II — Der Tempel

Während die verschiedenen Religionen miteinander darüber streiten, welche von ihnen im Besitz der Wahrheit ist, kann von unserem Standort aus die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Religion gänzlich außer acht gelassen werden …

Wenn man der Religion einen Platz innerhalb des Evolutionsprozesses der Menschheit zuordnen will, so erscheint sie nicht so sehr als etwas für die Dauer Erworbenes, sondern eher als eine Parallele zu der Neurose, die das zivilisierte Individuum auf dem Weg von der Kindheit zur Reife durchmacht.

Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1932)


Natürlich hat der Mensch in Gott sein Ebenbild erschaffen; was hätte er auch sonst tun sollen? Ebenso wie ein echtes Verständnis der Geologie unmöglich war, solange wir nicht andere Welten außerhalb der Erde studieren konnten, so muss auch eine gültige Theologie warten, bis wir mit außerirdischen Intelligenzen Verbindung aufnehmen. Es kann kein Lehrfach »Vergleichende Religionslehre« geben, solange wir nur die Religionen der Menschheit studieren.

Hadschi Mohammed ben Selim, Professor für Vergleichende Religionslehre: Einführungsrede, Brigham-Young-Universität, 1998


Unsere Wissbegierde muss auf die Beantwortung der folgenden Fragen gerichtet sein: (a) Welches sind die religiösen Grundideen, wenn solche überhaupt existieren, von Wesen mit null, einem, zwei oder mehr als zwei »Eltern« und (b) wird religiöser Glaube nur bei solchen Organismen beobachtet, die während der Wachstumsjahre engen Kontakt mit ihren Erzeugern haben?

Wenn wir feststellen, dass Religion ausschließlich bei den intelligenten Äquivalenten von Affen, Delphinen, Elefanten, Hunden usw. vorkommt, aber nicht bei außerirdischen Computern, Termiten, Fischen, Schildkröten oder gesellschaftsbildenden Amöben, dann werden wir möglicherweise ein paar schmerzhafte Schlüsse ziehen müssen … Vielleicht können sowohl Liebe als auch Religion nur unter Säugetieren entstehen — beide aus nahezu identischen Anlässen. Eine Analyse ihrer Pathologien legt diesen Schluss nahe; und jeder, der an dem inneren Zusammenhang zweifelt, der sollte sich den »Hexenhammer« oder Huxleys »Die Teufel von Loudon« aufmerksam durchlesen.


Ebenda

Dr. Charles Willis' oft zitierte Bemerkung (Hawaii, 1970), Religion sei ein Abfallprodukt der Unterernährung, trägt zur Diskussion nicht wesentlich mehr bei als Gregory Batesons unfeine Reaktion. Was Dr. Willis anscheinend zum Ausdruck bringen wollte, ist, dass erstens Halluzinationen, die durch eine freiwillige oder unfreiwillige Hungerkur ausgelöst werden, sich leicht als religiöse Visionen deuten lassen, und dass zweitens Hunger in -diesem Leben die Hoffnung auf einen Ausgleich in einem anderen erweckt und somit womöglich einen Überlebensantrieb schafft …

Es ist in der Tat eine Ironie des Schicksals, dass die Erforschung der sogenannten bewusstseinserweiternden Drogen bewies, dass sie genau das Gegenteil bewirken — ein Nebenprodukt der Entdeckung der im Gehirn natürlich vorkommenden »apothetischen« Verbindungen. Die Entdeckung, dass selbst der glühendste Anhänger eines bestimmten Glaubens durch eine sorgfältig bemessene Dosis von 2-4-7-Orthoparatheosamin zur Annahme eines anderen Glaubens bewegt werden konnte, war womöglich der vernichtendste Schlag, den die Religion je hat hinnehmen müssen. Bis zur Ankunft von Starglider, versteht sich …

R. Gabor: Die pharmakologische Grundlage der Religion (Miskatonic University Press, 2069)

Starglider

Das Ereignis war mehr als hundert Jahre lang erwartet worden. Aber als es eintrat, war die Menschheit überrascht.

Das Radiosignal aus Richtung Alpha Centauri war so energiereich, dass es zuerst als Störgeräusch in den normalen, kommerziellen Funkkanälen registriert wurde. Das war eine Blamage für die Radioastronomen, die seit Jahrzehnten nach intelligenten Botschaften aus dem All lauschten — besonders da sie vor geraumer Zeit das Dreifachsystem Alpha, Beta und Proxima Centauri als unergiebig von aller weiteren Beachtung ausgeschlossen hatten.

Sofort wandte sich jedes Radioteleskop der südlichen Erdhalbkugel den Zentauren zu. Innerhalb weniger Stunden machte man eine weitere, noch sensationellere Entdeckung. Das Signal kam keineswegs aus dem Centaurus-System, sondern von einem Punkt, der ein halbes Grad seitwärts lag. Und die Signalquelle war in Bewegung.

Das war der erste Hinweis auf den wahren Hintergrund des Geschehens. Als an diesem kein Zweifel mehr bestand, kamen die Alltagsverrichtungen der Menschheit zu einem abrupten Stillstand.

Die Intensität des Signals überraschte nun niemand mehr; denn die Quelle befand sich bereits tief innerhalb des Sonnensystems und bewegte sich mit einer Geschwindigkeit von sechshundert Kilometern pro Sekunde auf die Sonne zu. Die lange erwarteten, lange gefürchteten Besucher aus dem Weltall waren endlich eingetroffen …

Aber dreißig Tage lang, während er an den äußeren Planeten vorbeistürzte, tat der Eindringling weiter nichts, als die eintönige Folge von Impulsen auszustrahlen, die weiter nichts besagten als: »Ich bin hier!« Er unternahm keinen Versuch, die Signale zu beantworten, mit denen man ihn bombardierte, noch modifizierte er seinen kometengleichen Kurs. Wenn er sich nicht bis unmittelbar vor seiner Entdeckung mit wesentlich höherer Geschwindigkeit bewegt hatte, dann musste seine Reise von den Zentauren zweitausend Jahre gedauert haben. Einige waren darob erleichtert, weil es darauf hinwies, dass es sich bei dem Eindringling um eine unbemannte Robotsonde handelte. Andere dagegen fühlten sich enttäuscht und empfanden die Abwesenheit echter, lebendiger Extraterrestrier als eine Antiklimax.

Das gesamte Spektrum der Möglichkeiten wurde in allen Kommunikationsmedien, in jedem Parlament der Menschheit bis zur Erschöpfung diskutiert. Jeder Handlungsentwurf, den die utopische Literatur je benutzt hatte, wurde ausgegraben und feierlich analysiert — von der Ankunft wohlwollender Götter bis zur Invasion blutsaugerischer Vampire. Lloyds in London kassierte immense Prämienzahlungen von Leuten, die sich gegen jede denkbare Spielart der Zukunft versichern wollten — darin eingeschlossen einige, in denen ihnen die Auszahlung der Versicherungssumme nichts mehr genützt hätte.

Als der fremde Besucher die Jupiterbahn kreuzte, gelang es den Instrumenten zum ersten Mal, Einzelheiten an ihm zu erkennen. Die erste Entdeckung verursachte eine kurzlebige Panik: Das Objekt besaß einen Durchmesser von fünfhundert Kilometern — den Umfang eines kleinen Mondes! Womöglich war es doch ein Transporter, der eine Invasionsarmee an Bord trug …

Die Furcht verflüchtigte sich, als genauere Beobachtungen ergaben, dass der feste Körperkern des Eindringlings nur ein paar Meter maß. Der Fünfhundert-Kilometer-Halo darum herum entpuppte sich als etwas den Menschen durchaus Vertrautes — ein nicht sonderlich stabiler, langsam rotierender Parabolreflektor, das genaue Gegenstück der im Erdumlauf befindlichen Radioteleskope. Vermutlich handelte es sich dabei um die Antenne, durch die der Besucher den Kontakt mit seiner fernen Heimatwelt aufrechterhielt. Und durch die er, in diesem Augenblick, Daten über das Sonnensystem und die Kommunikationstätigkeit der dort ansässigen Zivilisation nach Hause funkte.

Dann gab es eine weitere Überraschung. Die asteroidengroße Antenne war keineswegs auf Alpha Centauri gerichtet, sondern in eine ganz andere Gegend. Es sah allmählich so aus, als sei das Centaurus-System lediglich der letzte Anlegehafen, nicht aber der Ausgangsort des Fremdlings.

Die Astronomen waren noch dabei, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, als sich ein bemerkenswerter und glücklicher Zufall ereignete. Eine solare Wettersonde, die sich auf Routinepatrouille jenseits der Marsbahn befand, verstummte plötzlich und fand ihre Funkstimme erst eine Minute später wieder. Als man die Datenaufzeichnungen untersuchte, stellte man fest, dass die Instrumente der Sonde unter dem Einfluss überaus intensiver Strahlung vorübergehend versagt hatten. Die Sonde hatte den Funkstrahl des Besuchers gekreuzt, und jetzt war es ziemlich einfach, auszurechnen, auf welches Ziel er gerichtet war.

Der nächste Stern in dieser Richtung befand sich in zweiundfünfzig Lichtjahren Entfernung — ein unscheinbarer und vermutlich sehr alter roter Zwergstern, eine jener enthaltsamen kleinen Sonnen, die noch Jahrmilliarden, nachdem die strahlenden Giganten der Milchstraße die eigene Substanz aufgezehrt hatten, friedlich vor sich hin scheinen würde. Kein einziges Radioteleskop hatte sich je näher mit ihr beschäftigt. Jetzt jedoch richteten sich alle darauf, die nicht unbedingt für die Beobachtung des Besuchers gebraucht wurden.

Und tatsächlich: Da war es! Ein scharf begrenztes Signal auf dem Ein-Zentimeter-Band. Die Hersteller standen noch immer in Verbindung mit dem Fahrzeug, das sie vor Jahrtausenden vom Stapel gelassen hatten. Indes, die Nachrichten, die es jetzt empfing, waren nur ein halbes Jahrhundert alt.

Und dann, als er sich in der Nähe der Marsbahn befand, zeigte der Besucher auf die dramatischste und unmissverständlichste Weise, dass er sich der Existenz der Menschheit durchaus bewusst war. Er begann, Standardfernsehbilder von 3075 Zeilen, mit eingeblendetem Videotext in fließendem, wenn auch unbeholfenem Englisch und Mandarin-Chinesisch zu übertragen. Die erste interstellare Unterhaltung hatte begonnen — und nicht, wie man sich immer vorgestellt hatte, mit Pausen von Jahrzehnten, sondern von nur einigen Minuten.

Schatten im Morgengrauen

Morgan verließ sein Hotel in Ranapura um vier Uhr morgens. Die Nacht war klar und mondlos. Er war ungern so früh aufgestanden, aber Professor Sarath, dem er die Vorbereitungen zu diesem Ausflug verdankte, hatte ihm versprochen, es werde die Mühe wert sein. »Sie können Sri Kanda nicht einmal anfangen zu verstehen«, hatte er gesagt, »solange sie nicht die Morgendämmerung vom Gipfel aus beobachtet haben. Und Buddy — äh, der Maha Thero — empfängt Besucher zu keiner anderen Zeit. Er sagt, damit hält er sich diejenigen vom Leibe, die aus reiner Neugierde kommen.« Morgan hatte schließlich nachgegeben, ohne von seiner Ungehaltenheit allzu viel durchblicken zu lassen.

Die Sache wurde dadurch nicht besser, dass der taprobanische Chauffeur darauf bestand, eine forsche, wenn auch einseitige Unterhaltung zu führen, deren Zweck es offenbar war, ein komplettes Profil der Persönlichkeit seines Fahrgasts zu entwickeln. Das tat er mit derart naiver Freundlichkeit, dass man es ihm nicht übelnehmen konnte. Aber Schweigen wäre Morgan lieber gewesen.

Überdies wünschte er sich, dass sein Fahrer sich etwas mehr auf die zahllosen Haarnadelkurven konzentrieren möge, die sie mit beängstigender Geschwindigkeit in der Finsternis durchfuhren. Für Morgans seelisches Gleichgewicht war es wahrscheinlich besser, dass er die Felsenstürze und Schluchten nicht zu sehen bekam, an denen sie vorbeibrausten, während der Wagen durch die Vorberge allmählich an Höhe gewann. Die Straße war erstklassige Pionierarbeit aus dem neunzehnten Jahrhundert — angelegt von der letzten Kolonialmacht während der abschließenden Kampagne gegen die stolzen Bergvölker im Innern. Sie war indes niemals auf automatische Steuerung umgestellt worden, und es gab Augenblicke, in denen Morgan sich fragte, ob er die Fahrt überleben werde.

Plötzlich aber vergaß er seine Furcht und den Ärger über den versäumten Schlaf.

»Da ist er!«, sagte der Fahrer stolz, als der Wagen die Flanke eines Hügels umrundete.

Sri Kanda selbst war völlig unsichtbar. Noch enthielt die Dunkelheit keine Spur des herannahenden Morgens. Die Anwesenheit des Berges wurde durch ein dünnes Band aus Licht preisgegeben, das zickzackförmig in der Nacht hing, als würde es durch eine magische Kraft gehalten. Morgan wusste, dass er weiter nichts sah als die Lampen, die vor zweihundert Jahren angebracht worden waren, um den Pilgern zu leuchten, die die längste Treppe der Welt emporklommen. Aber in ihrer Missachtung von Logik und Schwerkraft erschienen sie ihm fast wie eine Vorherschau auf seinen eigenen Traum. Zeitalter vor seiner Geburt, geleitet von Philosophen, die er sich kaum vorstellen konnte, hatten Menschen das Werk begonnen, das er zu vollenden hoffte. Sie hatten buchstäblich die ersten rohen Stufen der Treppe zu den Sternen gebaut.

Morgan fühlte keine Müdigkeit mehr, während er beobachtete, wie das leuchtende Band sich in unzählige einzelne Lichtquellen auflöste, je näher sie ihm kamen. Jetzt wurde auch der Berg selbst allmählich sichtbar, als ein riesiges schwarzes Dreieck, das die Hälfte der Sterne am Himmel verdeckte. Es lag etwas Düsteres in dieser schweigsam brütenden Masse; Morgan konnte sich gut vorstellen, dass sie wirklich die Wohnung der Götter war, die von seinem Vorhaben erfahren hatten und nun ihre Kräfte gegen ihn massierten.

