ort der schweigenden Stürme.

Die verwundete Sonne

Als Morgan seinen Neffen Dev zum letzten Mal gesehen hatte, war er ein kleines Kind gewesen. Inzwischen war er zu einem Jungen von über zehn Jahren herangewachsen, und beim nächsten Mal, wenn es so weiterging, würde er erwachsen sein.

Morgan empfand darob kein Schuldgefühl. Das Auflockern der Familienbande war eine Tendenz, die nun schon zweihundert Jahre lang anhielt. Mit seiner Schwester hatte er wenig mehr gemein als den genetischen Zufall der Abstammung. Mehrmals im Jahr sprachen sie miteinander über belanglose Dinge oder tauschten Grüße aus; aber er konnte sich nicht einmal daran erinnern, wann er zum letzten Mal mit ihr zusammengetroffen war.

Als er aber dem aufgeweckten, intelligenten Jungen (der von seinem berühmten Onkel keineswegs übermäßig beeindruckt zu sein schien) die Hand schüttelte, da empfand er ein eigenartiges, bittersüßes Bedauern. Er besaß keinen Sohn, der den Familiennamen hätte weitertragen können. Schon vor langer Zeit hatte er jene unwiderrufliche Wahl zwischen Arbeit und Leben getroffen, die sich auf den höchsten Ebenen menschlichen Daseins selten vermeiden lässt. Bei drei Gelegenheiten — die Verbindung mit Ingrid nicht eingerechnet — hätte er einen anderen Weg einschlagen können; Zufall oder Ehrgeiz hatten ihn jedoch stets davon abgehalten.

Er kannte die Folgen der Entscheidung, die er getroffen hatte und akzeptierte sie. Er hatte einen Vertrag mit dem Schicksal geschlossen, und jetzt war es zu spät, sich über das Kleingedruckte zu beschweren. Jedermann konnte Gene mischen, und die meisten taten es auch. Aber ob er darüber nun in die Geschichte eingehen würde oder nicht: Wenige Menschen hätten vollbringen können, was er vollbracht hatte — und noch zu vollbringen im Begriff stand.

In den vergangenen Stunden hatte Dev weitaus mehr von der Erdstation zu sehen bekommen, als den üblichen Besuchergruppen hochgestellter Persönlichkeiten gezeigt wurde. Er war vom Fuß des Berges den fast fertigen Schacht zur Südstation emporgefahren und hatte dort die Passagier- und Gepäckfertigungsanlagen, das Kontrollzentrum und die Rangierhalle besichtigt, in der die Fahrzeuge von der östlichen oder westlichen Abwärtsspur auf die nördliche oder südliche Aufwärtsspur umgesetzt wurden. Er hatte den kilometerlangen Schacht hinaufgeblickt — der nach der Art eines gigantischen Kanonenrohrs direkt auf die Sterne gerichtet war, wie etliche hundert Reporter den Anblick beschrieben hatten — durch den die Fahrzeugkapseln hinauf- und herabschweben würden. Mit seinen Fragen hatte er insgesamt drei Führer an den Rand der Erschöpfung gebracht, bis ihn der letzte schließlich dankbar und erleichtert seinem Onkel übergab.

»Hier hast du ihn, Van«, sagte Warren Kingsley, als sie per Expressaufzug den amputierten Berggipfel erreichten. »Nimm ihn mir ab, bevor er sich um meinen Posten bewirbt.«

»Ich wusste nicht, dass Technik dich so interessiert, Dev.«

Der Junge machte ein beleidigtes Gesicht und wirkte zugleich ein wenig überrascht. »Erinnerst du dich nicht an den Meccamax Baukasten Nr. 12, den du mir zu meinem zehnten Geburtstag geschenkt hast?«

»Natürlich, natürlich. Das war nicht im Ernst gemeint.« (Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Er hatte den Baukasten nicht wirklich vergessen, die Erinnerung war ihm nur zeitweise abhanden gekommen.) »Ist es dir nicht kalt hier oben?« Anders als die Erwachsenen hatte der Junge auf die übliche leichte Thermohülle verzichtet.

»Nein, mir ist nicht kalt. Was für ein Flugzeug ist das dort? Wann wirst du den Schacht öffnen? Kann ich die Bänder anfassen?«

»Weißt du jetzt, was ich meine?«, grinste Kingsley.

»Erstens: Das ist Scheich Abdullahs Sondermaschine, sein Sohn Feisal ist hier auf Besuch. Zweitens: Wir lassen den Deckel auf der Schachtöffnung, bis der Turm hier ankommt; wir brauchen ihn als eine Arbeitsplattform, außerdem hält er den Regen ab. Drittens: Du kannst die Bänder ruhig anfassen — halt, nicht rennen — das ist ungesund in dieser Höhe!«

»Nicht, wenn man zwölf ist, meine ich«, sagte Kingsley, wobei er dem dahineilenden Dev nachblickte. Sie folgten ihm langsamer und holten ihn beim Ostanker wieder ein.

Der Junge musterte, wie so viele Tausende es vor ihm getan hatten, das schmale, mattgraue Band, das sich geradewegs aus dem Boden erhob und senkrecht in den Himmel hinaufstieg. Sein Blick folgte ihm höher und immer höher, bis er den Kopf so weit in den Nacken gebeugt hatte, wie es eben ging. Morgan und Kingsley taten es ihm nicht nach, obwohl die Versuchung, selbst nach all den Jahren, noch immer groß war. Sie warnten Dev auch nicht, dass manche Besucher von solchen Verrenkungen schwindlig wurden und ohne Hilfe nicht mehr gehen konnten.

Dem Jungen aber machte das nichts aus. Er starrte fast eine Minute lang zum Zenit hinauf, als könne er jenseits des blauen Himmels die Tausende von Menschen und die Millionen Tonnen von Material sehen, die an dem Bau des Turmes beteiligt waren. Dann machte er eine Grimasse, schloss ein paar Sekunden lang die Augen, schüttelte den Kopf und blickte schließlich hinab auf seine Stiefelspitzen, um sich zu überzeugen, dass er sich nach wie vor auf der harten, zuverlässigen Oberfläche der Erde befand.

Vorsichtig streckte er die Hand aus und berührte das schmale Band, das den Planeten mit seinem neuen Satelliten verband.

»Was würde passieren, wenn es entzweirisse?«, fragte er.

Es war eine oft gestellte Frage. Die Antwort überraschte die meisten.

»So gut wie gar nichts. Es existiert praktisch keine Spannung. Wenn du es durchschnittest, würde es einfach da hängen und im Wind wehen.«

Kingsley machte ein Gesicht, als hätte er in etwas Bitteres gebissen. Sie wussten beide, dass diese Äußerung die Lage einfacher darstellte, als sie wirklich war. Gegenwärtig stand jedes der vier Bänder unter einer Belastung von einhundert Tonnen — aber das war nichts im Vergleich zu der geplanten Belastung, die sie absorbieren würden, wenn das System in Betrieb und die Bänder in die Struktur des Turmes integriert waren. Es gab allerdings wenig Anlass, den Jungen mit solchen Einzelheiten zu verwirren.

Dev dachte über das Gehörte nach; dann schnippste er den Finger gegen das Band, als erwarte er, dass es daraufhin einen klingenden Ton von sich geben werde. Das Band aber antwortete lediglich mit einem kurzen und wenig eindrucksvollen »Klick«.

»Wenn du mit einem Vorschlaghammer daraufhaust«, sagte Morgan, »und zehn Stunden lang wartest, dann kannst du das Echo von der Station Mitte hören.«

»Jetzt nicht mehr«, sagte Kingsley. »Die Dämpfung ist zu stark.«

»Verdirb uns den Spaß nicht, Warren. Komm her und sieh dir das an!«

Sie schritten bis zum Mittelpunkt der kreisförmigen Metallscheibe, die das Gipfelplateau bedeckte und den Schacht wie ein mächtiger Topfdeckel verschloss. Dort, gleich weit von den vier Bändern entfernt, deren Aufgabe es war, den Turm sicher zur Erde zu geleiten, stand eine kleine Hütte, die womöglich noch provisorischer aussah als die Oberfläche, auf der sie sich erhob. In ihr befand sich ein ausgefallen wirkendes Teleskop, das senkrecht nach oben justiert war und offenbar in keine andere Richtung geschwenkt werden konnte.

»Jetzt ist die beste Zeit zum Beobachten, kurz vor Sonnenuntergang. Da wird die Unterseite des Turmes kräftig angestrahlt.«

»Weil wir gerade von der Sonne sprechen«, sagte Kingsley: »Sieh sie dir an! Man sieht es noch deutlicher als gestern.« Es klang fast wie Furcht in seiner Stimme, als er auf die strahlende, flacher werdende Scheibe deutete, die sich im Dunst des Westens zum Untergehen anschickte. Der Nebel entlang des Horizonts hatte ihre Helligkeit so weit gedämpft, dass man sie geradewegs anblicken konnte.

Seit mehr als hundert Jahren hatte es derart massive Sonnenflecken nicht mehr gegeben. Sie erstreckten sich über die Hälfte der goldenen Scheibe und verliehen der Sonne den Anschein, als sei sie von einer gefährlichen Krankheit befallen oder von abstürzenden Planeten durchbohrt worden. Aber nicht einmal der mächtige Jupiter hätte derartige Wunden auf der Oberfläche der Sonne erzeugen können. Der größte Fleck durchmaß 250.000 Kilometer und hätte hundert Erden mühelos verschlingen können.

»Man hat für heute Nacht bedeutende Nordlichtaktivität vorausgesagt. Professor Sessui und seine tapferen Streiter haben sich die richtige Zeit ausgesucht.«

»Mal sehen, wie es ihnen geht«, sagte Morgan und nahm dabei eine Einstellung am Okular des Teleskops vor. »Schau hinauf, Dev.«

Der Junge blickte eine Zeitlang voller Spannung durch das Glas, dann sagte er: »Ich sehe die vier Bänder — bis sie verschwinden.«

»Nichts in der Mitte?«

Dev antwortete nicht sofort. »Nein. Keine Spur vom Turm.«

»Richtig! Sein unteres Ende hängt sechshundert Kilometer über uns, und das Teleskop ist auf geringste Vergrößerung eingestellt. Ich bringe dich jetzt näher heran. Sitzgurt anschnallen!«

Dev lachte über die alte Redewendung, die ihm aus historischen Dramen bekannt war. Zunächst änderte sich das Bild nicht, wenn man davon absah, dass die vier Bänder ein wenig unschärfer wurden. Er brauchte ein paar Sekunden, um zu verstehen, dass auch wirklich keine Veränderung zu erwarten war. Während sein Blickpunkt unter der Einwirkung des Zoom in die Höhe raste, bot sich ihm stets derselbe Anblick des Bänderquartetts dar.

Plötzlich aber tauchte er auf, der Turm, und sein Anblick überraschte den Jungen, obwohl er ihn erwartet hatte. Ein winziger, heller Punkt war genau in der Mitte des Blickfelds entstanden; er nahm an Ausdehnung zu, während die Vergrößerung des Teleskops kontinuierlich wuchs, und Dev hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass er sich wirklich bewege.

Ein paar Augenblicke später hatte sich der Punkt zu einem Kreis gewandelt — nein, Augen und Gehirn mussten sich erst aufeinander abstimmen: zu einem Quadrat. Dev blickte senkrecht zur Unterseite des Turmes hinauf, der längs der stützenden Bänder mit einer Geschwindigkeit von ein paar Kilometern pro Tag auf die Erde zukroch. Die Bänder waren jetzt nicht mehr sichtbar, ihr Umfang zu gering, als dass man sie aus dieser Entfernung noch hätte ausmachen können. Aber das Quadrat, das auf magische Weise inmitten des Himmels hing, fuhr fort zu wachsen, wenn auch seine Ränder unter dem Einfluss der extremen Vergrößerung allmählich unscharf wurden.

»Was siehst du?«, erkundigte sich Morgan.

»Ein helles kleines Quadrat.«

»Gut — das ist die Unterseite des Turmes, die noch voll von der Sonne angestrahlt wird. Wenn es hier unten dunkel wird, kann man das Ding noch eine Stunde lang mit unbewaffnetem Auge sehen, bis es in den Erdschatten eintritt. Was siehst du sonst noch?«

»Nichts …«, antwortete der Junge, nachdem er eine Zeitlang die Augen angestrengt hatte.

»Du solltest aber. Eine Gruppe von Wissenschaftlern befindet sich am unteren Ende des Turmes und baut dort Messgeräte auf. Sie sind gerade von der Station Mitte herabgekommen. Wenn du scharf hinsiehst, erkennst du ihren Transporter — er sitzt auf der Südspur — das wäre auf der rechten Seite des Bildes. Versuche, ob du einen hellen Fleck erkennen kannst, etwa ein Viertel so groß wie der Turm.«

»Es tut mir leid, Onkel — ich kann's nicht finden. Schau du hindurch!«

»Kann sein, dass die Sichtverhältnisse sich verschlechtert haben. Manchmal verschwindet der Turm völlig, obwohl die Atmosphäre klar …«

Noch bevor Morgan durch das Okular blicken konnte, das Dev ihm bereitwillig überließ, gab sein kleiner Empfänger zwei schrille Pfeiftöne von sich. Eine Sekunde später sprach Kingsleys Gerät auf dieselbe Weise an.

Es war das erste Mal, dass der Turm vollen Katastrophenalarm gab.

Das Ende der Strecke

Kein Wunder, dass man sie die »Transsibirische Eisenbahn« nannte: Selbst die nahezu antriebslose Abwärtsfahrt von der Station Mitte zur Basis des Turmes dauerte fünfzig Stunden.

Eines Tages würde sie nur fünf Stunden dauern; aber dieser Tag lag vorläufig noch zwei Jahre weit in der Zukunft. Die Spuren würden dann mit Energie beschickt und ihre Magnetfelder aktiviert werden. Die Untersuchungs- und Instandhaltungsfahrzeuge, die dieser Tage an den Wänden des Turmes entlang auf- und abwärts fuhren, bewegten sich auf altmodischen, bereiften Rädern, die im Führungsschlitz der Spur verankert waren. Solch ein System konnte mit nicht mehr als fünfhundert Kilometern pro Stunde betrieben werden.

An Bord dieses Transporters jedoch war jedermann viel zu sehr beschäftigt, als dass Langeweile hätte aufkommen können. Professor Sessui und seine drei Studenten waren dauernd entweder am Beobachten oder am Untersuchen ihrer Messgeräte. Sie wollten durch ihre Vorbereitungen erreichen, dass keine Sekunde mehr verlorenging, sobald sie das Ziel der Reise erreichten und in den Turm umstiegen. Der Fahrer der Transportkapsel, sein technischer Assistent und der eine Kabinenstewart, die zusammen die Besatzung des Transporters ausmachten, waren ebenfalls voll beschäftigt, denn dies war keine Routinefahrt. Niemand hatte »dem Keller«, fünfundzwanzigtausend Kilometer unterhalb der Station Mitte und in diesem Augenblick noch sechshundert Kilometer von der Erdoberfläche entfernt, je einen Besuch abgestattet. Es hatte keinen Anlass dazu gegeben, da von den dort installierten Monitorgeräten stets nur Anzeigen geliefert wurden, die darauf hinwiesen, dass alles in Ordnung war. Es hätte dort auch gar nichts schiefgehen können; denn der Keller war weiter nichts als eine künstlich unter Druck gesetzte Kammer von fünfzehn Metern im Geviert — eine der Dutzende von Notunterkünften, die längs des Turmes angebracht waren.

Professor Sessui hatte all seinen nicht unerheblichen Einfluss benutzt, um die Benutzung dieses einzigartigen Beobachtungsorts zugestanden zu bekommen, der sich jetzt mit einer Geschwindigkeit von zwei Kilometern pro Tag durch die Ionosphäre auf sein Rendezvous mit der Erde zubewegte. Es sei essentiell, so hatte der Professor mit Macht argumentiert, dass alles wissenschaftliche Gerät noch vor dem gegenwärtigen Sonnenfleckenmaximum installiert wurde.

Die Aktivität der Sonne war schon jetzt von nie zuvor beobachteter Intensität. Sessuis junge Assistenten hatten es mitunter schwer, sich auf ihre Instrumente zu konzentrieren; die phantastischen Nordlichterscheinungen, die sich außerhalb des Transporters abspielten, lenkten sie ab. Stunde um Stunde war der Himmel über den beiden Erdhalbkugeln von wabernden Vorhängen und Bändern bevölkert, die ein herrliches, atemberaubend schönes grünes Licht ausstrahlten — und dennoch nur ein matter Abglanz des himmlischen Feuerwerks waren, das sich unmittelbar über den Polen abspielte. Es war äußerst selten, dass die Aurora sich so weit von ihren angestammten Gefilden entfernte. Höchstens einmal alle paar Generationen drang sie in die Himmel über dem Äquator vor.

Sessui trieb seine Studenten zur Arbeit an und ermahnte sie, sie hätten zum Beobachten und Staunen während der mühseligen Rückfahrt zur Station Mitte noch genug Zeit. Man sah indes, dass mitunter der Professor selbst minutenlang am Beobachtungsfenster stand und sich vom Schauspiel des brennenden Himmels fesseln ließ.

Jemand hatte das Unternehmen eine »Expedition zur Erde« genannt. Was die Entfernung anging, so war der Name zu achtundneunzig Prozent gerechtfertigt. Während sich die Transportkapsel mit armseligen 500 km/h an der Wand des Turmes abwärtsbewegte, machte sich die Nähe des Planeten in der Tiefe immer deutlicher bemerkbar. Die Schwerkraft nahm allmählich zu — von der angenehmen, sublunaren Leichtgewichtigkeit in der Station Mitte bis fast zum vollen Erdwert.

Abgesehen von Beschwerden über den Proviant, die der überarbeitete Stewart mit stoischer Ruhe hingenommen hatte, war die Fahrt völlig ereignislos verlaufen. Einhundert Kilometer über dem Keller waren die Bremsen sanft angesetzt und die Geschwindigkeit auf die Hälfte reduziert worden. In fünfzig Kilometern Höhe wurde abermals auf halbe Fahrt gebremst — das war, nachdem einer der Studenten bemerkt hatte: »Wäre es nicht eine Blamage, wenn wir über das Ende der Strecke hinausschössen?«

Der Fahrer (er bestand auf dem Titel »Pilot«) erwiderte ärgerlich, dies sei unmöglich, da die Spur, auf der sich die Kapsel bewegte, etliche Meter vor der Unterseite des Turmes aufhörte; es gab außerdem ein mit viel Sorgfalt entworfenes Puffersystem — nur für den Fall, dass alle vier voneinander unabhängigen Bremssysteme versagten. Und jedermann stimmte mit ihm überein, dass der Witz nicht nur absolut lächerlich, sondern obendrein auch äußerst geschmacklos sei.

Der Meteor

Die riesige künstliche Wasserfläche, seit zweitausend Jahren als Paravanas Meer bekannt, lag ruhig und friedlich unter dem steinernen Blick ihres Erschaffers. Obwohl dieser Tage nur noch wenige kamen, um die einsame Statue von Kalidasas Vater zu besuchen, hatte sein Werk, wenn auch nicht sein Ruhm, das seines Sohnes überlebt. Und es hatte dem Land unvergleichlich bessere Dienste geleistet, indem es hundert Menschengenerationen mit Nahrung und Trinkwasser versorgte, und Tausende von Generationen von Vögeln, Hirschen, Büffeln, Affen und solchen Tieren, die auf sie Jagd machten, wie etwa den schlanken, aber wohlgenährten Leoparden, der am Rand des Wassers zur Tränke gekommen war. Diese großen Katzen wurden immer zahlreicher und entwickelten sich jetzt, da sie vor Jägern sicher waren, allmählich zu einer Plage. Menschen fielen sie allerdings niemals an, es sei denn, man belästigte sie oder trieb sie in die Enge.

Seiner Sicherheit bewusst, trank der Leopard langsam und genussvoll, während die Schatten rings um den See länger wurden und die Dämmerung sich vom Osten her näherte. Plötzlich richtete er die Ohren auf und wurde mit einem Schlag wachsam. Menschliches Wahrnehmungsvermögen hätte keine Veränderung wahrnehmen können. Der Abend war so ruhig wie zuvor.

Dann aber kam direkt aus dem Zenit ein dünnes Pfeifen, das stetig anschwoll und zu einem donnernden Dröhnen mit schreienden und kreischenden Untertönen wurde und gänzlich anders klang als die üblichen Geräusche eines zur Erde zurückkehrenden Raumfahrzeugs. Hoch droben im Himmel schimmerte etwas metallisch in den letzten Sonnenstrahlen, wurde immer größer und zog einen Rauchstreifen hinter sich her. Während es sich ausdehnte, zerfiel es. Stücke, manche brennend, schossen nach allen Richtungen davon. Ein paar Sekunden lang, bevor es von einer Explosion zerrissen wurde, hätte ein Auge so scharf wie das des Leoparden ein annähernd zylindrisch geformtes Objekt erkennen können. Aber der Leopard wartete das Ende der Katastrophe nicht ab; er war längst im Dschungel verschwunden.

