Vierzehntes Kapitel

Eine Stunde später fuhr der Beschützer über die heruntergelassene Lastenklappe. Der Ingenieur lenkte ihn bis auf zweihundert Meter an die glasige Mauer heran, deren Krone sich wie ein unvollendetes Gewölbe nach innen neigte, und ging ans Werk. Die Dunkelheit flüchtete mit gigantischen Sätzen in die Wüste. Die donnernden Linien der Schnitte, heller als die Sonne, zerlegten die spiegelnde Wand.

Die glühenden Platten polterten zu Boden. Weißer Rauch wallte über der siedenden Arbeitsstätte. Der Ingenieur ließ die Platten liegen, damit sie erkalteten, und schnitt mit dem Annihilator weiter, hackte Fenster in das Gewölbe, von denen flammende Eiszapfen tropften. Lange Reihen viereckiger Löcher entstanden in der trüben, fast durchsichtigen Hülle. Schächte des gestirnten Himmels tauchten darin auf. Der Rauch wälzte sich über dem Sand. In den Adern der gewaltigen Glaswand stöhnte und ächzte es, die Bruchstücke bedeckten sich mit dunkler Glut. Schließlich fuhr der Beschützer rückwärts zur Rakete zurück. Der Ingenieur untersuchte die Strahlung der Stücke aus der Entfernung. Die Zähler summten warnend. „Eigentlich müssten wir mindestens vier Tage hier warten“, sagte der Koordinator. „Aber wir schicken den Schwarzen hin und die Reiniger.“

„Richtig. Die Radioaktivität ist vor allem an der Oberfläche. Ein tüchtiger Sandstrahl wird mit ihr schon fertig. Und die kleinen Reste werden an einer Stelle zusammengetragen und vergraben.“

„Man könnte sie in das Klarbecken im Heck laden.“ Der Koordinator starrte nachdenklich in die kirschrote Glut der Trümmer.

„Meinst du? Wozu?“ Der Ingenieur sah ihn verwundert an. „Wir haben doch nichts davon, nur unnützer Ballast.“

„Ich möchte lieber keine radioaktiven Spuren hinterlassen… Sie kennen die Atomenergie nicht, und es ist besser, sie lernen sie nicht kennen…“

„Vielleicht hast du recht“, murmelte der Ingenieur. „Eden… Weißt du“, fügte er nach einer Weile nachdenklich hinzu, „allmählich beginnt sich mir ein Bild zu formen, nach den Worten des Doppelt, dieses Astronomen oder vielmehr… des Kalkulators.… Ungeheuerlich.“

„Ja.“ Der Koordinator nickte langsam. „Ein extremer Mißbrauch der Informationstheorie, und dabei so konsequent, dass er Bewunderung erweckt. Sie erweist sich als ein Werkzeug, das schrecklichere Torturen zufügen kann als alle physischen Quälereien, weißt du? Selektionieren, Hemmen, Blockieren von Informationen. Man kann auf diese Weise tatsächlich eine geometrisch exakte, gräßliche ›Prokrustik‹ betreiben, wie sich der Kalkulator ausdrückte.“

„Meinst du, dass sie…, dass er das begreift?“

„Was heißt, ob er das begreift? Denkst du, er hält diesen Zustand für normal? In gewissem Sinne vielleicht. Er kennt ja nichts anderes. Obwohl er sich auf ihre frühere Geschichte berief, auf die der gewöhnlichen und dann der anonymen Tyrannen. Er hat also eine Vergleichsskala. Ja, ganz bestimmt,ohne sie hätte er uns das nicht sagen können.“

„Wenn die Berufung auf Tyranneien die Erinnerung an bessere Zeiten bedeuten soll, dann… danke schön!“

„Und dennoch. Eigentlich ist das ein zusammenhängender Entwicklungsablauf. Einer der Tyrannen kam offenbar auf den Gedanken, die Anonymität könnte ihm bei dem bestehenden Herrschaftssystem nützen. Eine Gesellschaft, die keinen Widerstand konzentrieren, keine feindlichen Gefühle gegen eine konkrete Person richten kann, wird entwaffnet.“

„Ach, so verstehst du das! Der Tyrann ohne Gesicht!“

„Vielleicht ist das eine falsche Analogie, aber als sich nach einiger Zeit die theoretischen Grundlagen für ihre ›Prokrustik‹ herausbildeten, ging einer seiner Nachfolger noch weiter. Er liquidierte zum Schein sogar sein Inkognito, setzte sich selbst und das Regierungssystem ab — natürlich nur im Bereich der Begriffe, der Worte, der öffentlichen Kommunikation…“

