IV — Der Turm

Der Weltraumexpress

»Also — mach schon den üblichen, Witz!«, sagte Warren Kingsley ungeduldig.

Morgan grinste, während er die Attrappe musterte. »Es sieht wirklich aus wie ein in die Höhe gekippter Eisenbahnwagen.«

»Das ist genau die Idee, die wir verkaufen wollen«, antwortete Kingsley. »Man kauft sich sein Billett am Bahnhof, gibt das Gepäck auf, steigt ein, setzt sich in seinen Gelenkstuhl und genießt die Aussicht. Oder man geht zur Salonbar hinauf und widmet die nächsten fünf Stunden der Beschäftigung konsequenten Trinkens. Übrigens, was hältst du von der Idee der Innenausstatter — neunzehntes Jahrhundert, Pullman?«

»Nicht viel. Pullman-Wagen hatten keine fünf übereinander angeordneten Etagen mit kreisförmigem Querschnitt.«

»Am besten sprichst du mit den Ausstattern — sie sind in die Gasbeleuchtung förmlich vernarrt.«

»Wenn sie authentisches Altertum wollen, dann verweise ich sie an einen alten Raumfilm, den ich vor einiger Zeit im Kunstmuseum von Sydney fand. Darin kam eine Raumfähre vor, die einen kreisförmigen Aussichtssalon hatte. Genau das, was wir brauchen.«

»Wie hieß der Film, weißt du es noch?«

»Oh — warte mal — Krieg der Sterne 2000 oder so ähnlich. Du wirst das schon irgendwie herausfinden.«

»Die Ausstatter sollen das tun. Jetzt aber herein. Ein Schutzhelm gefällig?«

»Nein«, antwortete Morgan brüsk. Das war einer der Vorteile, wenn man zehn Zentimeter kleiner war als der Durchschnitt.

Als sie die Attrappe betraten, empfand er eine Art jungenhafter Vorfreude. Er hatte den Entwurf überprüft und dem Computer zugesehen, während er mit Grundrissen und Anordnungen spielte. Es war ihm alles bis ins Letzte vertraut. Aber dies hier war echt, zum Anfassen echt. Die Attrappe würde sich nie bewegen; aber ihre identischen Geschwister würden eines Tages durch die Wolken in den Weltraum hinaufschießen und die Station Mitte, fünfundzwanzigtausend Kilometer über der Erdoberfläche, in nur fünf Stunden erreichen. Und das alles für den Preis von einem Dollar Elektrizität pro Fahrgast.

Auch jetzt war es immer noch unmöglich, sich die volle Auswirkung der kommenden Revolution auszumalen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit würde das Weltall ebenso zugänglich sein wie irgendein beliebiger Punkt auf der Erdoberfläche. In ein paar Jahrzehnten würde es sich der Durchschnittsbürger erlauben können, ein Wochenende auf dem Mond zu verbringen, wenn ihn danach gelüstete. Selbst Mars war nicht mehr so undiskutabel. Den neuen Möglichkeiten waren keine Grenzen gesetzt.

Morgan kehrte schlagartig zur Erde zurück, als er über ein Stück schlecht verlegten Teppich stolperte.

»Tut mir leid«, sagte sein Führer. »Das ist auch so eine Idee von den Ausstattern — das Grün soll die Leute an die Erde erinnern. Die Decken werden blau, und zwar umso tiefer blau, je höher die Etage. Überall ist indirekte Beleuchtung geplant, so dass die Sterne sichtbar bleiben.«

Morgan schüttelte den Kopf. »Das ist eine nette Idee, aber sie wird nicht funktionieren. Wenn das Licht hell genug zum Lesen ist, kann man die Sterne nicht mehr sehen. Was wir brauchen, ist ein Abschnitt des Salons, der völlig verdunkelt werden kann.«

»Ist eingeplant — und zwar nehmen wir einen Teil der Bar. Man bestellt sich einen Drink und zieht sich hinter den Vorhang zurück.«

Sie standen jetzt auf der untersten Etage des Fahrzeugs, in einem kreisförmigen Raum von acht Metern Durchmesser und drei Metern Höhe. Ringsum befanden sich etliche Kästen, Zylinder und Schalttafeln, die Aufschriften wie SAUERSTOFFRESERVE, BATTERIE, CO2-ABSORBER, MEDIC und TEMPERATURKONTROLLE trugen. Man sah dem Arrangement an, dass es provisorisch war und jeden Augenblick geändert werden konnte.

»Jemand könnte auf die Idee kommen, wir bauen hier ein Raumschiff«, bemerkte Morgan. »Übrigens: Auf wie viel wird die Überlebensspanne zurzeit geschätzt?«

»Solange Energie vorhanden ist, mindestens eine Woche, selbst mit einer vollen Ladung von fünfzig Fahrgästen. Wirklich absurd, denn die Rettungsmannschaft könnte das Fahrzeug jederzeit in drei Stunden erreichen — von der Erde oder von Mitte.«

»Ausgenommen im Fall einer ernsten Katastrophe, wenn zum Beispiel der Turm oder die Fahrspur beschädigt sind.«

»Wenn der Fall jemals eintritt, dann, glaube ich, wird es niemand zu retten geben. Wenn aber das Fahrzeug lediglich steckenbleibt und die Passagiere nicht durchdrehen und unsere köstlichen Energietabletten alle auf einmal verschlucken, dann haben sie eigentlich nur ein Problem: Langeweile.«

Die zweite Etage war völlig kahl, nicht einmal vorläufige Installationen waren hier vorgenommen worden. Jemand hatte mit Kreide ein großes Rechteck auf die Kunststoffverkleidung der Wand gemalt und hineingeschrieben: SCHLEUSE HIER?

»Das ist der Gepäckraum. Allerdings sind wir noch nicht sicher, ob wir wirklich so viel Platz brauchen. Wenn nicht, können wir hier zusätzliche Fahrgastsitze anbringen. Aber jetzt — die nächste Etage ist weitaus interessanter …«

Die dritte Ebene enthielt ein Dutzend Flugzeugsitze, sämtlich von unterschiedlichem Design. In zweien davon saßen realistisch wirkende Puppen, ein Mann und eine Frau, die äußerst gelangweilt wirkten.

»Die Entscheidung zugunsten dieses Modells ist praktisch schon gefallen«, sagte Kingsley und deutete dabei auf einen luxuriös wirkenden Gliedersessel, an den ein kleiner Tisch montiert war. »Aber wir führen trotzdem zunächst die übliche Marktanalyse durch.«

Morgan hieb mit der Faust in die Polsterung.

»Hat jemand schon mal fünf Stunden lang darin gesessen?«, fragte er.

»Ja — ein Freiwilliger von zweihundert Pfund. Keine Hornhaut am Allerwertesten. Wenn sich die Leute beschweren, erinnern wir sie an die Pionierjahre der Luftfahrt, als es allein fünf Stunden dauerte, um den Pazifik zu überqueren. Außerdem bieten wir natürlich den Komfort geringer Beharrungskräfte fast über die gesamte Strecke.«

Die nächste Etage glich der vorherigen, allerdings fehlten die Stühle. Sie stiegen weiter und erreichten alsbald die nächsthöhere Ebene, der die Innenausstatter offenbar ihre gesamte Aufmerksamkeit gewidmet hatten.

Die Bar sah so aus, als sei sie bereits in Betrieb, und die Kaffeemaschine funktionierte tatsächlich. Über ihr hing in einem verschnörkelten, vergoldeten Rahmen eine Zeichnung von derart unmittelbarem Bezug, dass es Morgan im ersten Augenblick den Atem verschlug. Ein riesiger Vollmond erfüllte das obere linke Viertel des Bildes, und auf ihn zu raste eine geschossförmige Lokomotive, die vier Wagen hinter sich herzog. An den Fenstern eines Abteils mit der Aufschrift »Erster Klasse« sah man zylinderbehütete Gestalten des viktorianischen Zeitalters die Aussicht bewundern.