Paravanas Meer detonierte mit krachendem Donner. Ein Geiser aus Schlamm und Wasser schoss hundert Meter in die Höhe — eine Fontäne weitaus höher als die in den Lustgärten, ja, fast so hoch wie Jakkagala selbst. Die Säule hing einen Augenblick reglos in der Luft und kämpfte einen aussichtslosen Kampf gegen die Schwerkraft, bis sie zur aufgewühlten Oberfläche des Sees hinabstürzte.

Der Himmel war voll von aufgeschreckten Wasservögeln. Fast ebenso zahlreich, lederne Schwingen schlagend wie Pterodaktylen, die irgendwie bis in die Gegenwart überlebt hatten, waren die Fledermäuse, die sich sonst nicht vor dem Dunkelwerden in die Luft wagten. Jetzt aber, beide in gleicher Weise verängstigt, teilten Vögel und Fledermäuse den Himmel friedlich miteinander.

Das letzte Echo des Aufschlags starb in den Weiten des Dschungels; die Stille kehrte geschwind an die Ufer des Sees zurück. Aber es vergingen noch etliche Minuten, bis auch die Oberfläche sich beruhigte und die letzten kleinen Wellen unter Paravanas erstarrtem Blick hin und her zu laufen aufhörten.

Tod im Weltall

Jedes große Gebäude, sagt man, fordert ein Menschenleben. Vierzehn Namen prangten auf den Pfeilern der Brücke von Gibraltar. Dank einer nahezu fanatischen Sicherheitskampagne war die Zahl der mit dem Turm verbundenen Todesfälle bisher jedoch bemerkenswert niedrig. Ein ganzes Jahr war sogar ohne tödlichen Unfall vergangen.

In einem anderen dagegen hatte man ihrer vier gezählt, zwei davon besonders grausam. Ein Bauvorarbeiter, an Null-Gravitation gewöhnt, hatte vergessen, dass er sich zwar im Raum, aber nicht auf einer Umlaufbahn befand. Sein Instinkt, auf langjähriger Erfahrung beruhend, hatte ihn verraten. Er war mehr als fünfzehntausend Kilometer tief abgestürzt und in der Atmosphäre wie ein Meteor verglüht. Unglücklicherweise war sein Helmsender während dieser letzten Minuten seines Lebens in Betrieb gewesen.

Es war ein schlimmes Jahr für den Turm; die zweite Tragödie hatte sich wesentlich länger hingezogen und ähnliches Aufsehen in der Öffentlichkeit erregt. Eine Ingenieurin am Masseanker, weit jenseits der synchronen Umlaufbahn, hatte versäumt, ihren Sicherheitsgurt auf die vorgeschriebene Weise zu befestigen — und war in den Raum hinausgeschossen worden wie ein Stein von einer Schleuder. In dieser Höhe bestand keine Gefahr, dass sie zur Erde hinabstürzen oder aus dem Bannkreis der Erde entkommen werde. Aber ihr Raumanzug besaß nur für zwei Stunden Atemluft, und in so kurzer Zeit ließ sich eine Rettung nicht durchführen. Trotz des Aufschreis der Öffentlichkeit war auch kein solcher Versuch unternommen worden. Das Opfer hatte sich heroisch verhalten. Nach der Übertragung ihrer Abschiedsworte hatte sie, mit einem Sauerstoffvorrat, der noch eine halbe Stunde gereicht hätte, den Raumanzug geöffnet. Der leblose Körper war ein paar Tage später geborgen worden, als die unerbittlichen Kräfte der Himmelsmechanik ihn wieder an das Perigäum seiner stark elliptischen Umlaufbahn zurückbrachten.

Die Erinnerung an diese Unglücksfälle war in Morgans Verstand lebendig, als er mit dem Expressaufzug hinunter zur Kontrollzentrale fuhr, gefolgt von dem düster-nüchternen Warren Kingsley und dem schon fast vergessenen Jungen Dev. Diese Katastrophe war von anderer Art. Es hatte eine Explosion am unteren Ende des Turmes gegeben. Dass der Transporter zur Erde abgestürzt war, wurde klar, noch bevor man den ersten undeutlichen Bericht bezüglich eines »riesigen Meteorschauers« irgendwo in der Mitte von Taprobane empfing.

Morgan empfand es als unnütz zu spekulieren. Er brauchte mehr Daten. In diesem Fall allerdings, in dem alle Indizien zerstört worden waren, mochte er ihrer nie habhaft werden. Er wusste, dass Unfälle im Raum selten nur eine einzige Ursache hatten; sie waren üblicherweise das Resultat einer ganzen Reihe von Ereignissen, von denen jedes einzelne in sich selbst durchaus harmlos sein mochte. Alle Umsicht der Sicherheitsingenieure war keine Garantie für absolute Zuverlässigkeit — im Gegenteil, manchmal trugen ihre übertriebenen Vorsichtsmaßnahmen sogar zum Unglück bei. Es bedrückte Morgan nicht, dass er über die Zukunft des Projekts besorgter war als über den Verlust von Menschenleben. Den Toten konnte man nicht mehr helfen — höchstens dadurch, dass man Maßnahmen gegen die Wiederholung eines solchen Unfalls traf. Dass aber der fast vollendete Turm in Gefahr geraten solle, war eine zu entsetzliche Vorstellung, als dass der Verstand sie in vollem Umfang hätte begreifen können.

Der Aufzug hielt an, und Morgan trat hinaus in die Kontrollzentrale — gerade rechtzeitig, um die zweite Sensation des Abends mitzuerleben.

Das Wunder

Fünf Kilometer vom Keller entfernt hatte der Pilot Rupert Chang die Geschwindigkeit abermals gedrosselt. Zum ersten Mal seit Beginn der Fahrt sahen die Fahrgäste jetzt die Wand des Turmes in anderer Gestalt als der einer endlosen, ungegliederten Fläche, die sich nach beiden Seiten bis in die Unendlichkeit zog. Nach oben hin erstreckten sich die beiden Spuren, in denen sich ihr Fahrzeug bewegte, zwar noch immer bis an die Grenze des Sichtbereichs. Unter ihnen jedoch war das Ende in Sicht. Das abgeschnittene untere Ende des Turmes zeichnete sich als Silhouette deutlich gegen den sattgrünen Hintergrund von Taprobane ab — jenem Stück Erde, mit dem es in wenig mehr als einem Jahr Kontakt aufnehmen würde.

Über die Konsole huschten von neuem die roten Lichter der Alarmanzeige. Chang musterte sie mit ärgerlichem Stirnrunzeln. Er drückte den RESET-Knopf. Die Anzeigen leuchteten noch einmal auf und verloschen dann.

Als er, zweihundert Kilometer weiter droben, die Alarmlichter zum ersten Mal sah, hatte er sich in aller Eile mit Kontrolle-Mitte besprochen. Eine rasche Überprüfung aller Systeme ergab, dass nirgendwo eine Fehlfunktion vorlag. Der Witz war, dass, wenn die Alarmanzeigen gerechtfertigt wären, die Passagiere an Bord des Transporters schon längst hätten tot sein müssen. Sämtliche Funktionen waren angeblich außerhalb der Toleranz.

Es lag offenbar ein Fehler in den Alarmleitungen selbst vor. Diese Erklärung wurde mit allgemeiner Erleichterung aufgenommen. Das Fahrzeug befand sich nicht mehr in der absolut luftleeren Umgebung, für die es gebaut worden war. Die ionosphärische Turbulenz hatte anscheinend die empfindlichen Detektoren des Warnsystems zum Ansprechen gebracht.

»Jemand hätte an so etwas denken sollen«, grollte Chang. Aber weniger als eine Stunde vor dem Ziel machte er sich keine wirklichen Sorgen mehr. Er würde in regelmäßigen Abständen die kritischen Parameter manuell überprüfen. Von der Station Mitte aus hatte man diesem Vorschlag zugestimmt: Es gab ohnehin keine andere Wahl.

Was ihm am meisten zu denken gab, war der Zustand der Batterie. Die nächste Aufladestelle lag zweitausend Kilometer über ihnen, und wenn sie den Aufstieg nicht schafften, dann war wirklich der Teufel los. Aber es konnte eigentlich nichts schiefgehen. Während des Bremsvorgangs hatten die Motoren des Transporters als Generatoren gearbeitet, und neunzig Prozent der aufgefangenen Gravitationsenergie war in Form von Ladung den Batterien zugeführt worden. Jetzt waren sie voll aufgeladen, und die etlichen hundert Kilowatt, die von den Motoren noch immer erzeugt wurden, sollten durch die großen Kühlflächen am Heck des Fahrzeugs in den Raum abfließen. Diese Flächen, so hatten Changs Kollegen oft gesagt, verliehen dem einzigartigen Fahrzeug das Aussehen einer altmodischen Fliegerbombe. Zu diesem Zeitpunkt, gegen Ende des Bremsprozesses, mussten sie in dunklem Rot glühen. Chang wäre sehr besorgt gewesen, hätte er gewusst, dass sie in Wirklichkeit noch recht kühl waren. Denn Energie kann niemals vernichtet werden; sie muss irgendwohin fließen. Und oft fließt sie an den verkehrten Ort.

Als das Zeichen mit der Aufschrift FEUER — BATTERIEABTEIL zum dritten Mal aufleuchtete, löschte Chang es ohne Zögern. Ein echtes Feuer, das wusste er, hätte die automatischen Löschgeräte ausgelöst. Seine Hauptsorge in diesem Augenblick war eben, dass sie womöglich durch den Fehlalarm in Tätigkeit gesetzt würden. Die Konsole zeigte jetzt mehrere Unregelmäßigkeiten, besonders im Ladenetz der Batterie. Sobald die Fahrt zu Ende war, würde Chang in das Motorabteil klettern und die Lage dort einer altmodischen Direktinspektion unterziehen.

Die erste Warnung kam von seiner Nase. Um diese Zeit waren sie noch knapp einen Kilometer vom Ziel entfernt. Während Chang ungläubig auf den dünnen Rauchfaden starrte, der aus der Konsole aufstieg, ging durch den analytischen Teil seines Verstandes der Gedanke: »Welch ein Glück, dass es bis zum Ende der Fahrt gewartet hat!«

Er dachte an die Riesenmenge Energie, die durch den Bremsprozess erzeugt wurde, und hatte alsbald eine ziemlich deutliche Vorstellung vom Ablauf der Dinge. Die Abschirmkreise hatten versagt, und die Batterien waren überladen worden. Eine Ausfallsicherung nach der anderen war zusammengebrochen; unterstützt durch den ionosphärischen Sturm, hatte die Armee unbelebter Objekte, die eigentlich seine Sicherheit hätte garantieren sollen, zum Angriff auf den Menschen angesetzt.

Chang hieb auf den Feuerlöscherknopf für das Batterieabteil. Wenigstens der funktionierte, wie an dem gedämpften Rumoren der Stickstoffdüsen auf der anderen Seite der Trennwand zu hören war. Zehn Sekunden später löste er den VAKUUMABWURF aus, durch den das Gas, hoffentlich mit dem größten Teil der Hitze, die es von dem Feuer aufgesammelt hatte, in den Weltraum hinausgesogen wurde. Auch dieser Vorgang verlief planmäßig. Zum ersten Mal in seinem Leben hörte Chang das schrille Geräusch, das aus einem Raumfahrzeug ausströmendes Gas verursachte, mit einem Gefühl der Erleichterung. Es würde, so hoffte er, auch das letzte Mal sein.

Er wagte es nicht, sich auf die automatische Bremsfolge zu verlassen, als das Fahrzeug sich kriechend dem Ende der Strecke näherte. Glücklicherweise hatte er dies alles ein paar Hundert Mal geübt und kannte jedes Signal, so dass es ihm gelang, Zentimeter vor der Anlegeverankerung anzuhalten. In hektischer Eile wurden die Schleusenkupplungen miteinander verbunden. Vorräte und Ausrüstung wurden einfach in die Verbindungsröhre geschleudert …

Dasselbe Schicksal widerfuhr Professor Sessui, mit Hilfe der vereinigten Anstrengungen des Piloten, des Assistenten und des Stewards, als er an Bord des Transporters zurückkehren wollte, um noch mehr von seinen kostbaren Instrumenten zu bergen. Das Schleusenschott fiel in die Verriegelung, gerade als die Trennwand des Motorabteils endgültig in sich zusammenbrach.

Danach blieb den Flüchtlingen nichts anderes mehr übrig, als zu warten. Sie befanden sich in einer quadratischen Kammer von fünfzehn Metern Seitenlänge, die weitaus weniger Einrichtung besaß als selbst eine primitive Gefängniszelle. Sie hofften, dass das Feuer von selbst ausbrennen werde. Für den Seelenfrieden der Fahrgäste war es vermutlich von Vorteil, dass nur Chang und sein Assistent sich über einen Aspekt der Katastrophe voll im Klaren waren: Die vollgeladenen Batterien enthielten die Energie einer großen chemischen Bombe, und diese Bombe tickte derzeit an der Außenwand des Turmes.

Die Explosion ereignete sich zehn Minuten nach ihrer Ankunft. Man hörte einen dumpfen Knall, begleitet von dem Geräusch zerreißenden Metalls. Der Turm wurde nur leicht erschüttert. Obwohl die Geräuschentwicklung nicht besonders imposant war, stockte den Zuhörern dennoch das Blut in den Adern; denn sie begriffen, dass ihr einziges Fortbewegungsmittel zerstört wurde und sie somit fünfundzwanzigtausend Kilometer von dem nächsten sicheren Ort entfernt gestrandet waren.

Es gab eine zweite, länger anhaltende Explosion — dann trat Stille ein. Die Flüchtlinge vermuteten, dass der Transporter von der Wand des Turmes hinab in die Tiefe gestürzt war. Noch vom Schreck gelähmt, begannen sie mit der Bestandsaufnahme des geretteten Gutes. Und erst später ging ihnen allmählich auf, dass das Wunder ihrer Rettung gänzlich umsonst gewesen sein mochte.

Eine Höhle im Himmel

Tief im Innern des Berges, umgeben von den Anzeige und Kommunikationsgeräten des Kontrollzentrums Erde, standen Morgan und sein Stab um ein Hologramm, das den untersten Abschnitt des Turmes in zehnfacher Verkleinerung darstellte. Es war vollkommen in jeder Hinsicht, selbst bis zu den vier Leitbändern, die an den Wänden des Turmes klebten und über ihn hinaus in die Tiefe ragten. In der Darstellung lösten sie sich unmittelbar über dem Fußboden zu nichts auf, und man konnte sich kaum vorstellen, dass sie selbst in diesem verkleinerten Maßstab eigentlich noch sechzig Kilometer weiter reichen sollten, glatt durch die Erdkruste hindurch.

»Ich brauche eine Durchsicht«, sagte Morgan, »und den Keller in Augenhöhe.«

Der Turm verwandelte sich in ein leuchtendes, transparentes Phantom — eine lange, dünnwandige, quadratische Schachtel, die bis auf die supraleitenden Kabelstränge der Energieversorgung leer war. Der allerunterste Abschnitt — »Keller« war eine durchaus zutreffende Bezeichnung, wenn er sich auch in der hundertfachen Höhe dieses Berggipfels befand — war gegen den Rest des Turmes versiegelt und bildete eine einzelne, quadratische Kammer mit fünfzehn Metern Seitenlänge.

»Zugänge?«, verlangte Morgan.

Zwei Abschnitte der Darstellung begannen heller zu leuchten. Deutlich zeichnete sich auf der Nord- und Südwand des Turmes, zwischen den Schlitzpaaren der Fahrspuren angebracht, die äußeren Schotte der beiden Schleusen ab, in größtmöglicher Entfernung voneinander angebracht, wie es die Sicherheitsvorschriften für im Weltraum angesiedelte Strukturen verlangten.

»Sie sind natürlich durch die Südschleuse eingedrungen«, erklärte der diensthabende Ingenieur. »Wir wissen nicht, ob sie durch die Explosion beschädigt wurde.«

Nun, es gab noch weitere drei Eingänge, dachte Morgan. Es war das untere Paar, das ihn interessierte. Es war im ursprünglichen Entwurf nicht vorgesehen und erst später hinzugefügt worden. Überhaupt beruhte der ganze Keller auf einem Gedanken, der Morgan erst unmittelbar vor Baubeginn gekommen war. Ursprünglich hatte man es nicht für nötig gehalten, in dem Teil des Turmes, der einst fest mit der Erde verbunden sein würde, einen Zufluchtsort einzurichten.

»Drehen Sie die Unterseite in meine Richtung«, verlangte Morgan.

Der Turm schien zu stürzen und schwebte schließlich horizontal in der Luft. Morgan sah jetzt alle Einzelheiten der vierhundert Quadratmeter großen Unterfläche.

In der Nähe des nördlichen und südlichen Randes, in zwei voneinander unabhängige Schleusen führend, waren die Schotte, die den Zugang von unten ermöglichten. Das einzige Problem war, an sie heranzukommen, sechshundert Kilometer weit dort droben.

»Lebenserhaltungssystem?«

Die Schleusenschotte verblassten, stattdessen leuchtete ein kleines Gehäuse im Zentrum der Kammer auf.

»Da liegt das Problem, Doktor«, sagte der Diensthabende nüchtern. »Es gibt nur eine Anlage zur Aufrechterhaltung des Drucks. Keine Luftreiniger, und selbstverständlich kein Generator. Jetzt, wo sie den Transporter verloren haben, kann ich mir nicht vorstellen, wie sie die Nacht überleben wollen. Die Temperatur sinkt rasch, zehn Grad allein seit Sonnenuntergang.«

Morgan kam sich vor, als sei er selbst der Kälte des Weltraums ausgesetzt. Die Euphorie der Entdeckung, dass die Fahrgäste des abgestürzten Transporters das Unglück überlebt hatten, verflog schnell. Selbst wenn der Sauerstoffvorrat des Kellers für mehrere Tage ausreichte, wäre das für die Menschen dort oben nur von geringer Bedeutung, da sie ohnehin vor der Morgendämmerung erfroren sein würden.

»Ich möchte mit Professor Sessui sprechen.«

»Direkt geht das nicht — der Notruf aus dem Keller geht zur Station Mitte. Aber das ist kein Problem.«

Der Optimismus erwies sich als ungerechtfertigt. Als die Verbindung hergestellt war, hörte man Pilot Chang sagen:

»Es tut mir leid, der Professor ist beschäftigt.«

Nach einer Sekunde ungläubigen Schweigens erwiderte Morgan, wobei er nach jedem Wort eine Pause machte und seinen Namen besonders betonte: »Sagen Sie ihm, Dr. Vannevar Morgan möchte mit ihm sprechen.«

»Das will ich gerne tun, Doktor, aber es wird keinerlei Unterschied machen. Er arbeitet mit seinen Studenten an einem Gerät, dem einzigen Instrument, das sie retten konnten — irgendeine Art Spektroskop. Sie bauen es vor einem der Beobachtungsfenster auf.«

Morgan wahrte seinen Gleichmut mit Mühe. Um ein Haar hätte er ausgerufen: »Sind sie verrückt?« Aber Chang kam ihm zuvor.

»Sie kennen den Professor nicht. Ich habe die letzte Woche in seiner Nähe verbracht. Er ist — nun — ein wenig einseitig. Nur zu dritt konnten wir ihn davon abhalten, noch einmal in die Kabine zurückzukehren und mehr von seiner Ausrüstung herauszuschaffen. Er hat mir soeben auseinandergesetzt, dass er sich, wenn wir schon alle sterben müssen, sich vergewissern will, dass wenigstens dieses eine Instrument richtig funktioniert.«

Morgan erkannte an Changs Stimme, dass er bei allem Ärger große Bewunderung für seinen berühmten und schwierigen Fahrgast empfand. Und der Professor hatte in der Tat die Logik auf seiner Seite. Es war vernünftig, zu retten, was sich retten ließ — von den Jahren der Mühe, die er in diese unglückselige Expedition investiert hatte.

»Also schön«, sagte Morgan schließlich und fand sich mit dem Unvermeidbaren ab. »Da der Professor mir keinen Termin geben will, schildern Sie mir die Situation. Bis jetzt habe ich lediglich einen Bericht aus zweiter Hand.«

Es kam ihm jetzt zu Bewusstsein, dass Chang wahrscheinlich ohnehin ein nützlicherer Berichterstatter war als der Professor. Obwohl er von echten Raumfahrern oft ausgelacht wurde, weil er auf seinem Pilotentitel bestand, war er ein Techniker von bedeutendem Können und mit einer guten Ausbildung in Mechanik und Elektrotechnik.

