Achtes Kapitel

Um die Mittagszeit ruhten fünf halbnackte Männer mit braungebrannten Nacken und Gesichtern im Schatten unter dem weißen Bauch der Rakete, umgeben von allerlei Gefäßen und Geräteteilen. Auf der Zeltplane lagen die Kombinationen, die Schuhe und die Handtücher. Einer geöffneten Thermosflasche entstieg der Duft frischgebriihten Kaffees. Wolkenschatten krochen über die weite Ebene. Es herrschte Ruhe, und wäre nicht das nackte Geschöpf gewesen, das einige Schritt von ihnen entfernt reglos unter dem Rumpf hockte, hätte die Szene ein irdisches Biwak darstellen können.

„Wo steckt eigentlich der Ingenieur?“ Der Physiker richtete sich träge mit den Ellenbogen auf und starrte vor sich hin. In seiner dunklen Brille spiegelte sich eine Schäfchenwolke. „Er schreibt sein Buch.“

„Was für ein Buch? Ach so, die Aufstellung der Reparaturen.“

„Ja, es wird ein dickes Buch werden und interessant, sage ich dir.“ Der Physiker sah den Sprechenden an. „Du hast gute Laune. Das istviel wert. Deine Wunde ist schon fast verheilt, was? Auf der Erde hätte sie sich nicht so rasch geschlossen.“ Der Koordinator befühlte die Stelle an der Stirn und hob die Brauen. „Kann sein. Das Raumschiff war steril, und die Bakterien hier sind für uns unschädlich. Insekten scheint es hier überhaupt nicht zu geben. Ich hab noch keine gesehen. Und ihr?“

„Die weißen Schmetterlinge des Doktors“, murmelte der Physiker; bei Hitze fiel ihm sogar das Sprechen schwer. „Nun, das ist nur eine Hypothese.“

„Und was ist hier keine Hypothese?“ Der Doktor sah ihn an. „Unsere Anwesenheit“, erwiderte der Chemiker und wälzte sich auf den Rücken. „Ich hätte Lust, die Gegend zu wechseln…“

„Ich auch“, bemerkte der Doktor.

„Ist dir aufgefallen, wie rot seine Haut wurde, als er ein paar Minuten in der Sonne gesessen hatte?“ fragte der Koordinator. Der Doktor nickte. „Ja. Das bedeutet, dass er entweder bisher noch nicht in der Sonne war oder dass er ein Kleidungsstück hatte, eine Kopfbedeckung oder…“

„Was oder?“

„Oder noch etwas anderes, was ich nicht weiß…“

„Die Sache steht nicht schlecht.“ Der Kybernetiker hob den Blick von einem beschriebenen Blatt Papier. „Henrik versprach mir, die Dioden aus dem Beschützer auszubauen. Wenn ich morgen mit der Durchsicht fertig bin und alles in Schuß ist, können wir schon morgen den ersten Automaten in Betrieb nehmen. Dem unterstelle ich dann den ganzen Rest. Wenn er nur drei Stück zusammenbaut, kommt alles vom Fleck. Wir setzen die Lastautomaten und die Bagger instand, die Rakete wird hochgestellt und…“ Er brach ab. „Was“, rief der Chemiker, „du glaubst also, wir setzen uns einfach so hinein und fliegen davon?“ Der Doktor lachte. „Die Astronautik ist eine reine, untadelige Frucht der menschlichen Neugier. Habt ihr es gehört? Der Chemiker will nicht mehr von hier fort!“

„Keine Scherze, Doktor, was ist mit dem Doppelt? Du hast den ganzen Tag bei ihm gesessen!“

„Habe ich.“

„Was ist? Tu nicht so geheimnisvoll! Wir haben genug Geheimnisse um uns herum…„

„Ich tue gar nicht so geheimnisvoll. Wozu auch. Er benimmt sich wie ein Kind. Wie ein geistig unterentwickeltes Kind. Er erkennt mich. Wenn ich ihn rufe, kommt er. Wenn ich ihn anstoße, setzt er sich hin — auf seine Art.“

„Du hast ihn in den Maschinenraum mitgenommen. Wie hat er sich dort angestellt?“

„Wie ein Säugling. Keinerlei Interesse. Als ich mich hinter dem Generator bückte und er mich nicht mehr sah, schwitzte er vor Angst. Wenn es Schweiß ist und wenn das Angst bedeutet.…“