»Wo habt ihr das aufgetrieben?«, erkundigte sich Morgan in staunender Bewunderung.

»Sieht so aus, als wäre der Titel schon wieder heruntergefallen«, entschuldigte sich Kingsley und begann, hinter der Bar zu stöbern. »Ah, hier ist er!«

Er reichte Morgan eine Karte, auf der in altertümlicher Schrift gedruckt war:


RAKETENZÜGE ZUM MOND

Zeichnung aus der Ausgabe von 1881 des Romans

VON DER ERDE ZUM MOND

Direkt

in 97 Stunden und 20 Minuten

UND EINE REISE UM DEN MOND

von Jules Verne


»Ich muss leider bekennen, dass ich das Buch nie gelesen habe«, sagte Morgan. »Ich hätte mir eine Menge Ärger sparen können. Trotzdem möchte ich fragen, wie er ohne Schienen zurechtgekommen ist …«

»Wir sollten Jules nicht zu ernst nehmen. Das Bild war nicht ernstgemeint — eher ein Spaß des Zeichners.«

»Trotzdem — übermittle den Innenarchitekten mein Kompliment. Das Bild ist eine ihrer besseren Ideen.«

Danach wandten sich Morgan und Kingsley dem großen Aussichtsfenster zu, auf dem ein Projektionssystem ein atemberaubendes Bild der Erde erzeugte — und zwar nicht irgendeines, wie Morgan mit Befriedigung feststellte, sondern das richtige. Taprobane selbst konnte man natürlich nicht sehen, es lag senkrecht unter dem Fahrzeug. Dagegen zeigte die Aussicht den gesamten indischen Subkontinent bis hinauf zu den glitzernden Schneeflächen des Himalaja.

»Weißt du«, sagte Morgan plötzlich, »es wird genauso sein wie bei der Brücke. Menschen werden die Reise nur um der Aussicht willen unternehmen. Die Station Mitte wird die größte Touristenattraktion aller Zeiten sein.« Er blickte zur tiefblauen Decke hinauf. »Gibt's da oben noch was Nennenswertes zu sehen?«

»Eigentlich nicht. Die vordere Schleuse ist fertig, aber wir haben uns noch nicht entschlossen, wo wir die Ersatz-Lebenserhaltungssysteme und die Elektronik für die Fahrspurkontrolle unterbringen.«

»Habt ihr damit Probleme?«

»Nicht mit den neuen Magneten. Unter Motorkraft und im Leerlauf garantieren wir sicheren Spurspielraum bis zu einer Geschwindigkeit von achttausend Kilometer pro Stunde — fünfzig Prozent über der vorgesehenen Höchstgeschwindigkeit.«

Morgan gab einen unhörbaren Seufzer der Erleichterung von sich. Dies war ein Gebiet, auf dem er keine Entscheidungen treffen konnte und ganz und gar auf den Rat anderer angewiesen war. Von allem Anfang an war klar gewesen, dass nur ein magnetischer Antrieb solchen Geschwindigkeiten gewachsen war. Der geringste physische Kontakt — bei einer Fahrt von mehr als einem Kilometer pro Sekunde — musste katastrophale Folgen haben. Die vier Spurenpaare, die in der Form von Fugen die Wände des Turmes entlangliefen, hatten jedoch gegenüber dem Umfang der Magnete nur wenige Zentimeter Spielraum. Sie hatten so ausgelegt werden müssen, damit augenblicklich massive Rücklenkkräfte zum Einsatz gebracht werden konnten, sobald sich das Fahrzeug von der Mittellinie zu entfernen drohte.

Als Morgan hinter Kingsley her die Wendeltreppe hinabstieg, die die Attrappe in ihrer gesamten Länge durchzog, überkam ihn ein ernüchternder Gedanke. Ich werde alt, sagte er zu sich selbst. Oh, ich hätte ohne Mühe zur sechsten Ebene hinaufsteigen können; aber ich bin froh, dass wir uns dagegen entschieden.

Dabei bin ich erst neunundfünfzig, und selbst wenn alles nach Plan geht, wird es noch mindestens fünf Jahre dauern, bis das erste Passagierfahrzeug zur Station Mitte hinauffährt. Dann weitere drei Jahre Test, Kalibrierung, Systemeinspielung. Nehmen wir an, um sicher zu sein: zehn Jahre …

Trotz der Wärme schauderte er plötzlich. Zum ersten Mal kam es Vannevar Morgan in den Sinn, dass er den Triumph, dem er seine Seele verschrieben hatte, womöglich nicht mehr erleben werde. Ohne es zu bemerken, drückte er die Handfläche gegen die schlanke Metallscheibe, die er unter dem Hemd auf der Brust trug.

Kora

»Warum sind Sie erst jetzt gekommen?«, hatte Dr. Sen gefragt — in einem Tonfall, als spräche er zu einem zurückgebliebenen Kind.

»Der übliche Grund«, antwortete Morgan, während er mit dem gesunden Daumen den Haftsaum seines Hemdes entlangfuhr. »Ich hatte zu viel zu tun, und wenn mir der Atem ausging, dann gab ich der Höhe die Schuld.«

»Die Höhe hat natürlich etwas damit zu tun. Am besten lassen Sie alle Ihre Leute, die auf dem Berg arbeiten, überprüfen. Trotzdem — wie konnten Sie etwas derart Offensichtliches einfach übersehen?«

»Ja, wie?«, fragte sich Morgan hilflos.

»All die Mönche — viele von ihnen waren über achtzig! Sie wirkten so gesund, dass es mir nie in den Sinn kam …«

»Die Mönche leben dort droben seit Jahren — sie sind vollständig angepasst. Aber Sie sind ein paar Mal am Tag hinauf- und heruntergefahren …«

»Zweimal, nicht mehr!«

»… von Meereshöhe bis zu einer halben Atmosphäre innerhalb weniger Minuten. Na schön, noch ist der Schaden nicht zu groß — falls Sie sich nach meinen Anweisungen richten — und Koras.«

»Kora?«

»Koronaralarm.«

»Aha — eins von den Dingern.«

»Ja, eines von den Dingern. Sie retten ungefähr zehn Millionen Menschenleben pro Jahr. Zumeist hohe Beamte, Topmanager, ausgezeichnete Wissenschaftler, hervorragende Ingenieure und ähnliche Schafsköpfe. Ich frage mich oft, ob es der Mühe wert ist. Vielleicht versucht die Natur, uns ihren Standpunkt klarzumachen, und wir hören nicht hin.«

»Denken Sie an Ihren hippokratischen Eid, Bill«, mahnte Morgan grinsend. »Außerdem müssen Sie zugeben, dass ich mich immer streng nach Ihren Anweisungen richte. Ich habe zum Beispiel mein Gewicht im Lauf der vergangenen Jahre um kein Kilogramm geändert.«

»Hm, ja — Sie sind nicht der schlimmste unter meinen Patienten«, gab der Arzt halbversöhnt zu. Er suchte in seinem Schreibtisch und brachte schließlich ein großes Hologramm zum Vorschein. »Suchen Sie sich eines aus — dies sind die Standardmodelle. Sie haben die Wahl der Farbe — solange es Medizin-Rot ist.«

Morgan rief die einzelnen Darstellungen ab und musterte sie mit Abscheu.

»Wo muss ich das Ding tragen?«, fragte er. »Oder wollen Sie es unter die Haut operieren?«

»Das ist vorläufig noch nicht nötig. In fünf Jahren vielleicht, aber auch dann noch nicht mit Sicherheit. Ich schlage vor, Sie nehmen zuerst dieses Modell. Es wird unter dem Schlüsselbein getragen und bedarf daher keiner zusätzlichen Sensoren. Nach einer Weile werden Sie vergessen, dass Sie es tragen. Es macht sich nicht bemerkbar, solange es nicht gebraucht wird.«

»Aber dann?«

»Hören Sie zu!«

Der Arzt betätigte einen der vielen Schalter auf seiner Schreibtischkonsole. Eine liebliche Mezzosopranstimme ließ sich in beiläufigem Tonfall hören: »Ich meine, Sie sollten sich hinsetzen und ungefähr zehn Minuten lang ausruhen.« Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Es wäre angemessen, wenn Sie sich eine halbe Stunde hinlegten.« Und dann: »Sobald es geht, treffen Sie eine Verabredung mit Dr. Sen.«

Schließlich:

»Bitte nehmen Sie unverzüglich eine von den roten Tabletten.«

»Ich habe den Krankenwagen gerufen; legen Sie sich hin, und entspannen Sie sich. Es ist alles in Ordnung.«

Morgan hielt die Hände gegen die Ohren, als plötzlich ein gellendes Pfeifen ertönte.