»Es gibt nicht viel zu berichten. Es ging alles so schnell, dass wir nichts retten konnten — ausgenommen das verdammte Spektrometer. Ich hätte nicht gedacht, dass wir es durch die Schleuse schaffen würden. Wir haben die Kleider, die wir am Leib tragen — und das ist alles. Eine der Studentinnen bekam ihre Reisetasche zu fassen. Stellen Sie sich vor — darinnen ist der Entwurf ihrer Diplomarbeit, auf Papier geschrieben, um alles in der Welt! Noch nicht einmal feuersicher, trotz aller Vorschriften. Wenn wir uns den Sauerstoff leisten könnten, würden wir das Zeug verbrennen, um ein bisschen Wärme zu schaffen.«

Während er der Stimme aus dem Weltall zuhörte und das durchsichtige Hologramm des Turmes ansah, erlebte Morgan eine eigenartige Illusion. Er stellte sich vor, dass winzige, zehnfach verkleinerte Menschen sich dort in der Kammer bewegten und dass er nur die Hand auszustrecken brauchte, um sie in Sicherheit zu bringen …

»Neben der Kälte ist die Luftversorgung das größte Problem. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, bevor die CO2-Konzentration uns umwirft — vielleicht kann auch das jemand ausrechnen. Was auch immer dabei herauskommt, wird, fürchte ich, zu optimistisch sein.« Changs Stimme wurde plötzlich viel leiser; im Tone eines Verschwörers — offenbar, um von den andern nicht gehört zu werden — fuhr er fort: »Der Professor und seine Studenten wissen davon noch nichts, aber das Schott der Südschleuse wurde bei der Explosion beschädigt. Wir haben ein Leck — man hört ein stetiges Zischen längs der Abdichtung. Wie ernsthaft es ist, lässt sich nicht sagen.« Seine Stimme wurde wieder lauter. »Das also ist die Lage. Wir warten darauf, von Ihnen zu hören.«

Und was, zum Teufel, können wir sagen?, dachte Morgan. Außer »lebt wohl?«


Krisenmanagement war eine Fähigkeit, die Morgan bewunderte, um die er indes niemand beneidete. Janos Bartok, der Sicherheitsoffizier oben in der Station Mitte, war jetzt für die Lage verantwortlich. Die Menschen im Innern des Berges, fünfundzwanzigtausend Kilometer weiter drunten und nur sechshundert Kilometer vom Unfallort entfernt, konnten sich nur die Berichte anhören, hilfreichen Rat geben und die Neugierde der Nachrichtenmedien befriedigen, so gut es eben ging.

Es versteht sich von selbst, dass Maxine Duval sich innerhalb von Minuten nach der Katastrophe gemeldet hatte.

»Kann man sie von der Station Mitte aus rechtzeitig erreichen?«

Morgan zögerte. Die wahre Antwort war ein unzweideutiges Nein. Aber es war unklug, um nicht zu sagen grausam, so früh schon alle Hoffnung aufzugeben. Immerhin: Ein glücklicher Zufall hatte sich bereits ergeben …

»Ich möchte keine falschen Hoffnungen wecken, aber es ist möglich, dass wir Mitte gar nicht brauchen. Wir haben eine Mannschaft in der 10K-Station — zehntausend Kilometer. Ihr Transporter kann den Keller in zwanzig Stunden erreichen.«

»Warum ist er dann noch nicht unterwegs?«

»Sicherheitsingenieur Bartok wird die Entscheidung in Kürze treffen. Die Mühe könnte umsonst sein. Wir rechnen uns aus, dass sie nur für die Hälfte der Zeit Atemluft haben. Und die Kälte ist ein noch ernsteres Problem.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Es ist dort droben jetzt Nacht. Es gibt keine Wärmequelle. Behalten Sie das vorerst für sich, Maxine, aber es könnte zu einem Wettrennen zwischen Erfrieren und Ersticken kommen.«

Eine Pause von mehreren Sekunden trat ein; dann sagte Maxine Duval in ungewöhnlich bescheidenem Tonfall: »Vielleicht bin ich dumm, aber ich denke mir, dass doch gewiss die Wetterstationen mit ihren großen Infrarotlasern …«

»Ich danke Ihnen, Maxine! Nein — ich bin der Dumme. Warten Sie eine Minute, während ich mit Mitte spreche …«

Bartok war höflich, als Morgan anrief. Durch seine kurz angebundene Art machte er jedoch recht klar, was er davon hielt, durch einen Amateur in seiner Arbeit gestört zu werden.

»Tut mir leid, dass ich Sie belästigt habe«, entschuldigte sich Morgan und schaltete zu Maxine zurück. »Manchmal wissen die Experten, was sie tun«, erklärte er mit verlegenem Stolz. »Unserer jedenfalls weiß es. Er hat vor zehn Minuten die Monsun-Kontrolle angerufen. Sie sind dabei, die Strahlleistung zu berechnen — wollen natürlich nicht zu sehr auf die Tube drücken und jedermann da oben verbrennen.«

»Also hatte ich recht«, sagte Maxine zuckersüß. »Sie hätten daran denken sollen, Van. Was haben Sie sonst noch übersehen?«

Darauf gab es keine Antwort, und Morgan versuchte auch keine. Er stellte sich vor, wie Maxines computergleicher Verstand vorwärtspreschte, und versuchte, ihre nächste Frage zu erahnen. Er tippte richtig.

»Kann man die Spinnen nicht einsetzen?«

»Selbst die letzten Modelle haben Steighöhengrenzen, die Batterien schaffen es nur bis zu dreihundert Kilometern. Die Fahrzeuge sind zur Inspektion des Turmes gedacht, nachdem er in die Atmosphäre eingedrungen ist.«

»Dann bauen Sie eben größere Batterien ein!«

»In zwei Stunden? Aber das ist nicht einmal das Problem. Die einzige Einheit, die sich gegenwärtig unter Test befindet, kann keine Passagiere befördern.«

»Dann schicken Sie sie leer hinauf.«

»Tut mir leid — daran haben wir schon gedacht. Für den Anlegevorgang am Turm muss jemand an Bord sein. Und selbst wenn das nicht so wäre, dauerte es immer noch mehrere Tage, sieben Leute einen nach dem anderen zu evakuieren.«

»Aber Sie haben doch sicher irgendeinen Plan!«

»Mehrere, aber sie sind alle verrückt. Falls einer wider Erwarten doch Sinn ergibt, lasse ich Sie's wissen. In der Zwischenzeit könnten Sie uns einen Gefallen tun.«

»Welchen?«, erkundigte sich Maxine misstrauisch. »Erklären Sie Ihren Zuhörern, wie es kommt, dass ein Raumfahrzeug zwar an ein anderes anlegen kann, in sechshundert Kilometern Höhe, aber nicht an den Turm. Wenn Sie damit fertig sind, haben wir womöglich weitere Neuigkeiten für Sie.«

Als Maxines leicht verärgertes Gesicht von der Bildfläche verschwand und Morgan sich wieder dem nur scheinbar heillosen Durcheinander des Kontrollzentrums zuwandte, versuchte er, seinen Verstand von allen bisher gedachten Gedanken zu befreien und so unvoreingenommen wie nur möglich das ganze Problem noch einmal von vorne anzugehen. Trotz der höflichen Zurückweisung durch den Sicherheitsingenieur, der in der Station Mitte effizient seine Pflicht tat, gab er die Hoffnung nicht auf, dass er doch noch die eine oder andere brauchbare Idee beitragen könne. Er rechnete nicht mit einer Wunderlösung — aber immerhin kannte er den Turm besser als irgend sonst ein Mensch — vielleicht mit Ausnahme von Warren Kingsley. Warren verstand wahrscheinlich mehr von den Einzelheiten; aber Morgan hatte den klareren Überblick.

Sieben Männer und Frauen waren im Weltall gestrandet, in einer Lage, die in der gesamten Geschichte der Raumfahrttechnik einmalig war. Es musste einfach einen Weg geben, auf dem sie in Sicherheit gebracht werden konnten, bevor sie sich mit Kohlendioxyd vergifteten oder der Druck so weit absank, dass die Kammer sich in eine Grabstätte verwandelte — aufgehängt zwischen Himmel und Erde wie Mohammeds Sarg.

Der richtige Mann

»Wir schaffen es«, erklärte Warren Kingsley mit breitem Grinsen. »Die Spinne kann den Keller erreichen.«

»Ihr habt ausreichende Batterieleistung zulegen können?«

»Ja, aber es ist eine kritische Sache. Es wird eine zweistufige Anordnung sein wie die frühen Raketen. Sobald die Zusatzbatterie erschöpft ist, muss sie abgeworfen werden, um das Gewicht zu verringern. Die Bordbatterie der Spinne liefert dann den Antrieb für den Rest der Strecke.«

»Wie viel Nutzlast haben wir?«

Kingsleys Grinsen verschwand.

»Nicht viel. Ungefähr fünfzig Kilo mit den besten Batterien, die wir auftreiben können.«

»Fünfzig! Was hilft uns das?«

»Es wird gerade hinreichen. Zwei von diesen neuen Tausend-atü-Behältern, mit je fünf Kilo Sauerstoff. Molekularfiltermasken gegen CO2. Etwas Wasser und Konzentratnahrung. Ein paar Arzneimittel. Das alles schaffen wir unter fünfundvierzig Kilo.«

»Gerechter Himmel! Und du bist sicher, dass das ausreicht?«

»Ja — bis zur Ankunft des Transporters von der 10K-Station. Wenn nötig, kann die Spinne ein zweites Mal fahren.«

»Was hält Bartok davon?«

»Er stimmt zu. Es hat ohnehin niemand eine bessere Idee.«

Morgan fühlte, dass ihm ein großes Gewicht von den Schultern genommen worden war. Es konnten immer noch Hunderte von Dingen schiefgehen, aber es gab jetzt wenigstens einen Hoffnungsschimmer. Das Gefühl ohnmächtiger Hilflosigkeit war gewichen.

»Wann seid ihr fertig?«

»Wenn alles gutgeht, in zwei Stunden, höchstens drei. Es sind allesamt Standardausrüstungsstücke, glücklicherweise. Die Spinne wird eben getestet. Es muss nur noch eine Entscheidung getroffen werden …«

Vannevar Morgan schüttelte den Kopf. »Nein, Warren«, antwortete er langsam, mit ruhiger und unerbittlich entschlossener Stimme, wie sie sein Freund an ihm noch nie gehört hatte. »Es gibt nichts mehr zu entscheiden.«


»Ich versuche nicht, meinen Rang zur Geltung zu bringen, Bartok«, sagte Morgan, »es ist ganz einfach eine Sache der Logik. Also gut, jeder kann die Spinne fahren, aber es gibt nur ein halbes Dutzend Männer, die alle technischen Einzelheiten verstehen. Es kann zu Problemen kommen, wenn wir den Turm erreichen, und ich kann sie am ehesten lösen.«

»Darf ich Sie daran erinnern, Dr. Morgan«, sagte der Sicherheitsingenieur, »dass Sie fünfundsechzig sind. Es wäre klüger, einen jüngeren Mann zu schicken.«

»Ich bin nicht fünfundsechzig, ich bin sechsundsechzig. Und überhaupt hat das Alter gar nichts damit zu tun. Es gibt keine Gefahr, und Körperkraft wird auch nicht verlangt.«

Psychologische Faktoren, hätte er hinzufügen können, spielten bei einem Unternehmen dieser Art eine weitaus größere Rolle als physische. Nahezu jedermann konnte passiv mit einer Kapsel auf- und abwärtsfahren, wie Maxine Duval es getan hatte und wie Millionen es ihr in den kommenden Jahren nachtun würden. Es war dagegen etwas ganz anderes, aktiv mit einer Notlage fertigzuwerden, wie sie sich sechshundert Kilometer hoch oben im leeren Himmel ergeben mochte.

»Ich meine immer noch«, sagte Sicherheitsingenieur Bartok mit sanfter Hartnäckigkeit, »dass es am besten wäre, einen jüngeren Mann zu schicken. Dr. Kingsley zum Beispiel.«

Hinter sich hörte Morgan (oder bildete er sich das nur ein?), wie Warren Kingsley plötzlich die Luft anhielt. Seit Jahren witzelten sie darüber, dass Warren eine solche Abneigung gegen Höhen hatte, dass er die Strukturen, die er entwarf, niemals selbst inspizierte. Seine Angst reichte nicht ganz bis an die Intensität echter Akrophobie heran; er kam darüber hinweg, wenn es unumgänglich notwendig war. Immerhin war er an Morgans Seite gewesen, als sie zu Fuß von Afrika nach Europa gingen. Das war das einzige Mal, dass man Warren Kingsley betrunken in der Öffentlichkeit gesehen hatte, und danach hatte man ihn geschlagene vierundzwanzig Stunden überhaupt nicht zu Gesicht bekommen.

Warren kam nicht in Frage, wenn Morgan auch wusste, dass er bereit war, die Aufgabe zu übernehmen. Es gab Augenblicke, in denen technisches Können und nackter Mut nicht ausreichten. Kein Mensch konnte gegen die Ängste ankämpfen, die ihm bei der Geburt oder während der frühesten Kindheit in die Seele gepflanzt worden waren.

Glücklicherweise war es nicht nötig, dem Sicherheitsingenieur all dies auseinanderzusetzen. Es gab einen wesentlich einfacheren und in gleicher Weise gültigen Grund, warum Warren nicht fahren konnte. Nur bei ganz seltenen Gelegenheiten war Vannevar Morgan froh gewesen, von kleiner Gestalt zu sein; dies war eine davon.

»Ich wiege fünfzehn Kilo weniger als Kingsley«, erklärte er Bartok. »Bei einem kritischen Vorhaben wie diesem sollte das den Ausschlag geben. Lassen Sie uns also keine Zeit mehr mit Diskussionen verlieren.«

Er spürte einen Anflug schlechten Gewissens wegen seiner Unfairness. Bartok tat nur seine Pflicht, und zwar ausgezeichnet; außerdem dauerte es noch eine Stunde, bis das Fahrzeug fertig war. Von Zeitvergeudung konnte keine Rede sein.

Ein paar Sekunden lang starrten die beiden Männer einander an, als existiere der Abstand von fünfundzwanzigtausend Kilometern gar nicht. Wenn Bartok es auf eine Kraftprobe ankommen ließ, konnte die Sache unangenehm werden. Er war für alle Sicherheitsmaßnahmen verantwortlich und konnte theoretisch selbst den Chefingenieur und Projektmanager überstimmen. Aber es wäre ihm schwergefallen, seinen Standpunkt durchzusetzen. Morgan und die Spinne befanden sich weiter unter ihm auf dem Sri Kanda, und wer das Fahrzeug hatte, der konnte seine eigene Entscheidung treffen.

Bartok hob die Schultern, und Morgan empfand Erleichterung.

»Das ist ein überzeugender Grund. Ich fühle mich noch immer nicht wohl bei dem Gedanken, aber machen Sie, was Sie wollen. Viel Glück!«

»Danke«, antwortete Morgan ruhig, als Bartoks Bild erlosch. Dann wandte er sich an den immer noch schweigsamen Kingsley und sagte: »Auf geht's!«

Erst als sie die Kontrollzentrale verlassen hatten, auf dem Weg zum Gipfel, griff Morgan mit einer automatischen Handbewegung nach der kleinen Metallscheibe unter seinem Hemd. KORA hatte ihn Monate hindurch in Ruhe gelassen, und nicht einmal Kingsley wusste, dass sie überhaupt existierte. Spielte er mit dem Leben anderer ebenso wie mit dem seinen, nur um seinen eigenen selbstsüchtigen Stolz zu befriedigen? Wenn Sicherheitsingenieur Bartok davon gewusst hätte …

Jetzt war es zu spät. Was immer seine Motive sein mochten, er war dran!

Die Spinne

Wie der Berg sich verändert hatte, dachte Morgan, seit er ihm zum ersten Mal begegnet war. Man hatte den Gipfel völlig abgetragen und ein ebenes Plateau geschaffen; in dessen Zentrum befand sich der riesige »Topfdeckel«, der den Schacht abdeckte, durch den sich in Kürze der Verkehr vieler Welten bewegen würde. Es mutete einen eigenartig an, dass der größte Weltraumhafen des Solsystems sich tief im Innern eines Berges befand.

Niemand hätte ahnen können, dass hier einst ein uraltes Kloster gestanden hatte, auf das sich mindestens dreitausend Jahre lang die Hoffnungen und Ängste von Milliarden richteten. Das einzige Überbleibsel war des Maha Theros zweideutige Hinterlassenschaft, verpackt und auf den Abtransport wartend. Bis jetzt jedoch hatten sich weder die Verwaltung von Jakkagala noch der Direktor des Museums von Ranapura für Kalidasas unglückselige Glocke begeistert. Als sie das letzte Mal geläutet hatte, da brauste ein kurzer, aber ereignisreicher Sturm über den Gipfel hinweg, ein Wind aus einer neuen Richtung. Jetzt dagegen, als Morgan und seine Begleiter sich dem Fahrzeug näherten, das im Schein der Inspektionslampen glitzerte, war die Luft reglos. Jemand hatte den Namen SPINNE MARK II auf der unteren Hälfte des Gehäuses angebracht, und darunter war WIR LIEFERN FREI HAUS gekritzelt. Hoffentlich … dachte Morgan.

Jedes Mal, wenn er hierherkam, fiel ihm das Atmen schwerer. Er konnte es kaum erwarten, bis Sauerstoff seine ausgehungerten Lungen mit gewohntem Druck füllte. CORA indes hatte, überraschenderweise und sehr zu seiner Erleichterung, niemals auch nur eine Vorwarnung von sich gegeben, während er sich auf dem Gipfel aufhielt. Das Programm, das Dr. Sen vorgeschrieben hatte, schien ausgezeichnet zu funktionieren.

Die Ladung war bereits an Bord der Spinne gebracht worden. Man hatte das Fahrzeug aufgebockt, so dass die zusätzliche Batterie angehängt werden konnte. Mechaniker nahmen letzte Änderungen vor und entstöpselten die Ladekabel. Der Wirrwarr von Leitungen und Drähten auf dem Boden konnte jemand, der nicht daran gewöhnt war, sich in einem Raumanzug zu bewegen, leicht zu Fall bringen.

Morgans Mirroflexanzug war erst vor dreißig Minuten von Gagarin eingetroffen. Eine Zeitlang hatte er ernsthaft erwogen, ohne ihn auf Fahrt zu gehen. SPINNE MARK II war ein wesentlich fortgeschritteneres Fahrzeug als der einfache Prototyp, mit dem Maxine Duval einst ihre Fahrt unternommen hatte. Sie war ein echtes, kleines Raumschiff mit bordeigenem Lebenserhaltungssystem. Wenn alles gutging, würde es Morgan keine Schwierigkeiten machen, mit ihr an der Schleuse auf der Unterseite des Turmes anzulegen, die vor Jahren eigens für diesen Zweck entworfen worden war. Ein Raumanzug jedoch war nicht nur eine Versicherung gegen Probleme, die beim Anlegen auftreten mochten; er gab ihm auch in jeder anderen Hinsicht größere Bewegungsfreiheit. Nahezu hauteng, besaß der Mirroflex sehr wenig Ähnlichkeit mit den klobigen Monturen der frühen Astronauten. Selbst wenn er unter Druck stand, würde er die Bewegungen seines Trägers kaum hemmen. Morgan hatte einst eine Vorführung gesehen, bei der die Hersteller Akrobaten in Raumanzügen auftreten ließen. Der Höhepunkt der Darstellung waren ein Schwertkampf und ein Balletttanz. Besonders der Letztere war eine Bürde für die Lachmuskeln gewesen — aber die Anzughersteller hatten ihren Beweis erbracht.

Morgan stieg die paar Stufen hinauf, stand einen Augenblick lang auf dem schmalen Metallband, das die Kapsel umlief, und stieg sodann vorsichtig, mit dem Rücken zuerst, in das Fahrzeug. Während er es sich bequem machte und den Sitzgurt festschnallte, empfand er angenehm überrascht, dass es hier ziemlich viel Platz gab. Obwohl die MARK II ganz eindeutig ein Ein-Mann-Fahrzeug war, besaß sie nicht die klaustrophobische Enge, die er erwartet hatte — selbst mit der zusätzlichen Ladung, die ins Fahrzeuginnere gepfropft worden war.

Die zwei Sauerstoffzylinder waren unter dem Sitz verstaut, und die CO2-Masken befanden sich hinter der Leiter, die zum oberen Schleusenschott hinaufführte. Es verwunderte einen, dass so wenig Ausrüstung den Unterschied zwischen Leben und Tod für so viele Menschen bedeuten mochte.

Morgan trug ein privates Souvenir mit sich — eine Erinnerung an jenen ersten Tag auf dem Jakkagala, an dem in einem gewissen Sinn dies alles seinen Anfang genommen hatte. Die Spinette nahm nicht viel Platz in Anspruch und wog nur ein Kilo. Im Lauf der Jahre war sie zu einer Art Talisman geworden; sie war noch immer das wirksamste Lehrmittel für die Demonstration der wunderbaren Eigenschaften des Hyperdrahts, und jedes Mal, wenn Morgan sie irgendwo zurückließ, stellte er unterwegs fest, dass er ihrer dringend bedurfte. Auf dieser Fahrt mochte sie sehr wohl von Wert sein.

Er schloss das Versorgungskabel seines Raumanzugs an das Fahrzeug an und überprüfte die Sauerstoffversorgung aus dem äußeren ebenso wie aus dem inneren Tank. Draußen waren die elektrischen Leitungen inzwischen abgezogen worden. SPINNE war auf sich selbst gestellt.