„Spricht er etwas? Einmal hörte ich, wie er dich angluckste.“

„Artikulierte Laute gibt er nicht von sich. Ich habe Bandaufnahmen gemacht und die Frequenzen analysiert. Die Stimme hört er, jedenfalls reagiert er darauf. Ich habe für all das einfach keinen Platz in meinem Kopf… Ängstlich wie 'ne Kuh ist er und schüchtern. Und aus solchen Exemplaren setzt sich diese ganze Gesellschaft zusammen. Es sei denn, dass er allein… Aber ein solcher Zufall.…“

„Vielleicht ist er noch jung? Vielleicht sind sie gleich so groß.“

„O nein, er ist nicht jung. Das erkennt man schon an der Haut, an den Runzeln. Das sind allgemeine biologische Gesetzmäßigkeiten.

Außerdem sind die Sohlen, die Verdickungen, auf denen er geht, ganz fest und mit Hornhaut verhärtet. Ein Kind in unserem Sinne ist er jedenfalls nicht. Übrigens hat er in der Nacht im Wagen, als wir zurückkehrten, auf gewisse Dinge früher als wir und auf seine Art reagiert, zum Beispiel auf die Luftspiegelung, von der ich euch erzählt habe. Er fürchtete sich davor. Seine Siedlung schien er ebenfalls zu fürchten. Warum wäre er sonst von da geflohen?“

„Vielleicht könnten wir ihm etwas beibringen? Schließlich haben sie ja Fabriken und die wirbelnden Scheiben gebaut. Intelligent müssen sie also sein“, gab der Physiker zu bedenken. „Der hier ist es nicht.“

„Warte. Weißt du, was mir eingefallen ist?“ Der Chemiker stemmte sich mit den Armen hoch, setzte sich auf und wischte die Sandkörnchen ab, die an seinen Ellenbogen klebten. „Vielleicht ist das ein Schwachsinniger? Ein Unterentwickelter? Oder…“

„Ach so, du meinst, da wäre dort ein Asyl fürSchwachsinnige?“ Der Doktor setzte sich ebenfalls auf. „Du spottest wohl?“

„Warum sollte ich spotten? Vielleicht war das ein isolierter Winkel, in dem sie ihre Kranken halten.“

„Um Experimente an ihnen vorzunehmen“, warf der Chemiker „Du bezeichnest das, was du gesehen hast, als Experimente?“ mischte sich der Koordinator in das Gespräch. „Ich bewerte das nicht von der moralischen Seite. Wie könnte ich? Wir wissen ja nichts“, erwiderte der Chemiker. „Der Doktor entdeckte dort in einem der Doppelts ein Röhrchen, das dem gleicht, das er im Körper des Sezierten fand…“

„Ach so, das heißt also, dass der, der in die Rakete gekrochen war, auch von dort stammte? Er war geflohen und in der Nacht hierhergelangt?“

„Warum nicht? Ist das unmöglich?“

„Und die Skelette?“ Des Physikers Miene verriet, dass er die Ausführungen des Chemikers sehr skeptisch aufnahm. „Nun … ich weiß es nicht. Vielleicht ist das eine Art von Konservierung, oder vielleicht werden sie geheilt, indem man ihnen das zeigt. Ich meine so etwas wie psychische Schocks.“

„Natürlich. Auch sie haben ihren Freud“, sagte der Doktor. „Laß das lieber. Und erzähl mir nicht, das wäre zur Unterhaltung oder sei ein Gespensterschloss. Es ist irgendeine gewaltige Einrichtung. Man braucht eine ganze Masse Chemie, um die Skelette in diese Glasblöcke einzuschmelzen.“

„Der Umstand, dass du aus diesem Doppelt nichts herausbekommen kannst, will noch nichts besagen“, meinte der Physiker. „Du solltest mal versuchen, von dem Pförtner an meiner Universität etwas über die irdische Zivilisation zu erfahren.“

„Ein unterentwickelter Pförtner also“, meinte der Chemiker. Alle lachten, verstummten jedoch sofort. Der Doppelt stand vor ihnen. Er bewegte die knotigen Fingerchen in der Luft, sein flaches Gesichtchen, das am Halse herabhing, zitterte. „Was ist?“ fragte der Chemiker. „Er lacht“, sagte der Koordinator.