»KORA ALARM! JEDER, DER MICH HÖRT, IST AUFGEFORDERT, SOFORT ZU HILFE ZU KOMMEN. KORA ALARM! JEDER, DER MICH HÖRT …«

»Sie sehen, wie das funktioniert«, sagte der Arzt und stellte mit einem Knopfdruck wieder Ruhe in seiner Ordination her. »Das Programm und die Antworten sind selbstverständlich auf den individuellen Patienten zugeschnitten. Es gibt eine Menge Stimmen zur Auswahl, darunter einige von Berühmtheiten.«

»Danke, diese hier wird's tun. Wann ist das Gerät fertig?«

»Ich rufe Sie in etwa drei Tagen an. Oh, und außerdem — die auf der Brust getragenen Geräte bringen einen Vorteil mit sich, den ich nicht unerwähnt lassen darf.«

»Welcher ist das?«

»Einer meiner Patienten ist begeisterter Tennisspieler. Er sagt, wenn er sein Hemd öffnet, hat der Anblick der kleinen roten Box einen absolut vernichtenden Effekt auf das Spiel seines Gegners …«

Schwindel

Es hatte mal eine Zeit gegeben, da oblag es jedem zivilisierten Menschen, sein Adressbüchlein jeweils auf dem neuesten Stand zu halten. Die Einführung des Universalcodes hatte dieser Pflicht ein Ende gemacht, da die Anschrift eines jeden Individuums, dessen für die gesamte Lebensdauer ausgestellte Identitätschiffre bekannt war, sich innerhalb von Sekunden ermitteln ließ. Und selbst wenn die Chiffre nicht bekannt war, so konnte sie mit Hilfe eines Suchprogramms gefunden werden, solange man nur das ungefähre Geburtsdatum des Individuums, seinen Beruf und die eine oder andere Einzelheit wusste. (Natürlich gab es ein paar Probleme, wenn der Name des Gesuchten Smith oder Singh oder Mohammed lautete …)

Die Entwicklung globaler Informationssysteme hatte auch mit einer weiteren, ärgerlichen Pflicht aufgeräumt. Man brauchte die Speichereintragung derjenigen Bekannten, denen man einen Glückwunsch zum Geburtstag oder sonst einem Jubiläum zu senden wünschte, nur mit einer entsprechenden Markierung zu versehen, und der Heimcomputer erledigte den Rest. Am passenden Tag (es sei denn, die Programmierung enthielt einen Fehler, was leider oft genug der Fall war) erhielt der also Auserwählte automatisch die ihm zugedachte Botschaft. Zwar mochte sich der Empfänger denken, dass die warmen Worte, die sich auf der Bildfläche seines Empfängers spiegelten, ein Produkt der Elektronik waren — und dass der angebliche Verfasser seiner womöglich seit Jahren nicht mehr gedacht habe —, aber die Geste wurde nichtsdestoweniger mit Dankbarkeit entgegengenommen.

Aber dieselbe Technologie, der diese Pflichten zum Opfer gefallen waren, hatte einer Reihe neuer und womöglich anstrengenderer Aufgaben zur Geburt verholfen. Die womöglich wichtigste unter ihnen war die Planung — und Aufrechterhaltung — eines Individuellen Interessen-Profils.

Viele warteten bis zum Jahresende oder bis zu ihrem Geburtstag, um ihr IIP auf den neuesten Stand zu bringen. Morgans Liste enthielt fünfzig Eintragungen; er hatte von Leuten mit Hunderten gehört. Sie mussten jede wache Stunde mit dem Kampf gegen die unablässige Informationsflut verbringen, es sei denn, sie gehörten zu jener Gruppe von notorischen Spaßmachern, die von ihren Heimkonsolen aus Nachrichtenalarme für derart klassische Unwahrscheinlichkeiten einrichteten wie zum Beispiel:

Eier, Dinosaurus, Ausbrüten von

Kreis, Quadratur des

Atlantis, Wiederauftauchen von

Christus, zweite Ankunft des

Loch Ness Monster, Gefangennahme des

oder schließlich:

Welt, Ende der

Normalerweise führten Egoismus oder berufliche Notwendigkeit — oder beide — dazu, dass der Name des Konsolenbesitzers als Erster auf der Liste erschien. Morgan war in dieser Hinsicht keine Ausnahme, aber die weiteren Einträge waren ein wenig ungewöhnlich:

Turm, Orbital-

Turm, Weltraum-

Turm, (geo)synchron

Aufzug, zu den Sternen

Aufzug, Orbital-

Aufzug, (geo)synchron

Die Liste erfasste die Mehrzahl der Varianten, die von den Nachrichtenmedien verwendet wurden, und gaben ihm die Gewissheit, dass er wenigstens neunzig Prozent der Meldungen, die sich mit seinem Projekt befassten, zu sehen bekam. Von diesen waren die allermeisten trivial, und manchmal fragte er sich, ob es wirklich der Mühe wert sei, sie nachzusehen. Diejenigen, die von Bedeutung waren, würden ohnehin rasch genug bis zu ihm durchdringen.

Er war dabei, sich ausgiebig die Augen zu reiben, und das Bett hatte sich noch nicht ganz in die Wand seines bescheidenen Appartements zurückgezogen, als er bemerkte, dass auf seiner Konsole die Alarmleuchte blinkte. Er betätigte die Schalter mit den Aufschriften KAFFEE und ABSPIELEN gleichzeitig und wartete mit Ungeduld auf die während der vergangenen Nacht entstandene Sensation.

ORBITALTURM ABGESCHOSSEN

besagte die Schlagzeile.

»Weitere Information?«, fragte die Konsole.

»Und ob«, erwiderte Morgan, der inzwischen hellwach war.

Während der nächsten Minuten, als er die Datenanzeige las, wechselte seine Laune von Ungläubigkeit zu Ärger, und dann zu echter Besorgnis. Er schaltete den gesamten Artikel auf Warren Kingsleys Konsole und hängte ein Etikett »Rückruf sobald wie möglich« daran. Dann begann er zu frühstücken, immer noch voller Ärger.

Fünf Minuten später erschien Kingsley auf der Bildfläche.

»Wir sollten uns glücklich preisen, Van«, sagte er resigniert und belustigt zugleich. »Er hat fünf Jahre gebraucht, um auf uns aufmerksam zu werden.«

»Das ist das Lächerlichste, was mir je zu Augen gekommen ist! Sollen wir es ignorieren? Wenn wir ihm antworten, wird womöglich die Öffentlichkeit auf ihn aufmerksam. Und das will er ja nur!«

Kingsley nickte. »Das ist wahrscheinlich die beste Strategie. Überreaktion ist gefährlich. Ganz davon abgesehen: Vielleicht hat er sogar recht.«

»Wie meinst du das?«

»Es gibt außer den ingenieurtechnischen auch psychologische Probleme«, sagte Kingsley, der plötzlich ernst geworden war. »Denk mal darüber nach. Ich seh dich im Büro.«

Sein Bild auf dem Schirm verblasste. Morgan war ein wenig bedrückt. Kritik konnte er vertragen und wusste sie zu handhaben. Mehr noch: Er genoss das Hin und Her, das Geben und Nehmen technischer Diskussionen mit seinesgleichen und ertrug die seltenen Vorkommnisse, bei denen er mit seinen Argumenten den Kürzeren zog, mit Gleichmut. Mit Donald Duck dagegen war nicht so leicht fertigzuwerden.