Bei solchen Gelegenheiten fielen selten brillante Worte; außerdem handelte es sich hier um nicht wesentlich mehr als ein Routineunternehmen. Morgan grinste ein wenig steif in Kingsleys Richtung und sagte: »Halte den Laden in Ordnung, Warren, bis ich zurückkomme.« Dann bemerkte er die kleine, einsame Gestalt inmitten der Menge, die die Kapsel umgab. Mein Gott, dachte er, ich habe den armen Jungen fast vergessen … »Dev«, rief er: »Tut mir leid, dass ich mich nicht um dich kümmern konnte. Aber das holen wir nach, wenn ich zurückkomme!«

Und wir werden es auch wirklich tun, versprach er sich. Wenn der Turm erst einmal fertiggestellt war, würde er Zeit für alles haben — selbst für seine Freunde und Verwandten, die er so sehr vernachlässigt hatte. Auf Dev würde er ein Auge haben. Ein Junge, der von sich aus wusste, wann er anderen aus dem Weg gehen musste; mochte es zu etwas bringen.

Das gerundete Schott der Kapsel, zur Hälfte aus durchsichtigem Plastikmaterial bestehend, presste sich mit dumpfem Laut gegen die Dichtung. Morgan drückte den PRÜF-Schalter, und auf der Bildfläche vor ihm erschienen, eine nach der andern, Datengruppen, die den gegenwärtigen Zustand der wichtigen Fahrzeugkomponenten beschrieben. Sie waren allesamt grün, und Morgan machte sich nicht die Mühe, die exakten Zahlenwerte zur Kenntnis zu nehmen. Wäre ein Wert anormal gewesen, so hätte ihn das Bildgerät blinkend und in roter Farbe dargestellt. Immerhin nahm Morgan mit der Umsicht des Ingenieurs zur Kenntnis, dass der Sauerstoffvorrat bei 102 Prozent lag, Hauptbatterieladung bei 101 Prozent, Zusatzbatterie 105 Prozent.

Die ruhige, unbewegte Stimme des Kontrollingenieurs — desselben stoischen Experten, der seit jenem ersten missglückten Versuch vor vielen Jahren alle mit dem Bau des Turmes verbundenen Operationen überwacht hatte — ertönte in Morgans Empfänger: »Alle Systeme nominal. Übernehmen Sie!«

»Ich übernehme. Ich warte bis zur nächsten vollen Minute.«

Man konnte sich nur schwer einen größeren Kontrast gegenüber einem Raketenstart vor zweihundert Jahren vorstellen, mit seinem komplizierten Countdown, den Entscheidungen, die in Zehntelsekunden getroffen werden mussten, der Aufregung und dem Lärm. Morgan brauchte nur zu warten, bis die letzten zwei Ziffern auf der Uhr null wurden, dann schaltete er auf Minimalleistung.

Ruhig — schweigend — sank das flutbeleuchtete Gipfelplateau unter ihm in die Tiefe. Selbst ein Ballonaufstieg hätte nicht erschütterungsfreier sein können. Wenn er aufmerksam hinhörte, dann vernahm er gerade noch das Surren des Zwillingsmotors, der die beiden Reibungsrotoren antrieb, einen über und einen unter der Kapsel, mit deren Hilfe sich die Spinne an dem Band hinaufhangelte.

Steiggeschwindigkeit fünf Meter pro Sekunde, sagte die Anzeige. In langsamen, abgemessenen Rucken erhöhte Morgan die Leistung, bis die Anzeige auf fünfzig lautete, etwas weniger als zweihundert Kilometer pro Stunde. Das ergab, bei der gegenwärtigen Beladung der Spinne, den höchsten Wirkungsgrad. Nach dem Abwurf der Zusatzbatterie konnte die Geschwindigkeit um fünfundzwanzig Prozent auf fast 250 km/h erhöht werden.

»Sag etwas, Van«, meldete sich Warren Kingsley mit amüsierter Stimme aus der Tiefe.

»Lass mich in Ruhe«, antwortete Morgan in gleicher Stimmung. »Ich habe vor, mich ein paar Stunden zu entspannen und die Aussicht zu genießen. Wenn du einen fortlaufenden Kommentar brauchst, hättest du Maxine Duval schicken sollen.«

»Sie versucht seit einer Stunde, dich zu erreichen.«

»Empfiehl mich ihr und sag ihr, ich hätte zu viel zu tun. Vielleicht vom Turm aus. Was hört man von dort überhaupt?«

»Temperatur stabil bei zwanzig Grad. Monsun-Kontrolle strahlt alle zehn Minuten ein paar Megawatt ab. Professor Sessui ist wütend. Er beschwert sich, dass die Strahlung seine Instrumente beeinflusst.«

»Wie steht's mit der Atemluft?«

»Nicht so gut. Der Druck sinkt eindeutig, und die CO2-Konzentration wächst. Aber es gibt keine Gefahr, solange du nur rechtzeitig ankommst. Sie vermeiden alle unnütze Aktivität, um Sauerstoff zu sparen.«

Alle, außer Professor Sessui, möchte ich wetten, dachte Morgan. Er freute sich auf die Begegnung mit dem Mann, dessen Leben er zu retten versuchte. Er hatte mehrere hochgepriesene populärwissenschaftliche Werke Sessuis gelesen und sie als blumig und übertrieben empfunden. Er nahm an, dass der Mann seinem Schreibstil entsprach.

»Wie sieht's auf 10K aus?«

»Der Transporter fährt in zwei Stunden ab. Sie nehmen ein paar Zusatzinstallationen vor, um sicher zu sein, dass auf dieser Fahrt nichts zu brennen anfängt.«

»Gute Idee. Stammt von Bartok, nehme ich an.«

»Wahrscheinlich. Sie kommen die Nordspur herab, für den Fall, dass die Südspur durch die Explosion beschädigt wurde. Wenn alles gutgeht, erreichen sie den Keller in — oh — einundzwanzig Stunden. Zeitig genug, selbst wenn wir die Spinne kein zweites Mal nach oben schicken.«

Ungeachtet der Bemerkung, die er halb im Spaß zu Kingsley gemacht hatte, war sich Morgan darüber im Klaren, dass es zum Entspannen noch viel zu früh war. Indes schien alles planmäßig zu verlaufen, und es gab wirklich nichts, was er während der nächsten drei Stunden hätte tun können, als die sich ständig weitende Aussicht zu bewundern.

Er befand sich in dreißig Kilometern Höhe und stieg rasch und geräuschlos durch die tropische Nacht. Der Mond war nicht zu sehen, aber das Land weit unten enthüllte sich ihm durch die leuchtenden Konstellationen seiner Städte und Dörfer. Wenn er die Sterne oben und die Lichter unten anblickte, fiel es Morgan leicht, sich einzubilden, er sei weit von jeglicher Welt entfernt, verloren in den Tiefen des Weltalls. Er überblickte jetzt die gesamte Insel Taprobane, ihr Umriss bezeichnet durch die Lichter der Küstensiedlungen. Weit im Norden schob sich ein düsterer Leuchtfleck über den Horizont wie der Vorbote einer fehlplatzierten Morgendämmerung. Er zerbrach sich darüber eine Zeitlang den Kopf, bis ihm aufging, dass er auf eine der südindischen Großstädte blickte.

Er war jetzt bereits höher, als Flugzeuge steigen konnten, und allein was er bis jetzt vollbracht hatte, war bereits eine einzigartige Leistung in der Geschichte menschlicher Fortbewegung. SPINNE und ihre Vorläufer hatten zwar zahllose Fahrten bis zu einer Höhe von zwanzig Kilometern unternommen, aber niemand war je in größere Höhen vorgestoßen, weil es von dort, wenn es zu einem Ausfall kam, keine Rettung mehr gab. Ein ernsthafter Einsatz der Spinnen war nicht vorgesehen, bis der Turm ganz nahe herangekommen war. Es gab insgesamt drei Fahrzeuge dieses Typs, die dann an den Bändern auf- und abgleiten würden. Morgan zwang sich, nicht daran zu denken, was geschähe, wenn der Antriebsmechanismus sich verklemmte. Das wäre das Ende der Flüchtlinge im Keller, ebenso wie sein eigenes.

Fünfzig Kilometer. Er hatte eine Ebene erreicht, die zu normalen Zeiten gleichbedeutend mit der untersten Schicht der Ionosphäre gewesen wäre. Er erwartete nichts Aufregendes; aber er hatte sich geirrt.

Das erste Anzeichen war ein leises Knistern im Lautsprecher. Dann sah er aus den Augenwinkeln einen huschenden Lichtfleck. Er erschien unmittelbar unter ihm und war sichtbar nur mit Hilfe des abwärtsgerichteten Spiegels außerhalb des kleinen nach draußen gewölbten Fensters. Einen Augenblick lang starrte er verwundert hinab, und Furcht stieg in ihm auf. Dann setzte er sich mit dem Berg in Verbindung.

»Ich habe Begleitung«, sagte er. »Ich nehme an, sie gehört in Professor Sessuis Abteilung. Eine Kugel aus Licht, Durchmesser — oh — ungefähr zwanzig Zentimeter. Sie läuft gerade unter mir das Band entlang. Die Entfernung ist konstant, hoffentlich bleibt es dabei. Ich muss zugeben, sie sieht hübsch aus — ein angenehmes, bläuliches Leuchten, alle paar Sekunden zuckt sie. Außerdem höre ich sie auf dem Radiokanal.«

Es dauerte eine volle Minute, bis Kingsley antwortete:

»Mach dir keine Sorgen — das ist nur Elmsfeuer. Wir haben ähnliche Erscheinungen entlang der Bänder bei Gewittern beobachtet. An Bord der MARK I könnten sie dir die Haare zu Berg stehen lassen. Aber du bist sicher — zu viel Metall um dich herum.«

»Ich dachte nicht, dass es so etwas in dieser Höhe gäbe.«

»Wir auch nicht. Am besten sprichst du mit dem Professor darüber.«

»Ah — jetzt verschwindet es langsam — wird größer und lichtschwächer — jetzt ist es weg. Ich nehme an, die Luft ist zu dünn. Tut mir leid, dass es nicht mehr da ist.«

»Das war erst die Einleitung«, sagte Kingsley. »Schau nach oben und sieh, was sich dort tut!«

Ein viereckiger Ausschnitt des Sternenhimmels huschte vorbei, als Morgan den Spiegel zum Zenit hin drehte. Zunächst sah er nichts Ungewöhnliches. Daher schaltete er alle Anzeigen der Kontrollkonsole ab und wartete in vollkommener Dunkelheit.

Langsam gewöhnten sich die Augen an die Finsternis. Im Spiegel erschien ein düsterer roter Schimmer, der allmählich intensiver wurde, sich ausbreitete und die Sterne zu verschlingen begann. Er wurde kräftiger und deutlicher und wuchs über die Grenzen der Spiegelfläche hinaus. Bald konnte Morgan ihn ohne Hilfe des Spiegels sehen, denn er erstreckte sich nun bereits halbwegs den Himmel herab. Ein Käfig aus Licht, mit zuckenden, sich bewegenden Stangen senkte sich auf die Erde hinab. Und plötzlich fing Morgan an zu begreifen, warum ein Mann wie Professor Sessui sein ganzes Leben der Entschleierung des Geheimnisses solcher Naturerscheinungen gewidmet hatte.

Die Aurora marschierte zu einem ihrer seltenen Besuche von den Polen herab auf den Äquator zu.

Jenseits des Nordlichts

Morgan bezweifelte, dass selbst Professor Sessui, fünfhundert Kilometer über ihm, einen derart imposanten Ausblick hatte. Der elektromagnetische Sturm entwickelte sich mit bedeutender Geschwindigkeit. Schon jetzt musste er den gesamten Kurzwellenfunk der Erde, der allerdings nur noch nichtwesentlichen Zwecken diente, lahmgelegt haben. Morgan war nicht sicher, ob er das schwache Rauschen hörte oder empfand, ein Geräusch wie das Wispern rieselnden Sandes oder das Knacken trockener Zweige. Anders als die Statik, die die Leuchtkugel verursacht hatte, kam es eindeutig nicht aus dem Lautsprecher; denn es war immer noch vorhanden, nachdem Morgan ihn abgeschaltet hatte.

Vorhänge aus blassgrünem Feuer mit purpurfarbenen Säumen wurden über den Himmel gezogen und dann langsam, wie von einer unsichtbaren Hand, hin und her geschüttelt. Sie zitterten vor den Böen des Solarwindes, des mit Millionen von Kilometern pro Stunde dahinrasenden Sturmes, der von der Sonne zur Erde blies — und weit darüber hinaus. Selbst über dem Mars schwebte jetzt ein dünnes, gespenstisches Nordlicht, und die giftigen Himmel der Venus standen sonnenwärts in Flammen. Oberhalb der vielfach gefalteten Vorhänge breiteten sich lange Strahlen wie das Gerippe eines halb geöffneten Fächers aus, rasten um den Horizont und schienen Morgan mitunter direkt in die Augen, wie die Lichtkegel eines gewaltigen Scheinwerfers. Es war jetzt nicht mehr nötig, die Konsolenbeleuchtung abzuschalten, um das Phänomen besser sehen zu können. Das himmlische Feuerwerk war derart lichtstark, dass man ohne Mühe dabei hätte lesen können.

Zweihundert Kilometer. Die Spinne kletterte noch immer mühe- und geräuschlos. Er konnte sich kaum vorstellen, dass er die Erdoberfläche erst vor einer Stunde verlassen hatte. Fast ebenso schwer fiel es ihm, daran zu glauben, dass die Erde überhaupt noch existierte, während er sich zwischen den engen Wänden einer feurigen Schlucht aufwärtsbewegte.

Diese Illusion dauerte indes nur wenige Sekunden, dann brach das vorübergehende Gleichgewicht zwischen Magnetfeldern und einströmenden Ionenwolken zusammen. Für die Dauer dieser Augenblicke sah Morgan sich tatsächlich aus einem Abgrund aufsteigen, neben dem selbst Valles Marineris, der Grand Canyon des Mars, wie ein Zwerg erscheinen musste. Plötzlich wurden die hundert Kilometer hohen, schimmernden Felsflächen durchsichtig und ließen das Licht der Sterne herein. Sie verloren den Anschein der Körperhaftigkeit und entpuppten sich als fluoreszente Phantome.

Und jetzt kletterte die Spinne wie ein Flugzeug, das die Wolkendecke durchbricht, über das himmlische Schauspiel hinaus. Morgan entwich dem feurigen Nebel, der unter ihm fortfuhr, sich zu winden und zu drehen. Vor vielen Jahren war er mit einem Touristendampfer durch die tropische Nacht gefahren. Er erinnerte sich, wie er mit anderen Passagieren zusammen am Heck gestanden hatte, um die wundersame Schönheit der biolumineszenten Wellen zu bestaunen. Einige der blauen und grünen Farbtöne, die sich jetzt unter ihm ausbreiteten, kamen dem bunten Schimmer gleich, die das Plankton damals erzeugt hatte, und er bildete sich ohne Anstrengung ein, er beobachte abermals einen mit Leben erfüllten Vorgang: das Spiel riesiger, unsichtbarer Bestien, Bewohner der oberen Atmosphäre.

Um ein Haar hätte er sein Vorhaben vergessen. Er erschrak, als man ihn zur Pflicht zurückrief.

»Wie steht's mit der Leistung?«, fragte Kingsley. »Du hast nur noch zwanzig Minuten auf der Zusatzbatterie.«

Morgan überflog die Anzeigen. »Sie ist auf fünfundneunzig Prozent gesunken, aber die Steiggeschwindigkeit hat um fünf Prozent zugenommen. Ich mache jetzt zweihundertzehn.«

»Das ist ungefähr richtig. SPINNE spürt die geringere Schwerkraft. In deiner Höhe ist sie nur noch neunzig Prozent normal.«

Nicht genug, damit ein Mensch es wahrnehmen konnte — besonders, wenn er an einen Sitz geschnallt war und einen Raumanzug von mehreren Kilo trug. Aber Morgan fühlte sich ausgesprochen aufgekratzt und fragte sich, ob er womöglich zu viel Sauerstoff atmete.

Nein, der Durchfluss war normal. Es musste von der Aufregung kommen, in die ihn das himmlische Spektakel versetzt hatte. Davon und von der Genugtuung, die von einem bis jetzt erfolgreichen Unternehmen ausging, das in seiner Art einmalig war.

Diese Erklärung klang völlig vernünftig, und dennoch war er nicht damit zufrieden. Sie rechtfertigte sein derzeitiges Glücksempfinden nicht zur Gänze. Warren Kingsley, ein begeisterter Taucher, hatte oft davon erzählt, dass er ein solches Gefühl in der Schwerelosigkeit des Meeres empfand. Morgan hatte das nie so richtig verstanden, aber jetzt begriff er allmählich, wie es sich anfühlte. Er schien all seine Sorgen dort unten auf dem Planeten zurückgelassen zu haben, der unter den langsam verblassenden Kringeln und Schleifen des Nordlichts verborgen lag.

Die Sterne leuchteten jetzt wieder wie zuvor, nicht mehr beeinflusst durch den feurigen Eindringling von den Polen. Morgan begann den Zenit abzusuchen und fragte sich ohne übertriebenen Optimismus, ob der Turm wohl schon in Sicht sei. Aber alles, was er sah, waren ein paar Meter Band im Widerschein der jetzt lichtschwachen Aurora. Das Band, an dem entlang sich die Spinne geschwind und erschütterungsfrei aufwärtsbewegte. Das dünne Band, an dem sein Leben und sieben andere hingen. Es war so einheitlich und frei von jeglicher Gliederung, dass es keinen Eindruck der Geschwindigkeit vermittelte, mit der die Kapsel sich bewegte. Morgan fand es schwer, zu glauben, dass der Antriebsmechanismus das Band mit einer Geschwindigkeit von mehr als zweihundert Kilometern in der Stunde verschlang. Dieser Gedanke aber brachte ihn mit einem Ruck wieder in seine Kindheit zurück, und plötzlich kannte er den Grund für sein Glücksgefühl.

Er hatte sich von dem Verlust jenes ersten Drachens rasch erholt und danach größere und immer kompliziertere Modelle gebaut. Zum Schluss — kurz bevor er die Meccano-Baukästen entdeckte und das Drachenbauen für immer an den Nagel hängte — hatte er kurze Zeit mit kleinen Fallschirmen gespielt. Es gefiel ihm, zu glauben, er habe die Idee selbst erfunden, obwohl sie ihm ebenso gut beim Lesen eines Buches oder beim Betrachten eines Films in die Quere gekommen sein mochte. Überhaupt war sie so einfach, dass vermutlich jede Generation von Jungen sie von neuem erfand.

Zuerst hatte er sich ein dünnes Stück Holz geschnitzt, etwa fünf Zentimeter lang. An diesem waren zwei Büroklammern befestigt worden. Die Klammern hatte er um die Drachenleine gehakt, so dass das kleine Gefährt mühelos auf- und abgleiten konnte. Sodann war ein taschentuchgroßer Fallschirm aus Reispapier angefertigt worden, mit Seidenfäden, die ein Stück Pappendeckel als Nutzlast hielten. Sobald er den Fallschirm mit Hilfe eines Gummibandes — nur nicht zu fest! — an das kleine Holzstück montiert hatte, konnte das Spiel losgehen.

Vom Wind getrieben, segelte der kleine Fallschirm die Drachenleine hinauf. Wenn er hoch genug war, zog Morgan kräftig an der Leine. Das Stück Pappendeckel glitt aus der Gummibandhalterung, und sein Fallschirm flog in den Himmel davon. Das Holz-und-Büroklammer-Fahrzeug indes kam unter dem Einfluss seines eigenen Gewichts wieder die Leine herabgeglitten und war für den nächsten Einsatz bereit.

Wie neidisch waren seine Blicke den fast gewichtslosen Fallschirmen gefolgt, als sie aufs Meer hinaustrieben. Die meisten fielen ins Wasser, bevor sie noch einen Kilometer weit geflogen waren. Aber manchmal hielt ein tapferer kleiner Fallschirm die Höhe, bis er außer Sicht verschwand. Er stellte sich vor, dass diese glücklichen Fernfahrer die verzauberten Inseln des Pazifiks erreichten. Aber obwohl er seinen Namen und seine Adresse auf den Pappendeckel schrieb, hatte er niemals eine Antwort erhalten.

Morgan lächelte bei diesen Erinnerungen, die er schon halbwegs vergessen hatte und die doch so viel erklärten. Die Träume seiner Kindheit waren durch die Wirklichkeit seines erwachsenen Lebens weit übertroffen worden. Er hatte ein Recht, sich so glücklich zu fühlen.

»Annähernd drei-achtzig«, meldete sich Kingsley. »Wie ist die Batterieleistung?«

»Fällt allmählich ab — fünfundachtzig Prozent — die Batterie gibt langsam den Geist auf.«

»Wenn sie noch zwanzig Kilometer durchhält, hat sie ihre Pflicht getan. Wie fühlst du dich?«

Morgan war versucht, in Superlativen zu antworten; aber die angeborene Vorsicht brachte ihn davon ab. »Mir geht's gut«, antwortete er. »Wenn wir allen unseren Passagieren Schauspiele wie dieses garantieren könnten, dann kämen wir mit der Menge der Schaulustigen wahrscheinlich kaum zurecht.«

»Lässt sich vielleicht arrangieren«, lachte Kingsley. »Wir könnten Monsun-Kontrolle ersuchen, dass sie ein paar Fässer Elektronen am geeigneten Ort ausschütten. Das ist zwar nicht ihr eigentliches Geschäft, aber sie sind ziemlich gut im Improvisieren, oder meinst du nicht?«

Morgan lachte, gab jedoch keine Antwort. Sein Blick war auf die Anzeige gerichtet, aus der jetzt hervorging, dass Leistung und Steiggeschwindigkeit deutlich geringer wurden. Das war jedoch kein Grund zur Besorgnis. Die Spinne hatte 385 von den vorausberechneten 400 Kilometern zurückgelegt, und die Zusatzbatterie war noch immer nicht völlig erschöpft.