Der Torso hatte eine Art Schluckauf, er schien sich vor Heiterkeit zu schütteln. Die unförmigen großen Füße trippelten auf der Stelle. Angesichts der fünf Augenpaare, die ihn anstarrten, wurde er allmählich ruhiger. Er ließ seinen himmelblauen Blick von einem zum anderen wandern, zog plötzlich den Torso, die Händchen und den Kopf ein, lugte noch einmal durch den Spalt der Muskeln und stapfte an seinen Platz zurück, wo er sich mit leisem Schnaufen niederließ. „Wenn das Lachen ist“, flüsterte der Physiker.

„Auch das hätte noch nichts zu bedeuten. Selbst Affen können lachen.“

„Moment“, sagte der Koordinator. Die Augen in seinem hageren, sonnenverbrannten Gesicht leuchteten. „Nehmen wir mal an, dass es bei ihnen eine erheblich größere Diskrepanz in den biologisch angeborenen Fähigkeiten gibt als bei uns. Dass es mit einem Wort Schichten oder Gruppen gibt, Kasten schöpferisch Arbeitender, Konstruierender, und daneben eine große Menge anderer, die zu keiner Arbeit taugen. Und dass in diesem Zusammenhang die Unbrauchbaren.…“

„.. getötet werden. Man macht Versuche an ihnen. Sie werden aufgefressen“, spann der Doktor den Gedanken weiter. „Keine Angst, sag ruhig alles, was dir in den Sinn kommt.Niemand wird dich auslachen, weil alles möglich ist. Leider ist der Mensch nicht imstande, alles, was möglich ist, zu verstehen.“

„Halt. Was meinst du zu dem, was ich gesagt habe?“

„Und die Skelette?“ wandte der Chemiker ein.

„Nach dem Mittagessen sind sie eben Lehrmittel“, erklärte der Kybernetiker bissig. „Wenn ich dir sämtliche Theorien schildern sollte, die mir seit gestern durch den Kopf gehen, wann immer ich daran denke“, sagte der Doktor, „dann gäbe das ein Buch, das fünfmal dicker wäre als das, an dem Henrik jetzt schreibt, wenn auch nicht ganz so logisch. Als Junge lernte ich mal einen Kosmonauten kennen.

Der hatte mehr Planeten gesehen, als er Haare auf dem Kopfe hatte, und er hatte keine Glatze. Er hatte die beste Absicht, mir die Landschaft auf einem Mond zu schildern, ich weiß nicht mehr, auf welchem. Da gibt es solche, und da haben sie solche, und das ist dort so, und der Himmel, der ist anders als bei uns, anders, und zwar so … Er wiederholte das so lange, bis er schließlich selbst lachte und abwinkte. Man kann einem, der nie im Weltraum war, nicht sagen, wie es ist, wenn man im Vakuum schwebt und die Sterne unter den Füßen hat. Und das sind nur die veränderten physikalischen Bedingungen! Hier haben wir eine Zivilisation vor uns, die sich mindestens durch fünfzig Jahrhunderte hindurch entwickelt hat. Mindestens sage ich. Und wir wollen sie nach wenigen Tagen begreifen?“

„Wir müssen uns sehr bemühen, denn der Preis, den wir zu zahlen hätten, falls wir sie nicht begreifen, könnte zu hoch sein.“ Der Koordinator schwieg einen Augenblick, wandte sich dann an den Doktor: „Was sollten wir also deiner Ansicht nach tun?“

„Was wir bisher getan haben!