Das war natürlich nicht sein wahrer Name; aber Dr. Donald Bickerstaffs eigene Marke verärgerten Negativismus erinnerte einen unwillkürlich an jene mythologische Gestalt des zwanzigsten Jahrhunderts. Er hatte seinen akademischen Grad (angemessen, aber nicht brillant) auf dem Gebiet der reinen Mathematik erworben. Seine Stärke lag in der Imposanz seiner Erscheinung, der wie Honig fließenden Stimme und seiner unerschütterlichen Überzeugung, dass er dazu berufen sei, Urteile zu jedem Thema abzugeben, gleichgültig, welches Wissensgebiet es berührte. In seinem eigenen Fach war er recht gut. Morgan erinnerte sich mit Vergnügen an eine öffentliche Vorlesung altmodischen Stils, die Dr. Bickerstaff am Königlichen Institut gehalten hatte. Für die Dauer fast einer ganzen Woche hatte er damals die ungewöhnlichen Eigenschaften transfiniter Zahlen zu verstehen geglaubt.

Unglücklicherweise kannte Bickerstaff seine Grenzen nicht. Er besaß zwar einen ihm ergebenen Kreis von Jüngern, die Abonnenten seines Informationsdiensts waren — in früheren Zeiten hätte man ihn einen Populärwissenschaftler genannt —, aber die Zahl seiner Kritiker war noch um einiges größer. Die milder Gesinnten unter diesen hielten ihm zugute, dass er einfach über das Ausmaß seiner Intelligenz hinaus ausgebildet worden war. Die anderen nannten ihn einen selbstbeschäftigten Idioten. Es war ein Jammer, dachte Morgan, dass man Bickerstaff nicht mit Dr. Goldberg/Parakarma zusammen in einen Raum sperren konnte. Sie würden einander womöglich auslöschen wie Elektron und Positron — das Genie des einen die fundamentale Dummheit des anderen annihilieren. Jene unerschütterliche Dummheit nämlich, gegen die, wie Goethe sagte, selbst die Götter vergebens kämpfen. Angesichts der gegenwärtig geringen Verfügbarkeit von Göttern sah Morgan sich veranlasst, diese Aufgabe selbst zu übernehmen. Obwohl er seine Zeit wirksamer hätte nützen können, meinte er, dass die Sache ihm womöglich zu einer Art komischer Erleichterung verhelfen werde. Da war ein Präzedenzfall, der ihn inspirierte.

Es gab nur wenige Bilder in dem Hotelzimmer, das seit fast zehn Jahren eines von Morgans vier »vorübergehenden« Quartieren war. Das hervorstechendste unter ihnen war eine Fotografie, die so vorzüglich »gestellt« war, dass ihre Betrachter es schwer fanden, an die Echtheit ihrer Bestandteile zu glauben. Das Bild wurde beherrscht von einem elegant-schlanken, wundervoll wiederhergestellten Dampfschiff, dem Vorfahren aller, die sich danach mit dem Attribut »modern« belegt hatten. Seitwärts des Schiffes, an der Pier, zu der es einundeinviertel Jahrhundert nach seinem Stapellauf wunderbarerweise wieder zurückgekehrt war, stand Dr. Vannevar Morgan. Er blickte zu den Verzierungen an dem profus bemalten Bug hinauf. Ein paar Meter entfernt, den Blick fragend auf den Ingenieur gerichtet, stand Isambard Kingdom Brunel — die Hände in den Taschen, eine Zigarre fest zwischen den Zähnen haltend und mit einem zerknitterten, schlammbespritzten Anzug angetan.

Die Bestandteile des Fotos waren durchaus echt. Morgan hatte in der Tat neben der Great Britain gestanden, an einem sonnigen Tag in Bristol, im Jahr nach der Vollendung der Gibraltar-Brücke. Brunel natürlich gehörte ins Jahr 1857; er wartete damals auf den Stapellauf seines späteren und wesentlich berühmteren Leviathans, dessen unglückseliges Schicksal ihn schließlich an Leib und Seele zerbrochen hatte.

Die Fotografie war ein Geschenk zu Morgans fünfzigstem Geburtstag und eines seiner geschätztesten Besitztümer. Seine Kollegen, die Morgans Bewunderung für den größten Ingenieur des neunzehnten Jahrhunderts wohl kannten, hatten mit dem Bild einen wohlgemeinten Spaß machen wollen. Manchmal aber fragte er sich, ob die Fotografie nicht einen weitaus tieferen Bezug zu seinem Dasein habe, als es auf der Oberfläche erscheinen wollte. Die Great Eastern hatte ihren Erbauer verschlungen. Dasselbe Schicksal mochte ihm der Fahrstuhl zu den Sternen bereiten.

Brunel war natürlich ebenfalls von Donald Ducks umgeben gewesen. Der hartnäckigste unter ihnen war ein gewisser Dr. Dionysius Lardner, der jenseits allen Zweifels bewiesen hatte, dass ein Dampfschiff niemals den Atlantik überqueren könne. Ein Ingenieur verstand es, sich gegen Kritik zu wehren, die von falschen Voraussetzungen ausging oder auf fehlerhaften Berechnungen beruhte. Aber das Argument, das Donald Duck anbrachte, lag auf einer anderen Ebene und war weitaus schwerer zu widerlegen. Morgan erinnerte sich plötzlich, dass sein Held, dreihundert Jahre zuvor, Ähnliches hatte ertragen müssen.

Er griff nach seiner kleinen, aber unendlich wertvollen Sammlung echter Bücher und zog jenes eine hervor, das er öfter als jedes andere gelesen hatte: Rolts klassische Biografie »Isambard Kingdom Brunel«. Er blätterte und fand rasch die Stelle, an die er soeben erinnert worden war.

Brunel plante einen drei Kilometer langen Eisenbahntunnel — ein »monströses und außergewöhnliches, überaus gefährliches und unpraktisches« Konzept. Es war unvorstellbar, behaupteten seine Kritiker, dass der Mensch die Qualen ertragen könne, denen er beim Durchqueren solch höllischer Tiefen ausgesetzt war. »Niemand könnte sich wünschen, derart vollkommen vom Tageslicht abgeschlossen zu sein, mit dem Wissen, dass über ihm ein Gewicht lastete, das im Fall eines Unglücks ausreichend war, ihn zu zerquetschen — der Donner zwei einander begegnender Züge müsste die Nerven erschüttern — man könnte keinen Fahrgast dazu bringen, die Fahrt ein zweites Mal zu unternehmen.«

Es klang alles so vertraut. Das Motto der Lardner und Bickerstaff war: »Der erste Versuch unterbleibt.«

Manchmal allerdings gab das Gesetz des Zufalls ihnen recht. Wie Donald Duck es zum Ausdruck brachte, klang es so durchaus vernünftig. Er begann mit einer Bescheidenheit, die ebenso ungewöhnlich wie irreführend war: Er fühle sich keineswegs befugt, die ingenieurtechnischen Aspekte des Sternenfahrstuhls zu kritisieren. Er wolle nur über die psychologischen Probleme sprechen, die damit verbunden waren. Sie ließen sich in einem Wort zusammenfassen: Schwindel. Der Mensch, legte er dar, hatte eine gerechtfertigte Abneigung gegen die Höhe; lediglich Akrobaten und Seiltänzer waren dieser natürlichen Reaktion gegenüber immun. Das höchste Bauwerk der Erde ragte weniger als fünf Kilometer in die Höhe, und es gab nicht viele, die sich senkrecht die Pfeiler der Brücke von Gibraltar emporfahren lassen würden.