Ominöse Gedanken dieser Art waren jedoch wie weggewischt, als sie die Talstation der Seilbahn erreichten und Morgan zu seiner großen Überraschung feststellte, dass sich bereits mehr als einhundert Leute — es war noch immer erst fünf Uhr — in dem kleinen Warteraum befanden. Er besorgte für sich und seinen geschwätzigen Fahrer einen angenehm heißen Kaffee. Der Chauffeur übrigens zeigte zu Morgans Erleichterung keinerlei Interesse, den Berg hinaufzufahren. »Das habe ich mindestens schon zwanzigmal gemacht«, erklärte er reichlich blasiert. »Ich schlafe im Auto, bis Sie wieder herunterkommen.«

Morgan kaufte ein Billett und berechnete überschlägig, dass er mit der dritten oder vierten Ladung von Passagieren an die Reihe kommen würde. Er war froh, dass er Saraths Rat angenommen und eine Thermohülle in die Tasche gesteckt hatte. Schon hier, in zwei Kilometern Höhe, war es empfindlich kalt. Auf dem Gipfel, noch drei Kilometer weiter oben, mussten die Temperaturen unter dem Nullpunkt liegen.

Während er sich in der langen Schlange von schläfrigen und nicht besonders gesprächigen Touristen allmählich vorwärtsbewegte, stellte er zu seiner Erheiterung fest, dass er der einzige Anwesende war, der keine Kamera trug. Wo waren die echten Pilger, fragte er sich. Dann erinnerte er sich. Er würde sie hier nicht finden. Es gab keinen leichten Weg zum Himmel, ins Nirwana, oder was immer es auch war, das die Gläubigen zu erlangen trachteten. Verdienst wurde nur durch das eigene Bemühen erworben, nicht mit der Hilfe von Maschinen. Eine interessante Doktrin, fand er, mit viel Wahrheitsgehalt. Aber es gab auch Situationen, in denen sich das Ziel nur mit Maschinen erreichen ließ.

Schließlich bekam er einen Sitz in einer der Gondeln. Unter lautem Seilgeknarre setzte sich das Gefährt in Bewegung. Zum zweiten Mal empfand Morgan das eigentümliche Gefühl des Vorherschauens. Der Fahrstuhl, den er plante, würde Ladungen befördern, die die Kapazität dieses primitiven Systems, das wahrscheinlich noch aus dem zwanzigsten Jahrhundert stammte, um ein Zehntausendfaches übertreffen. Und dennoch war das Prinzip seiner Arbeitsweise im Grunde genommen dasselbe.

Außerhalb der schaukelnden Gondel war es noch immer völlig finster, außer wenn ein Abschnitt der Treppe ins Blickfeld kam. Sie war verlassen und leer, als ob die zahllosen Millionen, die im Lauf dreier Jahrtausende sich hier hinaufgemüht hatten, keine Nachfolger hinterlassen hätten. Dann aber fiel Morgan ein, dass die, die den Aufstieg zu Fuß unternahmen, schon viel weiter oben sein mussten, wenn sie ihre Verabredung mit der Morgendämmerung einzuhalten gedachten. Sie hatten die tieferen Abhänge des Berges schon vor Stunden hinter sich gelassen.

In vier Kilometern Höhe wurde in eine andere Seilbahn umgestiegen. Das ging ziemlich rasch. Auf dem kurzen Weg von der einen Gondel zur anderen war Morgan nun wirklich froh, dass er die Hülle mitgebracht hatte, und wickelte sich fest in den metalldurchwirkten Stoff. Auf dem Boden lag Frost, und das Atmen in der dünnen Luft machte merklich Mühe. Es überraschte ihn keineswegs, in der kleinen Seilbahnhalle Gestelle mit Sauerstoffzylindern zu sehen, säuberlich mit Gebrauchsanweisung etikettiert.

Jetzt endlich, als sie den letzten Teil der Strecke in Angriff nahmen, kam die erste Ahnung des sich nähernden Tages. Die Sterne im Osten schimmerten noch immer mit unvermindertem Glanz — Venus der bei weitem hellste unter ihnen —, aber ein paar dünne, hohe Wolken begannen im Widerschein des nahenden Morgengrauens schwach zu glimmen. Morgan sah ungeduldig auf die Uhr und fragte sich, ob er noch zur rechten Zeit kam. Aber der Sonnenaufgang war noch dreißig Minuten entfernt.

Einer der Fahrgäste wies plötzlich auf die Treppe, von der Abschnitte immer wieder in Sicht kamen, während sie im Zickzack den jetzt immer steiler werdenden Berghang hinaufführte. Sie war nicht mehr leer. Dutzende von Männern und Frauen mühten sich mit Anstrengung die endlose Treppenflucht empor. Es wurden ihrer von Minute zu Minute mehr. Wie lange, dachte Morgan, waren sie schon unterwegs? Zumindest die ganze Nacht, womöglich auch noch länger. Unter den Pilgern befanden sich nämlich viele ältere Personen, die den Aufstieg unmöglich in einem Tag bewältigt haben konnten. Es überraschte ihn, dass es noch so viele Gläubige gab.

Einen Augenblick später sah er den ersten Mönch — eine hochgewachsene, in safrangelbes Tuch gekleidete Gestalt, die sich mit gleichmäßig pendelndem Gang bewegte, weder nach rechts noch nach links blickte und die über ihr dahinschwebende Gondel völlig ignorierte. Auch den Elementen schenkte der Gelbgekleidete mit dem kahl rasierten Schädel keine Beachtung: Trotz des eisigen Windes trug er die rechte Schulter und den Arm entblößt.

Die Gondel bremste, als sie sich der Endstation näherte. Sie hielt an, um die Passagiere zu entladen, setzte sich dann jedoch alsbald wieder talwärts in Bewegung. Morgan schloss sich einer Menge von etwa zwei- bis dreihundert Menschen an, die frierend in einem aus der Westwand des Berges gehauenen, kleinen Amphitheater hockten. Sie starrten in die Dunkelheit hinaus; aber es gab nichts zu sehen außer dem leuchtenden Band, das im Zickzack hinunter in die Tiefe kletterte. Ein paar verspätete Kletterer auf dem obersten Abschnitt der Treppe rafften noch einmal alle Kräfte zusammen, um den wichtigen Augenblick nicht zu versäumen.

Morgan warf abermals einen Blick auf die Uhr: zehn Minuten noch. Er hatte sich niemals zuvor in einem solch großen Kreis schweigender Menschen befunden. Dies war der Ort, an dem sich kameraschleppende Touristen und ergebene Pilger wieder vereinten. Die Wetterbedingungen waren ausgezeichnet. Bald würden sie wissen, ob sie die Reise umsonst unternommen hatten oder nicht.

Aus der Richtung des Tempels, der, noch immer unsichtbar in der Finsternis, einhundert Meter höher auf dem Gipfel des Berges stand, ertönte ein feines Klingeln. Im selben Augenblick erloschen alle Lampen längs der vielfach gewundenen Treppe. Die Besucher erkannten jetzt, während sie dem durch den Berg verdeckten Sonnenaufgang den Rücken zuwandten, dass der erste matte Schimmer des jungen Tages bereits auf den Wolken weit unter ihnen lag. Aber die gewaltige Masse des Berges zögerte den Anbruch der Dämmerung weiter hinaus.

Sekunde um Sekunde wuchs die Helligkeit zu beiden Seiten des Sri Kanda, während die Sonne in die letzten Verstecke der Nacht zu scheinen begann. Und plötzlich erhob sich unter der geduldig wartenden Menge ein leises Gemurmel.

Vor einem Augenblick war noch nichts zu sehen gewesen — aber jetzt materialisierte es plötzlich, ein vollkommen symmetrisches, scharf gezeichnetes Dreieck aus tiefstem Blau, das sich halbwegs über Taprobane hinweg erstreckte. Der Berg hatte seine Verehrer nicht vergessen; da war er, sein berühmter Schatten, ausgebreitet auf den Wolken, ein Symbol, das jeder Pilger für sich interpretieren mochte.

In seiner geradlinigen Vollkommenheit erschien er fast wie ein festes Gebilde, eine umgeworfene Pyramide, denn als ein Erzeugnis von Licht und Dunkelheit. Während die Helligkeit zunahm und die ersten Sonnenstrahlen über die Flanken des Berges fielen, schien der Schatten infolge der Kontrastwirkung noch an Dichte und Tiefe zu gewinnen. Aber durch den dünnen Schleier der Wolken, der seine Existenz überhaupt erst ermöglichte, konnte Morgan bereits die Seen und Hügel und Wälder des erwachenden Landes in ihren Umrissen erkennen.

Obwohl die Spitze des Dreiecks mit hoher Geschwindigkeit auf ihn zuschoss, während die Sonne hinter dem Berg senkrecht in die Höhe stieg, war Morgan sich keiner Bewegung bewusst. Die Zeit war abgeschafft. Morgan erlebte einen der seltenen Augenblicke seines Daseins, in denen er dem Verstreichen der Minuten keine Beachtung schenkte. Der Schatten der Ewigkeit lag auf seiner Seele wie der des Berges auf den Wolken.

Er schwand jetzt rasch, während die letzten Reste der Dunkelheit vom Sonnenlicht aufgesogen wurden. Die geisterhafte, schimmernde Landschaft ganz unten erwachte zur Wirklichkeit. Auf dem halben Weg zum Horizont gab es plötzlich eine Lichtexplosion, als die Sonne auf die Ostfenster eines Gebäudes traf. Und noch weiter draußen, falls seine Augen ihn nicht täuschten, erkannte Morgan undeutlich das dunkle Band an der See, die die Insel umschlang.

Für Taprobane war ein neuer Tag gekommen.


Langsam löste sich die Schar der Besucher auf. Manche kehrten zur Bergstation der Seilbahn zurück, während andere, die sich kräftiger fühlten, die Treppe in Angriff nahmen. Sie bildeten sich ein, der Abstieg sei leichter als der Aufstieg. Die meisten von ihnen würden froh sein, wenn sie auf der Zwischenstation wieder in die Seilbahn steigen konnten; nur ganz wenige würden die Treppe bis zum Fuß des Berges gehen.

Morgan war der Einzige, der aufwärts stieg. Neugierige Blicke folgten ihm, als er die Stufen hinaufstieg, die zu dem Kloster auf dem Gipfel des Berges hinaufführten. Als er die glatt vermörtelte äußere Mauer erreichte, die jetzt unter den ersten direkten Strahlen der Sonne sanft zu leuchten begann, war er völlig außer Atem und lehnte sich ein paar Augenblicke lang an die schwere, hölzerne Tür, um sich auszuruhen.

Jemand musste aufgepasst haben. Noch bevor er eine Glocke finden konnte, um seine Anwesenheit bekanntzugeben, schwangen die beiden Türflügel geräuschlos nach innen, und ein in Gelb gekleideter Mönch begrüßte ihn mit gefalteten Händen.

»Aju Bowan, Dr. Morgan. Der Mahajanake Thero freut sich auf Ihren Besuch.«

Starglider geht zur Schule

(Auszug aus »Starglider-Konkordanz«, Erste Ausgabe, 2071)

Wir wissen heute, dass die interstellare Raumsonde, allgemein als Starglider bekannt, völlig autonom ist und sich gemäß Instruktionen verhält, die ihr vor sechzigtausend Jahren als Programm eingegeben wurden. Jeweils zwischen zwei Sonnenanflügen überträgt sie mit Hilfe der 500-Kilometer-Antenne Informationen an ihren Heimatstützpunkt und erhält gelegentlich Programmmodifikationen von »Starholm«, um den lieblichen Namen zu gebrauchen, den der Dichter Llwellyyn ap Cymru geprägt hat.

Während des Fluges durch ein Sonnensystem hingegen ist die Raumsonde in der Lage, die Energie der nahen Sonne anzuzapfen, und die Informationsübertragungsgeschwindigkeit schnellt dramatisch in die Höhe. Sie lädt außerdem ihre Batterien auf, wenn man es so primitiv ausdrücken will. Da die Sonde — wie unsere eigenen frühen Raumfahrzeuge vom Typ »Pioneer« und »Voyager« — die Schwerefelder der Himmelskörper benützt, um sich von ihnen auf den Kurs zur nächsten Sonne bringen zu lassen, ist ihre Lebensdauer theoretisch unbegrenzt. Nur mechanisches Versagen oder ein kosmischer Unfall könnte ihre Karriere beenden. Centaurus war ihr elftes Ziel. Nachdem sie unsere Sonne in der Art eines Kometen umrundet hatte, war ihr Kurs haarscharf auf Tau Ceti gerichtet, zwölf Lichtjahre entfernt. Wenn dort irgendjemand lebt, wird die Sonde ihre nächste Konversation ungefähr im Jahr 8100 beginnen.

Starglider ist zugleich Botschafter und Forscher. Wenn die Sonde am Ende eines ihrer mehrtausendjährigen Reiseabschnitte auf eine technologische Kultur stößt, schließt sie mit den Eingeborenen Freundschaft und tauscht mit ihnen Informationen aus. Es kann sein, dass dies die einzige Form interstellaren Handels ist, die es je geben wird. Und bevor sie sich wieder entfernt, gibt sie die Koordinaten ihrer Heimatwelt bekannt, auf der man bereits auf einen Direktanruf von dem neuesten Mitglied des galaktischen Kommunikationsnetzes wartet.

Was Stargliders Begegnung mit uns angeht, so können wir stolz darauf sein, dass wir die Heimatsonne der Sonde erkannt und bereits unsere erste Nachricht dorthin abgestrahlt hatten, bevor uns Starglider Sternenkarten übermittelte. Jetzt bleibt uns nur noch übrig, 104 Jahre auf Antwort zu warten. Welch ein unglaublicher Glücksfall, dass unsere unbekannten Nachbarn so nahe leben.