„Aber warum gibt es hier keine Befreiungsbewegungen? Das will mir nicht in den Kopf! Und selbst, wenn sie ihre „Strafgefangenen“ auf die Weise bestrafen, dass sie sie in autonome, isolierte Gruppen eingliedern, so muss doch, da jede Art von Bewachung, von Aufsicht, von äußerer Gewalt fehlt, eine individuelle Flucht und sogar ein organisierter Widerstand möglich sein.“

„Damit eine Organisiation entstehen kann, müssen zuerst Verständigungsmittel vorhanden sein.“

Der Koordinator schob das Endstück des Geigerzählers durch die Turmluke hinaus. Sein Ticken wurde allmählich schwächer. „Beachte bitte, dass bestimmte Erscheinungen bei ihnen nicht grundsätzlich namenlos sind, auch nicht im Zusammenhang mit anderen. Sowohl die Namen wie die Zusammenhänge, die man als wirklich hinstellt, sind lediglich Maskierungen. Die Verunstaltungen, die durch Mutationen verursacht wurden, bezeichnet man als eine Krankheitsepidemie, und so muss es wohl mit allem sein. Um die Welt zu beherrschen, muss man sie zuerst benennen. Ohne Wissen, ohne Waffen und ohne Organisation, von anderem Leben abgeschnitten, können sie nicht viel anfangen.“

„Da hast du recht. Aber die Szene auf dem Friedhof und der Graben vor der Stadt weisen doch darauf hin, dass die Ordnung möglicherweise hier nicht so vollkommen ist, wie sich das der unsichtbare Herrscher vielleicht wünscht. Hinzu kommt, dass unser Doppelt so sehr über die glasige Mauer erschrak, entsinnst du dich? Offenbar verläuft hier nicht alles so glatt.“ Der Geigerzähler über ihren Köpfen tickte nur noch träge. Die Trümmer der das Raumschiff umgebenden Wand waren dunkler geworden. Nur die Erde rauchte noch, und die Luft darüber zitterte, so dass die Sternbilder eigenartig schwankten. „Der Start ist beschlossen“, sagte der Ingenieur. „Dabei könnten wir ihre Sprache noch viel besser kennenlernen, könnten erfahren, wie ihre verdammte Obrigkeit schaltet und waltet, die ihre eigene Nichtexistenz vortäuscht. Und… wir könnten ihnen Waffen geben.…“

„Wem? Diesen Unglückseligen, solchen wie unserem Doppelt? Würdest du ihm den Annihilator anvertrauen? Mensch!“

„Anfangs könnten wir ja selbst.…“

„Diese Obrigkeit zerstören, ja? Mit anderen Worten, sie mit Gewalt befreien?“

„Wenn es kein anderes Mittel gibt.“

„Einmal sind sie keine Menschen, auf jeden Fall nicht Menschen wie wir. Du darfst nicht vergessen, dass du letzlich immer mit dem Kalkulator sprichst und dass du den Doppelt nur so weit verstehst, wie ihn der Kalkulator begreift. Zum ändern, es hat ihnen niemand das, was ist, aufgezwungen. Zumindest niemand aus dem Kosmos. Sie selbst.…“

„Wenn du so argumentierst, drückst du dein Einverständnis mit allem aus. Mit allem!“ rief der Ingenieur.

„Und wie möchtest du, dass ich argumentiere? Ist denn die Bevölkerung dieses Planeten ein Kind, das in eine Sackgasse geraten ist, aus der man es an der Hand herausführen kann? Wäre das so einfach, du lieber Gott! Die Befreiung begänne damit, Henrik, dass wir töten müssten, und je verbissener der Kampf wäre, desto geringer wäre die Vernunft, mit der wir handelten. Schließlich würden wir nur noch töten, um uns die Rückkehr oder einen Weg zum Gegenangriff offenzuhalten, und würden alle umbringen, die sich dem Beschützer in den Weg stellten. Du weißt sehr gut, wie leicht das ist!“

„Ich weiß“, murmelte der Ingenieur. „Übrigens“, fügte er nach einer Weile hinzu, „ist noch nichts bekannt. Zweifellos beobachten sie uns, und die Fenster, die wir in ihre Sperrmauer geschlagen haben,werden ihnen kaum gefallen. Ich nehme an, dass wir in Kürze mit dem nächsten Versuch zu rechnen haben.“