Das aber war nichts im Vergleich zu der entsetzenerregenden Höhe des Orbital-Turms. »Wer hat nicht schon«, deklamierte Bickerstaff, »am Fuß eines immens hohen Gebäudes gestanden und die senkrechten Wände hinaufgestarrt, bis sie über ihm zusammenzubrechen scheinen? Stellen Sie sich nun ein solches Gebäude vor, das immer höher und höher reicht, durch die Wolken, hinauf in die Schwärze des Alls, durch die Ionosphäre, über die Umlaufbahnen der großen Raumstationen hinaus, bis zu einer Höhe, die einen beachtlichen Bruchteil der Entfernung bis zum Mond darstellt! Ein Triumph der Technik ohne Zweifel, aber ein psychologischer Albtraum. Ich stelle mir vor, dass viele Leute durchdrehen, wenn sie sich das Ding nur vorzustellen versuchen. Und wie viele könnten die schwindelerregende Qual der Auffahrt auf sich nehmen — geradewegs aufwärts, fünfundzwanzigtausend Kilometer weit.

Man kann darauf nicht erwidern, es seien völlig normale Menschen in Raumfahrzeugen bis zur selben und größerer Höhe vorgestoßen. Das ist eine ganz andere Sache, wie wir anhand des Fluges innerhalb der Atmosphäre sogleich beweisen werden. Der normale Mensch empfindet nicht einmal in der offenen Gondel eines Ballons, der in mehreren Kilometern Höhe durch die Luft gleitet, das Gefühl des Schwindels. Man stelle aber denselben Menschen auf einen Felsvorsprung in gleicher Höhe und sehe sich dann sein Verhalten an!

Der Unterschied lässt sich leicht erklären. In einem Flugobjekt gibt es keine physische Verbindung zwischen dem Beobachter und der Erdoberfläche. Psychologisch hat er daher mit dem Land, das er unter sich sieht, nichts gemeinsam. Die Frage, was geschehen würde, wenn er abstürzte, stellt sich ihm nicht. Er blickt unbeeindruckt hinab auf ferne und winzige Landschaften, die er vom Gipfel eines steilen Berges aus nie zu betrachten wagen würde. Diese Loslösung von der Erdoberfläche ist aber gerade, was dem Fahrstuhl zu den Sternen fehlt. Der hilflose Passagier, der an der Außenseite des Turmes entlang in die Höhe befördert wird, ist sich seiner Verbindung mit der Erde nur zu deutlich bewusst. Welche Garantie kann gegeben werden, dass einer, der nicht betrunken oder mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt ist, eine solche Fahrt überlebt? Ich fordere Dr. Morgan auf, diese Frage zu beantworten.«

Dr. Morgan war dabei, Antworten zu präparieren — wenige von ihnen freundlicher Natur —, als der Bildschirm von neuem aufleuchtete und einen Anruf signalisierte. Er drückte den Annahmeknopf und war nicht sonderlich überrascht, als er Maxine Duval erblickte.

»Also, Van«, begann sie ohne sonstige Einleitung, »was haben Sie vor?«

»Es juckt mich in den Fingern, aber ich halte es nicht für nützlich, mich mit dem Narren anzulegen. Übrigens — glauben Sie, dass irgendeine Luft-Raumfahrt-Organisation ihn dazu aufgestachelt haben könnte?«

»Meine Leute sind am Nachforschen. Ich setze Sie in Kenntnis, falls sie etwas finden. Ganz privat glaube ich, dass es sich um sein eigenes Machwerk handelt. Ich erkenne die Charakteristiken des Originals. Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«

»Ich habe mich noch nicht entschlossen; ich versuche noch immer, mein Frühstück zu verdauen. Was, meinen Sie, sollte ich tun?«

»Einfach. Arrangieren Sie eine Vorführung. Wie lange brauchen Sie dazu?«

»Fünf Jahre, wenn alles klappt.«

»Das ist lächerlich. Das erste Kabel ist bereits installiert.«

»Kein Kabel — ein Band!«

»Keine Haarspaltereien! Welche Last kann es tragen?«

»In Erdnähe? Nicht mehr als fünfhundert Tonnen.«

»Da haben Sie's! Bieten Sie Donald Duck eine Freifahrt an.«

»Ich könnte seine Sicherheit nicht garantieren.«

»Und wie steht's mit meiner Sicherheit?«

»Das meinen Sie nicht im Ernst!«

»So früh am Morgen meine ich alles ernst. Es ist überhaupt ein weiterer Bericht über den Orbital-Turm fällig. Die Fahrzeugattrappe ist recht nett, aber sie bewegt sich nicht. Meine Zuschauer wollen etwas geschehen sehen, und mir geht's nicht anders. Bei unserer letzten Begegnung zeigten sie mir Reißbrettentwürfe der kleinen Fahrzeuge, mit denen die Techniker das Kabel — ich meine das Band — auf- und abfahren. Wie hießen sie doch?«

»Spinnen.«

»Puh — ja. Ich fand die Idee faszinierend. Da haben wir etwas, was bisher absolut unmöglich war. Zum ersten Mal kann man mitten im Himmel völlig stillsitzen, selbst oberhalb der Atmosphäre, und den Ausblick auf die Erde genießen. Kein Raumfahrzeug hat das je fertiggebracht. Ich möchte der erste Mensch sein, der dieses Gefühl beschreibt. Und Donald Duck dabei gleichzeitig die Flügel stutzt.«

Morgan musterte Maxine volle fünf Sekunden lang, um sich zu überzeugen, dass sie es ernst meinte.

»Ich kann mir ausmalen«, sagte er müde, »wie eine junge, karrierebedachte Fernsehreporterin, die sich einen Namen machen will, eine solche Gelegenheit beim Schopf ergriffe. Ich möchte Ihrer strahlenden Laufbahn den Glanz nicht rauben, aber die Antwort ist ganz eindeutig nein.«

Die allerangesehenste aller Nachrichtenpersönlichkeiten gab eine Reihe von Worten von sich, die nicht nur undamenhaft, sondern schlechthin unanständig waren und über einen öffentlichen Kanal niemals hätten übertragen werden dürfen.

»Bevor ich Ihnen mit Ihrem eigenen Hyperdraht die Kehle zuziehe, Van«, fuhr sie fort, »sagen Sie mir: Warum nicht?«

»Wenn irgendetwas schiefginge, könnte ich mir nie verzeihen.«

»Ersparen Sie sich die Krokodilstränen! Mein vorzeitiges Ableben wäre selbstverständlich eine Katastrophe — für Ihr Projekt. Aber ich dächte nicht einmal im Traum daran, die Fahrt zu unternehmen, bevor nicht alle Tests durchgeführt sind und wir die Gewissheit haben, dass alles hundertprozentig sicher ist.«

»Es sähe zu sehr nach Zirkus aus.«

»Wie die Viktorianer (oder waren es die Elisabethaner) zu sagen pflegten: Wen kümmert das einen Dreck?«

»Sehen Sie her, Maxine — oh, da liegt eine dringende Meldung vor, Neuseeland ist gerade untergegangen — Sie werden im Studio gebraucht. Trotzdem vielen Dank für das großzügige Angebot.«

»Dr. Vannevar Morgan — ich weiß ganz genau, warum Sie mich zurückweisen. Sie möchten der Erste sein!«

»Wie die Viktorianer zu sagen pflegten: Wen kümmert das einen Dreck?«

»Touché. Aber ich warne Sie, Van. Sobald Ihre erste Spinne betriebsbereit ist, hören Sie wieder von mir.«

Morgan schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Maxine«, antwortete er. »Sie haben keinerlei Aussicht.«

Starglider plus achtzig

Auszug aus »Gott und Starholm«. (Mandala Press, Moskau, 2149) Es ist genau achtzig Jahre her, seit die interstellare Robotsonde, die inzwischen den Namen Starglider erhalten hat, in das Sonnensystem eindrang und ihre kurze, aber historische Unterhaltung mit der Menschheit führte. Zum ersten Mal wussten wir nun mit Sicherheit, was wir bisher lediglich vermutet hatten: dass wir nicht die einzigen Intelligenzen des Universums sind, und dass es draußen unter den Sternen viel ältere und vielleicht auch weisere Zivilisationen gibt.

