33

Zwei Tage nach der Vernichtung der Kriecher in den Matted Brakes griffen die Elfen die Föderationsarmee auf den Ebenen unterhalb des Tales von Rhenn an. Sie schlugen unmittelbar vor der Dämmerung zu, als das Licht schwach und der Schlaf in den Augen ihrer Feinde noch dicht war. Der Himmel war vom Regen, der die ganze Nacht angehalten hatte, bewölkt, die Luft roch feucht und kühl, und der Boden war durchnäßt und bewegte sich trügerisch unter den Füßen. Das Land ringsum war von einer tiefliegenden Nebeldecke erfüllt, die sich von den Westlandwäldern bis zum Sonnenaufgang erstreckte. Das Grasland wirkte wie eine gespensterhafte Unterwelt, Schatten bewegten sich im Nebel, der Himmel war schwarz und bedrohlich und drückte auf die Erde nieder, und die Geräusche erklangen gedämpft und undeutlich und ließen Dinge vermuten, die nicht da waren. Alles sah aus wie etwas anderes und wurde auch so empfunden. Der Zeitpunkt war wie geschaffen für die Elfen.

Sie hatten überhaupt nicht angreifen wollen. Sie hatten eine Verteidigung geplant, die am Tal von Rhenn beginnen und je nach Lage auf die Heimatstadt Arborlon zurückweichen sollte. Aber Barsimmon Oridio war am Tag zuvor angekommen. Seine Truppen hatten sich schließlich mit Wren Elessedil und der Vorhut vereinigt, hatten die Elfenarmee zum ersten Mal zu voller Stärke anwachsen lassen, und nachdem die Elfenkönigin und der Befehlshaber mit Desidio, Tiger Ty und einer Handvoll hochrangiger Befehlshaber der Hauptarmee beratschlagt hatten, war es beschlossene Sache, daß es keinen Sinn hatte, auf einen Föderationsangriff zu warten, weil das der Föderation nur zusätzliche Zeit verschaffte, weitere Verstärkung heranzuholen. Die beste Verteidigung schien ihnen jetzt ein unerwarteter Angriff zu sein. Es war Desidios Vorschlag, und Wren war überrascht, daß er diesen Vorschlag machte, und war sogar noch überraschter, daß Bar ihn annahm. Aber der alte Befehlshaber war kein Narr, wenn er auch von Natur aus konservativ und einseitig in seinem Handeln war. Er erkannte die Gefahren ihrer Situation und erkannte ausreichend deutlich, was notwendig war, um die zahlenmäßige Überlegenheit der Föderation auszugleichen. Wenn man ihn richtig durchführte, konnte ein Angriff erfolgreich sein. Er organisierte die Durchführung, überwachte sie persönlich und setzte sie in der Dämmerung des folgenden Tages in Gang.

Die Föderation war noch immer wachsam. Sie hatte jetzt den größten Teil der Ebenen überquert und beabsichtigte, die letzten wenigen Meilen nach Sonnenaufgang zurückzulegen und gegen Mittag in das Tal zu ziehen. Sie konnten innerhalb des Rhenn nicht in Sicherheit lagern, weil sie wußten, daß die Elfen dort ihre Verteidigungslinien errichtet hatten, und sie glaubten sicher sein zu können, daß die Elfen sie dort erwarten würden. Wieder einmal vermuteten sie falsch. Die Elfen krochen aus dem Wald im Westen heran, während es noch dunkel war, stellten ihre Bogenschützen in Dreierlinien an der Flanke des Feindes auf und dahinter ein Dutzend Reihen mit Fußsoldaten, die mit Speeren und Kurzschwertern bewaffnet waren. Eine zweite Einheit von Bogenschützen und Fußsoldaten sowie die gesamte Kavallerie wurden aus dem Tal hinaus gen Osten gesandt, um eine zweite Angriffslinie an der nordöstlichen Seite des Föderationslagers aufzustellen. Das alles geschah in absoluter Stille, denn die Elfen wandten die heimlichen Taktiken an, die sie auf Morrowindl sogar noch perfektioniert hatten: eine langsame, aber stetige Vorbereitung und die Zergliederung der Armee in Trupps und Patrouillen, die einzeln ausgesandt wurden und sich am Angriffspunkt wieder sammelten. Die Elfen hatten zehn Jahre lang unter Vorgaben wie diesen gekämpft. Sie wichen nicht zurück, und sie hatten keine Angst. Sie kämpften um ihr Leben, aber das taten sie schon seit langer Zeit.