In 390 Kilometern Höhe drosselte Morgan die Steiggeschwindigkeit, bis die Spinne sich nur noch kriechend bewegte. Schließlich erstarb die Vorwärtsbewegung ganz, und in einer Höhe von knapp 405 Kilometern kam das Fahrzeug vollends zur Ruhe.

»Ich werfe die Batterie ab«, berichtete Morgan. »Bringt eure Schädel in Deckung!«

Man hatte intensiv darüber nachgedacht, ob eine derart schwere und teure Batterie nicht geborgen werden könne, aber die Zeit war zu knapp für die Improvisierung eines Bremssystems gewesen, mit dessen Hilfe das Gerät sicher am Band entlang in die Tiefe hätte gleiten können, wie Morgans kleines Holzstück auf der Drachenleine. Ein Fallschirm hatte zwar zur Verfügung gestanden, aber man fürchtete, dass die Hülle sich im Band verfangen werde. Glücklicherweise lag die Auftreffstelle der Batterie, ungefähr zehn Kilometer östlich der Erdstation, in dichtem Dschungel. Die taprobanische Fauna würde sich in Acht nehmen müssen, und er war später gerne bereit, sich die Klagen des Ministeriums für Naturschutz anzuhören.

Er drehte den Sicherheitsschlüssel und betätigte sodann den roten Knopf, mit dem die Explosivladung gezündet wurde. Das Fahrzeug ruckte kurz, als sie detonierte. Dann schaltete er auf die Bordbatterie und nahm den Zwillingsmotor wieder in Betrieb.

Die Kapsel nahm den Rest der Strecke in Angriff. Aber ein einziger Blick auf die Konsolenanzeige belehrte Morgan, dass etwas grundlegend schiefgegangen war. Die Spinne hätte mit einer Geschwindigkeit von mehr als 200 km/h steigen sollen; stattdessen bewegte sie sich mit weniger als einhundert, selbst bei voller Leistung. Es bedurfte keiner Tests oder Berechnungen. Morgans Diagnose nahm nicht einmal eine Sekunde in Anspruch; denn die Zahlen sprachen für sich. Es war ihm vor lauter Ärger fast übel, als er zur Erde meldete:

»Wir stecken im Dreck. Die Ladung hat gezündet, aber die Batterie ist nicht abgefallen. Irgendetwas hält sie fest.«

Er brauchte nicht hinzuzufügen, dass dies das Ende seiner Mission bedeutete. Jedermann wusste so gut wie er, dass die Spinne den Turm nun nicht mehr erreichen konnte — mit etlichen hundert Kilogramm totem Gewicht.

Nacht am Jakkagala

Botschafter Radschasinghe brauchte dieser Tage nur wenig Schlaf. Es war, als wolle ihm eine wohlmeinende Natur von der Zeit, die ihm noch verblieb, so wenig wie möglich wegnehmen. Und in einer Nacht wie dieser, da ein Wunder, wie es schon seit Jahrhunderten nicht mehr gesehen worden war, den Himmel über Taprobane erleuchtete — wer hätte da im Bett bleiben wollen!

Wie wünschte er sich, dass Paul Sarath an seiner Seite hätte sein können. Sein alter Freund fehlte ihm mehr, als er je für möglich gehalten hätte. Es gab niemand mehr, der ihn so wie Paul gleichzeitig ärgern und anregen konnte — niemand mehr, mit dem er die Erfahrungen einer längst vergangenen Kindheit teilte. Radschasinghe hatte niemals erwartet, dass er Paul überleben werde, oder dass er den phantastischen Milliarden-Tonnen-Stalagmiten jemals zu sehen bekommen würde, der den Abgrund zwischen seinem Orbitalanker und der Insel Taprobane, sechsunddreißigtausend Kilometer entfernt, überbrückte. Bis zuletzt war Paul mit Bitterkeit gegen das Vorhaben gewesen; er hatte es ein Damoklesschwert genannt und bei jeder Gelegenheit vorhergesagt, dass es einst auf die Erde stürzen werde. Aber selbst er hatte zugeben müssen, dass der Turm auch seine Vorteile hatte.

So geschah es zum Beispiel zum ersten Mal in der Geschichte, dass der Rest der Menschheit von der Existenz Taprobanes wusste und die uralte Kultur der Insel zu entdecken begann. Jakkagala, der düstere Felsen mit seinen noch düstereren Legenden hatte die Aufmerksamkeit vieler auf sich gezogen. Als Ergebnis dieser Entwicklung waren Paul Gelder zugeflossen, die er für seine immer wieder aufgeschobenen Lieblingsprojekte verwenden konnte. Die zwiespältige Persönlichkeit des Schöpfers von Jakkagala hatte zahlreichen Büchern und Videodramen als Vorlage gedient, und die Klang-und-Licht-Vorführung am Fuß des Felsens war ständig ausverkauft. Kurz vor seinem Tod hatte Paul darauf hingewiesen, dass eine wahre Kalidasa-Industrie im Entstehen sei und dass es immer schwerer falle, Erfindung und Wahrheit voneinander zu trennen.

Als es kurz nach Mitternacht offenbar wurde, dass die Nordlichterscheinung ihren Höhepunkt überschritten hatte, ließ sich Radschasinghe ins Schlafzimmer tragen. Wie es seine Gewohnheit war, entspannte er sich, nachdem er seinen Bediensteten eine gute Nacht gewünscht hatte, bei einem Glas Grog und schaltete die Spätnachrichten ein. Es interessierte ihn einzig und allein, welche Fortschritte Morgan machte. Um diese Zeit müsste er sich eigentlich der Unterseite des Turmes nähern.

Als die Bildfläche zum Leben erwachte, erblickte er eine blinkende Leuchtschrift:

Morgan steckt 200 km vom Ziel entfernt fest

Per Tastendruck forderte Radschasinghe weitere Einzelheiten an und stellte mit Erleichterung fest, dass seine Furcht unbegründet war. Morgan steckte nicht fest; er konnte lediglich sein Vorhaben nicht vollenden. Es stand ihm jederzeit frei, zur Erde zurückzukehren — aber seine Rückkehr bedeutete das Todesurteil für Professor Sessui und seine Begleiter.

Dieses lautlose Drama spielte sich in diesem Augenblick also direkt über ihm ab. Radschasinghe schaltete von Text auf Bild, aber dort gab es nichts Neues. Im Gegenteil, was man derzeit zeigte, waren alte Aufnahmen von Maxine Duvals nun schon Jahre zurückliegender ersten Auffahrt.

»Da weiß ich was Besseres«, murmelte Radschasinghe und schaltete das Bildgerät auf sein geliebtes Teleskop.

In den Monaten, nachdem er bettlägerig geworden war, hatte er es nicht mehr benutzen können. Dann aber war Morgan zu einem seiner kurzen Höflichkeitsbesuche gekommen, hatte die Lage analysiert und im Handumdrehen ein Mittel zu ihrer Verbesserung verschrieben. Zu Radschasinghe vergnügtem Erstaunen war kaum eine Woche später eine Gruppe von Technikern erschienen und hatte das Glas auf Fernbedienung umgestellt. Jetzt konnte er den Sternenhimmel und die steile Felswand erforschen und dabei bequem im Bett liegen. Er war Morgan für diese Geste sehr dankbar; sie hatte ihm eine Seite des Ingenieurs gezeigt, von der er bisher nicht gewusst hatte, dass sie überhaupt existiere.

Er war nicht sicher, was er im Dunkel der Nacht zu sehen bekommen würde; aber er wusste haargenau, in welche Richtung er zu schauen hatte; denn er beobachtete den langsamen Abstieg des Turmes schon seit geraumer Zeit. Wenn die Sonne im richtigen Winkel schien, konnte er sogar die vier Leitbänder sehen, die zum Zenit hin konvergierten, ein Quartett vier hauchdünner, geradliniger Striche, die jemand auf den Himmel gekratzt hatte.

Er stellte den Azimut ein und schwang das Teleskop herum, bis es auf einen Punkt senkrecht über dem Gipfel des Sri Kanda zeigte. Während sein Blick mit Hilfe des Glases langsam aufwärts wanderte und angestrengt nach der Kapsel Ausschau hielt, fragte er sich, was der Maha Thero über diese jüngste Entwicklung zu sagen haben würde. Obwohl Radschasinghe nicht mehr mit dem Priester, der nun schon weit über neunzig war, gesprochen hatte, seitdem der Orden nach Lhasa umgezogen war, wusste er, dass die Mönche mit der Unterbringung im Potala nicht zufrieden waren. Der riesige Palast zerfiel allmählich, während sich des Dalai Lamas Testamentsvollstrecker mit der chinesischen Bundesregierung über die Unterhaltungskosten stritten. Nach jüngsten Informationen verhandelte der Maha Thero gegenwärtig mit dem Vatikan, auch dieser in chronischen Geldschwierigkeiten, aber wenigstens noch immer Herr im eigenen Haus.

Alles war in der Tat vergänglich, aber ein zyklisches Muster ließ sich nicht erkennen. Vielleicht wäre eine solche Erkenntnis dem mathematischen Genie Parakarma-Goldberg gelungen; das letzte Mal, als Radschasinghe ihn zu sehen bekam, empfing er gerade einen Wissenschaftspreis für seine Beiträge zur Meteorologie. Radschasinghe hätte ihn um ein Haar nicht erkannt: Er war glatt rasiert und trug einen Anzug nach der neonapoleonischen Mode. Inzwischen jedoch, so schien es, hatte er die Religion gewechselt …

Die Sterne glitten langsam über die große Bildfläche am Fußende des Bettes nach unten, während der Blickpunkt des Teleskops sich dem Turm näherte. Noch immer war von der Kapsel nichts zu sehen, obwohl Radschasinghe davon überzeugt war, dass sie sich jetzt im Blickfeld befinden müsse.

Er wollte gerade zum Nachrichtenkanal zurückschalten, als plötzlich mit der Lichtentfaltung einer eruptierenden Nova ein Stern am unteren Bildrand erschien. Eine Sekunde lang fürchtete er, die Kapsel sei explodiert. Dann aber gewahrte er, dass sie nun mit stetig gleichbleibender Helligkeit leuchtete. Er zentrierte das Bild und drehte auf Maximalvergrößerung.

Vor langer Zeit hatte er einen zweihundert Jahre alten Dokumentarfilm über die frühen Luftkriege gesehen, und er erinnerte sich jetzt an eine Szene, die einen Nachtangriff auf London zeigte. Ein angreifender Bomber war zentral von mehreren Scheinwerferkegeln erfasst worden und hing wie eine leuchtende Motte am Himmel. Was er jetzt sah, war dasselbe Phänomen, nur in hundertfach vergrößertem Maßstab. Diesmal jedoch konzentrierten sich alle Kräfte des Erdbodens darauf, dem Einsamen in der Nacht zu helfen — nicht, ihn zu zerstören.

Eine unbequeme Fahrt

Warren Kingsley hatte seine Stimme wieder unter Kontrolle; sie klang jetzt nur noch dumpf und voller Verzweiflung.

»Wir geben uns alle Mühe, den Mechaniker davon abzuhalten, dass er sich eine Kugel durch den Kopf jagt«, sagte er. »Man kann ihm kaum die Schuld geben. Er wurde zu einer anderen dringenden Aufgabe abgerufen und vergaß einfach, den Haltegurt abzuschrauben.«

Es war also, wie üblich, menschliches Versagen. Während die Explosivladung angebracht wurde, hing die Batterie an zwei Haltegurten. Und nur einer davon war entfernt worden. Solche Dinge ereigneten sich mit monotoner Regelmäßigkeit. Manchmal bedeuteten sie nur ein Ärgernis, bei anderen Malen lösten sie eine Katastrophe aus, und der Verantwortliche trug das Gefühl der Schuld für den Rest seines Lebens mit sich herum. Tadel war nutzlos. In einer Lage wie dieser zählte nur eines: der nächste Schritt.

Morgan hatte den Außenspiegel so weit wie möglich nach unten justiert, aber er konnte die Ursache des Ärgernisses noch immer nicht sehen. Seit dem Verschwinden der Nordlichter lag der untere Teil der Kapsel in völliger Dunkelheit, und ihm stand keine Lampe zur Verfügung, mit der er ihn hätte beleuchten können. Dieses Problem allerdings ließ sich lösen. Wenn die Monsun-Kontrolle den Keller des Turmes mit Megawatt Infrarotstrahlung beschicken konnte, dann würde es ihr ein Leichtes sein, ihm ein paar Photonen zur Verfügung zu stellen.

»Wir können unsere eigenen Scheinwerfer einsetzen«, sagte Kingsley, als Morgan sein Anliegen vortrug.

»Nichts da! Sie scheinen mir genau in die Augen, und ich kann überhaupt nichts mehr sehen. Ich brauche ein Licht hinter und über mir. Irgendjemand wird sich doch wohl in der richtigen Position befinden.«

»Ich erkundige mich«, sagte Kingsley und schien froh, dass er sich nützlich machen konnte. Es kam Morgan lange vor, bis er sich wieder meldete; als er aber auf seine Uhr blickte, sah er überrascht, dass nur drei Minuten vergangen waren.

»Monsun-Kontrolle brächte es vielleicht fertig, aber sie müssten neu kalibrieren. Wenn du mich fragst: Sie haben Angst, dass sie dich aus Versehen braten. Aber Kinte ist sofort einsatzbereit. Sie haben einen pseudoweißen Laser und sind in der richtigen Position. Sollen sie anfangen?«

Morgan überflog seine Koordinaten. Kinte stand hoch im Westen. Das war ausgezeichnet.

»Ich bin bereit«, antwortete er und schloss die Augen.

Fast im selben Augenblick erfüllte eine explosive Lichtfülle die Kapsel. Der Lichtstrahl kam hoch oben aus dem Westen und hatte auf der vierzigtausend Kilometer langen Anreise fast nichts von seiner Leuchtkraft verloren. Er schien rein weiß zu sein, aber Morgan wusste, dass es sich in Wirklichkeit um eine Mischung dreier scharf gestimmter Linien im roten, grünen und blauen Bereich handelte.

Er hantierte ein paar Sekunden lang an der Kontrolle des Spiegels und brachte es schließlich so weit, dass er den Haltegurt zu sehen bekam. Er begann etwa einen halben Meter unter ihm. Das Ende, das er sehen konnte, war mit Hilfe einer großen Flügelmutter an der Basis der Spinne befestigt. Er brauchte nur die Mutter zu lösen, und die Batterie würde hinabfallen …

Morgan saß still und nahm sich ein paar Minuten Zeit, die Lage zu analysieren. Kingsleys Anruf unterbrach seine Überlegungen. Zum ersten Mal seit langer Zeit schwang so etwas wie Zuversicht in der Stimme seines Stellvertreters.

»Wir haben ein paar Berechnungen angestellt, Van. Was hältst du von dieser Idee?«

Morgan hörte ihm zu, dann gab er einen halblauten Pfiff von sich. »Ist das noch innerhalb der Sicherheitstoleranz?«, fragte er.

»Natürlich«, antwortete Kingsley und klang ein wenig beleidigt. Morgan hielt ihm das nicht vor; aber schließlich war nicht er es, der Kopf und Kragen riskierte.

»In Ordnung. Ich versuch's. Aber beim ersten Mal nur für eine Sekunde.«

»Das wird nicht langen. Trotzdem ist es wahrscheinlich eine gute Idee. Auf diese Weise gewöhnst du dich an das Gefühl.«

Sanft lockerte Morgan die Reibungsbremsen, die das Fahrzeug an dem Band festhielten. Im selben Augenblick hatte er das Gefühl, er werde aus dem Sitz gehoben. Er zählte »eins, zwei!« und legte die Bremsen wieder an.

Die Spinne ruckte, und für den Bruchteil einer Sekunde wurde Morgan mit erheblicher Wucht in seinen Sitz gedrückt. Der Bremsmechanismus gab ein ominöses Quietschen von sich, dann kam das Fahrzeug wieder zur Ruhe, abgesehen von ein paar Drehschwingungen des Bandes, die rasch verklangen.

»Das war eine unbequeme Fahrt«, sagte Morgan. »Aber ich bin noch da — ebenso wie die höllische Batterie.«

»Das hatte ich dir schon zuvor gesagt. Du wirst dich etwas mehr anstrengen müssen.«

Morgan wusste wohl, dass er Kingsley bei all den Unterlagen und der Rechnerleistung, die diesem zur Verfügung stand, nichts vorrechnen konnte. Aber er musste sich selbst überzeugen. Im Kopf rechnete er: zwei Sekunden freier Fall — ungefähr eine halbe Sekunde für das Ansetzen der Bremsen — Masse des Fahrzeugs ungefähr eine Tonne … Die Frage war: Was würde zuerst nachgeben — der Haltegurt der Batterie oder das Band, das ihn mitsamt dem Fahrzeug in vierhundert Kilometern Höhe festhielt? Üblicherweise ließ sich gewöhnlicher Stahl mit Hyperdraht nicht vergleichen. Aber wenn er die Bremsen zu plötzlich ansetzte, oder wenn sie blockierten, mochten beide zerreißen. Dann würden er und die Batterie etwa zur selben Zeit auf der Erdoberfläche ankommen.

»Zwei Sekunden also«, sagte er zu Kingsley. »Los geht's!«

Diesmal war der Ruck weitaus schärfer und beunruhigender, und die Drehschwingungen dauerten weitaus länger, bis sie abgeklungen waren. Morgan war sicher, dass er das Abreißen des Gurtes hätte fühlen — oder hören — müssen. Es überraschte ihn nicht, als er beim Blick durch den Spiegel feststellte, dass die Batterie noch immer da war.

Kingsley wirkte nicht allzu besorgt. »Es mag sein, dass wir es drei- oder viermal probieren müssen«, sagte er.

Morgan wollte ihm antworten: »Bist du hinter meinem Job her?« Aber er ließ es sein. Die Äußerung hätte Warren amüsiert; andere hätten sie womöglich missverstanden.

Nach dem dritten Versuch, der ihm kilometerlang vorkam, obwohl er nur etwa hundert Meter gefallen war, löste sich selbst Kingsleys Optimismus allmählich auf. Es war offenbar, dass das Kunststück nicht die beabsichtigte Wirkung hervorbringen werde.

»Mein Kompliment an die Leute, die diesen Haltegurt fabrizieren«, bemerkte Morgan trocken. »Was schlägst du jetzt vor? Einen Drei-Sekunden-Fall, bevor ich auf die Bremse latsche?«

Er sah im Geist, wie Warren den Kopf schüttelte. »Das Risiko ist zu groß. Das Band macht mir nicht so viel Sorge wie der Bremsmechanismus. Für eine solche Belastung ist er nicht gemacht.«

»Na schön — immerhin haben wir's probiert«, antwortete Morgan. »Aber ich gebe noch nicht auf. Der Teufel soll mich holen, wenn ich mich von einer Schraubenmutter kleinkriegen lasse, die mir nur fünfzig Zentimeter vor der Nase sitzt. Ich steige hinaus, und dann hab ich sie!«

Auf der Veranda

Die Menge wuchs, obwohl es auf dem Gipfel kalt und ungemütlich war. Es ging eine hypnotische Wirkung von dem hellen kleinen Stern im Zenit aus, auf den die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit ebenso wie der Laser der Raumstation Kinte gerichtet war. Ankommende Besucher begaben sich geradewegs zu dem nördlichen Band und streichelten es, scheu und zugleich herausfordernd, als wollten sie sagen: »Ich weiß, es ist dumm, aber es gibt mir das Gefühl, als stände ich mit Morgan in Verbindung.« Dann versammelten sie sich rings um die Kaffeemaschine und hörten den Berichten zu, die über die Lautsprecher kamen. Es gab nichts Neues von den Flüchtlingen im Turm. Sie schliefen alle — oder versuchten zu schlafen —, um Sauerstoff zu sparen. Da Morgan bis jetzt noch nicht überfällig war, hatte man sie über die Verzögerung noch nicht informiert. Aber binnen einer Stunde würden sie ohne Zweifel die Station Mitte anrufen, um zu erfahren, was geschehen war.

Maxine Duval war gerade zehn Minuten zu spät angekommen, um Morgan noch zu sehen. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da wäre sie über ein solches Verpassen sehr ärgerlich geworden. Diesmal zuckte sie dagegen nur mit den Schultern und redete sich ein, dass sie die Erste sein würde, die Morgan nach seiner Rückkehr zu fassen bekam. Kingsley hatte ihr nicht erlaubt, mit ihm zu sprechen, und sie hatte selbst diese Anordnung mit Anstand entgegengenommen. Ja, sie wurde alt …

Seit fünf Minuten hatte man von der Kapsel nichts anderes als ein stetiges »In Ordnung« zu hören bekommen, während Morgan sämtliche Funktionen seines Raumanzugs mit der Unterstützung eines Experten von der Station Mitte überprüfte. Die Prüfung war jetzt abgeschlossen. Jedermann wartete voller Spannung auf den entscheidenden nächsten Schritt.