Mit dieser Begegnung begann ein neues Zeitalter. Paradoxerweise ergaben sich daraus jedoch in vieler Hinsicht nur geringfügige Änderungen. Die Menschheit geht nach wie vor ihren Alltagsbeschäftigungen nach. Wie oft denken wir daran, dass die Starholmer auf ihrer Welt nun schon seit achtundzwanzig Jahren von der Existenz der Menschheit wissen — oder daran, dass wir nahezu mit Gewissheit in nur vierundzwanzig Jahren ihre erste Direktbotschaft empfangen werden? Und was, wenn sie selbst schon unterwegs sind?

Der Mensch hat die außergewöhnliche und womöglich vorteilhafte Fähigkeit, sein Bewusstsein vor den schreckenerregenden Aspekten der Zukunft zu verschließen. Der römische Bauer, der auf den Hängen des Vesuv pflügte, dachte nicht an den rauchenden Berg, der sich über ihm erhob. Eine Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts lebte mit der Wasserstoffbombe, fünfzig Jahre des einundzwanzigsten mit dem Golgatha-Virus. Wir haben gelernt, mit der Drohung — oder der Hoffnung — namens Starholm zu leben.

Starglider sprach zu uns von fremden Welten und Arten, aber nicht von fortgeschrittenen Technologien und übte somit einen minimalen Einfluss auf die technisch orientierten Aspekte unserer Kultur aus. War dies ein Zufall oder das Resultat einer wohlüberlegten Strategie? Es gibt viele Fragen, die wir Starglider stellen möchten — jetzt, da es zu spät, oder zu früh, ist.

Andererseits war er durchaus bereit, Fragen der Philosophie und der Religion zu diskutieren, und auf diesen Gebieten war sein Einfluss tiefreichend. Obwohl der Satz nirgendwo in den Aufzeichnungen erscheint, hält man Starglider allgemein für den Verfasser des berühmten Aphorismus »Der Glaube an Gott ist offenbar ein psychologisches Produkt der mammalischen Fortpflanzung«.

Und was, wenn diese Aussage die Wahrheit trifft? Dieser Umstand hätte mit der Frage nach der wahren Existenz Gottes nicht das Geringste zu tun, wie ich im Folgenden darlegen werde …

Swami Krischnamurti (Dr. Choam Goldberg.)

Der grausame Himmel

Der Blick folgte dem Verlauf des Bandes in der Nacht viel weiter als am Tage. Wenn bei Sonnenuntergang die Warnlichter angeschaltet wurden, verwandelte es sich in eine leuchtende Straße, die langsam schmaler und düsterer wurde, bis sie sich an einem halbwegs in der Unendlichkeit liegenden Punkt gegen den Hintergrund der Sterne verlor.

Das Band war bereits jetzt das größte aller Weltwunder. Bevor Morgan ärgerlich geworden war und den Zugang zum Bauplatz auf Ingenieurpersonal beschränkt hatte, waren Neugierige unaufhörlich herzugeströmt, um dem neuen Wunder des Heiligen Berges ihre Reverenz zu erweisen.

Sie benahmen sich alle in der gleichen Weise. Zuerst streckten sie den Arm aus und berührten das fünf Zentimeter breite Band. Sie ließen die Finger darauf entlanggleiten und sahen ehrfürchtig drein. Dann horchten sie, indem sie ein Ohr fest gegen die glatte, kühle Substanz drückten, als ob sie Sphärenklänge zu hören erwarteten. Es gab tatsächlich ein paar, die behaupteten, sie hätten einen tiefen Basston in der Nähe der niederfrequenten Hörschwelle vernommen; aber sie machten sich nur etwas vor. Selbst die höchsten Harmonien der Eigenfrequenz des Bandes lagen weit unterhalb des Bereichs, auf den das menschliche Ohr ansprach. Manche schüttelten beim Weggehen den Kopf und sagten: »Niemand bringt mich je dazu, da mitzufahren.« Das waren die direkten Nachfahren derer, die dasselbe über die Fusionsrakete, die Raumfähre; das Flugzeug, das Auto und selbst die Dampflokomotive gesagt hatten.

Diesen Skeptikern antwortete man üblicherweise: »Nur keine Angst. Das Band ist nur ein Teil des Gerüsts — eines von vier Bändern, an denen entlang der Turm zur Erde geführt wird. Den eigentlichen Turm hinaufzufahren, wird nicht anders sein als eine Aufzugfahrt in einem hohen Gebäude. Mit der Ausnahme, dass die Fahrt länger dauern und wesentlich bequemer sein wird.«


Maxine Duvals Ausflug dagegen würde sehr kurz sein, und nicht besonders bequem. Aber nachdem Morgan schon einmal kapituliert hatte, war er mit Macht darangegangen, für eine ereignislose Fahrt zu sorgen.

Die zusammengeschustert wirkende »Spinne« — ein Fahrzeugprototyp, der wie ein motorisierter Großvaterstuhl aussah — hatte bereits ein Dutzend Fahrten bis zu Höhen von zwanzig Kilometern unternommen, mit einer Belastung, die das Doppelte dessen betrug, was sie diesmal zu tragen haben würde. Es hatte die üblichen Kinderkrankheiten gegeben, aber nichts Ernstes, und die letzten fünf Fahrten waren völlig problemlos verlaufen. Was hätte auch schiefgehen sollen? Wenn es zu einem Leistungsausfall kam — nahezu undenkbar bei einem derart primitiven, batteriegetriebenen System —, dann brachte die Schwerkraft Maxine wieder zurück, wobei die automatischen Bremsen die Sinkgeschwindigkeit in Grenzen hielten. Das einzige echte Risiko war, dass die Antriebsmechanik sich festfraß und die Spinne mitsamt ihrem Passagier in der höheren Atmosphäre strandete. Für diesen Fall hatte Morgan seine Vorkehrungen getroffen.

»Nur fünfzehn Kilometer?«, hatte Maxine protestiert. »Ein Segelflugzeug schafft mehr als das!«

»Aber Sie können es nicht, nur mit einer Sauerstoffmaske ausgerüstet. Wenn Sie allerdings ein Jahr warten wollen, dann haben wir ein fertiges Fahrzeug mit einem Lebenserhaltungssystem …«

»Warum nicht einen Raumanzug?«

Morgan hatte sich — aus Gründen, die er nicht verlauten ließ — nicht breitschlagen lassen. Obwohl er nicht damit rechnete, dass er ihn brauchen würde, stand ein kleiner Düsenkran am Fuß des Sri Kanda einsatzbereit. Seine hervorragend ausgebildete Besatzung war es gewöhnt, ausgefallene Aufträge zu erhalten. Es würde ihr ein Leichtes sein, die gestrandete Maxine selbst aus einer Höhe von zwanzig Kilometern zu bergen.

Aber es gab kein Fahrzeug, das sie in der doppelten Höhe hätte erreichen können. Jenseits von vierzig Kilometern lag Niemandsland — zu niedrig für Raketen, zu hoch für Ballons.

Theoretisch natürlich konnte eine Rakete seitwärts des Bandes zum Stillstand gebracht werden, ein paar Minuten lang, bis der Treibstoff verbraucht war. Die Probleme der Navigation waren indes so überwältigend, dass Morgan sich nicht einmal die Mühe gemacht hatte, darüber nachzudenken. Es würde ohnehin nichts geschehen, und er hoffte, dass kein Produzent von Videodramen auf die Idee kommen würde, es gäbe hier guten Stoff für einen Thriller. Öffentlichkeitsarbeit dieser Art konnte er nicht gebrauchen.

Maxine Duval sah wie der typische Antarktistourist aus, als sie, in einen Wärmeanzug aus schimmernder Metallfolie gekleidet, auf die Gruppe der Techniker zuschritt, die die wartende Spinne umstanden. Sie hatte die Zeit mit Bedacht ausgewählt. Die Sonne war erst vor einer Stunde aufgegangen, und ihre schrägen Strahlen würden die taprobanische Landschaft mit vorzüglichem Kontrast erfüllen. Ihr Assistent, noch jünger und breitschultriger als der, den man bei der letzten denkwürdigen Gelegenheit kennengelernt hatte, zeichnete das Geschehen für Maxines sonnensystemweite Zuhörerschaft auf.