Aber ich fürchte, die Chancen sind gering, etwa wie eins … na, sagen wir zu der Anzahl von Jahren, die die Zivilisation auf Eden existiert.“ Der Ingenieur erschien im Tunnelausgang. Als er die Freunde in dem breiten Schatten wie an einem Strand ruhen sah, warf er die Kombination ab und setzte sich zu ihnen. „Wie steht's mit der Arbeit?“ fragte der Koordinator. „Nicht schlecht, drei Viertel habe ich bereits geschafft.… Übrigens habe ich schon lange nicht mehr daran gearbeitet. Ich habe inzwischen versucht, unsere vorherige Ansicht zu revidieren, nämlich dass die erste Fabrik, die im Norden, so funktioniert, weil sie außer Kontrolle und aus ihrem Arbeitsrhythmus geraten ist … Was ist los? Was findet ihr daran komisch? Warum lacht ihr?“

„Ich will euch was sagen“, erklärte der Doktor, der als einziger ernst geblieben war. „Sobald das Schiff startklar ist, wird es einen Aufruhr geben. Keiner wird mehr fliegen wollen, bis er nicht erfahren hat… Wenn wir nämlich jetzt schon, statt im Schweiße unseres Angesichts Schrauben einzudrehen…“ Er winkte ratlos ab.

„Ach so, ihr habt euch damit befaßt? Und zu welchem Schluß seid ihr gekommen?“

„Zu keinem. Und du?“

„Zu dem gleichen wie ihr. Aber ich habe gewisse allgemeine und zugleich allen Erscheinungen gemeinsame Züge ausgesucht, und dabei fiel mir auf, dass die Fabrik, die automatische, ihr wißt schon, nicht nur im Kreise produzierte, sondern es auch nachlässig tat. Die einzelnen ›Fertigprodukte‹ unterschieden sich voneinander. Erinnert ihr euch?“ Er vernahm ein zustimmendes Knurren.

„Na, und gestern machte uns der Doktor darauf aufmerksam, dass sich die einzelnen Doppelts auf eigenartige Weise voneinander unterscheiden. Die einen haben kein Auge, die anderen keine Nase, auch die Anzahl der Finger ist unterschiedlich, ebenso die Hautfarbe. All das schwankt innerhalb gewisser Grenzen. Und das scheint sozusagen die Folge einer gewissen Ungenauigkeit des Prozesses der ›organischen‹ Technologie zu sein, hier wie dort.…“

„Das ist aber wirklich interessant!“ rief der Physiker, der ihm aufmerksam zugehört hatte. „Ja, endlich etwas Wesentliches“, meinte der Doktor.

„Aber was weiter?“ Der Ingenieur schüttelte verwirrt den Kopf. „Wirklich, ich habe nicht den Mut, eszu sagen. Wenn man so allein sitzt, kommen einem so allerhand Dinge in den Sinn…“

„So sprich doch!“ schrie der Chemiker entrüstet. „Wenn du schon einmal angefangen hast“, ermunterte ihn der Kybernetiker.

„Ich habe mir folgendes überlegt: Wir hatten dort einen kreisförmigen Prozeß von Produktion, Destruktion und erneuter Produktion vor uns. Und gestern habt ihr etwas entdeckt, was auch wie eine Fabrik aussah. Wenn das eine Fabrik war, so muss sie etwas produzieren.“

„Nein, dort war nichts“, sagte der Chemiker. „Nichts, nur Skelette … Wir haben zwar nicht überall gesucht“, fügte er zögernd hinzu.

„Und wenn diese Fabrik… Doppelts erzeugt?“ fragte der Ingenieur leise und fuhr, da alle schwiegen, fort: „Das Produktionssystem wäre analog: eine Serienproduktion, eine Massenproduktion, mit Abweichungen, zu denen es, sagen wir, nicht durch die fehlende Kontrolle kam, sondern durch die Eigenart der Prozesse, und die so kompliziert sind, dass in ihnen bestimmte Schwankungen, bestimmte Abweichungen von der geplanten Norm auftraten und sich nicht mehr steuern ließen. Auch die Skelette wiesen Unterschiede auf.“

„Und du glaubst … sie töten die ›schlecht Produziertem?“ fragte der Chemiker mit rauher Stimme.

„Keineswegs! Ich meine die Leiber, die ihr gefunden habt, haben überhaupt nie gelebt! Die Synthese war so weit geglückt, dass muskulöse Organismen erzeugt wurden, die mit allen inneren Organen ausgestattet waren, aber sie wichen von der Norm stark ab, sie waren funktionsuntüchtig, sie lebten überhaupt nicht und wurden daher entfernt, aus dem Produktionszyklus ausgeschieden…“

„Und der Graben vor der Stadt, was war damit? Auch ›Ausschuß“?“ fragte der Kybernetiker.