»Ich lasse die Luft aus«, sagte Morgan. Jetzt, da er den Helm geschlossen hatte, erzeugte seine Stimme ein schwaches Echo. »Kabinendruck null. Kein Atemproblem.« Eine Pause von einer halben Minute, dann: »Ich öffne die Tür — schon geschehen! Jetzt löse ich den Sicherheitsgurt.«

In der Menge entstand Bewegung und Gemurmel. Es gab nicht einen, der in diesen Augenblicken nicht in Gedanken dort oben in der Kapsel gewesen wäre, des Abgrunds bewusst, der sich plötzlich vor ihm aufgetan hatte.

»Der Verschluss arbeitet einwandfrei. Ich strecke die Beine aus. Über mir ist nicht viel Platz …

Ich gewöhne mich langsam an die Montur — sehr flexibel — jetzt trete ich auf die Veranda hinaus — keine Angst! — ich habe mir den Sicherheitsgurt um den linken Arm gewickelt …

Puh! Das Bücken ist ziemlich mühselig. Aber ich sehe die Flügelmutter unterhalb der Veranda. Ich rechne mir aus, wie ich an sie herankomme …

Ich knie — nicht sehr bequem — ich habe sie! Jetzt müssen wir feststellen, ob sie sich drehen lässt …«

Die Zuhörer wurden starr und stumm — dann ließen sie die Spannung mit einem nahezu einstimmigen Seufzer der Erleichterung von sich.

»Keine Schwierigkeit! Ich kann sie leicht drehen. Zwei Umdrehungen — ich spüre, wie sie locker wird — IN DECKUNG DORT UNTEN!«

Begeisterungsschreie und Applaus brandeten auf. Ein paar Leute hielten die Hände über den Kopf und taten so, als hätten sie Angst. Ein paar, die noch nicht begriffen hatten, dass die fallende Mutter erst in fünf Minuten eintreffen und zehn Kilometer weit ostwärts aufschlagen würde, sahen echt besorgt drein.

Nur Warren Kingsley nahm an der allgemeinen Begeisterung nicht teil. »Klatschen Sie nicht zu früh«, riet er Maxine. »Wir haben noch nicht alles hinter uns.«

Die Sekunden zogen sich dahin … eine Minute … zwei Minuten …

»Es hat keinen Zweck«, sagte Morgan schließlich, seine Stimme belegt vor lauter Zorn. »Ich bringe den Gurt nicht los. Das Gewicht der Batterie hat ihn in den Windungen festgezurrt. Die Bremsrucke haben ihn wahrscheinlich mit dem Bolzen verschweißt.«

»Komm runter, so schnell du kannst«, sagte Kingsley. »Eine neue Batterie ist unterwegs. Wir können das Fahrzeug in weniger als einer Stunde wieder auf den Weg bringen. Also schaffen wir es bis zum Turm in — ah, ungefähr sechs Stunden. Falls es keine weiteren Unglücksfälle gibt.«

Genau, dachte Morgan. Er selbst würde mit der Spinne nicht wieder losfahren, bevor nicht der malträtierte Bremsmechanismus mit aller Sorgfalt überprüft worden war. Außerdem traute er sich selbst keine zweite Fahrt zu. Er empfand bereits jetzt die Anstrengung der vergangenen Stunden. Müdigkeit würde bald seine geistigen und körperlichen Reaktionen verlangsamen — und das zu einer Zeit, da ein Höchstmaß an Effizienz von beiden verlangt wurde.

Er saß jetzt wieder in seinem Sitz, aber das Schott war noch offen, und draußen, im Widerschein des Lichtkegels der Raumstation Kinte, schimmerte das metallene Band, das den Rumpf der Spinne umlief und das er auf den Namen »Veranda« getauft hatte. Den Sicherheitsgurt hatte er noch nicht wieder angeschnallt. Eine solche Geste hätte bedeutet, dass er seine Niederlage eingestand, und das war ihm noch nie leichtgefallen. Er versuchte, seinen Verstand so genau auf das vorliegende Problem zu konzentrieren, wie der Strahl des Lasers sich auf ihn und sein Fahrzeug konzentrierte.

Was er brauchte, war ein Metallschneider — eine Metallsäge oder eine Zange — um den Haltegurt zu durchtrennen. Zum soundsovielten Mal verfluchte er den Umstand, dass es an Bord der Spinne keinen Werkzeugkasten gab. Aber selbst wenn es einen gegeben hätte, wären darin die Geräte, deren er bedurfte, wahrscheinlich nicht enthalten gewesen.

Die Bordbatterie der Spinne enthielt etliche Megawattstunden. Konnte er diese in irgendeiner Weise zum Einsatz bringen? Er stellte sich eine Funkenbrücke vor, die sich durch den Gurt brannte. Aber selbst wenn der dafür erforderliche dicke Draht vorhanden gewesen wäre — was er natürlich nicht war —, hätte es immer noch keine Möglichkeit gegeben, von der Kabine aus an die Hauptbatterie heranzukommen.

Kingsley Warren mitsamt allen Expertengehirnen, die um ihn versammelt waren, hatte bislang keine Lösung gefunden. Er war auf sich selbst angewiesen, körperlich ebenso wie geistig. So aber hatte er es immer schon haben wollen.

Und dann — gerade als er den Arm ausstreckte, um die Kabinentür zu schließen — wurde ihm plötzlich klar, was er zu tun hatte. Die ganze Zeit über hatte die Lösung des Problems sich in unmittelbarer Nähe befunden.

Der zweite Fahrgast

Morgan fühlte sich erleichtert und auf nicht sonderlich rationelle Art zuversichtlich. Diesmal musste es einfach klappen.

Dennoch rührte er sich nicht von seinem Sitz, bis er den gesamten Vorgang im Einzelnen analysiert und geplant hatte. Als Kingsley sich von neuem meldete und ihn noch eindringlicher als zuvor zu einer schnellen Rückkehr aufforderte, da gab er eine ausweichende Antwort. Er wollte keine falschen Hoffnungen wecken — weder auf der Erde noch oben im Turm.

»Ich habe ein Experiment vor«, sagte er. »Lasst mich ein paar Minuten lang in Ruhe.«

Er nahm die Hyperdrahtspule an sich, die er bei so vielen Vorführungen verwendet hatte — die Spinette, die ihn vor etlichen Jahren an der senkrecht abfallenden Wand des Jakkagala entlang hatte spazieren gehen lassen. Seitdem war aus Sicherheitsgründen der erste Meter Hyperdraht mit einem Plastiküberzug versehen worden, so dass er nicht mehr ganz so unsichtbar war und, bei einiger Vorsicht, selbst mit nackten Fingern gehandhabt werden konnte.

Als Morgan die kleine Schachtel in seiner Hand anblickte, kam ihm zu Bewusstsein, wie sehr sie für ihn die Rolle eines Talismans spielte. Natürlich glaubte er nicht wirklich an solche Dinge; es gab immer einen durchaus logischen Grund dafür, warum er die Spinette mit sich herumtrug. Auf dieser Fahrt hatte er sie wegen der Stärke und Zugbelastbarkeit des Hyperdrahts mitgenommen, und eine weitere Fähigkeit des Drahtes darüber so gut wie vergessen …

Ein weiteres Mal kletterte er aus seinem Sitz, durch das Schott und kniete auf dem schmalen Metallband, das draußen rings um die Peripherie des Fahrzeugs lief und das er die Veranda nannte. Die Wurzel allen Übels, der Bolzen, befand sich nur zehn Zentimeter von ihm entfernt auf der anderen Seite der Metallfläche. Er konnte ihn erreichen, indem er am Rand der Fläche vorbeigriff.

Er spulte den ersten Meter Hyperdraht ab und ließ ihn mit dem Ring, der zugleich als Gewicht und Lot wirkte, durch einen Spalt in der Metallstruktur der Veranda hinab. Das Gehäuse der Spule brachte er im Innern der Kabine in einem Winkel zwischen dem Sitz und dem Schott unter, so dass er es nicht durch eine falsche Bewegung über Bord stoßen konnte. Dann griff er um die Metallfläche herum, bis er den Ring zu fassen bekam. Das war nicht so leicht, wie er es sich vorgestellt hatte; denn selbst der vorzügliche Raumanzug gestattete ihm nicht die völlige Bewegungsfreiheit des Armes, und zweitens versuchte der Ring immer wieder, sich durch pendelnde Bewegung seinem Griff zu entziehen.

Nach einem halben Dutzend Versuchen, die eher ermüdend als ärgerlich waren, weil er wusste, dass er über kurz oder lang doch Erfolg haben würde, gelang es ihm schließlich, den Draht um den Schaft des Bolzens zu schlingen, unmittelbar hinter dem Haltegurt, der durch den Bolzen festgehalten wurde. Jetzt begann der schwierige Teil seines Vorhabens …

Er spulte so viel Draht ab, dass der Bolzen von einem nicht mit Plastik überzogenen Stück des Wundermaterials umspannt wurde, und zog beide Enden fest an, bis der Draht sich mit einem Ruck in einer Furche des Gewindes festsetzte. Morgan hatte sein Geschick noch nie zuvor an einem Stück Hartstahl mit mehr als einem Zentimeter Durchmesser versucht und hatte keinerlei Vorstellung, wie lange er brauchen würde. Er stemmte sich gegen das Metallband der Veranda und nahm seine Säge in Betrieb.

Fünf Minuten später hatte er erheblich zu schwitzen begonnen und wusste nicht, ob er überhaupt einen Fortschritt erzielt hatte. Er wagte es nicht, die Spannung des Drahtes zu verringern, weil er sonst aus der ebenfalls unsichtbaren Kerbe gleiten mochte, die er — hoffentlich — in den Bolzen schnitt. Warren Kingsley hatte mehrmals angerufen, mit immer besorgter klingender Stimme. Morgan hatte ihn abgewimmelt. Bald würde er sich ein wenig Ruhe gönnen, Luft schnappen — und denen dort unten erklären, was er vorhatte. Wenigstens so viel schuldete er ihnen bei all der Sorge, die sie um ihn ausstanden.

»Van«, sagte Kingsley, »was geht da vor? Die Leute aus dem Turm haben angerufen. Was soll ich ihnen sagen?«

»Gib mir noch ein paar Minuten — ich versuche, den Bolzen durchzuschneiden …«

Die ruhige und dennoch bestimmte Frauenstimme, die ihm ins Wort fiel, erschreckte ihn so sehr, dass er um ein Haar den unschätzbaren Hyperdraht losgelassen hätte. Die Worte wurden durch den Raumanzug gedämpft, aber das spielte keine Rolle. Er kannte sie auswendig, obwohl es Monate her war, seit er sie zum letzten Mal gehört hatte.

»Dr. Morgan«, sagte KORA, »bitte legen Sie sich hin, und entspannen Sie sich für zehn Minuten.«

»Tun's auch fünf?«, versuchte er zu handeln. »Ich bin im Augenblick sehr beschäftigt.«

KORA hielt ihn einer Antwort nicht für würdig. Es gab Modelle, die eine einfache Unterhaltung zu führen verstanden, aber seines gehörte nicht dazu.

Morgan hielt sein Versprechen und atmete fünf Minuten lang tief und gleichmäßig. Dann begann er wieder zu sägen. Auf der Metallfläche kniend, vierhundert Kilometer über der Erde, zog er den Hyperdraht hin und her, hin und her. Er spürte erheblichen Widerstand und schloss daraus, dass sich der Draht in den hartnäckigen Stahlbolzen hineinfraß. Mit welcher Geschwindigkeit jedoch, das ließ sich unmöglich sagen.

»Dr. Morgan«, sagte KORA, »Sie müssen sich allen Ernstes eine halbe Stunde hinlegen.«

Morgan fluchte halblaut vor sich hin.

»Sie machen einen Fehler, junge Frau«, antwortete er. »Es geht mir gut.« Aber das war eine Lüge. KORA wusste von dem Schmerz in seiner Brust.

»Mit wem, zum Teufel, unterhältst du dich da, Van?«, erkundigte sich Kingsley.

»Ein Engel flog gerade vorbei«, antwortete Morgan. »Tut mir leid, ich hätte das Mikrofon abschalten sollen. Ich lege eine weitere Pause ein.«

»Geht es vorwärts?«

»Schwer zu sagen. Ich nehme an, dass die Kerbe jetzt schon ziemlich tief ist. Ganz bestimmt …«

Er wünschte sich, dass er KORA hätte abschalten können, aber das war natürlich unmöglich, selbst wenn sie sich nicht zwischen Schlüsselbein und der Hülle seines Raumanzugs seinem Zugriff entzogen hätte. Ein Koronarmonitor, den man abschalten konnte, war schlimmer noch als nutzlos — er war gefährlich.

»Dr. Morgan«, sagte KORA mit unüberhörbar verärgerter Stimme, »ich muss darauf bestehen: eine halbe Stunde vollkommener Ruhe!«

Diesmal gab Morgan keine Antwort. Er wusste, dass KORA recht hatte; aber man konnte von ihr kein Verständnis dafür erwarten, dass es hier nicht nur um sein Leben ging. Und er war sicher, dass sie, wie seine Brücken, eine eingebaute Sicherheitstoleranz enthielt. Ihre Diagnose würde stets auf der pessimistischen Seite liegen; sein Zustand war nicht so besorgniserregend, wie sie behauptete. Wenigstens hoffte er inbrünstig, dass es sich so verhielt.

Jedenfalls wurde der Schmerz in der Brust nicht schlimmer. Er entschloss sich, sowohl ihn als auch KORA zu ignorieren, und fuhr fort zu sägen — langsam und mit gleichmäßigen Bewegungen. Er würde weitermachen, entschied er grimmig, solange es nötig war.

Der entscheidende Augenblick kam ohne Vorwarnung. Die Spinne ruckte heftig, als die Vierteltonne totes Gewicht sich losriss, und hätte ihn um ein Haar in den Abgrund geschleudert. Er ließ die Spinette fallen und griff nach dem Sicherheitsgurt.

Es schien sich alles in Zeitlupengeschwindigkeit abzuspielen, wie in einem Traum. Er empfand keine Furcht, nur eine hartnäckige Entschlossenheit, sich der Schwerkraft nicht ohne bitteren Kampf zu ergeben. Er bekam den Sicherheitsgurt nicht zu fassen, er musste sich in die Kabine zurückgezogen haben …

Er war sich nicht bewusst, die linke Hand überhaupt gebraucht zu haben; jetzt aber stellte er plötzlich fest, dass sie sich um die Angel des offenen Schottes klammerte. Aber noch immer zögerte er, sich durch die Öffnung hindurchzuziehen. Er war hypnotisiert von dem Anblick der stürzenden Batterie, die sich langsam um die eigene Achse drehte wie ein fremdartiger Himmelskörper, während sie immer kleiner wurde. Es dauerte geraume Zeit, bis sie völlig verschwunden war. Erst dann brachte Morgan sich in Sicherheit und fiel in seinen Sitz.

Er saß lange Zeit, lauschte dem Pochen seines Herzens und wartete auf KORAs nächsten ärgerlichen Protest. Zu seiner Überraschung verhielt sie sich jedoch schweigsam, gerade so, als sei sie ebenso erstaunt wie er. Er würde ihr keinen weiteren Anlass zur Klage geben. Von jetzt an hatte er vor, ruhig an der Konsole zu sitzen und seine aufgepeitschten Nerven sich entspannen zu lassen.

Als der Schock von ihm wich, rief er den Berg an.

»Ich bin die Batterie los«, sagte er und hörte die Begeisterungsschreie zu sich heraufschweben. »Sobald ich das Schott geschlossen habe, mache ich mich wieder auf den Weg. Sag Sessui und Kompagnons, sie sollen mich in etwa einer Stunde erwarten. Und bedanke dich bei Kinte für die Beleuchtung, ich brauche sie nicht mehr.«

Er versah die Kabine mit Druck, öffnete den Helm seiner Montur und gönnte sich einen langen, kühlen Schluck vitaminisierten Orangensaft. Dann schaltete er das Triebwerk ein, lockerte die Bremsen und lehnte sich mit einem Gefühl überwältigender Erleichterung in seinen Sitz zurück, während SPINNE bis auf volle Geschwindigkeit beschleunigte.

Er war bereits mehrere Minuten unterwegs, als ihm zu Bewusstsein kam, dass ihm etwas fehlte. In verzweifelter Hoffnung blickte er hinaus auf das Metallband der Veranda. Nein, dort war es nicht. Nun gut, er konnte sich jederzeit eine andere Spinette verschaffen, als Ersatz für die, die jetzt der abgeworfenen Batterie zur Erde hinab folgte. Das Opfer war klein im Vergleich zu der vollbrachten Leistung. Wie merkwürdig war es daher, dass er so aufgeregt war und außerstande, seinen Triumph zu genießen. Er fühlte sich, als hätte er einen treuen alten Freund verloren.

Ausgebrannt

Es war schwer zu glauben, dass der Zwischenfall ihm eine Verspätung von nur dreißig Minuten eingetragen hatte. Morgan wäre bereit gewesen, einen Eid darauf abzulegen, dass die Kapsel wenigstens eine Stunde lang angehalten hatte. Oben im Turm, der jetzt wesentlich weniger als zweihundert Kilometer entfernt war, bereitete sich in diesem Augenblick das Empfangskomitee auf seine Begrüßung vor. Die Möglichkeit, dass es zwischen hier und dem Ziel noch weitere Schwierigkeiten geben könne, kam ihm erst gar nicht in den Sinn.

Als er die Fünfhundert-Kilometer-Linie überschritt, erhielt er eine Glückwunschbotschaft von der Erde. »Übrigens«, fügte Kingsley hinzu, »meldet der Tierwärter des Ruhana-Naturparks einen Flugzeugabsturz. Wir haben ihn inzwischen beruhigt. Falls wir das Loch finden können, haben wir bei deiner Rückkehr ein Souvenir für dich.« Morgan zeigte keine Begeisterung. Es lag ihm nichts daran, die Batterie jemals wieder zu Gesicht zu bekommen. Es wäre etwas anderes gewesen, wenn sie die Spinette hätten finden können. Aber das war ein aussichtsloses Unterfangen.

Das erste Anzeichen von Schwierigkeiten ergab sich in einer Höhe von fünfhundertundfünfzig Kilometern. Die Steiggeschwindigkeit hätte über zweihundert Kilometer pro Stunde betragen sollen, stattdessen lag sie bei einhundertachtundneunzig. Obwohl der Unterschied gering war und seine Ankunft beim Turm nicht merklich verzögern würde, war Morgan darüber besorgt.

Als er nur noch dreißig Kilometer vom Turm entfernt war, hatte er eine Diagnose des Problems erstellt und wusste, dass es diesmal absolut gar nichts gab, das er hätte dagegen unternehmen können. Die Batterie, die eigentlich noch über eine beachtliche Reserve hätte verfügen müssen, brannte allmählich aus. Vielleicht hatten die Bremsrucke und das häufige An- und Abschalten das Problem verursacht; womöglich hatten die empfindlichen Bauteile sogar Schaden erlitten. Was immer die Erklärung sein mochte, der Batteriestrom wurde allmählich geringer, und mit ihm die Steiggeschwindigkeit der Kapsel.

Auf der Erde entstand Bestürzung, als Morgan die Datenanzeige vorlas.

»Ich fürchte, du hast recht«, klagte Kingsley, der, dem Klang seiner Stimme nach zu urteilen, den Tränen nahe war. »Wir schlagen vor, dass du die Geschwindigkeit auf 100 km/h reduzierst. Wir versuchen, die Lebensdauer der Batterie zu errechnen, aber mehr als eine technisch fundierte Schätzung wird dabei wohl nicht herauskommen.«

Nur noch fünfundzwanzig Kilometer — lächerliche fünfzehn Minuten! Hätte Morgan zu beten verstanden, er wäre augenblicklich in die Knie gegangen.

»Wir nehmen an, dass dir zwischen zehn und zwanzig Minuten verbleiben. Die Schätzung beruht auf der Geschwindigkeit, mit der die Stromstärke sinkt. Es wird ziemlich knapp werden, fürchte ich.«

»Soll ich die Geschwindigkeit weiter drosseln?«

»Im Augenblick nicht. Wir versuchen, die Leistungsabgabe der Batterie zu optimieren, und gegenwärtig liegst du richtig.«

»Du kannst euren Scheinwerfer jetzt einschalten. Wenn ich den Turm schon nicht erreiche, dann will ich ihn wenigstens sehen.«

Weder Kinte noch eine der anderen Raumstationen konnte ihm jetzt helfen. Er wollte die Unterseite des Turmes sehen. Das war eine Aufgabe für den Scheinwerfer auf Sri Kanda, der senkrecht zum Zenit hinaufstrahlte.

Einen Augenblick später durchdrang ein Schwall blendender Helligkeit, aus dem Herzen von Taprobane kommend, die Kabine. Nur ein paar Meter entfernt — so nahe, dass er meinte, nach ihnen greifen zu können — erschienen die restlichen drei Leitbänder wie Bahnen aus Licht, die sich in Richtung des Turmes miteinander zu vereinigen schienen. Er folgte ihrem konvergierenden Verlauf — und da war er!