Es wurde schon bei der ersten Botschaft, die Starglider uns zukommen ließ, offenbar, dass er die Bedeutung einiger tausend englischer und chinesischer Worte kannte. Er hatte sie aus der Analyse von Fernseh- und Radiosendungen und ganz besonders Bildnachrichten mit unterlegtem Text abgeleitet. Die Kenntnisse, die er auf diese Weise während seiner Annäherung an die Sonne sammelte, waren jedoch nur ein wenig repräsentativer Ausschnitt aus dem Spektrum der menschlichen Kultur. Dieser Ausschnitt enthielt wenig über den derzeitigen Stand der Naturwissenschaften, noch weniger über fortgeschrittene Mathematik — und wahllose Eindrücke von Musik, Literatur und den bildenden Künsten.

Wie jedes autodidaktische Genie besaß Starglider daher gewaltige Lücken in seinem Wissen. Nach dem Wahlspruch »Zu viel ist besser als zu wenig« übertrug man ihm daher, nachdem die Verbindung hergestellt war, das Oxford-Wörterbuch der englischen Sprache, das Große Wörterbuch der Chinesischen Sprache (Romandarin-Ausgabe) sowie die »Encyclopaedia Terrae«. Die Digitalübertragung nahm wenig mehr als fünfzig Minuten in Anspruch, und es ist festzuhalten, dass unmittelbar danach Starglider in ein fast vierstündiges Schweigen verfiel. Als er sich wieder meldete, verfügte er über ein immens bereichertes Vokabular, und mehr als 99 Prozent seiner Aussagen und Fragen hätten mühelos den Turing-Test bestanden — d.h. man konnte an ihnen nicht erkennen, ob sie von einer Maschine oder einem mit hoher Intelligenz begabten Menschen stammten.

Manchmal verriet er sich — zum Beispiel durch den unrichtigen Gebrauch mehrdeutiger Wörter und durch die Abwesenheit emotionaler Unterschwingungen in seinen Äußerungen. Man hatte selbstverständlich nichts anderes erwarten können. Fortgeschrittene terranische Computer können nötigenfalls die Emotionen ihrer Erbauer simulieren. Wenn Starglider dieselbe Fähigkeit besaß, dann simulierte er die Gefühlswelt einer ganz und gar fremden Art, die der Menschheit ohnehin unverständlich sein musste.

Umgekehrt verhielt es sich natürlich nicht anders. Die Aussage »Das Quadrat der Hypothenuse ist flächengleich der Summe der Quadrate der beiden Katheten« verstand Starglider. Aber er konnte sich kaum vorgestellt haben, was Keats durch den Sinn ging, als er schrieb:


Zauberische Vorhänge, die sich öffnen auf den Schaum

gefährlicher Meere, fern in märchenhaften Zonen …


oder gar:


Soll ich dem Sommertag vergleichen dich?

Du bist viel schöner und nicht so heiß …


Dessen ungeachtet präsentierte man Starglider — in der Hoffnung, dieser Schwäche abzuhelfen — mehrere tausend Stunden lange Darstellungen von Musik, Drama und Szenen aus dem irdischen Leben. Man einigte sich darauf, hier eine gewisse Zensur auszuüben. Obwohl man die Neigung der Menschheit, sich in Krieg und Gewalttätigkeit zu verstricken, nicht mehr leugnen konnte (es war zu spät, die »Encyclopaedia« zurückzurufen), wurde die Darstellung solcher Verstrickungen auf ein paar sorgfältig ausgewählte Beispiele beschränkt. Und die Fernsehnetze boten, bis Starglider sich endlich wieder außer Reichweite befand, ausgesprochen flaue Kost.

Jahrhunderte hindurch würden die Philosophen nun darüber diskutieren, wie viel Starglider wirklich von den Belangen und Problemen der Menschen verstanden hatte. In einem Punkt allerdings herrschte Einigkeit: in den hundert Tagen, die Stargliders Fahrt durch das Sonnensystem gedauert hatte, war das Bild, das der Mensch sich vom Universum, vom Ursprung des Universums und von seinem eigenen kosmischen Standort machte, gründlich und unwiderruflich geändert worden.

Die menschliche Zivilisation war nicht mehr dieselbe wie vor Stargliders Ankunft — und würde es auch niemals wieder werden.

Der Oberpriester

Als sich die massive, mit feinen Lotusschnitzereien versehene Tür leise klickend hinter ihm schloss, hatte Morgan das Gefühl, eine andere Welt betreten zu haben. Es war dies keineswegs das erste Mal, dass er auf Boden stand, der einst der einen oder anderen Religion heilig gewesen war. Er hatte Notre Dame gesehen, die Hagia Sophia, Stonehenge, das Parthenon, Karnak, Saint Paul und mindestens ein Dutzend anderer großer Tempel und Moscheen. Aber sie waren ihm alle als versteinerte Reliquien der Vergangenheit erschienen — hervorragende Beispiele der Baukunst oder des Ingenieurwesens, aber ohne Bezug zum Bewusstsein des modernen Menschen. Die Dogmen, die sie erschaffen und erhalten hatten, waren allesamt der Vergessenheit anheimgefallen, obwohl ein paar bis in das zweiundzwanzigste Jahrhundert hinein überlebt hatten.

Hier aber schien es, als hätte die Zeit stillgestanden. Die Wirbelstürme der Geschichte hatten an dieser Zitadelle des Glaubens vorbeigeblasen und ihr jede Erschütterung erspart. Die Mönche beteten noch immer, meditierten und beobachteten die Morgendämmerung, wie sie es dreitausend Jahre lang getan hatten.

Während er über die Pflastersteine des Hofes schritt, die die Füße unzähliger Pilger glattpoliert hatten, empfand Morgan ein plötzliches und für ihn ganz uncharakteristisches Gefühl der Unentschlossenheit. Er stand im Begriff, im Namen des Fortschritts etwas Uraltes, Vornehmes zu zerstören — etwas, das er nie völlig verstehen würde.

Der Anblick der großen Bronzeglocke, aufgehängt in einem Turm, der aus der Wand des Klosters wuchs, ließ ihn seine Gedanken vergessen. Er blieb stehen. Im Handumdrehen hatte sein Ingenieurverstand das Gewicht der Glocke auf nicht weniger als fünf Tonnen geschätzt; außerdem war sie offenbar sehr alt. Wie um alles in der Welt …?

Der Mönch bemerkte seine Neugierde und lächelte verständnisvoll.

»Sie ist zweitausend Jahre alt«, sagte er. »Eine Gabe Kalidasas, des Fluchbeladenen, die anzunehmen wir für klug hielten. Nach der Legende brauchte man zehn Jahre, sie den Berg heraufzuschleppen, und hundert Menschen starben dabei.«

»Wozu wird sie gebraucht?«, fragte Morgan, nachdem er diese Information verdaut hatte.

»Infolge ihrer unliebsamen Herkunft wird sie nur in Unglücksfällen geläutet. Ich selbst habe sie niemals gehört, und auch sonst kein Lebender. Sie ertönte von selbst während des großen Erdbebens von 2017. Und davor wurde sie geläutet im Jahre 1522, als die portugiesischen Eindringlinge den Tempel des Zahnes niederbrannten und die Heilige Reliquie raubten.«

»Nach all der Mühe ist sie nie benützt worden?«

»Vielleicht ein Dutzend Mal in den letzten zweitausend Jahren. Kalidasas Fluch liegt noch immer auf ihr.«

Das war vielleicht gutes religiöses Denken, überlegte Morgan, aber kein wirtschaftliches. Er fragte sich insgeheim, wie viel Mönche im Lauf der Jahrhunderte der Versuchung erlegen sein mochten, ganz sacht an die Glocke zu klopfen, um wenigstens einmal das Summen ihrer verbotenen Stimme zu hören.

Sie schritten jetzt einen riesigen Felsklotz entlang, über dessen Flanke eine Treppe zu einem vergoldeten Pavillon hinaufführte. Dies, nahm Morgan zur Kenntnis, war der eigentliche Berggipfel. Er wusste, was der Schrein angeblich enthalten sollte, aber der Mönch ließ ihm ein zweites Mal von seinem Wissen zukommen.

»Der Fußabdruck«, sagte er. »Die Moslems glaubten, er rühre von Adam her. Er stand hier, nachdem er aus dem Paradies vertrieben worden war. Die Hindus schrieben ihn Shiva oder Saman zu. Für die Buddhisten aber war er natürlich der Abdruck des Erleuchteten.«

»Sie benutzen die Vergangenheit«, antwortete Morgan vorsichtig mit neutralem Tonfall. »Was ist der heutige Glaube?«

Das Gesicht des Mönchs war ausdruckslos, als er antwortete: »Buddha war ein Mensch wie Sie und ich. Der Abdruck im Felsen — und der Felsen ist äußerst hart — misst zwei Meter.«

Damit schien die Angelegenheit erledigt. Morgan stellte keine weiteren Fragen, während er einen kurzen Gang entlanggeführt wurde, der vor einer offenen Tür endete. Der Mönch klopfte und winkte Morgan einzutreten, ohne auf eine Antwort zu warten.

Morgan hatte halb erwartet, den Mahajanake Thero mit untergeschlagenen Beinen auf einer Matte hockend vorzufinden, umgeben von Weihrauch und den Gesängen der Akoluthen. Es lag in der Tat ein Hauch von Weihrauch in der Luft, aber der Oberpriester des Tempels von Sri Kanda saß hinter einem vollkommen normalen Büroschreibtisch, der mit den üblichen Kommunikations- und Speichergeräten ausgestattet war. Das einzig Ungewöhnliche in diesem Raum war ein Buddhakopf, etwas überlebensgroß, der in einer Ecke auf einem Piedestal stand. Morgan konnte nicht erkennen, ob er echt war oder nur eine Projektion.

Trotz dieser konventionellen Einrichtung bestand wenig Gefahr, dass man den Klostervorsteher mit einem modernen Manager verwechseln würde. Abgesehen von der unvermeidlichen gelben Toga besaß er zwei Merkmale, die in diesem Zeitalter ausgefallen wirkten. Er trug eine Brille, und sein Schädel war völlig kahl.

Beides, nahm Morgan an, war Absicht. Da sich Haarlosigkeit leicht heilen ließ, war die glänzende Schädelkuppe entweder rasiert oder enthaart. Und wann er das letzte Mal eine Brille gesehen hatte, dessen konnte sich Morgan vollends nicht erinnern, wenn er von historischen Aufzeichnungen oder Schauspielen absah.

Die Kombination faszinierte Morgan und brachte ihn gleichzeitig ein wenig aus dem Gleichgewicht. Er fand es unmöglich, das Alter des Priesters zu schätzen. Es lag irgendwo zwischen vierzig und achtzig. Und die Gläser verbargen, wie durchsichtig sie auch sein mochten, Mahajanake Theros Gedanken und Empfindungen.

»Aju Bowan, Dr. Morgan«, sagte der Priester, wobei er seinem Besucher mit einer Geste den einzig verfügbaren Stuhl anbot. »Das hier ist mein Sekretär, der Ehrwürdige Parakarma. Ich nehme an, Sie haben nichts dagegen, dass er Notizen von unserem Gespräch anfertigt.«

»Nicht das Geringste«, antwortete Morgan, wobei er den Kopf in der Richtung des Genannten neigte. Er nahm zur Kenntnis, dass der junge Mönch langes Haar und einen wallenden Bart trug. Es war anscheinend jedem selbst überlassen, ob er sich den Schädel rasierte oder nicht.

»Also, Dr. Morgan«, fuhr der Mahajanake Thero fort, »Sie wollen unseren Berg.«

»So ist es, Euer — äh — Hochwürden. Einen Teil davon wenigstens.«

»Von der ganzen Erdoberfläche ausgerechnet diese paar Hektar?«

»Die Wahl wird nicht von uns bestimmt, sondern von der Natur. Die Bodenstation muss sich am Äquator befinden, und zwar in der größtmöglichen Höhe, wo den Windkräften durch die geringe Luftdichte Grenzen gesetzt sind.«

»Es gibt sowohl in Afrika als auch in Südamerika höhere Berge in der Äquatorialzone.«

Da geht's schon wieder los!, stöhnte Morgan im Geist. Bittere Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass es nahezu unmöglich war, Laien, selbst wenn sie noch so viel Intelligenz und Wissbegierde besaßen, das komplexe Problem zu erläutern. Bei diesen beiden Mönchen versprach er sich noch weniger Erfolg. Wenn nur die Erde ein wahrhaft runder, symmetrischer Körper gewesen wäre, ohne Kerben und Beulen in ihrem Schwerefeld!

»Glauben Sie mir«, sagte er voller Eifer, »wir haben alle Alternativen sorgfältig untersucht. Der Cotopaxi und der Mount Kenia, selbst der Kilimandscharo, obwohl dieser drei Grad südlich liegt, wären für unsere Zwecke hervorragend geeignet. Das heißt, wenn es dieses eine kritische Problem nicht gäbe. Wenn ein Satellit in eine stationäre Umlaufbahn gebracht wird, bleibt er nicht stets genau am selben Ort. Infolge der Unregelmäßigkeit des Schwerefelds, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte, treibt er langsam den Äquator entlang. Infolgedessen verbrennen alle unsere geosynchronen Satelliten und Raumstationen Treibstoff, um sich an Ort und Stelle zu halten. Glücklicherweise handelt es sich nur um geringe Mengen. Aber man kann nicht mehrere Millionen Tonnen hin und her rücken, um sie auf Position zu halten — besonders dann nicht, wenn diese gewaltige Masse aus schlanken Röhren mit mehreren zehntausend Kilometern Länge besteht. Aber das ist auch gar nicht nötig. Zu unserem Glück …«

»… nicht zu unserem«, warf der Mahajanake Thero ein und hätte fast damit erreicht, dass Morgan den Faden verlor.

»… gibt es zwei stabile Punkte im Synchronorbit. Ein Satellit, der dort in Position gebracht wird, treibt nicht ab. Er verhält sich, als befände er sich auf dem tiefsten Punkt eines unsichtbaren Tales. Einer dieser Orte befindet sich über dem Pazifik, also ist er für uns wertlos. Der zweite liegt geradewegs über uns.«

»Ein paar Kilometer hierhin oder dorthin würden doch sicherlich keinen großen Unterschied machen. Es gibt viele Berge in Taprobane.«

»Aber keinen, der mehr als halb so hoch ist wie Sri Kanda. Damit befinden wir uns auf einer Höhe, in der die Windkräfte eine kritische Rolle spielen. Zugegeben, es kommt unmittelbar am Äquator nur selten zu kräftigen Wirbelstürmen. Aber es gibt ihrer genug, so dass sie für die Struktur eine ernsthafte Gefahr darstellen, und zwar an deren schwächstem Punkt.«

»Wir haben den Wind unter Kontrolle.«

Das war der erste Beitrag, den der junge Sekretär zu der Unterhaltung lieferte. Morgan musterte ihn mit neu erwachtem Interesse.