„Ich weiß es nicht, aber auch das ist nicht ausgeschlossen…“

„Nein, ausgeschlossen ist das nicht.“

Der Doktor betrachtete den bläulich getrübten Rand des Horizonts. „An dem, was du sagst, ist etwas dran… jenes abgebrochene Röhrchen, das eine und das andere…“

„Vielleicht haben sie damit irgendwelche belebenden Substanzen während der Synthese eingeführt.“

„Das würde zum Teil auch erklären, weshalb der Doppelt, den ihr mitgebracht habt, gewissermaßen geistig unterentwickelt ist“, fügte der Kybernetiker hinzu. „Er wurde gleich ›erwachsen‹ erschaffen, er spricht nicht, ihm fehlen Erfahrungen…“

„Nein“, entgegnete der Chemiker. „Unser Doppelt weiß immerhin einiges. Er fürchtete sich nicht nur, in jenes steinerne Asyl zurückzukehren, was schließlich irgendwie begreiflich ist, er hatte auch vor dem Spiegelgürtel Angst. Außerdem wusste er auch etwas von jener Luftspiegelung, von der unsichtbaren Grenze, die wir überquerten…“

„Wenn wir Henryks Hypothese fortsetzen wollten, entstünde ein Bild, das wir schwerlich akzeptieren können.“ Der Koordinator starrte in den Sand. „Die erste Fabrik erzeugt Teile, die nicht gebraucht werden. Und die zweite? Etwa Lebewesen? Wozu?

Glaubst du, dass auch sie … in einen Kreisprozeß eingeführt werden?“

„Du großer Gott!“ Der Kybernetiker schüttelte sich. „Das ist doch wohl nicht dein Ernst?“

„Einen Augenblick.“ Der Chemiker setzte sich. „Wenn die Lebenden in die Retorte zurückkehrten, wäre die Beseitigung unvollkommener Geschöpfe, die sich nicht beleben ließen, völlig überflüssig. Übrigens haben wir keine Spuren eines solchen Prozesses gesehen…“ In der Stille, die nun eintrat, stand der Doktor auf und ließ den Blick über seine Freunde schweifen.

„Wisst ihr“, begann er, „ich kann mir nicht helfen… Ich muss es sagen. Wir haben uns alle durchdas, was der Ingenieur entdeckt zu haben glaubt, beeinflussen lassen und bemühen uns jetzt, die Tatsachen dieser ›Produktionshypothese‹ anzupassen. Aus alledem geht nur eins unwiderlegbar hervor, nämlich, dass wir kreuzbrave und naive Menschen sind…“ Sie sahen ihn mit wachsendem Erstaunen an, als er fortfuhr: „Vor einer Weile habt ihr versucht, euch die schrecklichsten Dinge auszudenken, zu denen ihr fähig seid, und ihr seid zu einem Bild gelangt, wie es sich ein Kind machen könnte. Eine Fabrik, die Lebewesen erzeugt, um sie zu zermahlen… Liebe Leute, die Wirklichkeit kann schlimmer sein.“

„Na, weißt du!“ platzte der Kybernetiker heraus. „Moment. Laß ihn doch ausreden“, sagte der Ingenieur. „Je länger ich über unser Erlebnis in jener Siedlung nachdenke, desto fester wird in mir die Gewißheit, dass wir etwas ganz anderes gesehen haben, als wir zu sehen glaubten.“

„Drück dich bitte klarer aus. Also was geschah dort?“ drängte der Physiker. „Was geschah, weiß ich nicht. Dagegen weiß ich, und dessen bin ich mir sicher, was nicht geschah.“

„Bitte! Vielleicht lässt du das jetzt mit den Rätseln.“

„Ich will nur so viel sagen: Nach längerer Wanderung in jenem unterirdischen Labyrinth wurden wir unvermittelt von einer Menge überfallen, die uns in dem Gedränge ein wenig belästigte, dann jedoch auseinanderstob und flüchtete. Da wir bei der Annäherung an die Siedlung beobachteten, wie darin die Lichter erloschen, glaubten wir natürlich, dass das mit unserer Ankunft zusammenhinge und die Bewohner sich vor uns versteckten. Ich habe mir diese ganze Folge von Ereignissen noch einmal vergegenwärtigt, alles, was mit uns und um uns geschah und ich sage euch: Das war etwas ganz anderes, etwas, wogegen sich der Verstand sträubt wie gegen etwas Wahnwitziges.“

„Du wolltest ohne alle Umschweife reden“, erinnerte der Physiker.