Nur noch zwanzig Kilometer entfernt! In einem Dutzend Minuten hätte er dort sein können. Er wäre durch den Fußboden des kleinen, quadratischen Bauwerks gestiegen, das er dort oben im Himmel schimmern sah, mit Geschenken beladen wie ein urzeitlicher St. Nikolaus. Sein Vorsatz, sich zu entspannen und KORAs Vorschriften einzuhalten, war vergessen. Er ertappte sich dabei, wie er die Muskeln spannte, als könne er durch körperliche Anstrengung dem Fahrzeug auf dem allerletzten Streckenstück Beistand leisten.

In zehn Kilometern Abstand wurde das Summgeräusch des Motors um ein paar Töne tiefer. Morgan hatte damit gerechnet und reagierte sofort. Ohne auf die Anweisung von der Erde zu warten, drosselte er die Geschwindigkeit auf fünfzig km/h. Bei diesem Tempo würde es noch zwölf Minuten dauern, bis er den Turm erreichte, und er fragte sich verzweifelt, ob er in einem asymptotischen Annäherungsmanöver begriffen sei. Er spielte eine Variation des berühmten Wettrennens zwischen Achilles und der Schildkröte. Wenn er die Geschwindigkeit jedes Mal dann halbierte, wenn er die Hälfte der noch verbleibenden Strecke zurückgelegt hatte, würde er den Turm in endlicher Zeit erreichen? Früher hätte er die Antwort sofort gewusst, jetzt war er zu müde, sich den Kopf darüber zu zerbrechen.

Aus fünf Kilometern Entfernung konnte er die Konstruktionseinzelheiten des Turmes erkennen — den Rundgang und das Schutzgeländer sowie das Fangnetz, das völlig nutzlos war und lediglich den Zweck hatte, die öffentliche Meinung zu beruhigen. Allerdings fand er, sosehr er auch die Augen anstrengte, keine Spur des Schleusenschotts, auf das er sich jetzt mit nervenzerrüttend langsamer Geschwindigkeit zubewegte.

Und dann spielte alles plötzlich keine Rolle mehr. Zwei Kilometer vor dem Ziel versagte der Motor der Spinne völlig. Die Kapsel rutschte sogar ein paar Meter in die Tiefe, bevor Morgan die Bremsen ansetzen konnte.

Diesmal jedoch, zu Morgans großer Überraschung, klang Kingsley gar nicht so verzweifelt.

»Wir schaffen es noch«, sagte er. »Lass die Batterie sich zehn Minuten ausruhen. Sie enthält noch genug Leistung für die letzten zwei Kilometer.«

Das waren die längsten zehn Minuten, die Morgan je durchgemacht hatte. Er hätte sich die Zeit vertreiben können, indem er Maxine Duvals immer dringender werdende Anrufe beantwortete. Aber er fühlte sich zu erschöpft, als dass er mit ihr hätte sprechen mögen. Es tat ihm ausgesprochen leid, und er hoffte, dass Maxine ihm verzeihen werde.

Er führte eine kurze Unterhaltung mit Pilot Chang, der ihm berichtete, dass die Flüchtlinge im Turm sich in recht guter Verfassung befänden und angesichts der nahen Rettung wieder Zuversicht gefasst hätten. Sie wechselten sich dabei ab, durch das kleine Bullauge des äußeren Schleusenschotts nach der Spinne Ausschau zu halten, und waren nicht bereit zu glauben, dass er den winzigen Rest der Strecke nicht zurücklegen könne.

Morgan gestand der Batterie eine Extraminute zu. Er war erleichtert, als er den Motor aufsummen hörte; die Messgeräte zeigten eine entsprechende Leistungsabgabe. SPINNE näherte sich dem Turm bis auf einen halben Kilometer, bevor der Motor wieder aussetzte.

»Beim nächsten Mal schaffen wir's«, sagte Kingsley, wobei es Morgan allerdings vorkam, als rede sein Freund sich diese Zuversicht nur ein. »Tut mir leid, dass es so zögernd vorwärtsgeht.«

»Noch mal zehn Minuten?«, erkundigte sich Morgan resigniert.

»Ich fürchte, ja. Diesmal nimm den Motor jeweils nur für dreißig Sekunden in Betrieb und leg dann eine Pause von einer Minute ein. Auf diese Weise saugst du die letzte Wattsekunde aus der Batterie.«

Und aus mir, dachte Morgan müde. Seltsam, dass KORA sich so lange ruhig verhalten hatte. Allerdings stand er diesmal nicht unter physischer Beanspruchung. Es fühlte sich nur so an.

In seiner Sorge um das Fahrzeug hatte er sich selbst vernachlässigt. Seit einer Stunde hatte er nicht mehr an die Glukosetabletten und die kleine Plastikflasche mit Fruchtsaft gedacht. Nachdem er von beiden zu sich genommen hatte, fühlte er sich gekräftigt, und sein einziger Wunsch war, dass er der sterbenden Batterie ein paar von den Kalorien hätte zukommen lassen können.

Jetzt kam der entscheidende Augenblick — die letzte Anstrengung. Ein Versagen war jetzt, da er sich so dicht vor dem Ziel befand, undenkbar. Das Schicksal konnte unmöglich so grausam sein, wo er doch nur noch ein paar hundert Meter brauchte …

Er machte sich natürlich etwas vor. Wie viele Flugzeuge waren am Rand der Landebahn abgestürzt, nachdem sie Ozeane überquert hatten? Wie oft hatten Maschinen oder Muskeln auf den letzten Millimetern versagt? Der Zufall, günstig oder ungünstig, galt für alle gleich. Er hatte keinen Anspruch auf besondere Behandlung.

Die Kapsel schob sich ruckend und stoßend in die Höhe, wie ein sterbendes Tier, das sich in ein Versteck schleppt. Als die Batterie schließlich und endgültig aufgab, da verdeckte die quadratische Basis des Turmes die Hälfte des Firmaments.

Aber sie war noch immer zwanzig Meter von ihm entfernt.

Relativitätstheorie

Es gereichte Morgan zur Ehre, dass er in dem verzweifelten Augenblick, in dem das letzte Energiequant aus der Batterie wich und die Lichter auf der Konsole erloschen, auch sein eigenes Schicksal für besiegelt hielt. Erst ein paar Sekunden später fiel ihm ein, dass er lediglich die Bremsen zu lösen brauchte, um sicher wieder hinab zur Erde zu gleiten. Niemand würde ihn für den Misserfolg des Unternehmens verantwortlich machen; er hatte alles Menschenmögliche getan.

Eine kurze Zeit lang starrte er in dumpfer Wut auf das nahe und doch so unzugängliche Quadrat, auf das der Scheinwerfer von Sri Kanda den Schatten der Spinne zeichnete. Sein Verstand analysierte eine ganze Armee verrückter Pläne und verwarf sie allesamt. Wenn er seine treue kleine Spinette noch gehabt hätte — aber wie hätte er sie zum Turm hinaufbringen sollen? Wenn die Flüchtlinge einen Raumanzug besessen hätten, könnte jemand ein Seil zu ihm herablassen — aber es war ihnen nicht genug Zeit geblieben, eine Raummontur aus dem brennenden Transporter zu bergen.

Wenn dies natürlich ein Videodrama und nicht eine echte Situation gewesen wäre, dann hätte ein Freiwilliger sich opfern können, indem er das Außenschott der Schleuse öffnete und in den fünfzehn Sekunden, die das Vakuum ihm bis zum Eintritt der Bewusstlosigkeit gönnte, ihm ein Seil zuwarf, um die andern zu retten. So groß war Morgans Verzweiflung, dass er diese Möglichkeit einen flüchtigen Augenblick lang ernsthaft in Erwägung zog, bevor der gesunde Menschenverstand die Kontrolle über sein Bewusstsein zurückgewann.

Von dem Augenblick, da SPINNE den Kampf gegen die Schwerkraft aufgab, bis zu Morgans Einsicht, dass er in dieser Lage hilflos war, verging wahrscheinlich nicht einmal eine Minute. Dann stellte Warren Kingsley eine Frage, die in diesem Augenblick absolut überflüssig und nutzlos erschien.

»Gib uns den Abstand noch einmal an, Van. Genau wie weit bist du noch vom Turm entfernt?«

»Was macht es schon aus, zum Teufel? Es könnte ein Lichtjahr sein.«

Unten auf der Erde war es kurze Zeit still. Dann begann Kingsley, von neuem zu sprechen, in dem Tonfall, in dem man ein kleines Kind oder einen schwierigen Kranken anredet: »Es macht eine riesige Menge aus. Sagtest du zwanzig Meter?«

»Ja — ungefähr.«

Zu Morgans ungläubigem Staunen gab Warren einen unmissverständlichen Seufzer der Erleichterung von sich. Es lag sogar Freude in seiner Stimme, als er antwortete: »Und all diese Jahre hindurch, Van, dachte ich, du seist der Chefingenieur dieses Vorhabens. Stell dir vor, es wären wirklich genau zwanzig Meter …«

Morgans Aufschrei hinderte ihn daran, den Satz zu vollenden. »Welch ein Idiot ich bin! Sage Sessui, ich lege in — oh — fünfzehn Minuten an!«

»Vierzehneinhalb, wenn deine Schätzung richtig ist. Und nichts in der Welt kann dich jetzt mehr aufhalten!«

Das war noch immer eine riskante Aussage, und Morgan wünschte, Kingsley hätte sich anders ausgedrückt. Manchmal griffen die Anlegeverankerungen nicht richtig ineinander, weil bei der Herstellung Toleranzen überschritten worden waren. Und dieses System insbesondere war natürlich nie getestet worden.

Er empfand über seine Unfähigkeit, das auf der Hand Liegende zu erkennen, nur geringe Verlegenheit. Unter extremer Belastung konnte ein Mensch seine eigene Telefonnummer, ja, sogar sein Geburtsdatum vergessen. Der Faktor, auf den es jetzt ankam, war bisher von derart untergeordneter Bedeutung gewesen, dass man ihn leicht hätte vergessen können.

Es war alles eine Frage der Relativität. Er konnte den Turm nicht erreichen; aber der Turm würde ihn erreichen. Schließlich bewegte er sich mit zwei Kilometern pro Tag erdwärts.

Am Ziel

Der Rekord für den Baufortschritt eines Tages stand bei dreißig Kilometern. Das war damals, zu Anfang des Vorhabens, als an dem schlanksten und leichtesten Abschnitt des Turmes gearbeitet wurde. Jetzt, da man im Begriff stand, den massivsten Teil der Struktur, sozusagen ihr Fundament, zu fertigen, war die Geschwindigkeit auf zwei Kilometer pro Tag abgesunken. Für Morgans Zwecke war das jedoch ausreichend. In der verbleibenden Zeit konnte er die Justierung der Anlegeverankerung überprüfen und im Geist die kritischen Sekunden durchexerzieren, die zwischen dem vollzogenen Anlegemanöver und dem Lösen der Fahrzeugbremsen lagen. Wenn er die Bremsen zu lange angezogen ließ, dann würde es zu einem ziemlich unebenen Kräftevergleich zwischen der Spinne und den sich unaufhaltsam bewegenden Megatonnen des Turmes kommen.

Es waren lange und entspannte fünfzehn Minuten — genug, hoffte Morgan, um KORA zufriedenzustellen. Zum Schluss aber ging alles plötzlich sehr schnell, und im letzten Augenblick kam er sich wie eine Ameise vor, die unter einer Stanzpresse zerquetscht werden sollte, als die massive Bodenplatte des Turmes sich auf ihn herabsenkte. Jetzt war sie noch meterweit entfernt, und im nächsten Augenblick schon hörte und fühlte er das harte Ineinandergreifen der Verankerungen.

Acht Leben hingen in dieser Sekunde von der Geschicklichkeit und Sorgfalt ab, mit der Ingenieure und Mechaniker sich vor einigen Jahren ihrer Aufgabe entledigt hatten. Wenn die Kupplungen nicht innerhalb der Toleranz aufeinander eingestellt waren, wenn der Greifmechanismus nicht richtig funktionierte, wenn der Anschluss des Fahrzeugs an das Schleusenschott nicht luftdicht war … Morgan versuchte, das Durcheinander von Geräuschen zu interpretieren, das ihm jetzt ans Ohr drang; aber er besaß nicht genug Erfahrung, um die Information zu verstehen, die sie in sich trugen.

Dann leuchtete wie ein Siegesfanal die Anzeige ANLEGEVORGANG BEENDET auf der Konsole auf. Die Teleskopfedern des Fahrzeugankers konnten die Bewegung des ständig vorwärts rückenden Turmes noch weitere zehn Sekunden lang absorbieren. Morgan ließ die Hälfte dieser Zeit verstreichen, bevor er vorsichtig die Bremsen lockerte. Er war darauf vorbereitet, sie unverzüglich wieder anzulegen, falls die Spinne zu stürzen begann. Aber die Sensoren sprachen die Wahrheit. SPINNE und Turm waren fest miteinander verbunden. Morgan brauchte nur noch ein paar Leitersprossen hinaufzuklettern, und er war am Ziel.

Nachdem er seinen Bericht an begeistert jubelnde Zuhörer auf der Erde und in der Station Mitte abgegeben hatte, saß er einen Augenblick lang still, um wieder zu Atem zu kommen. Es kam ihm auf einmal eigenartig vor, dass dies erst sein zweiter Besuch war. Er erinnerte sich kaum noch an den ersten, der vor zwölf Jahren und in einer Entfernung von sechsunddreißigtausend Kilometern von hier stattgefunden hatte. Aus Anlass einer Zeremonie, der man aus Mangel an besseren Einfällen den Namen »Grundsteinlegung« gegeben hatte, war im Keller eine kleine Party veranstaltet worden, mit vielen Trinksprüchen, wozu die Gäste sich die Cocktails infolge der Null-g-Umgebung in die Kehle spritzen mussten. Denn dies war nicht nur der erste Bauabschnitt des Turmes, es war überdies auch der Abschnitt, der als Erster nach seinem langen Abstieg aus der Umlaufbahn die Erde berühren würde. Irgendeine Art von Feier schien daher angebracht, und Morgan erinnerte sich jetzt, dass sogar sein Erzfeind Senator Collins großherzig genug gewesen war, der Party beizuwohnen und ihm mit einer an Anspielungen reichen, im Übrigen aber wohlgemeinten Rede Glück zu wünschen. Jetzt allerdings gab es einen weitaus besseren Grund zum Feiern.

Morgan hörte bereits das gedämpfte Klopfen auf der anderen Seite des Schleusenschotts. Er schnallte den Sicherheitsgurt ab, stieg umständlich auf den Sitz und kletterte die Leiter hinauf. Das Topluk leistete eine Sekunde lang matten Widerstand, als machten die Kräfte, die sich gegen ihn vereint hatten, eine letzte, matte Geste. Es zischte kurz, während der Druckausgleich hergestellt wurde. Dann schwang die kreisförmige Platte nach innen, und hilfreiche Hände halfen ihm nach oben in den Turm. Als Morgan zum ersten Mal von der faulig riechenden Luft atmete, fragte er sich, wie die Flüchtlinge hier hatten überleben können. Wenn seine Mission fehlgeschlagen wäre, dessen war er jetzt so gut wie sicher, wäre jeder weitere Vorstoß zu spät gekommen.

Die nackte, nüchterne Zelle wurde von nichts weiter als ein paar Solarscheiben beleuchtet, die geduldig jahrelang das Sonnenlicht in sich aufgenommen und wieder abgestrahlt hatten, um für den Notfall gerüstet zu sein, der dann ja schließlich auch eingetreten war. Ihr mattes Licht enthüllte eine Szene, die einem längst vergangenen Krieg entstammen mochte: Hier lagen die abgerissenen Gestalten der Flüchtlinge aus einer verwüsteten Stadt, zusammengepfercht in einem Bunker, mit den wenigen Habseligkeiten, die sie hatten retten können. Nicht viele solcher Flüchtlinge würden allerdings Taschen und Tragbehälter besessen haben, deren Aufschriften lauteten: PROJEKTION, LUNAR HOTEL CORPORATION, EIGENTUM DER BUNDESREPUBLIK MARS oder das allgegenwärtige DARF NICHT IN VAKUUM GELAGERT WERDEN. Noch hätten die Flüchtlinge der Vergangenheit so viel Freude gezeigt. Selbst die, die sich nicht vom Boden erhoben, um Sauerstoff zu sparen, brachten ein Lächeln und ein müdes Winken zuwege. Morgan hatte den Gruß eben erwidert, als ihm plötzlich die Beine einknickten und die Welt ringsum in Dunkelheit versank. Er war sein Leben lang nie bewusstlos gewesen, und als eine fauchende Entladung kalten Sauerstoffs ihn wieder zu sich brachte, da empfand er als Erstes ein Gefühl akuter Verlegenheit. Seine Augen blickten nur langsam wieder klar. Er erblickte maskierte Gesichter, die ihn anstarrten. Zuerst dachte er, er sei in einem Krankenhaus. Dann aber kamen Augen und Verstand wieder miteinander in Gleichklang, und er begriff, dass man sein Fahrzeug entladen haben musste, während er ohnmächtig war.

Die Masken waren jene Molekularsiebe, die er mitgebracht hatte. Sie wurden über Mund und Nase getragen und blockierten den Durchfluss von Kohlendioxyd, während sie Sauerstoff frei passieren ließen. Einfach, aber auf einem fortgeschrittenen Konzept beruhend, ermöglichten sie dem Menschen das Überleben in einer Atmosphäre, in der er sonst unverzüglich hätte ersticken müssen. Sie machten das Atmen ein wenig mühseliger — aber die Natur hat für alles ihren Preis, und dieser hier war, gemessen an den Vorteilen, gering.

Immer noch benommen, aber dennoch jede Hilfe ausschlagend, kam Morgan wieder auf die Füße und wurde nun mit Verspätung den Männern und Frauen vorgestellt, die er gerettet hatte. Eines beunruhigte ihn noch immer: Hatte KORA während seiner Bewusstlosigkeit eine ihrer vorprogrammierten Ansprachen losgelassen? Er wollte die Sprache nicht direkt auf dieses Thema bringen; er fragte sich nur …

»In unser aller Namen«, sagte Professor Sessui aufrichtig, aber mit der offensichtlichen Unbeholfenheit des Mannes, der Höflichkeit nicht zu seinen hervorragendsten Eigenschaften zählt, »möchte ich Ihnen für das, was Sie getan haben, danken. Wir danken Ihnen unser Leben.«

Jede Antwort, die darauf denkbarerweise hätte gegeben werden können, musste nach falscher Bescheidenheit klingen. Morgan zog sich aus der Schlinge, indem er vorgab, er müsse seine Maske richten, und dabei einige unverständliche Laute von sich gab. Er wollte sich gerade vergewissern, dass auch wirklich alles, was er mitgebracht hatte, entladen worden war, als Professor Sessui in unverkennbarem Eifer fortfuhr: »Es tut mir leid, dass wir Ihnen keinen Sessel anbieten können. Etwas Besseres als das dort haben wir nicht.« Er deutete auf zwei Instrumentenkästen, die man aufeinandergesetzt hatte. »Sie dürfen sich wirklich nicht zu sehr anstrengen.«

Der Satz hatte einen vertrauten Klang; also hatte KORA tatsächlich gesprochen. Es trat eine verlegene Pause ein, als Morgan dies zur Kenntnis nahm und die Umstehenden zu erkennen gaben, dass sie davon wussten und er wiederum durchblicken ließ, dass er wusste, dass sie wussten — in einem Prozess rasch konvergierender psychologischer Regression, bei dem mehrere Menschen ein Geheimnis teilen und fest entschlossen sind, es nie wieder zu erwähnen.

Er holte ein paar Mal tief Atem — es war erstaunlich, wie rasch man sich an die Masken gewöhnte — und ließ sich auf dem angebotenen Sitz nieder. Ich werde nicht noch einmal ohnmächtig, versprach er sich mit grimmiger Entschlossenheit. Ich liefere die Ware ab und mache mich so schnell wie möglich wieder auf den Weg — hoffentlich, bevor KORA das nächste Mal zu plappern anfängt.

»Diese Dose Dichtungsmittel«, sagte er und deutete auf den kleinsten Behälter, den er mitgebracht hatte, »sollte ausreichen, um das Leck zu stopfen. Sprühen Sie es rings um die Dichtung an der Schleuse; es härtet in wenigen Sekunden. Verbrauchen Sie Sauerstoff nur, wenn es nötig ist. Sie brauchen ihn womöglich zum Schlafen. Ich habe eine CO2-Maske für jeden mitgebracht, plus ein paar Ersatzmasken. Dort sind Nahrung und Trinkwasser für drei Tage — mehr als ausreichend. Der Transporter von 10K müsste morgen hier ankommen. Was die medizinischen Vorräte anbelangt — die werden Sie hoffentlich überhaupt nicht brauchen.«

Er unterbrach sich, um Luft zu holen. Es war nicht leicht, unter einer CO2-Maske hervor zu sprechen, und er empfand mit jedem Augenblick deutlicher die Notwendigkeit, Kräfte zu sparen. Sessuis Leute konnten sich von hier an um sich selbst kümmern. Er jedoch hatte noch eine weitere Aufgabe zu erledigen — und je schneller, desto besser.