»Bis zu einem gewissen Grad, ja. Ich habe diesen Punkt mit der Monsun-Kontrolle diskutiert. Man sagt dort, absolute Gewissheit sei ganz unmöglich, besonders im Fall von Wirbelstürmen. Man spricht von Zuversicht in der Gegend fünfzig zu eins. Aber für ein Projekt von Billionen Dollar ist das nicht gut genug.«

Der Ehrwürdige Parakarma schien zum Debattieren aufgelegt. »Es gibt einen fast vergessenen Zweig der Mathematik, die Katastrophentheorie, mit deren Hilfe man aus der Meteorologie eine exakte Wissenschaft machen könnte. Ich bin überzeugt …«

»An dieser Stelle sollte ich erklären«, schnitt der Mahajanake Thero dem anderen das Wort ab, »dass mein Bruder aufgrund der Arbeiten, die er auf dem Gebiet der Astronomie leistete, einst ein anerkannter Fachmann war. Ich nehme an, Sie haben den Namen Dr. Choam Goldberg gehört?«

Morgan kam sich vor, als hätte sich plötzlich eine Falltür unter ihm geöffnet. Er hätte sich so etwas denken sollen! Er erinnerte sich, dass Professor Sarath ihm mit einem Augenzwinkern zu verstehen gegeben hatte, er solle sich vor Buddys Privatsekretär in Acht nehmen; er sei ein äußerst gescheiter Mann.

Morgan fragte sich, ob er rot geworden war, während der Ehrwürdige Parakarma, alias Dr. Choam Goldberg, ihn mit unverkennbar feindseligem Blick anstarrte. Diese unschuldigen Mönche hatten sich also von ihm das Problem instabiler Synchronorbits erklären lassen, obwohl ihnen das Thema infolge des Wissens, das Goldberg mit sich herumtrug, weitaus geläufiger war, als er es in dieser kurzen Aussprache hätte machen können.

Er erinnerte sich, dass die Wissenschaftler der Erde bezüglich des Dr. Goldberg geteilter Meinung waren. Es gab solche, die nicht daran zweifelten, dass er verrückt war, und andere, die sich zu einem Entschluss noch nicht durchgerungen hatten. Er war einer der vielversprechendsten jungen Wissenschaftler auf dem Gebiet der Astrophysik gewesen, als er eines Tages, vor fünf Jahren, plötzlich verkündete: »Jetzt, da Starglider alle herkömmlichen Religionen zerstört hat, können wir uns endlich auf die Suche nach dem wahren Konzept Gottes machen.«

Mit diesen Worten war er dem Blickfeld der Öffentlichkeit entschwunden.

Gespräche mit Starglider

Unter den Tausenden von Fragen, die Starglider während seiner Durchquerung des Sonnensystems gestellt wurden, waren ohne Zweifel diejenigen am drängendsten, die sich auf die Lebewesen und Zivilisationen anderer Sternsysteme bezogen. Sehr zur Überraschung einiger Pessimisten antwortete der Robot bereitwillig, wenn er auch zu bedenken gab, dass die letzte Korrektur seiner Daten vor über einem Jahrhundert erfolgt war.

Wenn man bedachte, wie viel verschiedene Kulturen auf der Erde von einer einzigen Art hervorgebracht worden waren, dann sah man ein, dass die Vielfalt unter den Völkern fremder Sterne, die völlig andersartige Lebensformen hervorgebracht haben mochten, noch weitaus größer sein müsse. Etliche tausend Stunden faszinierender — oft unverständlicher und manchmal entsetzenerregender — Schilderungen des Lebens auf anderen Welten bestätigten, dass dem tatsächlich so war.

Dessen ungeachtet hatten die Bewohner von Starholm eine grobe Klassifizierung der Kulturen entwickelt. Diese beruhte auf dem jeweiligen Stand der Technologie als einzig objektivem Klassifizierungsmerkmal. Die Menschheit hörte mit großem Interesse, dass sie sich in der fünften Klasse auf einer Skala befand, die wie folgt definiert war: 1 — Steinwerkzeuge, 2 — Metall, Feuer, 3 — Alphabet, Handwerkskünste, Schiffe, 4 — Dampfkraft, Grundlagen der Wissenschaft, 5 — Atomenergie, Raumfahrt.

Als Starglider seine Reise vor sechzigtausend Jahren begonnen hatte, da befanden sich seine Erbauer, wie die Menschheit, noch in Klasse 5. Sie waren inzwischen in die Klasse 6 aufgestiegen, in der man die völlige Umwandlung von Materie in Energie und die Synthetisierung aller Elemente in kommerziellen Mengen beherrschte.

»Gibt es eine Klasse sieben?«, wurde Starglider gefragt.

Die Antwort war ein kurzes »Ja«. Als man ihn darauf um Einzelheiten ansprach, erklärte der Robot: »Ich bin nicht befugt, die Technologie einer höheren Klasse den Mitgliedern einer niedrigeren zu schildern.« Und dabei blieb es, bis zu dem Augenblick, in dem Starglider seine letzte Botschaft abstrahlte, und selbst die von den brillantesten Köpfen der Erde ausgearbeiteten Fangfragen vermochten daran nichts zu ändern.

Zu dieser Zeit war nämlich Starglider den terrestrischen Logikern schon mehr als ebenbürtig. Das war zum Teil die Schuld der Abteilung für Philosophie an der Universität von Chicago. In einem Anfall monumentalen Größenwahns hatte man von dort heimlich die gesamte »Summa Theologiae« an Starglider übertragen — mit katastrophalen Folgen …


02. Juni 2069, 19:34 GZ. Nachricht 1946, Folge 2. Starglider an Erde:

Gemäß Ihrer Bitte (Ihre Nachricht 145 Folge 3 02. Juni 2069 18:42 GZ) habe ich die Argumente des heiligen Thomas von Aquin analysiert. Ein Großteil des Inhalts scheint gehaltfreies logisches Hintergrundgeräusch zu sein und somit bar jeglicher Information. Der folgende Ausdruck zählt 192 Fehlschlüsse auf, dargestellt mit der logischen Symbolik Ihrer Referenz-Mathematik 43 vom 29. Mai 2069 02:51 GZ.

Fehlschluss 1 … (daran anschließend ein 75-seitiger Ausdruck.)


Wie das Logbuch beweist, brauchte Starglider nicht einmal eine Stunde, um den heiligen Thomas logisch zu demolieren. Zwar debattierten Philosophen danach noch Jahrzehnte über Stargliders Analyse; aber sie fanden nur zwei Fehler, und selbst diese mochten unter Umständen auf ein Missverständnis der Terminologie zurückzuführen sein.

Es wäre von großem Interesse gewesen, zu erfahren, welchen Prozentsatz seiner Prozesskapazität Starglider bei dieser Aufgabe eingesetzt hatte. Unglücklicherweise dachte niemand daran, die entsprechende Frage zu stellen. Inzwischen liefen weitere desillusionierende Botschaften ein.


04. Juni 2069, 07:59 GZ, Nachricht 9056, Folge 2. Starglider an Erde:

Ich bin außerstande, zwischen religiösen Zeremonien und anscheinend identischem Verhalten anlässlich sportlicher und kultureller Ereignisse, deren Schilderung Sie mir übermittelt haben, zu unterscheiden. Ich beziehe mich insbesondere auf die Beatles 1965, die Fußballweltmeisterschaft 2047, die Abschiedsvorstellung der Johann-Sebastian-Doppelgänger 2056.


05. Juni 2069. 20:38 GZ, Nachricht 4675, Folge 2. Starglider an Erde:

Die letzte Informationsaufarbeitung zu diesem Thema liegt 175 Jahre zurück, aber wenn ich Sie richtig verstehe, lautet die Antwort wie folgt: Verhalten der Art, die Sie als religiös bezeichnen, wurde beobachtet in 3 der 15 bekannten Klasse-1-Kulturen, 6 der 28 Klasse-2-Kulturen, 5 der 14 Klasse-3-Kulturen, 2 der 10 Klasse-4-Kulturen und 3 der 174 Klasse-5-Kulturen. Sie verstehen, dass wir weitaus mehr Beispiele der Klasse 5 kennen, weil sie die einzigen sind, die über stellare Entfernungen hinweg entdeckt werden können.


06. Juni 2069, 12:09 GZ. Nachricht 5897, Folge 2. Starglider an Erde:

Ihre Schlussfolgerung, dass bei den 3 Klasse-5-Kulturen, die religiöses Verhalten zeigen, Reproduktion auf Zwei-Eltern-Basis existiert und der Nachwuchs einen beträchtlichen Teil seiner Lebensspanne in Familiengruppen zubringt, ist korrekt. Wie sind Sie zu diesem Schluss gekommen?


08. Juni 2069, 15:37 GZ, Nachricht 6943, Folge 2. Starglider an Erde:

Die Hypothese, die Sie als Gott bezeichnen, kann zwar allein durch Logik nicht widerlegt werden, ist aber unnötig.

Wenn Sie annehmen, dass das Universum ›erklärt‹ werden kann als Schöpfung einer Einheit namens Gott, muss die Einheit sich offenbar auf einem Niveau höherer Organisation befinden als ihr Produkt. Somit haben Sie die Größe des ursprünglichen Problems mehr als verdoppelt und sind in einen Prozess divergierender (und daher unendlicher) Iteration eingetreten.

William of Ockham hat erst in Ihrem vierzehnten Jahrhundert darauf hingewiesen, dass Einheiten nicht unnötig multipliziert werden sollten.


11. Juni 2069, 06:84 GZ, Nachricht 8964, Folge 2. Starglider an Erde:

Starholm hat mir vor 456 Jahren mitgeteilt, dass der Ursprung des Universums gefunden wurde, dass ich jedoch nicht genug Prozesskapazität besitze, um die Zusammenhänge zu verstehen. Für weitere Auskunft wenden Sie sich direkt an Starholm.

Ich schalte jetzt auf Interstellarfahrt und muss die Verbindung abbrechen. Leben Sie wohl.


Nach Ansicht vieler bewies diese letzte und sensationellste unter den vielen Tausenden von Nachrichten, die Starglider übertragen hatte, dass der Robot Humor besaß. Warum sonst hätte er bis zum letzten Augenblick gewartet, die philosophische Bombe zu zünden? Oder war die ganze Unterhaltung nur ein sorgfältig ausgedachter Plan, der die Aufgabe hatte, die Menschheit geistig auf die Ankunft der ersten Direktbotschaft von Starholm vorzubereiten, ungefähr 104 Jahre in der Zukunft?

Einige schlugen vor, man solle Starglider folgen, da er nicht nur immenses Wissen, sondern überdies auch die Schätze einer um Hunderte von Jahren weiterentwickelten Technologie mit sich führte. Obwohl es kein Raumschiff gab, das Starglider einholen und dann wieder zur Erde zurückkehren konnte, war es durchaus möglich, eines zu bauen.

Schließlich aber setzten sich gemäßigtere Ansichten durch. Auch ein Roboter mochte sich durchaus gegen Zudringlichkeiten wehren können, und sei es auch, als letzter Ausweg, durch Selbstzerstörung. Das überzeugendste Argument aber war, dass Stargliders Erbauer sich in einer Entfernung von »nur« zweiundfünfzig Lichtjahren befanden. In den Jahrtausenden, seit sie Starglider vom Stapel gelassen hatten, war ihre Raumfahrttechnik weiter fortgeschritten. Wenn die Menschheit sie herausforderte, mochte es geschehen, dass sie in ein paar hundert Jahren, leicht verärgert, über der Erde erschienen.

Der Priester

Morgan überflog in Gedanken noch einmal die bisherige Unterhaltung und kam zu dem Schluss, dass er sich nicht lächerlich gemacht hatte.

Im Gegenteil: Mahajanake Thero mochte sich eines taktischen Vorteils begeben haben, indem er die Identität des Ehrwürdigen Parakarma preisgab. Es war allerdings darum kein besonderes Geheimnis; womöglich nahm er an, dass Morgan bereits davon wisse.

Die Unterhaltung wurde an dieser Stelle unterbrochen. Zwei junge Priesteranwärter betraten das Büro.

Der eine trug ein Tablett mit kleinen Schüsseln voll Reis, Früchten und Dingen, die wie dünne Pfannkuchen aussahen, der andere brachte die unvermeidliche Teekanne. Nichts unter dem Dargebotenen sah nach Fleisch aus. Nach dieser langen Nacht hatte Morgan Appetit auf ein paar Eier, aber vermutlich waren selbst die verboten. Nein — das war zu stark ausgedrückt. Sarath hatte ihm erklärt, dass der Orden nichts verbot, da er Absolutheiten ablehnte. Aber es gab eine fein abgestufte Skala des Zulässigen, und auf dieser befand sich das Vernichten von Leben, selbst potentiellem Leben, ganz am unteren Ende.

Als er von den verschiedenen Schüsseln zu kosten begann, deren Inhalt ihm zumeist unbekannt war, sah er den Mahajanake Thero fragend an. Dieser jedoch schüttelte den Kopf.

»Wir essen nichts vor Mittag. Der Verstand arbeitet des Morgens klarer und sollte nicht durch materielle Dinge abgelenkt werden.«

Während er ein wohlschmeckendes Stück Papaya verzehrte, bedachte Morgan den weltweiten Unterschied, der zwischen dieser Philosophie und der seinen bestand. Für ihn war ein leerer Magen eine starke Ablenkung, die die höheren Funktionen des Gehirns völlig lahmlegte. Da er sich stets guter Gesundheit erfreut hatte, war ihm nie der Gedanke gekommen, man müsse Körper und Geist voneinander trennen. Er sah nicht ein, wozu das gut sein solle.