„Ich rede geradeheraus. Ich bitte euch, folgende Situation zu überlegen: Auf einem Planeten, der von intelligenten Geschöpfen bewohnt ist, landen Wesen von den Sternen. Welche Reaktionen der Bewohner sind möglich?“

Da keiner antwortete, fuhr der Doktor fort: „Selbst wenn die Bewohner dieses Planeten in Retorten hergestellt sein sollten oder unter noch unheimlicheren Bedingungen auf die Welt gekommen sind, sehe ich nur drei mögliche Verhaltensweisen: den Versuch, mit den Ankömmlingen Kontakt aufzunehmen, den Versuch, sie anzugreifen, oder Panik. Es hat sich erwiesen, dass noch eine vierte möglich ist, nämlich völlige Gleichgültigkeit!“

„Du hast doch selbst erzählt, dass sie euch fast die Rippen gebrochen haben, und das nennst du Gleichgültigkeit!“ rief der Kybernetiker. Der Chemiker machte bei den Ausführungen des Doktors große Augen. Seine Gedanken schienen ihm irgendwie einzuleuchten. „Wenn du einer Viehherde im Wege stehst, die vor einem Brand flieht, kann dir noch Schlimmeres passieren, dann heißt das aber noch lange nicht, dass die Herde dich beachtet“, fuhr der Doktor fort. „Ich sage euch, die Menge, in die wir gerieten, hat uns überhaupt nicht gesehen! Sie hat sich für uns gar nicht interessiert. Zugegeben, sie war in Panik, aber nicht unsertwegen. Wir waren ganz zufällig hineingeraten. Natürlich glaubten wir fest, dass wir die Ursache waren für das Hereinbrechen der Dunkelheit und für das Chaos, für alles, was wir dort sahen. Aber es stimmt nicht. Es war nicht so.“

„Beweise!“ rief der Ingenieur.

„Zuerst möchte ich hören, was mein Begleiter dazu meint.“ Der Doktor sah den Chemiker an. Der saß da und bewegte lautlos die Lippen, als spräche er mit sich selbst. Plötzlich zuckte er zusammen.

„Ja“, sagte er. „So wird es wohl gewesen sein. Sicherlich. Die ganze Zeit hindurch hat mich bei dieser Sache etwas gequält, es ließ mir keine Ruhe. Ich hatte das Gefühl, dass es sich um eine Verschiebung, ein Mißverständnis handelte, oder, wie soll ich sagen, es war so, als ob ich einen wirren Text lese und komme nicht dahinter, wo die Sätze umgestellt wurden. Jetzt ist alles klar. So muss es gewesen sein.

Ich fürchte nur, wir können das nicht beweisen, das lässt sich nicht beweisen. Man muss eben selber dort in dieser Menge gewesen sein. Sie haben uns einfach nicht gesehen. Natürlich, mit Ausnahmederjenigen, die uns am nächsten standen, aber gerade die, die mich umgaben, waren nicht von der allgemeinen Panik erfaßt. Im Gegenteil, möchte ich behaupten, mein Anblick wirkte ernüchternd auf sie. Solange sie mich ansahen, waren sie einfach die verblüfften, über die Maßen überraschten Bewohner des Planeten, die unbekannte Geschöpfe erblickten. Sie wollten mir überhaupt nichts Böses antun. Ich erinnere mich, dass sie mir in gewisser Weise sogar halfen, mich aus dem Gedränge zu befreien, soweit das freilich möglich war…“

„Und wenn jemand die Menge auf euch gehetzt hat? Wenn das nur eine Treibjagd sein sollte?“ warf der Ingenieur ein. Der Chemiker schüttelte den Kopf. „Da war nichts dergleichen, keine wirbelnden Scheiben, keine bewaffneten Wächter, keine Organisation. Es war völliges Chaos, nichts weiter.