„Ja, durchaus möglich“, räumte der Koordinator ein. „Ich habe mir sogar überlegt, ob es nicht geboten wäre, vorgeschobene Posten aufzustellen. Elektronenaugen und Elektronenohren.“

„Das würde uns viel Zeit kosten und außerdem Material verschlingen, von dem wir nicht allzuviel besitzen.“

„Das habe ich mir auch überlegt, deshalb zögere ich noch…“

„Zwei Röntgen pro Sekunde. Wir können die Automaten hinausschicken.“

„Gut. Den Beschützer ziehen wir besser in die Rakete hoch, um sicherzugehen.“ Am Nachmittag bedeckte sich der Himmel mit Wolken, zum erstenmal seit ihrer Ankunft auf dem Planeten fiel ein feiner, warmer Regen. Die Spiegelmauer wurde dunkel, das Wasser tropfte von ihren größeren und kleineren Vorsprüngen, man hörte es bis in die Rakete. Die Automaten arbeiteten unermüdlich. Die Sandpeitschen, die aus den Pulsomotoren geschleudert wurden, knirschten und zischten über die Oberfläche der herausgeschnittenen Platten, Glasstückchen wirbelten durch die Luft. Der Sand bildete mit dem Regen einen dünnen Morast. Der Schwarze zog die Behälter mit den radioaktiven Überresten durch den Lasteneingang in die Rakete. Der zweite Automat kontrollierte mit dem Geigerzähler, ob die Deckel hermetisch schlössen. Danach schleppten beide Maschinen die gereinigten Platten an die vom Ingenieur vorgesehenen Stellen, wo die großen Brocken in den sprühenden Funkenfontänen Schweißgeräte miteinander verschmolzen und die Grundlage für das künftige Gerüst bildeten. Bald stellte sich heraus, dass das Baumaterial nicht reichen würde. In der Abenddämmerung — der Regen stürzte mittlerweile in Bächen herab — kroch der Beschützer abermals aus der Rakete und postierte sich vor der durchlöcherten Wand. Was nun folgte, war ein unheimliches Schauspiel. Die quadratischen Sonnen explodierten in der Dunkelheit mit grellem Schein, das Getöse der nuklearen Detonationen vermischte sich mit dem dumpfen Widerhall der zu Boden stürzenden flammenden Glasbrocken. Dichte Rauch- und Dampfwolken schossen in die Höhe. Die Regenpfützen kochten und zischten. Der Regen siedete schon, bevor er die Erde erreichte. Hoch oben spiegelten sich die Blitze der Explosionen in Myriaden rosa, grüner und gelber Regenbogen wider. Der Beschützer, schwarz wie aus Kohle gehauen, wich in dem Zucken der Blitze zurück, drehte sich langsam auf der Stelle, hob den stumpfen Rüssel, und wieder erschütterten Donner und Grollen die Umgebung. „Das ist gut so“, brüllte der Ingenieur dem Koordinator ins Ohr. „Vielleicht schreckt sie eine solche Kanonade ab, und sie lassen uns in Ruhe. Wir brauchen noch mindestens zwei Tage.“ Sein schweißnasses Gesicht sah aus wie eine Quecksilbermaske, im Turm war es heiß wie in einem Ofen.

Als sie sich zur Ruhe begaben, gingen die Automaten wieder an die Arbeit und lärmten bis zum Morgen. Sie schleppten die Schläuche der Sandstrahlgebläse hinter sich her und polterten mit den Glasplatten. Der Regen sprühte und nieselte in klarstem, blendendem Blau auf die Schweißgeräte herab. Die Lastenklappe verschlang neue Behälter mit radioaktiven Überresten. Die parabolische Konstruktion hinter dem Heck der Rakete wuchs langsam höher, gleichzeitig fraßen sich der Lastenautomat und der Bagger unter dem Bauch des Raumschiffes beharrlich in den Hang hinein. Als sie im Morgengrauen aufstanden, war ein Teil des glasigen Baustoffs bereits zum Abstützen der Stellen draufgegangen. „Das war ein guter Einfall“, konstatierte der Koordinator. Sie saßen im Navigationsraum. Auf dem Tisch lagen ganze Stöße von technischen Zeichnungen. „Tatsächlich, wenn wir die Stützpfosten entfernten, könnte die Decke unter der Last der Rakete einstürzen und dabei auch die Automaten zertrümmern. Sie würden es bestimmt nicht schaffen, sich rechtzeitig aus der Grube zurückzuziehen.“

„Haben wir dann noch genug Energie für den Flug?“ fragte der Kybernetiker, der in der offenen Tür stand. „Für zehn Flüge! Außerdem können wir notfalls die radioaktiven Überreste annihilieren, die im Klarbecken untergebracht sind. Das wird nicht nötig sein.