Während Morgan sein exotisches Frühstück verzehrte, entschuldigte sich der Mahajanake Thero für ein paar Minuten. Seine Finger tanzten mit bewundernswerter Geschwindigkeit über die Tastatur der Konsole. Während der Datenbildschirm sich füllte, fühlte Morgan sich aus Höflichkeit veranlasst, zur Seite zu sehen. Sein Blick fiel auf den Buddhakopf. Er war vermutlich echt; denn das Piedestal warf einen matten Schatten gegen die Wand, vor der es stand. Aber selbst das war kein schlüssiger Beweis. Das Piedestal mochte solide sein und der Kopf eine sorgfältig positionierte Projektion. Man kannte solche Tricks.

Hier war, wie die Mona Lisa, ein Kunstwerk, das die Empfindungen des Betrachters sowohl spiegelte als auch beeinflusste. La Gioconda hatte die Augen geöffnet, obwohl niemand je erfahren würde, was sie schauten.

Die Augen des Buddhas dagegen waren blicklos — leere Flächen, in denen ein Mensch seine Seele verlieren oder ein Universum entdecken mochte.

Um die Lippen spielte ein Lächeln noch undeutbarer als das der Mona Lisa. Wenn es überhaupt ein Lächeln war und nicht nur ein Spiel des Lichts. Jetzt war es plötzlich verschwunden, ersetzt durch einen Ausdruck übermenschlicher Ruhe. Morgan konnte den Blick nicht von dem hypnotisierenden Antlitz wenden, und erst das vertraute Rascheln und Summen eines Kopiergeräts brachte ihn in die Wirklichkeit zurück — falls dies in der Tat die Wirklichkeit war.

»Ich dachte, Sie möchten vielleicht ein Souvenir von diesem Besuch mit nach Hause nehmen«, sagte der Mahajanake Thero.

Morgan nahm das Blatt entgegen, das ihm gereicht wurde, und stellte zu seiner Überraschung fest, dass es Pergament von Archivqualität war, nicht das übliche dünne Papier, das man nach kurzer Zeit wieder wegwarf. Er verstand kein einziges Wort des Gedruckten. Mit Ausnahme einer winzigen alphanumerischen Kennzeichnung in der linken unteren Ecke war alles in jenen runden, blumigen Zeichen, von denen er mittlerweile wenigstens wusste, dass sie dem taprobanischen Alphabet zugehörten.

»Ich danke Ihnen«, sagte er mit all der Ironie, die ihm in diesem Augenblick noch zur Verfügung stand. »Was ist es?« Er glaubte es fast zu wissen. Juristische Dokumente besaßen eine auffallende Familienähnlichkeit, ohne Rücksicht auf die Sprache, in der sie verfasst waren, oder die Ära, aus der sie stammten.

»Eine Kopie des Übereinkommens zwischen König Ravindra und dem Maha Sangha, abgeschlossen am Vesak-Fest des Jahres 854 Ihrer Zeitrechnung. Es bestimmt den Eigentümer des Tempelgeländes — bis in alle Ewigkeit. Die Rechte, die dieses Dokument festlegt, wurden selbst von den fremden Eindringlingen geachtet.«

»Von den Engländern und Holländern, soweit ich weiß. Aber nicht von den Portugiesen.«

Falls der Mahajanake Thero darüber erstaunt war, wie gut Morgan sich vorbereitet hatte, dann verriet er dies nicht einmal mit einem Wimpernzucken.

»Die Portugiesen waren niemals dafür bekannt, dass sie Recht und Ordnung respektierten — besonders dann nicht, wenn es um andere Religionen ging. Ich hoffe, dass Sie ihre Philosophie, Macht ist gleich Recht, nicht als anziehend empfinden.«

Morgan zwang sich zu einem Lächeln. »Ganz gewiss nicht«, antwortete er. Aber wo zog man den Schlussstrich?, fragte er sich insgeheim. Wenn es um die dominierenden Interessen großer Organisationen ging, wurden Recht und Moral oft auf den zweiten Platz verwiesen. Die juristischen Autoritäten der Erde, menschliche ebenso wie elektronische, würden sich binnen kurzem auf diesen Ort konzentrieren. Wenn sie die richtigen Antworten nicht fanden, dann mochte eine recht unangenehme Situation entstehen — und er würde womöglich die Rolle des Schurken anstatt die des Helden spielen.

»Da Sie das Übereinkommen von 854 zur Sprache gebracht haben, erlauben Sie mir, Sie daran zu erinnern, dass es sich nur auf das Land innerhalb der Tempelgrenzen bezieht, die durch die äußeren Mauern eindeutig definiert sind.«

»Richtig. Aber die Mauern umschließen den gesamten Gipfel.«

»Sie haben keine Kontrolle über den Grund und Boden außerhalb dieser Grenzen.«

»Wir haben die Rechte eines jeden Grundbesitzers. Wenn die Nachbarn eine Störung darstellen, können wir Beschwerde einlegen. Es wäre dies nicht das erste Mal.«

»Ich weiß. Es wurde bereits im Zusammenhang mit der Seilbahn getan.«

Der Maha Thero lächelte schwach. »Sie haben sich wirklich vorbereitet«, lobte er. »Ja, wir waren ganz und gar dagegen — aus einer Reihe von Gründen. Allerdings gebe ich zu, dass wir jetzt, da es die Seilbahn gibt, für ihre Existenz oftmals dankbar gewesen sind.« Er legte eine nachdenkliche Pause ein und fügte dann hinzu: »Es hat ein paar Probleme gegeben, aber wir bringen es fertig, nebeneinander zu leben. Schaulustige und Touristen begnügen sich mit der Aussichtsplattform. Echte Pilger dagegen heißen wir natürlich stets auf dem Gipfel willkommen.«

»Dann ließe sich für diesen Fall womöglich ein Kompromiss finden. Ein paar hundert Meter Höhenunterschied sind für uns unerheblich. Wir würden den Gipfel überhaupt nicht berühren, sondern uns ein eigenes Plateau einrichten wie das, auf dem die Bergstation der Seilbahn steht.«

Morgan fühlte sich unter den durchdringenden Blicken der beiden Mönche ausgesprochen unbehaglich. Er zweifelte nicht daran, dass sie das Absurde seines Vorschlags sofort durchschauten. Dennoch hatte er ihn unterbreiten müssen — der Vollständigkeit halber.

»Sie haben einen höchst eigenartigen Sinn für Humor, Dr. Morgan«, erwiderte der Mahajanake Thero schließlich. »Was würde aus dem Geist des Berges — aus der Einsamkeit, die wir dreitausend Jahre lang gesucht haben — wenn man Ihre ungeheuerliche Maschine hier errichtete? Erwarten Sie von uns, die Gläubigkeit der Millionen zu verraten, die zu diesem heiligen Ort gepilgert sind, oft auf Kosten ihrer Gesundheit, sogar ihres Lebens?«

»Ich empfinde mit Ihnen«, antwortete Morgan. (Tue ich das wirklich?, fragte er sich.) »Wir würden selbstverständlich nichts unversucht lassen, um die Belästigung so gering wie möglich zu halten. Die gesamte Anlage wird im Innern des Berges untergebracht. Nur der Fahrstuhl selbst wäre sichtbar, und auch er nur über eine geringe Distanz. Struktur und Aussehen des Berges blieben gänzlich unverändert. Selbst Ihr berühmter Schatten, den ich soeben bewundert habe, wäre so gut wie nicht betroffen.«

Der Mahajanake Thero wandte sich an seinen Kollegen, als erwarte er von ihm eine Bestätigung. Der Ehrwürdige Parakarma blickte Morgan herausfordernd an und sagte: »Was ist mit dem Geräusch?«

Verdammt, schoss es Morgan durch den Sinn, mein schwächster Punkt. Die Transporte würden den Berg mit einer Geschwindigkeit von mehreren hundert Kilometern pro Stunde verlassen — je mehr Anfangsgeschwindigkeit, desto geringer die Belastung des Turmes. Passagiere ertrugen natürlich nicht mehr als ein g oder so, aber die Fahrzeuge würden noch immer mit 30, 40 oder 50 Prozent der Schallgeschwindigkeit aus dem Berg hervorschießen.

»Es wird einen gewissen Betrag aerodynamischen Geräusches geben«, bekannte Morgan. »Aber weitaus weniger als in der Nähe eines großen Flughafens.«

»Sehr beruhigend«, sagte der Mahajanake Thero. Das war reiner Sarkasmus, daran gab es für Morgan keinen Zweifel, aber er konnte keine Spur der Ironie in des Priesters Stimme erkennen. Es erfüllte ihn entweder eine olympische Ruhe, oder er stellte die Reaktionen seines Besuchers auf die Probe. Der jüngere Mönch dagegen gab sich keine Mühe, seinen Ärger zu verbergen.

»Seit Jahren«, sagte er zornig, »protestieren wir gegen den teuflischen Lärm, der von einfliegenden Raumfahrzeugen verursacht wird. Und Sie wollen Schockwellen in unserem eigenen Hinterhof erzeugen!«

»Unsere Fahrzeugbewegungen sind in dieser Höhe nicht Überschall«, erwiderte Morgan hart. »Außerdem fängt die Struktur des Turmes den größten Teil der Schallenergie ab. Um genau zu sein«, fügte er hinzu, als er plötzlich erkannte, welchen Punkt er zu seinem Vorteil ausschlachten konnte, »werden wir auf lange Sicht den Einfluglärm eliminieren. Es wird auf diesem Berg in Wirklichkeit ruhiger zugehen.«

»Ich verstehe. Anstelle gelegentlicher Erschütterungen haben wir dann ein ständiges Dröhnen.«

Mit diesem Kerl ist nichts anzufangen, dachte Morgan; ich hatte gemeint, Mahajanake Thero sei das größte Hindernis!

Manchmal war es am klügsten, wenn man das Thema wechselte. Er entschloss sich, eine vorsichtige Zehe in das heiße Wasser der Theologie zu stecken.

»Sehen Sie denn nicht etwas Verwandtes in unseren Plänen?«, fragte er voller Ernst. »Unsere Beweggründe mögen verschieden sein, aber die Ergebnisse sind einander ähnlich. Was wir zu bauen vorschlagen, ist weiter nichts als eine Verlängerung Ihrer Treppe. Wir setzen sie fort, wenn ich mich so ausdrücken darf, bis zum Himmel hinauf.«

Eine Sekunde lang schien der Ehrwürdige Parakarma von so viel Unverschämtheit verblüfft. Bevor er sich von seiner Überraschung erholte, antwortete sein Vorgesetzter unbeeindruckt: »Ein interessantes Konzept, aber unsere Philosophie glaubt nicht an den Himmel. Wenn sich überhaupt eine Erlösung finden lässt, dann nur auf dieser Erde, die Sie anscheinend je früher desto lieber verlassen möchten. Haben Sie schon einmal die Geschichte vom Turm zu Babel gehört?«

»Irgendwann einmal, ja.«

»Ich schlage vor, Sie lesen sie noch einmal nach, in der alten christlichen Bibel, Schöpfungsgeschichte II. Auch jener Turm war ein Ingenieurunternehmen, das den Himmel erreichen wollte. Es schlug fehl, weil die Verständigung nicht funktionierte.«

»Unser Vorhaben hat seine Probleme, aber ich glaube nicht, dass dieses dazugehören wird.«

Andererseits war Morgan, wenn er sich den Ehrwürdigen Parakarma ansah, seiner Sache nicht so sicher. Es gab hier eine Verstehenslücke, die in mancher Hinsicht größer zu sein schien als die zwischen dem Menschen und Starglider. Sie sprachen dieselbe Sprache, aber es gab Weiten des gegenseitigen Nichtverstehens, die sich womöglich niemals überbrücken lassen würden.

»Darf ich fragen«, fuhr der Mahajanake mit unerschütterlicher Höflichkeit fort, »was Sie beim Ministerium für Wälder und Parks ausgerichtet haben?«

»Man war dort äußerst hilfsbereit.«

»Das nimmt einen nicht wunder. Sie leiden an einem chronischen Defizit. Die Seilbahn war ein warmer Regen, und man hofft ohne Zweifel, dass Ihr Vorhaben noch mehr Geld einbringen wird.«

»Die Hoffnung wird sich bewahrheiten. Man nimmt mir außerdem ab, dass der Turm keine Bedrohung darstellt.«

»Was, wenn er umfällt?«

Morgan erwiderte den Blick des ehrwürdigen Mönchs ohne Zaudern.

»Er wird nicht umfallen«, erklärte er mit der Autorität des Mannes, dessen Brücke zwei Kontinente verband.

Er wusste jedoch, und sicherlich wusste es der unversöhnliche Parakarma auch, dass es absolute Sicherheit in diesen Dingen nicht gab. Vor zweihundertundzwei Jahren, am 7. November 1940, war diese Lektion in einer Art und Weise gelehrt worden, dass kein Ingenieur sie je vergessen würde. Morgan hatte nur selten Albträume; aber jenes Ereignis war einer davon. Die Computer der Terran Construction Company waren in diesem Augenblick damit beschäftigt, ihn zu bannen.

Aber alle Rechnerenergie des Universums gab ihm keine Sicherheit gegenüber den Problemen, die er nicht vorhersehen konnte — gegen die Albträume, die noch nicht geboren waren.

Die goldenen Schmetterlinge

Trotz des hellen Sonnenlichts und der unvergleichlichen Aussichten, die von allen Seiten auf ihn einstürmten, war Morgan fest eingeschlafen, bevor der Wagen tiefergelegene Gegenden erreichte. Selbst die zahllosen Haarnadelkurven hielten ihn nicht wach. Er kam erst wieder zu sich, als sein Chauffeur hart auf die Bremse trat und er in seinem Sitz nach vorn gerissen wurde, bis der Sicherheitsgurt ihm gegen die Rippen drückte.

Im Augenblick der ersten Verwirrung meinte er, er sei immer noch am Träumen. Die Luft, die durch die halboffenen Fenster strich, war so warm und feucht, als käme sie aus einem türkischen Bad. Und dennoch hatte das Auto offenbar inmitten eines wilden Schneesturms angehalten.

Morgan schüttelte den Kopf, um die Verwirrung loszuwerden, und sah sich um. Zum ersten Mal in seinem Leben sah er goldenen Schnee …

Ein dichter Schwarm von Schmetterlingen überquerte die Straße und bewegte sich offenbar zielbewusst ostwärts. Ein paar der Tiere hatten sich ins Innere des Wagens verirrt und flatterten hilflos umher, bis Morgan sie hinauswedelte. Weitaus mehr waren an der Windschutzscheibe zuschanden geworden. Der Chauffeur kletterte fluchend aus dem Wagen und machte sich daran, die Scheibe zu wischen. Als er fertig war, bewegten sich eben die letzten Nachzügler des Schmetterlingsschwarms über die Straße.