Er wandte sich an Chang: »Bitte helfen Sie mir, den Anzug anzulegen. Ich möchte mir die Spur ansehen.«

»Das ist aber nur ein Dreißig-Minuten-Anzug!«

»Ich brauche nur zehn — höchstens fünfzehn.«

»Dr. Morgan — ich bin ein qualifizierter Raumarbeiter, Sie sind es nicht. Niemand darf mit einem Dreißig-Minuten-Anzug ohne Ersatztank oder Versorgungsleitung hinausgehen. Außer in einer Notlage natürlich.«

Morgan lächelte müde. Chang hatte recht. Eine dringende Gefahr bestand nicht mehr. Aber eine Notlage war, was der Chefingenieur als solche definierte.

»Ich möchte mir den Schaden ansehen«, erklärte er, »und die Spuren überprüfen. Es wäre doch ein Jammer, wenn die Leute von 10K Sie nicht erreichen könnten, nur weil man Sie nicht rechtzeitig auf ein Hindernis aufmerksam gemacht hat.«

Chang war mit der Entwicklung offenbar gar nicht zufrieden (der Himmel mochte wissen, was die geschwätzige KORA während seiner Bewusstlosigkeit alles von sich gegeben hatte!), erhob jedoch keinen weiteren Einwand, als er Morgan in die Nordschleuse folgte.

Kurz bevor er den Helm schloss, erkundigte sich Morgan: »Hat der Professor noch weiteren Ärger gemacht?«

Chang schüttelte den Kopf. »Ich nehme an, das CO2 hat ihm die Kraft genommen. Und wenn er wieder anfängt — nun, wir sind ihm sechs zu eins überlegen, wobei man natürlich nicht weiß, ob man sich auf die Studenten verlassen kann. Ein paar von ihnen sind genauso verrückt wie er. Sehen Sie sich nur das Mädchen an, dass dort drüben in der Ecke andauernd vor sich hin kritzelt. Sie ist überzeugt, dass die Sonne ausgeht oder am Explodieren ist — ich weiß nicht genau, welches von beiden — und will die Welt noch vor ihrem Tod warnen. Was uns das wohl einbrächte! Wenn es wirklich so wäre, wüsste ich lieber nichts davon.«

Morgan konnte sich eines Lächelns nicht erwehren; aber dennoch war er der Ansicht, dass keiner der Studenten verrückt war. Exzentrisch womöglich — und außerdem von brillanter Intelligenz. Sonst wären sie nicht bei Sessui. Eines Tages würde er mehr über die Männer und Frauen erfahren, deren Leben er gerettet hatte; aber das konnte erst sein, nachdem sie alle — auf getrennten Wegen — zur Erde zurückgekehrt waren.

»Ich unternehme einen raschen Gang rings um den Turm«, sagte Morgan, »und beschreibe dabei jeden Schaden, so dass Sie ihn nach Mitte durchgeben können. Ich bleibe nicht länger als zehn Minuten draußen — und wenn doch, nun, versuchen Sie nicht, mich hereinzuholen.«

Fahrer Chang antwortete, während er das innere Schott schloss, ebenso praktisch wie kurz angebunden: »Wie, zum Teufel, sollte ich?«

Ein Blick vom Balkon

Das Außenschott der Nordschleuse ließ sich ohne Schwierigkeit öffnen. Quer durch die Dunkelheit, die sich jenseits der Öffnung darbot, zog sich ein feuriger Strich — die Brüstung des Geländers, das den Rundgang säumte, angestrahlt von dem Scheinwerfer, der weit unten auf dem Gipfel des Berges stand. Morgan holte einmal tief Luft und überprüfte die Beweglichkeit seiner Montur. Er fühlte sich völlig in Ordnung und winkte Chang zu, der durch das Bullauge des inneren Schleusenschotts blickte. Dann trat er aus dem Turm hervor.

Der Boden des Rundgangs bestand aus einem dünnmaschigen, stabilen Metallgitter von etwa zwei Metern Weite. Jenseits des Rundgangs streckte sich das Sicherheitsnetz weitere dreißig Meter. Der Abschnitt des Netzes, den Morgan von seinem jetzigen Standort aus überblicken konnte, hatte in den langen Jahren seiner Existenz nichts, aber auch gar nichts aufgefangen.

Er setzte sich in Bewegung, wobei er die Augen gegen die blendende, schmerzhafte Helligkeit des Scheinwerfers abschirmte. Der streifend einfallende Lichtstrahl enthüllte jede noch so winzige Unebenheit in der Seitenfläche des Turmes, die sich über ihm bis in alle Unendlichkeit erstreckte, wie eine Straße zu den Sternen, die sie in gewissem Sinn ja auch war.

Wie erwartet und erhofft, hatte die Explosion auf der gegenüberliegenden Seite des Turmes hier keinen Schaden angerichtet; dazu hätte es einer nuklearen, nicht einer elektro-chemischen Bombe bedurft. Die Zwillingsfurchen der Spur, die jetzt die Ankunft des ersten Fahrzeugs erwarteten, waren frei von Unvollkommenheiten und streckten sich endlos aufwärts. Und fünfzig Meter unterhalb des Balkons, bei dem grellen Gegenlicht schwer zu sehen, befanden sich die schweren Auffangpuffer, einer Aufgabe harrend, die sie hoffentlich nie zu versehen haben würden.

Langsamen Schrittes und immer in unmittelbarer Nähe der Turmwand bewegte sich Morgan westwärts, bis er zur ersten Ecke kam. Er wandte sich um und musterte das offene Schott der Schleuse, den Zufluchtsort, den er jetzt aus der Sicht verlieren würde. Dann schritt er entschlossen an der nackten Wand der Westseite entlang.

Er empfand eine eigenartige Mischung aus Begeisterung und Furcht. Er kannte das Gefühl aus der Zeit, da er schwimmen gelernt hatte und zum ersten Mal ins tiefe Ende vorgedrungen war. Er glaubte zuversichtlich, dass es keine Gefahr gebe; aber sicher konnte er seiner Sache nicht sein. Er war sich dessen bewusst, dass KORA scharf auf ihn aufpasste. Aber Morgan hasste halb getane Arbeit, und hier gab es für ihn noch etwas zu erledigen.

Die Westwand glich der Nordwand bis auf das fehlende Schleusenluk. Auch hier gab es keinerlei Schaden, obwohl diese Seite des Turmes der Stätte der Explosion wesentlich näher gewesen war.

Morgan widerstand der Versuchung, sich zu beeilen. Er befand sich erst seit drei Minuten im Freien. Gemächlich ging er bis zur nächsten Ecke. Er brauchte sie nicht zu umrunden, um zu erkennen, dass aus seinem Plan, rings um den Turm zu gehen, nichts werden würde. Der Rundgang war abgerissen worden und baumelte verdreht ins Nichts hinab. Das Sicherheitsnetz war verschwunden, offenbar von dem stürzenden Transporter mitgerissen.

Ich will mein Glück nicht auf die Probe stellen, dachte Morgan. Aber er konnte der Versuchung nicht widerstehen, an der Ecke vorbeizublicken, wobei er sich an dem letzten Stück zuverlässiger Brüstung festhielt.

In der Spur stak eine Menge Explosionstrümmer, und die Wand des Turmes trug einen hässlichen Fleck, wo sich die Explosion ereignet hatte. Aber soweit Morgan erkennen konnte, gab es keine Beschädigung, die nicht von ein paar Technikern mit Schweißbrennern innerhalb weniger Stunden hätte bereinigt werden können. Er gab Chang eine sorgfältige Beschreibung dessen, was er sah. Chang äußerte Erleichterung und ermahnte ihn, so rasch wie möglich ins Innere des Turmes zurückzukehren.

»Nur keine Angst«, sagte Morgan. »Ich habe noch zehn Minuten, und die Entfernung beträgt nicht mehr als dreißig Meter. Das könnte ich selbst mit angehaltener Luft schaffen.«

Er hatte allerdings nicht die Absicht, es darauf ankommen zu lassen. Für eine Nacht hatte er genug Aufregung erlebt. Zu viel, wenn man KORA glauben konnte. Von jetzt an würde er sich streng nach ihren Anweisungen richten.

Nachdem er zur Schleuse zurückgekehrt war, stand er eine Zeitlang neben der Brüstung, von unten her beleuchtet durch den strahlend hellen Lichtkegel des Scheinwerfers auf Sri Kanda. Er projizierte seinen unendlich verlängerten Schatten längs des Turmes hinauf in Richtung der Sterne. Die Länge des Schattens musste etliche tausend Kilometer betragen und reichte womöglich sogar bis zu dem Transporter, der sich von der 10K-Station her in rascher Fahrt näherte. Wenn er mit den Armen winkte, konnte ihn die Rettungsmannschaft womöglich sehen. Er konnte mit Morsezeichen zu den Leuten sprechen.

Diese belustigende Vorstellung brachte einen ernster zu nehmenden Gedanken hervor. Wäre es womöglich für ihn am besten, mit den anderen hier zu warten und das Risiko der Abfahrt an Bord der Spinne nicht auf sich zu nehmen? Aber die Reise zur Station Mitte, wo ihm ärztliche Behandlung zur Verfügung stand, würde eine Woche dauern. Angesichts des Umstands, dass er in weniger als drei Stunden wieder auf Sri Kanda sein konnte, handelte es sich offenbar nicht um eine vernünftige Alternative.

Es war Zeit, den Balkon zu verlassen. Sein Sauerstoffvorrat schwand, und es gab nichts mehr zu sehen. Welch eine enttäuschende Ironie, wenn man den wunderbaren Ausblick bedachte, den man normalerweise tags wie nachts von diesem Punkt aus hatte. Jetzt indes waren die Erde wie der Himmel durch den mörderisch hellen Scheinwerferstrahl ausgeblendet. Er schwebte in einem winzigen Universum, das aus grellem Licht bestand und allseits von undurchdringlicher Finsternis umgeben war. Es war fast unglaublich, dass er sich im Raum befand. Er fühlte sich so sicher, als stände er auf dem Berg selbst und nicht sechshundert Kilometer darüber. Das war ein Gedanke, den man nicht so schnell vergessen sollte.

Er strich mit der Hand über die glatte, unnachgiebige Oberfläche des Turmes, der im Vergleich zu ihm weitaus gewaltiger war als ein Elefant gegenüber einer Amöbe. Aber eine Amöbe konnte sich einen Elefanten nicht vorstellen — viel weniger einen erschaffen.

»Auf Wiedersehen in einem Jahr, auf der Erde«, sagte er leise und schloss das Schott hinter sich.

Die letzte Dämmerung

Im Keller hielt sich Morgan nur fünf Minuten auf. Jetzt war nicht die Zeit für seichte Unterhaltung, außerdem wollte er nicht selbst von dem kostbaren Sauerstoff verbrauchen, den er mit so viel Mühe hierhergeschleppt hatte. Er schüttelte eine Menge Hände und kletterte in die Spinne hinab.

Es war ein gutes Gefühl, wieder ohne Maske zu atmen — und ein noch besseres, sich daran zu erinnern, dass das Unternehmen ein voller Erfolg gewesen war und dass er in weniger als drei Stunden wieder auf der Erde sein würde. Trotzdem zögerte er, nach all der Mühe, die er auf sich genommen hatte, um den Turm zu erreichen, die Rückfahrt anzutreten. Er gab sich einen Ruck und entkuppelte die Anlegeverankerung. Das Fahrzeug begann alsbald zu fallen. Ein paar Sekunden lang war er schwerelos.

Als er eine Geschwindigkeit von 300 km/h erreicht hatte, wurde das Bremssystem automatisch aktiviert, und das Gewicht kehrte zurück. Die so brutal strapazierte Batterie begann sich jetzt wieder aufzuladen; aber ohne Zweifel war sie so stark beschädigt worden, dass sie sich nicht mehr vollständig regenerieren konnte und stattdessen aus dem Dienst genommen werden musste.

Es gab hier eine besorgniserregende Parallele. Er selbst hatte sich, ebenso wie die Batterie, verausgabt. Sein hartnäckiger Stolz hielt ihn bislang davon ab, einen Arzt zu beordern, der ihn bei der Rückkunft der Spinne in seine Obhut nahm. Er hatte eine Wette mit sich abgeschlossen: Er würde eine solche Anordnung nur treffen, wenn KORA sich noch einmal meldete.

Vorläufig verhielt sie sich schweigsam. Er glitt durch die Nacht und fühlte sich völlig entspannt. Das Fahrzeug war sich selbst überlassen, während er den Himmel bewunderte. Wenige Raumfahrzeuge boten einen derart umfassenden Ausblick, und nicht viele Menschen hatten je unter derart idealen Bedingungen die Sterne beobachten können. Die Nordlichter waren verschwunden, der Scheinwerfer ausgelöscht. Nichts mehr stellte sich dem Leuchten der Konstellationen in den Weg.

Mit Ausnahme selbstverständlich der Sterne, die der Mensch selbst erschaffen hatte. Unmittelbar über ihm hing das schimmernde Leuchtfeuer Ashoka, das für immer über dem indischen Subkontinent verankert war, nur ein paar hundert Kilometer von dem Turmkomplex entfernt. Halbwegs erdwärts hing im Osten Konfuzius, und noch ein Stück tiefer, in derselben Richtung, war Kamehameha. Hoch im Westen dagegen leuchteten Kinte und Imhotep. Das aber waren nur die hellsten Feuer entlang des Äquators; es gab Dutzende anderer, und selbst das schwächste unter ihnen übertraf Sirius an Leuchtstärke. Wie erstaunt einer der alten Astronomen gewesen wäre, diese Perlenschnur längs des Himmels zu erblicken, und wie sehr ihn die Feststellung verwirrt hätte, dass diese Sterne starr an ihrem Platz verharrten und weder auf- noch untergingen, während die herkömmlichen Sterne unbeirrt ihre altbekannte Bahn verfolgten.

Während er die Lichterkette bewunderte, entstand in seiner allmählich ermüdenden Phantasie ein weit imposanteres Bild. Ohne viel Mühe verwandelte seine Vorstellungskraft die von Menschen erschaffenen Sterne in die Lichter längs einer titanenhaften Brücke. Seine Gedanken wurden immer ausgefallener. Wie hatte die Brücke nach Walhalla geheißen, über die die germanischen Helden von dieser Welt in die nächste wechselten? Er konnte sich an den Namen nicht mehr erinnern, aber die Vorstellung war großartig. Weiter noch: Hatten etwa andere Geschöpfe, lange bevor der Mensch auf der Bühne erschien, vergeblich versucht, Brücken durch den Himmel über ihren Welten zu bauen? Er dachte an Saturns unvergleichliche Ringe und die gespenstischen Strukturen, die Uranus und Neptun umschlangen. Obwohl er ganz genau wusste, dass keine dieser Welten von organischem Leben je berührt worden war, malte er sich mit Vergnügen aus, dass er die Überreste fehlgeschlagener Brückenbauunternehmen vor sich habe.

Er wollte schlafen, aber die Phantasie hielt ihn gegen seinen Willen wach. Wie ein Hund, der einen saftigen Knochen entdeckt hatte, ließ sie einfach nicht los. Das Konzept war nicht absurd; es war nicht einmal originell. Viele synchrone Raumstationen besaßen bereits Abmessungen von mehreren Kilometern oder waren durch Kabel miteinander verbunden, die beträchtliche Abschnitte ihrer Umlaufbahn überbrückten. Sie zusammenzufügen und somit einen Ring zu bauen, der die Erde umspannte, wäre ein ingenieurtechnisches Unternehmen von weitaus geringerer Schwierigkeit und mit viel weniger Materialbedarf als der Bau des Turmes.

Nein — kein Ring — ein Rad! Dieser Turm war lediglich die erste Speiche. Es würde weitere Türme (vier? sechs? zwanzig?) längs des Äquators geben. Sobald ihre oberen Enden in der Umlaufbahn fest miteinander verbunden waren, würde das Stabilitätsproblem, das für einen einzelnen Turm so überaus kritisch war, von selbst verschwinden. Afrika, Südamerika, die Gilbert-Inseln, Indonesien — alles Orte, von denen sich die Türme der Zukunft erheben mochten. Denn eines Tages würden mit fortgeschrittenem Wissen und verbesserten Baumaterialien die Türme so gebaut werden können, dass selbst die schlimmsten Hurrikane ihnen nichts mehr anzuhaben vermochten, und damit entfiel die Notwendigkeit, sie auf hohen Berggipfeln zu errichten. Wenn er noch hundert Jahre gewartet hätte, dann hätte er womöglich den Mahajanake Thero überhaupt nicht zu belästigen brauchen …

Während er vor sich hin träumte, erhob sich die dünne Sichel des abnehmenden Mondes unscheinbar über den östlichen Horizont, auf dem bereits der erste Widerschein des erwachenden Tages ruhte. Erdlicht lag auf der gesamten Mondscheibe, und zwar mit solcher Intensität, dass Morgan viele Einzelheiten der im Sonnenschatten liegenden Mondoberfläche erkennen konnte. Er strengte die Augen an, um jenes wunderbaren Anblicks teilhaftig zu werden, der sich früheren Generationen verschlossen hatte — eines Lichtpunkts innerhalb der Sichelhörner. Aber heute Nacht war keine von den Städten, die der Mensch auf seiner zweiten Heimatwelt errichtet hatte, sichtbar.

Nur noch zweihundert Kilometer — weniger als eine Stunde. Es hatte keinen Zweck, um jeden Preis wach bleiben zu wollen. SPINNE war mit automatischer Bremsfahrtprogrammierung ausgestattet und würde sanft aufsetzen, ohne seinen Schlaf zu stören …

Zuerst spürte er den Schmerz. Den Bruchteil einer Sekunde später hörte er KORA sagen: »Bewegen Sie sich nicht! Ich habe um Hilfe gefunkt. Der Krankenwagen ist unterwegs.«

Das war merkwürdig. Aber nicht lachen, trug Morgan sich selbst auf, sie tut nur, was sie für richtig hält. Er empfand keine Furcht, obwohl der Schmerz unter dem Schlüsselbein ziemlich intensiv war. Er versuchte, sich auf das Schmerzgefühl zu konzentrieren, und es gelang ihm allein damit, die Symptome zu lindern. Er hatte schon vor langer Zeit festgestellt, dass man mit Schmerz am besten fertigwurde, indem man ihn objektiv analysierte.

Warren Kingsley rief, aber seine Worte klangen weit entfernt und ergaben keinen Sinn. Er hörte die Besorgnis in des Freundes Stimme und wünschte sich, er könnte sie besänftigen. Aber es blieb ihm keine Kraft mehr, sich mit diesem — oder irgendeinem anderen — Problem zu beschäftigen. Jetzt konnte er selbst die Worte nicht mehr hören: Ein mattes, aber stetiges Rauschen übertönte jeden anderen Laut. Obwohl er wusste, dass das Geräusch nur in seiner Einbildung existierte — oder in den labyrinthähnlichen Windungen des Gehörs, empfand er es als etwas durchaus Wirkliches. Er bildete sich ein, er stände am Fuß eines mächtigen Wasserfalls …

Das Geräusch wurde schwächer, milder, musikalischer. Und plötzlich erkannte er es wieder. Wie wunderbar, hier, an der stummen Grenze des Weltraums, das Geräusch wiederzuhören, an das er sich von seinem ersten Besuch am Jakkagala erinnerte!

Die Schwerkraft zog ihn heimwärts, so wie sie Jahrhunderte hindurch die Silhouetten der Brunnen des Paradieses geformt hatte. Er aber hatte etwas erschaffen, das die Gravitation niemals wieder in ihren Bann ziehen würde, solange es Menschen gab, die genug Wissen und Willenskraft besaßen, es zu erhalten.

Wie kalt sich die Beine anfühlten! Funktionierte das Lebenserhaltungssystem nicht mehr? Aber bald ging die Sonne auf, dann war es wieder warm genug.

Die Sterne verloren an Glanz, viel rascher, als sie es eigentlich hätten tun dürfen. Obwohl der Tag fast angebrochen war, wurde es rings um ihn immer dunkler. Und die Fontänen sanken zurück zur Erde, ihr Rauschen wurde leiser … leiser … leiser …

Plötzlich meldete sich eine andere Stimme, aber Vannevar Morgan hörte sie nicht mehr. Unterbrochen von kurzen, durchdringenden Signalpfiffen schrie KORA in die aufsteigende Dämmerung hinaus:


Hilfe! Jeder, der mich hört, ist aufgefordert, sofort zu Hilfe zu kommen! Kora Alarm! Hilfe! Jeder, der mich hört, ist aufgefordert, sofort zu Hilfe zu kommen!


Sie rief noch immer, als die Sonne über den Horizont stieg und ihre ersten Strahlen die Kuppe des Berges zu erwärmen begannen, der einst heilig gewesen war. Tief unten breitete sich der Schatten des Sri Kanda auf den Wolken aus, seine Kegelform noch immer geometrisch vollendet trotz allem, was der Mensch ihm angetan hatte.

Es gab keine Pilger mehr, die das Symbol der Ewigkeit über das erwachende Land hinauswachsen sahen. Millionen aber würden in den kommenden Jahrhunderten den Schatten beobachten, während sie sicher und bequem zu den Sternen hinauffuhren.

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