Wir legen Wärmeleitungen in den Stollen, mit ihnen können wir die Temperatur dort genau regulieren. Wenn der Schmelzpunkt des Glases erreicht ist, sinken die Stützpfosten langsam in sich zusammen. Sollte das zu schnell gehen, können wir jederzeit eine Portion flüssige Luft in den Stollenspritzen. Auf diese Weise haben wir die Rakete bis zum Abend aus dem Sand gezogen. Dann folgt das Aufstellen in die Vertikale…“

„Das ist schon das nächste Kapitel“, fiel ihm der Ingenieur ins Wort. Um acht Uhr früh hatten sich die Wolken verzogen, die Sonne blitzte auf. Die riesige Walze des Raumschiffes, die bisher regungslos in dem Hang gesteckt hatte, bebte. Der Ingenieur überwachte mit Hilfe eines Theodolits das langsame Absinken des Hecks. Der Boden unter dem Bug des Schiffes war bereits tief unterhöhlt. An der Stelle, wo der Lehmhügel abgetragen war, stand ein Wald gläserner Säulen in beträchtlicher Entfernung von der Rakete, fast schon an der Mauer, die mit ihren vielen Löchern wie ein gläsernes Colosseum aussah. Menschen und Doppelts waren für die Dauer der Operation aus der Rakete evakuiert. Der Ingenieur erblickte in der Ferne die kleine Gestalt des Doktors, der einen großen Bogen um das Heck der Rakete machte. Aber das Bild drang nicht in sein Bewußtsein, die Beobachtung der Instrumente verlangte seine ganze Aufmerksamkeit. Nur eine dünne Erdschicht und das System der weich werdenden Grubenstempel trugen die Last der Rakete.

Achtzehn dicke Taue spannten sich von den Hecktüllen zu den Haken, die in die massiven Mauertrümmer eingeschmolzen waren. Der Ingenieur pries diese Mauer fast in den Himmel. Ohne sie hätte das Herunterlassen und Aufstellen des Raumschiffes viermal so lange gedauert. Durch ein ganzes Netz von Kabeln, die sich durch den Sand schlängelten, floß Strom in die Heizröhren im Innern des Stollens. Aus seiner Öffnung, dicht unter der Stelle, wo sich der Rumpf in den Hang gebohrt hatte, drang etwas Rauch. Träge, graugelbe Wolken krochen über den Boden, der nach dem nächtlichen Regen noch nicht getrocknet war. Das Heck senkte sich langsam. Wenn die Bewegung heftiger wurde, öffnete der Ingenieur die linken Klemmbügel des Apparats. Sofort sprühte flüssige Luft aus vier ringbewehrten Leitungen in den Stollen, und aus der Öffnung quollen mit Gedröhn schmutzigweiße Wolken.

Während der nächsten Schmelzphase des glasigen Stollengerüsts ruckte plötzlich der ganze Rumpf, die etwa hundert Meter lange Walze neigte sich mit knirschendem Stöhnen hintenüber, bevor der Ingenieur die Klemme betätigen konnte. Das Heck beschrieb im Bruchteil einer Sekunde einen Bogen von ungefähr vier Meter Länge, während sich der Bug des Projektils aus dem Hang riss und dabei einen ganzen Wall von Sand und Lehm hochschleuderte. Dann lag das Keramitungeheuer bewegungslos da; die Kabel und die Metallschläuche hatte es unter sich begraben, ein Schlauch war geborsten. Ein heulender Geysir flüssiger Luft schoss daraus hervor. „Sie liegt! Sie liegt!“ brüllte der Ingenieur. Er kam erst nach einer Weile wieder zu sich. Neben ihm stand der Doktor und sagte irgend etwas. „Wie? Was?“ stammelte der Ingenieur wie betäubt. „Es sieht tatsächlich so aus, als ob wir zurückkehren werden… nach Hause zurückkehren“, wiederholte der Doktor. Der Ingenieur blieb stumm. „Er wird leben“, fuhr der Doktor fort. „Wer? Von wem sprichst du?“ Da fiel es ihm wieder ein. Er vergewisserte sich noch einmal, dass die Rakete auch wirklich frei dalag. „Also was? Wird er mit uns fliegen?“ Er hatte es auf einmal eilig, er wollte so schnell wie möglich die Außenhaut der Raketenspitze untersuchen.