»Hat man Ihnen von der Legende erzählt?«, fragte er und blickte seinen Fahrgast dabei über die Schulter an.

»Nein«, antwortete Morgan kurz. Legenden interessierten ihn nicht. Er wollte weiterschlafen.

»Die Goldenen Schmetterlinge — sie sind die Seelen der Krieger des Königs Kalidasa — die Armee, die er am Jakkagala verlor.«

Morgan gab ein uninteressiertes Grunzen von sich und hoffte, der Fahrer werde das Signal verstehen; dieser aber fuhr erbarmungslos fort:

»Jedes Jahr um diese Zeit fliegen sie auf den Berg zu. Sie gehen alle auf den unteren Hängen zugrunde. Manchmal begegnet man ihnen auf der halben Strecke der Seilbahn; aber weiter sind sie noch nie gekommen. Das ist gut für den Tempel.«

»Den Tempel?«, fragte Morgan schläfrig.

»Ja. Wenn sie ihn jemals erreichen, dann siegt Kalidasa, und die Mönche müssen ausziehen. Das ist die Prophezeiung. Sie steht auf einer Steintafel im Museum von Ranapura. Ich kann sie Ihnen zeigen.«

»Ein andermal«, sagte Morgan hastig, während er es sich in seinem gepolsterten Sitz wieder bequem machte. Es vergingen allerdings noch ein paar Kilometer, bis er wieder einschlief. Die Erzählung des Chauffeurs hatte etwas Gespenstisches an sich.

In den Monaten, die vor ihm lagen, würde er sich noch oft daran erinnern — beim Aufwachen und in Augenblicken der Krise. Er würde den goldenen Schneesturm wiedererleben, der in Wirklichkeit aus Millionen von Schmetterlingen bestand, die ihre Energie und ihr Leben in einem vergeblichen Ansturm auf den Berg und all die Dinge opferten, für die der Berg ein Symbol war.

Selbst in diesem Augenblick, am Beginn seines Vorhabens, war der Gedanke, den das Bild vermittelte, alles andere als erhebend.

An den Ufern des Saladin-Sees

Nahezu alle Computersimulationen für Alternative Geschichte weisen darauf hin, dass die Schlacht von Tours im Jahre 732 eine der wegbestimmenden Katastrophen der Menschheit gewesen sei. Wäre Karl Martell besiegt worden, hätte der Islam womöglich die inneren Schwierigkeiten überwinden können, die im Begriff standen, ihn zu zerstückeln, und wäre weitermarschiert, um ganz Europa zu erobern. Auf diese Weise hätten sich Jahrhunderte christlicher Barbarei vermeiden lassen, die Industrielle Revolution hätte fast eintausend Jahre früher eingesetzt, und wir hätten jetzt schon die Sterne erreicht anstatt nur die äußeren Planeten …

Aber das Schicksal entschied anders, und die Armeen des Propheten kehrten nach Afrika zurück. Der Islam bestand als faszinierendes Fossil bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts fort. Dann löste er sich plötzlich in Öl auf …

(Ansprache des Vorsitzenden: Toynbee-Zweihundertjahrsymposium, London, 2089)


»Wussten Sie schon«, sagte Scheich Faruk Abdullah, »dass ich mich zum Großadmiral der Sahara-Flotte ernannt habe?«

»Es hätte mich nicht überrascht, Herr Präsident«, antwortete Morgan, wobei er über die glitzernde, blaue Fläche des Saladin-Sees hinausblickte. »Falls die Geheimhaltungsvorschriften Ihrer Marine eine solche Frage zulassen: Über wie viel Schiffe verfügen Sie?«

»Zehn im Augenblick. Das größte ist ein Dreißig-Meter-Tragflügler, den der Rote Halbmond fährt. An Wochenenden ist er damit beschäftigt, hilflose Segler zu retten. Mein Volk hat sich noch immer nicht an das Wasser gewöhnt — sehen Sie sich den Idioten dort an, wie er versucht zu kreuzen! Zweihundert Jahre sind einfach nicht genug, um von Kamelen auf Boote umzusteigen.«

»In der Zwischenzeit sind Sie Cadillac und Rolls-Royce gefahren. Das hätte die Umstellung ein wenig leichter machen sollen.«

»Wir haben sie noch immer. Der Silver Ghost meines Ur-Ur-Ur-Großvaters ist so gut wie neu. Aber ich muss aufrichtig sein — es sind in Wirklichkeit die Besucher, die Schwierigkeiten haben. Sie kommen mit den Winden nicht zurecht. Nächstes Jahr bekomme ich ein Unterseeboot, von dem man mir garantiert, dass es die größte Seetiefe von 78 Metern erreichen wird.«

»Wozu, um Himmels willen?«

»Jetzt erzählt man uns, das Erg sei voll archäologischer Schätze. Als es noch nicht überflutet war, hat sich kein Teufel darum gekümmert.«

Es war fruchtlos, den Präsidenten der ANAR — Autonome Nordafrikanische Republik — zur Eile zu drängen; Morgan wusste dies und unternahm keinen dementsprechenden Versuch. Wie auch immer die Bestimmungen der Verfassung lauten mochten, Scheich Abdullah besaß mehr Macht und Reichtum als sonst irgendein Individuum auf der Erde. Fast wichtiger noch: Er wusste, beide klug zu gebrauchen.

Er kam aus einer Familie, die sich nicht davor fürchtete, Risiken einzugehen, und selten Anlass fand, ein eingegangenes Risiko zu bedauern. Ihre erste und bekannteste Spekulation, die ihr für die Dauer eines halben Jahrhunderts den Hass der gesamten arabischen Welt eingetragen hatte, war die Investition ihres ungeheuren Ölreichtums in israelische Wissenschaft und Technologie gewesen. Dieser Akt der Weitsichtigkeit hatte unmittelbar zum Erzabbau im Roten Meer und zur Fruchtbarmachung der Wüsten, mittelbar und geraume Zeit später zur Errichtung der Gibraltar-Brücke geführt.

»Ich brauche Ihnen nicht zu erzählen, Van«, kam der Scheich schließlich auf das eigentliche Thema zu sprechen, »wie sehr mich Ihr Projekt fasziniert. Und nach allem, was wir während des Brückenbaus miteinander durchgemacht haben, bin ich überzeugt, dass Sie es zuwege brächten — die entsprechenden Mittel vorausgesetzt.«

»Danke.«

»Aber ich habe ein paar Fragen. Mir ist noch immer nicht klar, warum es eine Station Mitte geben muss und warum sie sich auf einer Höhe von fünfundzwanzigtausend Kilometern befindet.«

»Es gibt mehrere Gründe. Wir brauchen ein leistungsfähiges Kraftwerk etwa in dieser Höhe. Umfangreiche Bauarbeiten fallen also auf jeden Fall an. Dann kam uns in den Sinn, dass eine siebenstündige Fahrt in einer engen Kabine womöglich nicht jedermanns Geschmack sei. Eine Fahrtunterbrechung bringt verschiedene Vorteile mit sich. Wir brauchen keine Mahlzeiten während der Fahrt zu servieren — die Passagiere können sich in der Station Mitte verköstigen und die Beine vertreten. Außerdem sparen wir beim Entwurf der Fahrzeuge. Nur die auf der unteren Strecke brauchen stromlinienförmig zu sein. Die auf der oberen können einfacher und leichter gemacht werden. Die Station Mitte wäre nicht nur ein Umsteigeplatz, sondern gleichzeitig eine Kontrollzentrale — und letztlich, davon sind wir überzeugt, ein Touristenmagnet erster Güte.«

»Aber sie liegt nicht in der Mitte! Sie liegt am Ende des zweiten Streckendrittels, von hier aus gesehen.«

»Richtig. Die geometrische Mitte läge bei achtzehn-, nicht fünfundzwanzigtausend. Aber es gibt eine weitere Überlegung: Sicherheit. Wenn das obere Ende abgetrennt wird, stürzt die Station Mitte nicht auf die Erde.«

»Warum nicht?«

»Sie hat genug Impuls für die Stabilisierung ihrer Umlaufbahn. Natürlich sackt sie ab, aber sie wird die Atmosphäre niemals berühren. Es ist eine ganz sichere Sache — sie verwandelt sich einfach in eine Raumstation mit einem elliptischen Zehn-Stunden-Orbit. Zweimal am Tag passiert sie ihren ursprünglichen Standort, und irgendwann könnte man sie wieder mit dem Turm verbinden. Theoretisch, wenigstens …«

»Und praktisch?«

»Oh, ich bin sicher, dass man es fertigbringen könnte. Auf jeden Fall wären die Leute und die Einrichtung an Bord der Station gerettet. Wenn wir sie in geringerer Höhe anbrächten, wäre nicht einmal das gewährleistet. Jedes Objekt, das aus einer Höhe von weniger als fünfundzwanzigtausend Kilometern zu fallen beginnt, trifft auf die Atmosphäre und verbrennt in maximal fünf Stunden.«

»Würden Sie das den Passagieren auf der Strecke Erde-Mitte sagen?«

»Wir hoffen, dass sie mit dem Bewundern der Aussicht viel zu beschäftigt sein werden, als dass sie sich über solche Dinge den Kopf zerbrechen möchten.«

»Wie Sie es darstellen, hört es sich wie ein Aussichtsfahrstuhl an.«

»Warum nicht? Mit dem Unterschied, dass die bisher höchste Aussichtsfahrt auf der Erde nicht weiter als drei Kilometer in die Höhe geht. Was wir vorhaben, ist zehntausendmal höher!«

Eine geraume Zeit war der Scheich mit seinen Gedanken beschäftigt.

»Wir haben eine Gelegenheit versäumt«, sagte er schließlich. »Wir hätten fünf Kilometer hohe Aussichtsfahrstühle in die Pfeiler der Brücke bauen sollen!«

»Sie waren in dem ursprünglichen Entwurf enthalten, aber wir ließen sie weg. Aus dem üblichen Grund: Kosten.«

»Vielleicht haben wir uns verkalkuliert. Sie hätten sich von selbst bezahlt gemacht. Wenn dieser Hyperdraht zu jener Zeit verfügbar gewesen wäre, nehme ich an, hätten wir die Brücke für den halben Preis bauen können.«

»Ich will Ihnen nichts vormachen, Herr Präsident. Für weniger als ein Fünftel. Aber wir hätten mehr als zwanzig Jahre warten müssen, also haben Sie dabei nicht verloren.«

»Ich muss das mit meinen Buchhaltern besprechen. Ein paar von ihnen halten die Brücke noch immer für eine schlechte Idee, obwohl der Zuwachs des Verkehrsaufkommens über den Vorhersagen liegt. Ich versuche, Ihnen zu erklären, dass Geld nicht alles ist — die Republik brauchte die Brücke aus psychologischen und kulturellen Gründen, und darüber hinaus aus wirtschaftlichen. Wussten Sie schon, dass 18 Prozent der Leute, die über die Brücke fahren, dies nur tun, weil sie da ist, aus keinem anderen Anlass? Und dann kehren sie um und fahren wieder zurück und müssen den Brückenzoll ein zweites Mal bezahlen.«

»Ich erinnere mich, glaube ich«, bemerkte Morgan trocken, »seinerzeit etwas Ähnliches vorausgesagt zu haben. Sie waren nicht leicht zu überzeugen.«

»Das ist richtig. Die Oper in Sydney war ihr Lieblingsbeispiel. Sie rechneten mir immer wieder vor, wie viel Mal sie bereits ihren eigenen Preis eingebracht hatte — in bar, das Prestige gar nicht zu rechnen.«

»Vergessen Sie die Pyramiden nicht!«

Der Scheich lachte. »Wie nannten Sie sie? Die beste Investition in der Geschichte der Menschheit.«

»Genau. Nach viertausend Jahren bringen sie noch immer Geld von den Touristen ein.«

»Allerdings kann man das kaum einen fairen Vergleich nennen. Die Unterhaltungskosten lassen sich mit denen der Brücke nicht vergleichen — ganz zu schweigen von denen Ihres Turmes.«

»Der Turm wird womöglich länger stehen als die Pyramiden. Er befindet sich in einer zuträglicheren Umgebung.«

»Das ist ein beeindruckender Gedanke. Glauben Sie wirklich, dass er mehrere tausend Jahre lang funktionieren wird?«

»Natürlich nicht in seiner ursprünglichen Form. Aber im Prinzip, ja. Welch neue Entwicklungen die Technik der Zukunft auch immer bringen mag, ich glaube nicht, dass es jemals eine wirksamere und billigere Methode des Raumtransports geben wird. Stellen Sie sich den Turm als eine Brücke vor. Diesmal allerdings ist es eine Brücke zu den Sternen — oder wenigstens zu den Planeten.«

»Und Sie erwarten von uns, dass wir auch diese finanzieren. Wir haben noch zwanzig Jahre an der letzten Brücke zu zahlen. Der Raumfahrstuhl wird ja schließlich nicht auf unserem Grund und Boden gebaut, noch ist er für uns von unmittelbarer Bedeutung.«

»Ich glaube doch, dass er das ist, Herr Präsident. Ihre Republik ist ein Bestandteil der Weltwirtschaft, deren Wachstum durch die Kosten des Raumtransports beschränkt wird. Wenn Sie sich die Vorhersagen für die 50er und 60er Jahre ansehen …«

»Habe ich schon, habe ich schon! Sehr interessant. Aber obwohl wir nicht eben arm sind, könnten wir kaum einen Bruchteil der benötigten Mittel aufbringen. Das Ding verschlingt das Bruttosozialprodukt der gesamten Welt für mehrere Jahre!«

»Und zahlt es alle fünfzehn Jahre wieder zurück — bis in alle Ewigkeit.«

»Falls Ihre Extrapolation richtig ist.«

»Sie war es für die Brücke. Aber Sie haben natürlich recht. Von der ANAR erwarte ich eigentlich nicht mehr, als dass sie den Stein ins Rollen bringt. Sobald Sie Ihr Interesse gezeigt haben, wird es umso leichter sein, von anderen Stellen Unterstützung zu erhalten.«

»Von welchen zum Beispiel?«

»Von der Weltbank. Den Planetarischen Banken. Der Bundesregierung.«

»Und Ihr eigener Arbeitgeber, die TCC? Was haben Sie wirklich vor, Van?«

Jetzt geht's los, dachte Morgan, fast mit einem Seufzer der Erleichterung. Jetzt konnte er seine Karten auf den Tisch legen — gegenüber einem Gesprächspartner, dem er vertraute, der zu hoch oben stand, um noch in kleinliche Intrigen der Bürokratie verwickelt zu sein, sich aber gut darin auskannte.