Stimmt“, fügte er hinzu, „ich wundere mich wirklich, dass ich das erst jetzt begreife. Diejenigen, die mich aus der Nähe sahen, schienen zur Besinnung zu kommen. Der Rest benahm sich eben wie rasend!“

„Wenn das so war, wie ihr schildert“, sagte der Koordinator, „dann wäre das ein recht merkwürdiger Zufall. Warum wurden die Lichter gerade in dem Augenblick gelöscht, als wir dort ankamen?“

„Ach so, die Wahrscheinlichkeitsrechnung“, murmelte der Doktor, und lauter fügte er hinzu: „Ich würde darin nichts Ungewöhnliches sehen, ausgenommen die nicht begründete Annahme, dass solche Zustände ziemlich häufig auftreten.“

„Was für Zustände?“

„Die der allgemeinen Panik.“

„Und was mag sie auslösen?“

„Möglicherweise der rückläufige Zivilisationsprozeß auf dem Planeten“, meinte der Kybernetiker nach einem Augenblick des Schweigens. „Eine Periode der Rückentwicklung, einfacher ausgedrückt: Die Zivilisation wird von einer Art… gesellschaftlichem Krebs zerfressen.“

„Das ist sehr verschwommen“, meinte der Koordinator. „Die Erde ist bekanntlich ein ganz durchschnittlicher Planet. Es hat dort Epochen der Involution gegeben, ganze Zivilisationen entstanden und vergingen wieder, überblicken wir aber die Jahrtausende, so erhalten wir ein Bild zunehmender Kompliziertheit des Lebens und seines wachsenden Schutzes. Wir bezeichnen das als Fortschritt. Der Fortschritt erfolgt auf durchschnittlichen Planeten. Aber es gibt auch, gemäß dem Gesetz der großen Zahl, statistische Abweichungen vom Durchschnitt, positive wie negative. Man braucht sich gar nicht auf Hypothesen von einer periodischen Degeneration, von einer Rückentwicklung, zu berufen. Es ist doch möglich, dass die schädlichen Begleitumstände bei der Entstehung der Zivilisation hier größer sind und größer waren als anderswo. Vielleicht sind wir gerade während eines Prozesses der negativen Abweichung gelandet.…“

„Mathematischer Dämonismus“, sagte der Ingenieur. „Die Fabrik existiert“, bemerkte der Physiker.

„Zugegeben, die erste, die Existenz der zweiten ist eine Hypothese, die sich nicht halten läßt.“

„Mit einem Wort, eine neue Expedition ist notwendig“, schloss der Chemiker. „In dieser Hinsicht hatte und habe ich nicht die geringsten Zweifel.“ Der Ingenieur schaute sich um. Die Sonne neigte sich bereits deutlich dem Horizont zu, die Schatten auf dem Sand wurden länger. Ein schwacher Wind wehte.

„Heute noch…?“ Der Ingenieur sah den Koordinator fragend an. „Heute sollten wir nach Wasser fahren, sonst nichts.“ Der Ingenieur stand auf. „Eine sehr interessante Diskussion“, sagte er mit einer Miene, als dächte er an etwas anderes. Er hob seine Kombination auf und ließ sie gleich wieder fallen, so heiß war sie von der Sonne. „Ich denke, gegen Abend werden wir einen Ausfall auf Rädern zum Bach machen. Wir lassen uns durch nichts von unserem Plan abbringen, es sei denn, wir werden unmittelbar bedroht.“ Er kehrte zu den im Sand Sitzenden zurück, betrachtete sie eine Weile und fügte dann zögernd hinzu: „Ich muss euch gestehen, dass ich etwas… unruhig bin.“

„Warum?“

„Mir gefällt nicht, dass sie uns in Ruhe lassen, nach diesem Besuch vor zwei Tagen. So verhält sich keine Gesellschaft, in die ein bemanntes Raumschiff vom Himmel fällt.“„Das würde in gewisser Weise meine Annahme stützen“, bemerkte der Kybernetiker. „Die mit dem ›Krebs‹, der Eden auffrißt? Nun, von unserem Standpunkt aus wäre das nicht das Schlimmste, nur…

„Was?“

„Nichts. Hört zu, wir müssen uns endlich den Beschützer vornehmen. Das Gerümpel darüber wird weggeräumt, die Dioden darin sind sicherlich unversehrt.“

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