„Nein“, antwortete der Doktor und folgte dem Ingenieur ein paar Schritte, schien es sich aber dann anders überlegt zu haben und blieb zurück. Von der flüssigen Gasfontäne, die noch immer aus dem zerquetschten Rohr spritzte, war es sichtlich kühler geworden. Auf dem Rumpf tauchten kleine Gestalten auf. Eine davon verschwand. Kurz darauf sank die Fontäne in sich zusammen. Eine Weile spuckte das Rohr noch Schaum, von dem ein eisiger Hauch herüberwehte, bis auch der verschwand.

Plötzlich wurde es seltsam still. Der Doktor sah sich erstaunt um, als wüßte er nicht, wie er dorthin gelangt war, und ging dann langsam weiter. Die Rakete war nun aufgerichtet und stand senkrecht da.

Sie war weiß, weißer als die sonnigen Wolken, mit denen ihr zugespitzter Schnabel weit oben bereits zu wandern schien. Drei Tage, ausgefüllt mit schwerer Arbeit, lagen hinter ihnen. Alles war verladen.

Die große parabolische Schräge, zusammengeschweißt aus den Stücken der Mauer, die sie hatte einschließen sollen, zog sich den Hügelhang hinauf. Vier Männer standen achtzig Meter hoch überdem Boden in der offenen Luke. Sie blickten hinunter. Auf der graugelben Fläche waren zwei winzige Gestalten zu erkennen, eine etwas heller als die andere. Sie waren nur ein halbes Hundert Meter von den riesigen, gigantischen Säulen gleichenden Tüllen entfernt und rührten sich nicht.

„Warum gehen sie nicht weg?“ sagte der Physiker ungeduldig. „Wir werden nicht starten können.“

„Sie werden nicht weggehen“, antwortete der Doktor. „Was soll das bedeuten? Will er nicht, dass wir abfliegen?“ Der Doktor wusste, was das bedeutete, aber er schwieg. Die Sonne stand hoch am Himmel. Von Westen schwammen geballte Wolken heran. Wie aus dem Fenster eines hohen Turmes, der urplötzlich in der Einöde errichtet worden war, sahen sie von dem offenen Eingang aus die blau schimmernden Berge im Süden, die mit den Wolken vermischten Gipfel, die große Wüste im Westen, die sich Hunderte Kilometer weit in sonnenerhellten Dünenstreifen erstreckte, und den lilafarbenen Pelz der Wälder, die im Osten die Hänge bedeckten. Ein gewaltiger Raum breitete sich unter dem Firmament mit der kleinen, stechenden, im Zenit stehenden Sonne aus. Der Mauerkreis unten umgab die Rakete wie ein Spitzenschleier. Ihr Schatten glitt über ihn hinweg wie der Zeiger einer Titanensonnenuhr. Er näherte sich bereits den beiden kleinen Gestalten.

Im Osten krachte es. Die Luft antwortete mit schrillem Pfeifen, aus dem schwarzen Explosionstrichter schlug eine das Sonnenlicht überstrahlende Flamme. „Sieh da, etwas Neues“, sagte der Ingenieur. Ein zweites Grollen. Das unsichtbare Geschoß näherte sich heulend. Das höllische Pfeifen zielte auf sie, auf die Spitze der Rakete.

Die Erde stöhnte auf, eine Flamme schoss etwa fünfzig Meter vom Raumschiff entfernt in die Höhe.

Sie fühlten, wie die Erde schwankte. „Alle Mann auf die Plätze!“ befahl der Koordinator.

„Und die beiden?“ fragte der Chemiker ärgerlich mit einem Blick nach unten. Die Klappe schloss sich. Das Tosen war im Steuerraum nicht zu hören. Auf dem hinteren Bildschirm sah man feurige Büsche im Sand hochspringen. Die beiden hellen Punkte standen noch immer reglos zu Füßen der Rakete. „Gurte festschnallen!“ befahl der Koordinator. „Bereit?“

„Bereit“, murmelten alle der Reihe nach.

„Zwölf Uhr sieben. Fertig zum Start. Volle Fahrt!“

„Ich schalte die Säule ein“, meldete der Ingenieur.