»Was ich bisher getan habe, tat ich auf eigene Rechnung. Ich bin zurzeit auf Urlaub. Nebenbei gesagt, genauso hat die Brücke angefangen. Ich erinnere mich nicht, ob ich Ihnen je erzählt habe, dass man mich einst offiziell aufforderte, sie zu vergessen. Ich habe in den vergangenen fünfzehn Jahren mein Teil gelernt.«

»Zur Anfertigung Ihrer Unterlagen haben Sie eine Menge Rechenzeit gebraucht? Wer bezahlt dafür?«

»Ich habe einen Fonds für freistehende Verwendungszwecke. Und mein Stab ist ständig mit Untersuchungen beschäftigt, die niemand sonst versteht. Eine Gruppe von meinen Leuten hat ein paar Monate lang mit meiner Idee gespielt. Sie sind so begeistert, dass sie den größten Teil ihrer Freizeit dafür opferten. Jetzt aber muss die Katze aus dem Sack — oder das Projekt aufgegeben werden.«

»Weiß Ihr geschätzter Vorsitzender davon?«

Morgan lächelte humorlos. »Natürlich nicht. Ich werde ihn nicht in Kenntnis setzen, solange ich nicht alle Einzelheiten ausgearbeitet habe.«

»Ich begreife Ihre Lage«, erklärte der Präsident. »Eines der Dinge, gegen die Sie sich vorsehen müssen, ist, dass Senator Collins den Turm nicht zuerst erfindet.«

»Das kann er nicht — die Idee ist zweihundert Jahre alt. Aber er kann, ebenso wie eine Menge anderer Leute, die Sache hinauszögern. Ich will das Projekt noch zu meinen Lebzeiten verwirklicht sehen.«

»Und es soll natürlich Ihr Projekt sein. Also schön, was genau erwarten Sie von uns?«

»Ich habe nur einen Vorschlag, Herr Präsident — vielleicht haben Sie eine bessere Idee. Bilden Sie ein Konsortium — bestehend zum Beispiel aus der Gibraltar-Brückenbehörde, den Suez- und Panama-Gesellschaften, der Englische-Kanal-A.G., der Bering-Damm-Gesellschaft. Dann wenden Sie sich an die TCC mit der Bitte, eine Durchführbarkeitsanalyse zu erstellen. Die Kosten dafür werden minimal sein.«

»Das heißt?«

»Weniger als eine Million. Besonders, da 90 Prozent der Arbeit schon geleistet ist.«

»Und dann?«

»Danach, Herr Präsident, kann ich mit Ihrem Rückhalt meine Entscheidungen nach Bedarf treffen. Ich kann bei der TCC bleiben — oder dort kündigen und mich dem Konsortium anschließen, als Astroingenieur. Es hinge alles von den Umständen ab. Ich müsste tun, was das Projekt erfordert.«

»Das erscheint mir eine vernünftige Vorgehensweise. Ich glaube, daraus lässt sich etwas machen.«

»Ich danke Ihnen, Herr Präsident«, antwortete Morgan ernst und aufrichtig. »Es gibt da allerdings eine Schwierigkeit, die wir sofort angehen müssen — womöglich noch vor Bildung des Konsortiums. Wir müssen den Weltgerichtshof dazu veranlassen, dass er uns das wertvollste Stück Grund und Boden auf der ganzen Erde zugesteht.«

Die tanzende Brücke

Selbst in diesem Zeitalter der Sofortkommunikation und des erdumspannenden Schnellverkehrs war es nett, ein Plätzchen zu haben, das man sein eigenes Büro nennen konnte. Nicht alles ließ sich in Form elektronischer Ladungsmuster speichern. Es gab Dinge wie zum Beispiel gute, altmodische Bücher, Urkunden, Preise, Trophäen, Ingenieurmodelle, Materialproben, zeichnerische Darstellungen von Bauprojekten (nicht so genau wie eine Computergrafik, aber sehr ornamental) und nicht zuletzt den Teppichboden, der die Klause eines jeden leitenden Angestellten zierte und die Aufgabe hatte, die Geräusche der Wirklichkeit zu dämpfen.

Morgans Büro, das er im Durchschnitt an zehn Tagen pro Monat zu sehen bekam, befand sich auf dem sechsten oder LAND-Geschoss des weitläufigen Hauptgebäudes der Terran Construction Corporation in Nairobi. Die Etage darunter war SEE, die darüber VERWALTUNG — mit anderen Worten Aufsichtsratsvorsitzender Collins und sein Reich. Der Architekt hatte das oberste Geschoss in einem Anflug von naivem Symbolismus der Abteilung RAUM zugedacht. Es gab auf dem Dach sogar ein kleines Observatorium mit einem 30-cm-Teleskop, das ständig außer Betrieb war, weil es nur bei Büropartys verwendet wurde, und zwar zumeist für absolut unastronomische Zwecke. Die oberen Räumlichkeiten des Drei-Planeten-Hotels, nur einen Kilometer entfernt, waren ein beliebtes Beobachtungsziel, da sich in ihnen oft exotische Dinge abspielten.

Da Morgan ständig mit seinen beiden Sekretären — einem menschlichen und einem elektronischen — in Verbindung stand, erwartete er keine Überraschungen, als er nach einem kurzen Flug von der ANAR sein Büro betrat. Gemessen an den Maßstäben einer früheren Zeit war seine Organisation außergewöhnlich klein. Zu ihr gehörten nicht mehr als dreihundert Männer und Frauen. Die Computer- und informationsverarbeitende Kapazität indes, die diesen dreihundert zur Verfügung stand, war gigantisch.

»Also — wie ging's mit dem Scheich?«, fragte Warren Kingsley, sein Stellvertreter, als sie allein waren.

»Sehr gut. Man könnte sagen: Wir haben ein Abkommen. Aber ich kann noch immer nicht glauben, dass uns ein derart blödes Problem aufhält. Was hat die juristische Abteilung dazu zu sagen?«

»Wir brauchen ohne Zweifel eine Entscheidung des Weltgerichtshofs. Wenn das Gericht entscheidet, dass hier ein Fall überwältigenden öffentlichen Interesses vorliegt, dann werden unsere ehrwürdigen Freunde ausziehen müssen — es sei denn, sie stellen sich dickköpfig, und dann haben wir eine ziemlich verfahrene Situation an der Hand. Vielleicht solltest du ihnen ein kleines Erdbeben schicken, damit ihnen die Entscheidung leichter fällt.«

Der Umstand, dass Morgan zum Aufsichtsrat der General Tectonics gehörte, gab des Öfteren Anlass zu Witzeleien zwischen ihm und Kingsley. GT hatte niemals einen Weg gefunden, Erdbeben zu kontrollieren und zu steuern, und erwartete auch nicht, dass dies in der Zukunft gelingen werde. Man konnte nur hoffen, dass sie sich voraussagen lassen würden und ihre Energie vielleicht abgezapft werden könnte, bevor sie größeren Schaden anrichtete. Aber selbst bei diesem Unterfangen hatte die GT in nicht mehr als 75 Prozent aller Fälle Erfolg.

»Eine gute Idee«, sagte Morgan. »Ich werde darüber nachdenken. Jetzt aber zu unserem anderen Problem.«

»Alles vorbereitet — willst du es sehen?«

»In Ordnung — führ mir den schlimmsten Fall vor!«

Die Bürofenster verdunkelten sich, und ein Gitter schimmernder Linien erschien mitten im Raum.

»Pass auf, Van«, sagte Kingsley. »So werden wir Ärger bekommen.«

Reihen von Buchstaben und Ziffern materialisierten in der Luft, Geschwindigkeiten, Transportmassen, Beschleunigungen, Fahrtzeiten. Morgan verarbeitete sie mit einem Blick. Die Erdkugel mit eingezeichneten Längen- und Breitenkreisen schwebte unmittelbar über dem Teppich. Von ihr erhob sich zu guter Manneshöhe der leuchtende Faden, der den Standort des Orbitalturms markierte.

»Fünfhundertmal normale Geschwindigkeit, seitliche Abweichung fünfzigfach übertrieben. Und los geht's.«

Eine unsichtbare Kraft hatte an der leuchtenden Linie zu zupfen begonnen und zog sie aus der Vertikalen. Die Störung bewegte sich aufwärts. Sie simulierte, mit Hilfe einer Million Computerberechnungen pro Minute, eine Transportlast, die sich durch das Gravitationsfeld der Erde aufwärtsbewegte.

»Wie hoch ist die Abweichung?«, fragte Morgan, der seine Augen anstrengte, um sich keine Einzelheit der Simulation entgehen zu lassen.

»Jetzt ungefähr zweihundert Kilometer. Wir erreichen drei, bevor …«

Der Faden zerriss. In gemächlicher Zeitlupenbewegung, die in Wirklichkeit Geschwindigkeiten von Tausenden von Kilometern pro Stunde repräsentierte, krümmten sich die beiden Teilstücke des zerschnittenen Turmes voneinander fort, das eine in Richtung zur Erde hin, das andere in den Raum hinauspeitschend. Aber Morgan nahm die imaginäre Katastrophe, die nur in den Rechnungen des Computers existierte, kaum noch war. Er sah ein anderes Bild, ein Bild aus der Wirklichkeit, das ihn schon seit Jahren mit Schrecken erfüllte.

Er hatte sich den zweihundert Jahre alten Filmstreifen mindestens schon fünfzigmal angesehen, und es gab Abschnitte, die er Bild um Bild studiert hatte, bis jedes Detail unauslöschlich in seine Erinnerung eingeprägt war. Es handelte sich immerhin um den teuersten Film, der je gedreht worden war — zu Friedenszeiten wenigstens. Er hatte den Staat Washington mehrere Millionen Dollar pro Minute gekostet.

Da stand die schlanke (zu schlanke!), grazile Brücke, die Schlucht überspannend. Sie trug keinen Verkehr. Lediglich ein einziges Auto war von seinem Fahrer mitten auf der Straße zurückgelassen worden. Und das war kein Wunder, denn die Brücke benahm sich wie keine andere je zuvor in der langen Geschichte der Ingenieurkunst.

Es schien unmöglich, dass Tausende von Tonnen Metall einen solchen Balletttanz aufführen könnten. Man hätte weitaus eher glauben mögen, die Brücke bestehe aus Gummi denn aus Stahl. Weite, langsame Wellenbewegungen, mit Amplituden von etlichen Metern, krochen die Struktur entlang, so dass die zwischen den beiden Pfeilern aufgehängte Fahrstraße wie eine zornige Schlange hin und her zuckte. Der Wind, der die Schlucht herabwehte, brachte ein Geräusch hervor, das viel zu tief war, als dass menschliche Ohren es hätten hören können. Es traf die Eigenfrequenz der schönen, aber zum Untergang verdammten Brücke. Stunde um Stunde waren die Schwingungen immer heftiger geworden; aber niemand wusste, wann das Ende kommen würde. Schon jetzt waren die sich schier endlos hinziehenden Todeszuckungen ein Armutszeugnis für die glücklosen Brückenplaner.

Plötzlich rissen die Trägerkabel und schossen wie tödliche Stahlpeitschen in die Höhe. Sich windend und drehend stürzte die Fahrstraße in den Fluss hinab, Bruchstücke flogen nach allen Richtungen davon. Selbst wenn das Ende der Katastrophe in normaler Vorführgeschwindigkeit betrachtet wurde, wirkte es, als sei es in Zeitlupe gedreht. Der Maßstab war so gewaltig, dass dem menschlichen Bewusstsein der geeignete Vergleichsmaßstab fehlte. In Wirklichkeit hatte das Ende ungefähr fünf Sekunden gedauert. Am Ende dieser fünf Sekunden war das Unglück der Tacoma-Narrows-Brücke unauslöschlich in die Annalen der Ingenieurgeschichte eingeprägt. Zweihundert Jahre später hing eine Fotografie, aufgenommen während der letzten Sekunden der Brücke, an Morgans Bürowand. Sie trug die Unterschrift »Eines unserer weniger erfolgreichen Produkte«.

Für Morgan war das kein Spaß, sondern eine stetige Erinnerung, dass das Unerwartete jederzeit aus dem Hinterhalt zuschlagen konnte. Während des Entwurfs der Gibraltar-Brücke hatte er von Karmans klassische Analyse des Tacoma-Narrows-Unglücks sorgfältig studiert und sich alles eingeprägt, was aus einem der teuersten Fehler der Vergangenheit zu lernen war. Es hatte bei seiner Brücke keine ernsthaften Schwingungsprobleme gegeben — nicht einmal bei den wildesten Böen, die vom Atlantik hereinbrausten. Natürlich hatte sich die Fahrstraße einhundert Meter aus ihrer Ruhelage bewegt — aber genauso war es vorherberechnet worden.

Auf der anderen Seite stellte der Fahrstuhl zu den Sternen einen derart weiten Vorwärtssprung dar, dass mit unangenehmen Überraschungen so gut wie sicher zu rechnen war. Windkräfte auf dem durch die Atmosphäre führenden Abschnitt ließen sich leicht abschätzen. Aber man musste auch die Schwingungen, die durch das Beschleunigen und Abbremsen der Transportladungen entstanden, in Rechnung stellen — und bei einer derart riesigen Struktur sogar die Gezeitenkräfte der Sonne und des Mondes. Nicht nur jeden Einfluss für sich musste man bedenken, sondern alle zusammen, hinzugerechnet womöglich noch ein gelegentliches Erdbeben, so dass die Analyse wirklich den schlimmsten denkbaren Fall erfasste.