Sie hatte wie immer ausgiebig geprobt. Es gab keinen Fehlgriff, als sie sich anschnallte, den BATTERIE-AN-Knopf drückte, einen tiefen Atemzug durch die Sauerstoffmaske nahm und die Betriebsbereitschaft sämtlicher Video- und Audiokanäle überprüfte. Dann gab sie, wie ein Jagdpilot aus einem alten Kriegsfilm, das »Daumenhoch«-Signal und drückte den Hebel der Fahrtkontrolle langsam nach vorne.

Einige der versammelten Ingenieure klatschten ironisch Applaus. Die meisten unter ihnen hatten bereits Spritzfahrten bis zu etlichen Kilometern Höhe unternommen. Jemand schrie: »Ignition! We have a liftup!« Indes begann die Spinne, würdevoll wie ein Messingkäfigaufzug aus der Zeit der Königin Viktoria, ihren langsamen Aufstieg.

Ungefähr so muss eine Ballonfahrt sein, dachte Maxine: erschütterungsfrei, ohne Anstrengung, ruhig. Nein — nicht ganz ruhig: Sie hörte das sanfte Schnurren des Motors, der den Radsatz antrieb, mit dessen Hilfe sich das Fahrzeug an der glatten Oberfläche des Bandes entlangbewegte. Es gab kein Schütteln, kein Zittern, wie sie es halb und halb erwartet hatte. Trotz seiner Schlankheit war das unglaubliche Band so solide wie eine Stahlstange. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie sich mühelos vorstellen, dass sie den fertiggestellten Turm hinauffuhr. Aber es war natürlich kein Gedanke daran, ausgerechnet jetzt die Augen zuzumachen. Es gab viel zu viel zu sehen. Es gab sogar etliches zu hören; sie war erstaunt, wie weit der Schall reichte, denn die Unterhaltungen, die unter ihr geführt wurden, waren durchaus hörbar.

Sie winkte Vannevar Morgan zu und hielt sodann nach Warren Kingsley Ausschau. Überraschenderweise konnte sie ihn nirgendwo finden; dabei hatte er ihr beim Einsteigen geholfen. Er war verschwunden. Dann erinnerte sie sich an sein offenes Eingeständnis — manchmal klang es sogar wie Prahlerei —, dass der beste Bauingenieur der Welt an Höhenangst litt. Jedermann hatte eine geheime — mancher eine nicht so sehr geheime — Furcht. Maxine zum Beispiel mochte Spinnen nicht und wünschte sich, dass man dem Fahrzeug einen anderen Namen gegeben hätte. Aber sie fand sich mit Spinnen ab, wenn es nötig war. Das einzige Geschöpf, das sie niemals würde berühren können, obwohl sie ihm bei ihren Tauchexpeditionen des Öfteren begegnete, war der scheue und harmlose Tintenfisch.

Jetzt war bereits der ganze Berg sichtbar. In der direkten Draufsicht ließ er nicht erkennen, wie hoch er war. Die beiden uralten Treppenfluchten, die die Bergwände emporkurvten, hätten aus Maxines Blickwinkel ebenso gut eigenartig gewundene, ebene Straßen sein können. Nirgendwo auf den endlos vielen Stufen gab es Anzeichen von Leben. Ein Treppenabschnitt war durch einen umgestürzten Baum blockiert — eine Warnung der Natur, dass sie nach dreitausend Jahren ihr Terrain zurückverlangte.

Maxine beließ Kamera Nr. 1 in abwärts gerichteter Stellung, während sie mit Nr. 2 zum Rundblick schwenkte. Felder und Wälder glitten über den Monitor, die fernen weißen Kuppeln von Ranapura, die dunkle Fläche des Binnenmeeres. Und plötzlich: Jakkagala.

Mit dem Zoom holte sie den Felsen näher heran. Das undeutliche Muster der Ruinen, die die Kuppe bedeckten, war eben sichtbar. Die Spiegelwand ebenso wie die Galerie der Prinzessinnen lagen noch im Schatten — es wäre ohnehin hoffnungslos gewesen, die Letztere aus derartiger Entfernung ausmachen zu wollen. Die weite Fläche der Lustgärten mit ihren Teichen, den Wandelpfaden und dem mächtigen sich ringsherum ziehenden Graben war voll in Sicht.

Die Kolonne winziger weißer Fontänen gab ihr eine Zeitlang zu denken, bis ihr klar wurde, dass sie eine von König Kalidasas Herausforderungen an die Götter erblickte: die Brunnen des Paradieses. Sie fragte sich, was der König wohl zu sagen haben würde, hätte er sie sehen können, wie sie sich so mühelos in den Himmel seiner neidischen Träume erhob.

Es war fast ein Jahr her, seit sie zum letzten Mal mit Botschafter Radschasinghe gesprochen hatte. Einem plötzlichen Einfall folgend, rief sie die Villa an.

»Guten Tag, Johan«, begrüßte sie ihn. »Wie gefällt Ihnen diese Aussicht auf Jakkagala?«

»Also haben Sie Morgan doch breitgeschlagen! Wie ist es dort oben?«

»Aufregend — das ist die einzig denkbare Beschreibung. Und einzigartig. Ich bin mit jedem denkbaren Fortbewegungsmittel geflogen und gefahren, aber dies fühlt sich ganz anders an.«

»›Den grausamen Himmel sicher befährst …‹«

»Wie bitte?«

»Ein englischer Dichter, frühes zwanzigstes Jahrhundert:

Ich sorge mich nicht, ob du Meere durchquerst

oder den grausamen Himmel sicher befährst …«

»Im Gegensatz dazu sorge ich mich durchaus, aber ich fühle mich sicher. Ich kann jetzt die ganze Insel sehen, selbst die indische Küste. Wie hoch bin ich, Van?«

»Es geht auf zwölf Kilometer zu, Maxine. Sitzt die Sauerstoffmaske sicher?«

»Und ob. Hoffentlich verzerrt sie meine Stimme nicht.«

»Keine Sorge — sie ist unverkennbar. Sie haben noch drei Kilometer.«

»Wie viel Sauerstoff habe ich noch im Behälter?«

»Genug. Und wenn Sie versuchen, über fünfzehn hinauszusteigen, bringe ich Sie per Handschaltung nach Hause.«

»Ich denke nicht daran. Und übrigens: meinen Glückwunsch. Als Beobachtungsplattform ist dieses Ding schwer zu übertreffen. Ihre Kunden werden Schlange stehen.«

»Das ist uns in den Sinn gekommen. Die Leute von Comsat und Metsat haben bereits Angebote unterbreitet. Wir können sie mit Relais und Sensoren in jeder gewünschten Höhe ausstatten. Jeder Pfennig hilft, die Kosten zu drücken.«

»Ich kann Sie sehen!«, rief Radschasinghe plötzlich. »Habe Ihren Reflex gerade ins Glas bekommen. Jetzt winken Sie mit dem Arm. Fühlen Sie sich nicht einsam dort droben?«

Eine Zeitlang war es still — gänzlich uncharakteristisch für Maxine Duval. Dann antwortete sie mit ruhiger Stimme: »Nicht so einsam wie Juri Gagarin, noch einhundert Kilometer höher. Van, Sie haben etwas Neues in die Welt gebracht. Der Himmel mag noch immer grausam sein, aber Sie haben ihn gezähmt. Es mag Menschen geben, die diese Fahrt niemals unternehmen würden: Ich bedaure sie.«

Der Milliarden-Tonnen-Diamant

In den vergangenen sieben Jahren war viel geschehen, aber es gab noch immer eine Menge zu tun. Berge — oder zumindest Asteroiden — waren bewegt worden. Die Erde besaß jetzt einen zweiten natürlichen Mond, der sie dicht oberhalb der Synchronhöhe umlief. Er hatte einen Durchmesser von weniger als einem Kilometer und verlor rapide an Umfang, während er seiner Kohlenstoffablagerungen und anderer leichter Elemente beraubt wurde. Was übrigblieb — der eiserne Kern, Abraum und industrielle Schlacke —, würde einst das Gegengewicht bilden, durch das der Turm unter Spannung gehalten wurde. Es war der Stein in der vierzigtausend Kilometer langen Schleuder, die sich mit dem Planeten einmal alle vierundzwanzig Stunden um den Erdmittelpunkt drehte.