„Die Kritische ist erreicht“, meldete der Physiker.

„Zirkulation normal“, meldete der Chemiker.

„Das Gravimeter ist auf der Achse“, meldete der Kybernetiker. Der Doktor starrte auf den hinteren Bildschirm.

„Sind sie da?“ fragte der Koordinator. Alle sahen ihn an. Diese Worte gehörten nicht zum Startritual.

„Sie sind da“, sagte der Doktor. Die Rakete wurde von einer nahen Explosionswelle erfaßt und erbebte.

„Start!“ kommandierte der Koordinator. Der Ingenieur setzte mit unbewegtem Gesicht die Triebwerke in Gang. Noch einmal waren ferne, schwache Detonationen zu hören. Sie schienen aus einer anderen Welt zu kommen, die mit der ihren nichts gemein hatte. Das Pfeifen wurde allmählich lauter, durchdringender. Alles schien sich darin aufzulösen, zu zerfließen. In einem sanften Wiegen fielen sie einer unbezwingbaren Kraft in die Arme.

„Wir stehen auf dem Feuer“, sagte der Ingenieur. Das bedeutete, dass sich die Rakete vom Bodenerhoben hatte undgerade so viel flammende Gase ausstieß, dass sie das eigene Gewicht hielt.

„Die normale Synergische“, befahl der Koordinator. „Wir folgen der normalen“, meldete der Kybernetiker, und die Nylonseile fingen an zu zittern. Die Stoßdämpfer glitten langsam nach hinten.

„Sauerstoff!“ rief der Doktor unwillkürlich, als sei er plötzlich erwacht, und biß in das elastische Mundstück. Zwölf Minuten später hatten sie die Edenatmosphäre verlassen. Ohne die Geschwindigkeit zu drosseln, entfernten sie sich in einer immer breiter werdenden Spirale in die interstellare Schwärze. Siebenhundertvierzig Lichter, Zeiger, Kontrollampen, Instrumen-tenskalen pulsten, zitterten, flimmerten und leuchteten im Steuerraum. Die Männer hatten die Gurte abgeschnallt, sie warfen die Karabinerverschlüsse und die Haken auf den Fußboden, traten an die Schalttafeln, legten fast ungläubig die Hände darauf, prüften, ob sich die Leitungen nicht erhitzten, ob nicht das Zischen eines Kurzschlusses zu hören sei, schnupperten argwöhnisch in der Luft, ob es nicht brenzlig roch, schauten auf die Bildschirme, musterten die Datenzeiger der astrodäsischen Rechenmaschinen — alles war so, wie es sein musste. Die Luft war rein, die Temperatur ausgeglichen, der Regler in einem Zustand, als hätte er sich nie in einen Haufen Splitter verwandelt. Im Navigationsraum beugten sich der Ingenieur und der Koordinator über die Sternenkarten.

Die Karten waren größer als der Tisch, an den Seiten hingen sie herab, waren stellenweise an den Rändern eingerissen. Schon lange war davon die Rede, dass im Navigationsraum ein größerer Tisch gebraucht wurde, weil man auf die Karten trete. Doch geändert hatte sich nichts.

„Hast du Eden gesehen?“ fragte der Ingenieur. Der Koordinator starrte ihn verständnislos an. „Was heißt, ob ich ihn gesehen habe?“ — „Jetzt, schau hin.“ Der Koordinator wandte sich um. Auf dem Bildschirm flammte ein gewaltiger opalener Tropfen, der die umliegenden Sterne auslöschte.

„Schön“, sagte der Ingenieur. „Wir waren von unserem Kurs abgewichen, weil er so schön war. Wir wollten nur über ihn hinwegfliegen.“

„Ja, wir wollten nur über ihn hinwegfliegen“, wiederholte der Koordinator. „Ein ausnehmend schöner Schein. Andere Planeten haben keinen so reinen. Die Erde ist einfach nur blau.“

„Sie sind also zurückgeblieben“, sagte der Koordinator nach einer Weile. „Ja. Er wollte es so.“

„Glaubst du?“

„Ich bin mir fast sicher. Er wollte, dass es durch uns geschah, nicht durch jene. Das war alles, was wir für ihn tun konnten.“ Eine Zeitlang sprach keiner ein Wort. Eden rückte immer ferner. „Wie schön!“

Der Koordinator blickte noch immer auf den Bildschirm. „Aber, weißt du, nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung gibt es noch schönere.“


Ende.

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