»Alle Simulationen führen zu demselben Ergebnis. Die Schwingungen werden immer stärker und bewirken schließlich einen Bruch in rund fünfhundert Kilometern Höhe. Wir müssen die Dämpfung drastisch erhöhen.«

»Ich hatte so etwas befürchtet. Wie viel brauchen wir?«

»Weitere zehn Megatonnen.«

Die Zahl bereitete Morgan eine Art düsterer Genugtuung. So viel ungefähr hatte er geschätzt, mit technischer Intuition und aufgrund von Eindrücken, die in seinem Unterbewusstsein gespeichert waren. Der Rechner hatte seine Schätzung bestätigt. Die Masse, an der das obere Ende des Turmes verankert wurde, musste um zehn Millionen Tonnen erhöht werden.

Selbst auf der Erdoberfläche wäre das Bewegen einer derartigen Masse alles andere als trivial gewesen. Zehn Millionen Tonnen — das war eine Felskugel mit zweihundert Meter Durchmesser. Das Bild des Felsens Jakkagala erschien plötzlich in Morgans Bewusstsein, wie er ihn zuletzt gesehen hatte, ein Turm vor dem blauen Himmel von Taprobane. Man stelle sich vor, diesen Koloss vierzigtausend Kilometer in den Weltraum hinaufzuheben! Glücklicherweise würde das wohl nicht notwendig sein; es gab mindestens zwei Alternativen.

Morgan hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, seine Mitarbeiter für sich selbst denken zu lassen. Auf diese Weise verstärkte er ihr Verantwortungsbewusstsein, er machte sich selbst das Leben ein wenig leichter — und in vielen Fällen hatten seine Leute eine Lösung gefunden, die ihm womöglich entgangen wäre.

»Was schlägst du vor, Warren?«, fragte er ruhig.

»Wir könnten eines der Frachtkatapulte auf dem Mond benützen und zehn Megatonnen Mondgestein in den Raum schießen. Das wäre eine langwierige und teure Angelegenheit. Wir müssten eine Basis zwischen Mond und Erde einrichten, die das Material einfängt und in die gewünschte Umlaufbahn steuert. Dabei gäbe es natürlich ein psychologisches Problem …«

»Ist mir klar. Ein zweites San Luiz Domingo können wir nicht brauchen.«

San Luiz war das — glücklicherweise winzige — südamerikanische Dorf, das eine verirrte Ladung vorverarbeiteten Mondmetalls abbekommen hatte, die ursprünglich für eine Raumstation in niedriger Umlaufbahn bestimmt gewesen war. Die Steuerkontrolle hatte auf dem letzten Abschnitt des Weges versagt und war somit verantwortlich für die Entstehung des ersten von Menschen erschaffenen Meteorkraters — sowie für zweihundertundfünfzig Tote. Seit jener Zeit war die Bevölkerung der Erde stets skeptisch, wenn jemand am Himmel Zielübungen anstellte.

»Weitaus besser wäre es, einen Asteroiden einzufangen. Wir analysieren derzeit diejenigen mit geeigneten Umlaufbahnen und haben bereits drei vielversprechende Kandidaten gefunden. Was wir wirklich brauchen, ist ein Asteroid mit hohem Kohlenstoffgehalt. Wir könnten ihn ausschlachten, sobald wir unsere Fertigungsanlage positioniert haben. Das wären zwei Fliegen mit einer Klappe!«

»Eine teure Klappe, aber es ist wahrscheinlich die beste Idee. Vergiss das Frachtkatapult — mit einer Million Schüssen zu je zehn Tonnen wäre es jahrelang beschäftigt. Und einige davon gingen uns unweigerlich durch die Lappen. Wenn ihr keinen ausreichend massiven Asteroiden findet, könnten wir die fehlende Substanz immer noch mit dem Fahrstuhl selbst nach oben schicken — wenn es mir auch um die viele Energie leidtut, die wir dazu verschwenden müssten.«

»Das mag im Gegenteil die billigste Vorgehensweise sein. Bei dem hohen Wirkungsgrad der modernen Fusionsmeiler verbrauchen wir nicht mehr als zwanzig Dollar Elektrizität, um eine Masse von einer Tonne auf die gewünschte Umlaufbahn zu bringen.«

»Woher hast du diese Zahl?«

»Ein festes Angebot von Central Power.«

Morgan schwieg ein paar Minuten. Dann sagte er: »Die Raumfahrtingenieure werden wirklich einen Narren an mir fressen.«

Sie würden ihn wegen seines Vorprellens hassen. Fast so sehr, fügte er in Gedanken hinzu, wie der Ehrwürdige Parakarma.

Nein — das war nicht fair. Hass war eine Emotion, die ein wahrer Jünger der Doktrin nicht mehr empfand. Was er in den Augen des früheren Dr. Choam Goldberg gesehen hatte, war unversöhnliche Gegnerschaft, aber kein Hass. Immerhin — diese mochte ebenso gefährlich sein.

Das Urteil

Eine von Paul Saraths ärgerlicheren Eigenheiten war der unerwartete Telefonanruf — freudig oder düster, je nach Anlass —, der unweigerlich mit den Worten begann: »Haben Sie das Neueste schon gehört?« Radschasinghe hatte sich oft versucht gefühlt, darauf zu antworten: »Ja — und ich bin keineswegs überrascht.« Aber irgendwie hatte er's bis jetzt noch nicht übers Herz gebracht, Paul den Spaß zu verderben.

»Was ist jetzt schon wieder los?«, reagierte er ohne sonderliche Begeisterung.

»Maxine ist auf Weltkanal zwo und interviewt Senator Collins. Ich fürchte, unser Freund Morgan steckt in Schwierigkeiten. Ich rufe Sie später zurück.«

Pauls aufgeregtes Gesicht verschwand von der Bildfläche und wurde ein paar Sekunden später durch Maxine Duvals Antlitz ersetzt, als Radschasinghe den Hauptnachrichtenkanal einschaltete. Sie saß in ihrem Studio und sprach zu dem Aufsichtsratsvorsitzenden der Terran Construction Corporation, der sich in einer — wahrscheinlich synthetischen — Stimmung mühsam unterdrückten Zorns zu befinden schien.

»… Senator Collins, jetzt, nachdem der Weltgerichtshof seine Entscheidung getroffen hat …«

Radschasinghe schaltete das Programm auf AUFZEICHNEN und murmelte: »Ich dachte, das sei erst am Freitag fällig.« Er schaltete den Ton ab, und als er daraufhin seine private Verbindung mit ARISTOTELES aktivierte, rief er überrascht aus: »Mein Gott, heute ist Freitag!«

Wie immer reagierte Ari auch diesmal sofort.

»Guten Morgen, Radscha. Was kann ich für Sie tun?«

Die angenehme, leidenschaftslose Stimme hatte sich in den vierzig Jahren, seit er sie kannte, um keine Nuance geändert. Noch Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte nach seinem Tod würde sie sich mit anderen Menschen unterhalten, gerade so wie sie zu ihm gesprochen hatte. (Was das anging: Wie viel Unterhaltungen mochte Ari, in diesem Augenblick, gleichzeitig mit der seinen führen?) Es gab eine Zeit, da hatte diese Erkenntnis Radschasinghe bedrückt. Jetzt aber spielte sie keine Rolle mehr. Er beneidete ARISTOTELES um seine Unsterblichkeit nicht.

»Guten Morgen, Ari. Ich brauche die heutige Entscheidung des Weltgerichtshofs im Fall Astroingenieur-Gesellschaft gegen den Tempel Sri Kanda. Die Zusammenfassung genügt, gib mir den vollen Ausdruck später.«

»Entscheid 1: Pacht des Tempelgeländes auf Ewigkeit unanfechtbar nach taprobanischem ebenso wie nach Weltgesetz, Weltgesetzkode von 2085. Die Entscheidung war einstimmig.

Entscheid 2: Die Errichtung des geplanten Orbitalturms mit daraus resultierendem Lärm und Erschütterungen wäre von negativem Einfluss auf einen Ort von großer historischer und kultureller Bedeutung, somit ein privates Ärgernis, und rechtfertigt ein Bauverbot auf dem Weg der Zivilklage. Ein öffentliches Ärgernis liegt derzeit nicht vor. Die Entscheidung fiel vier zu zwei mit einer Enthaltung.«

»Danke, Ari — Ausdruck löschen — ich brauche ihn nicht.«

Das war es also — gerade, wie er es erwartet hatte. Aber er wusste nicht recht, ob er Erleichterung oder Enttäuschung empfinden sollte.

Seine Wurzeln lagen tiefer in der Vergangenheit. Er war froh, dass man althergebrachte Traditionen zu schätzen wusste und sie schützte. Wenn sich aus der langen, blutigen Geschichte der Menschheit auch nur eines lernen ließ, dann musste es dies sein: Es war einzig der Mensch als Individuum, auf den es ankam. Mochten seine Ansichten auch noch so exzentrisch sein, sie mussten geschützt werden, solange sie nicht mit breiteren und gleichermaßen legitimen Interessen in Konflikt gerieten. Was hatte der alte Dichter doch gesagt? »Den Staat gibt es nicht!« Vielleicht ging er damit ein wenig zu weit, aber seine Ansicht war sicher besser als das andere Extrem.

Gleichzeitig aber empfand er leises Bedauern. Er hatte sich halbwegs davon überzeugt, dass Morgans phantastisches Unternehmen gerade das richtige sein mochte, um Taprobane (und womöglich die ganze Erde, obwohl seine Verantwortung diese nicht mehr umfasste) vor einem Abgleiten in die Selbstzufriedenheit zu bewahren. Jetzt hatte der Weltgerichtshof einen Strich durch diese Rechnung gemacht, der sich erst in vielen Jahren wieder ausradieren lassen würde.

Er war neugierig, was Maxine über den Fall zu sagen hatte, und schaltete seinen Empfänger auf verzögerte Wiedergabe. Auf Welt-zwo, dem Kanal für die Nachrichtenanalyse, war Senator Collins weiterhin dabei, den Dampfkessel zu heizen.

»… unzweifelhaft seine Kompetenz überschritten und außerdem die Finanzmittel seiner Abteilung für Vorhaben verwendet, die diese nichts angingen.«

»Sind Sie da nicht etwas zu engherzig in der Auslegung, Senator? Soweit ich die Zusammenhänge verstehe, wurde Hyperdraht für Bauzwecke entwickelt, speziell für Brücken. Und handelt es sich hierbei nicht um eine Art Brücke? Ich habe Dr. Morgan diese Analogie verwenden hören, wenngleich er sein Vorhaben mitunter auch als einen Turm bezeichnet.«

»Jetzt sind Sie engherzig, Maxine. Ich bevorzuge den Namen ›Sternenfahrstuhl‹. Und was den Hyperdraht angeht, so irren Sie sich. Er ist das Ergebnis von zwei Jahrhunderten raumtechnischer Forschung. Der Umstand, dass die entscheidende Entdeckung in der LAND-Abteilung meiner — äh — Organisation stattfand, ist unerheblich. Obwohl ich natürlich stolz darauf bin, dass meine Wissenschaftler daran Anteil hatten.«

»Erwägen Sie, das Projekt der RAUM-Abteilung zu übertragen?«

»Welches Projekt? Es handelt sich lediglich um eine Entwurfsstudie — eine von Hunderten, die bei der TCC dauernd angefertigt werden. Ich erfahre so gut wie nie darüber, und ich möchte das auch nicht — bis sie einen Punkt erreichen, an dem eine Entscheidung auf höchster Ebene erforderlich ist.«

»Das ist bei Dr. Morgans Vorhaben nicht der Fall?«

»Ganz gewiss nicht. Meine Raumtransportexperten geben mir zu verstehen, dass die projizierten Zuwächse des Verkehrsaufkommens sich mühelos werden handhaben lassen — wenigstens für die übersehbare Zukunft.«

»Das bedeutet genau?«

»Zwanzig Jahre.«

»Und was geschieht dann? Dr. Morgan ist der Ansicht, dass es etwa so lange dauern wird, den Turm zu bauen. Gesetzt den Fall, er wird nicht rechtzeitig fertig?«

»Dann finden wir eine andere Lösung. Mein Stab analysiert alle denkbaren Möglichkeiten, und man ist dort keineswegs überzeugt, dass der Sternenfahrstuhl einen erstrebenswerten Ausweg darstellt.«

»Sie halten den Gedanken aber für grundlegend richtig?«

»Es sieht so aus. Allerdings werden noch weitere Analysen gebraucht.«

»Dann müssten Sie Dr. Morgan für die Arbeit, die er geleistet hat, eigentlich dankbar sein.«

»Ich habe den größten Respekt vor Dr. Morgan. Er ist einer der hervorragendsten Ingenieure in meiner Organisation — wahrscheinlich auf der ganzen Erde.«

»Irgendwie beantworten Sie damit meine Frage nicht, Senator.«

»Also schön. Ich bin Dr. Morgan tatsächlich dafür dankbar, dass er unsere Aufmerksamkeit auf diese Sache gelenkt hat. Aber die Vorgehensweise, die er dabei anwendete, kann ich nicht billigen. Um ganz offen zu sein: Er versuchte, mich in Zugzwang zu bringen.«

»Wie tat er das?«

»Indem er die Grenzen meiner — seiner! — Organisation überschritt, sich an die Außenwelt wandte und dadurch einen kritischen Mangel an Loyalität enthüllte. Als Ergebnis seiner Manöver haben wir heute eine ungünstige Entscheidung des Weltgerichtshofs, die unweigerlich die öffentliche Meinung gegen uns aufbringen wird. Unter diesen Umständen blieb mir keine andere Wahl, Dr. Morgan — wenn auch mit dem tiefsten Bedauern — zur Kündigung aufzufordern.«

»Ich danke Ihnen, Senator Collins. Die Unterhaltung mit Ihnen war wie immer ein Vergnügen.«

»Du kleine Lügnerin«, sagte Radschasinghe, als er das Gerät ausschaltete und den Anruf entgegennahm, der seit einer Minute auf seiner Konsole blinkte.

»Alles mitbekommen?«, fragte Professor Sarath. »Das also ist das Ende von Dr. Vannevar Morgan.«

Radschasinghe sah seinen Gesprächspartner eine Zeitlang nachdenklich an.

»Sie hatten schon immer die Tendenz, voreilige Schlüsse zu ziehen, Paul. Warten war noch nie Ihre Stärke. Um wie viel möchten Sie wetten?«

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