Fünfzig Kilometer östlich der Raumstation Ashoka schwebte der riesige Aufbereitungskomplex, der Megatonnen gewichtslosen — aber nicht masselosen — Rohmaterials verarbeitete und in Hyperdraht verwandelte. Da das Endprodukt zu mehr als neunzig Prozent aus Kohlenstoff bestand und seine Atome zu einem präzisen Kristallgitter angeordnet waren, hatte der Turm den Spitznamen »Der Milliarden-Tonnen-Diamant« erhalten. Worauf die Öffentlichkeit von der Vereinigung der Juweliere in Amsterdam darauf aufmerksam gemacht worden war, dass (a) Hyperdraht keineswegs Diamant sei und (b) wenn er es doch wäre, der Turm ein Gewicht von fünfmal zehn hoch fünfzehn Karat hätte.

Ob man nun nach Karaten oder nach Tonnen rechnete, die Erzeugung solch enormer Materialmengen hatte die Mittel der Raumkolonien und das Können der Techniker aufs äußerste beansprucht. In den Entwurf und Bau der automatischen Bergwerke, Verarbeitungsstätten und der Null-g-Endfertigungskomplexe war fast das gesamte Ingenieurwissen der Gattung Homo sapiens, mühsam erworben während zweier Jahrhunderte Raumforschung, investiert worden. In Kürze würden die Bestandteile des Turmes — eine Handvoll standardisierter Stückstypen, zu Millionen hergestellt — an einen Sammelplatz gebracht werden, um dort auf die Robotmonteure zu warten.

Der Turm würde in zwei einander entgegengesetzten Richtungen zu wachsen beginnen — hinab zur Erde und gleichzeitig hinauf zu dem massiven Anker. Der Plan sah vor, den Bauvorgang so ablaufen zu lassen, dass der entstehende Turm sich stets im Gleichgewicht befand. Vom Ursprungspunkt an würde die Querschnittsfläche des Turms stetig abnehmen — zur Erde hin wie in Richtung des Ankers; denn am Ursprungspunkt war die Struktur den höchsten Spannungskräften ausgesetzt.

Wenn der Baukomplex seine Arbeiten beendet hatte, würde man ihn zum Mars schicken. Das war ein Bestandteil des Abkommens, der jetzt, da man das Potenzial des Sternenfahrstuhls endlich erkannte, unter den Politikern und Finanziers der Erde beträchtliche Seelenschmerzen auslöste.

Die Marsianer waren harte Verhandlungspartner gewesen. Sie hatten für fünf Jahre hinaus auf jeglichen Gewinn aus ihrer Investition verzichtet. Danach aber hatten sie über die Dauer von zehn Jahren so gut wie ein Baumonopol. Morgan hatte den Verdacht, dass der Pavonis-Turm nur der erste in einer Reihe von Türmen sein würde. Mars war für den Bau eines Raumfahrstuhlsystems wie geschaffen, und seine tatkräftigen Bewohner würden sich eine solche Gelegenheit nicht entgehen lassen. Falls sie die Absicht hatten, ihre Welt zum zukünftigen Zentrum des interplanetarischen Handels zu machen, so wünschte Morgan ihnen Glück. Er selbst hatte seine eigenen Probleme, und ein paar davon widersetzten sich noch immer allen Lösungsversuchen.

Der Turm war trotz seiner überwältigenden Größe lediglich eine Hilfskonstruktion für ein wesentlich komplexeres System. Auf seinen vier Wänden würden je sechsunddreißig Kilometer Spur verlaufen, auf der sich Fahrzeuge mit bisher unerhörten Geschwindigkeiten zu bewegen hatten. Das Ganze wurde durch supraleitende Kabel, die wiederum mit massiven Fusionskraftwerken in Verbindung standen, mit Leistung versorgt. Und dies alles — Spuren, Fahrzeuge, Kabel und Kraftwerke — stand unter der Kontrolle eines unglaublich fein gestimmten, versagesicheren Computernetzwerks.

Die Obere Station, in der Fahrgäste und Fracht vom Turm in Raumfahrzeuge umgeladen wurden, war ein Bauvorhaben für sich selbst. Dasselbe galt für die Station Mitte, und schließlich auch für die Erdstation, deren Räume soeben mit Lasern aus dem Innern des Heiligen Berges ausgehöhlt wurden. Und zu allem Überdruss gab es noch das »Unternehmen Großreinemachen« …

Zweihundert Jahre lang hatten sich Satelliten aller Größen und Formen, von verlorengegangenen Schrauben und Muttern bis zu ganzen Weltraumdörfern in der Umlaufbahn um die Erde angesammelt. Was von diesen in die Nähe des Turmes kam — jetzt oder später — musste erfasst werden, da es eine Gefahr darstellte. Drei Viertel des angesammelten Materials war nutzloser Abfall, manches davon längst vergessen. Jetzt musste es gefunden und irgendwie beiseitegeschafft werden.

Glücklicherweise waren die alten Orbitalfestungen für diese Aufgabe hervorragend ausgestattet. Ihre Radarstationen — dazu entworfen, feindliche Raketen schon auf weiteste Entfernung zu erfassen — hatten keine Mühe, die Abfälle des frühen Raumzeitalters zu lokalisieren. Ihre Lasergeschütze verdampften kleinere Gegenstände, während die größeren in höhere und daher harmlose Umlaufbahnen bugsiert wurden. Einige, die von historischem Interesse waren, fing man ein und brachte sie zur Erde zurück. Während dieses Unternehmens gab es eine Reihe von Überraschungen — zum Beispiel drei chinesische Astronauten, die auf einer Geheimmission ums Leben gekommen waren, und eine Zahl von Erkundungssatelliten, die aus einer derart komplexen Mischung von Bestandteilen zusammengebaut worden waren, dass man unmöglich erkennen konnte, welches Land sie in den Umlauf geschossen hatte. Nicht dass es jetzt noch etwas ausgemacht hätte: Sie waren allesamt mehr als ein Jahrhundert alt.

Die Umlaufbahnen der zahlreichen erdnahen Satelliten und Raumstationen, die sich noch im aktiven Dienst befanden, wurden sorgfältig analysiert. In einigen Fällen nahm man Kurskorrekturen vor. Nichts dagegen ließ sich gegen die völlig unvorhersehbaren und statistisch auftretenden Besucher aus den äußeren Regionen des Sonnensystems unternehmen. Wie alle Schöpfungen der Menschheit, so würde auch der Turm den Meteoriten ausgesetzt sein. Mehrmals pro Tag würden seine Seismometer Aufschläge von etlichen Milligramm registrieren, und ein- oder zweimal im Jahr war mit geringfügigem Strukturschaden zu rechnen. Früher oder später im Lauf der kommenden Jahrhunderte mochte der Turm mit einem Brocken zusammenstoßen, der massiv genug war, um eine oder mehr Spuren eine Zeitlang außer Betrieb zu setzen. Im schlimmsten Fall konnte es sogar geschehen, dass der Turm in zwei Stücke geschnitten wurde.

Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses war ungefähr dieselbe wie die, dass ein großer Meteor auf London oder Tokio abstürzte — die beiden Städte boten annähernd die gleiche Zielfläche wie der Turm. Ihre Bewohner ließen sich jedoch durch diese Möglichkeit nicht um den Schlaf bringen — ebenso wenig wie Vannevar Morgan. Welches auch immer die Probleme der Zukunft sein mochten, der Fahrstuhl zu den Sternen war eine Idee, deren Zeit gekommen war.

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