Die Bogenschützen an der Westflanke griffen als erste an und ließen Pfeile auf das erwachende Lager herabregnen. Während die Föderationssoldaten aufsprangen, nach ihren Rüstungen und Waffen griffen und der Schlachtruf ertönte, gingen die Elfenjäger mit gesenkten Speeren vorwärts, kamen zwischen den Bogenschützen hervor und drangen ins feindliche Lager ein. Während sie sich ihren Weg durch das Handgemenge bahnten, lösten die Bogenschützen oberhalb der Föderation eine zweite Geschoßfront aus. Inzwischen waren die Südländer davon überzeugt, daß sie umzingelt waren, und versuchten sich auf allen Seiten zu verteidigen. Die Elfenkavallerie, ein relativ kleiner Trupp, kam aus dem Nebel herab, um die noch immer zerrüttete Föderationsabwehr noch mehr zu verwirren und zum Zurückweichen zu zwingen. Auf den Ebenen, auf denen die Föderation lagerte, war überall ein Meer kämpfender, wogender Körper zu sehen.

Die Elfen drängten im Angriff voran, so lange sie es konnten, ohne in Gefahr zu geraten, und wichen dann wieder in den Nebel und die Dunkelheit zurück. Barsimmon Oridio befehligte die Truppen auf der Westflanke selbst und Desidio die auf der Nordostseite. Wren Elessedil, Triss und ein Trupp der Bürgerwehr bewachten in den ziehenden Nebelschwaden von einem Vorsprung aus den Eingang des Tales. Faun saß mit großen Augen und zitternd auf Wrens Schulter, Stresa kundschaftete allein die Wälder westlich des Tals aus, und Tiger Ty war bei den Flugreitern, die als Reserveeinheit zurückgehalten wurden.

Der Angriff brach wie geplant ab, die Elfen verlagerten ihre Position, zogen Vorteil aus der Dunkelheit und aus der Verwirrung und formierten sich schnell neu. Sie hatten jetzt seit fast zwei Wochen in dem Tal gelagert, und ihre Kundschafter hatten das Terrain sorgfältig sondiert. Callahorn gehörte vielleicht der Föderation, aber die Elfen kannten diesen speziellen Teil des Landes besser als die Soldaten der Südlandarmee. Die Westflanke zog zur Front herum und die nordöstliche direkt nach Osten. Dann griffen sie erneut an, brachten die Bogenschützen dieses Mal auf Schußweite bis ins Zentrum der Gegner und sandten dann die Schwertkämpfer hinter ihnen her. Die Föderationsarmee wurde zurückgedrängt, und einige ihrer Soldaten begannen den Kampf abzubrechen und davonzulaufen. Die Mitte hielt stand, aber am Rand wurde die Armee systematisch vernichtet. Männer lagen verwundet und sterbend überall umher, und die Kommandokette des Südlandmolochs lag fast vollständig darnieder.

Es hätte dann und dort enden können, als die Frontreihen der Föderationsarmee verstört über die Ebenen zurückwichen, wenn nicht eine plötzliche Wendung in dem Kampf eingetreten wäre, wie sie anscheinend immer eintritt, um den Ausgang zu beeinflussen. Als Desidio am zentralen Punkt des Angriffs von der Ostflanke her voranritt, wurde sein Pferd unter ihm weggeschossen, und er ging in einem Gewirr von Körpern zu Boden. Sein Arm und sein Bein waren gebrochen, und er war unter dem Pferd gefangen. Er mußte hilflos zusehen, wie die vordersten Reihen der Föderationsarmee, durch seinen Fall ermutigt, einen Gegenangriff starteten. Die Angegriffenen drängten auf den verletzten Elfenbefehlshaber zu, und die Elfen gaben ihren Plan auf und eilten zu ihm, um ihn zu schützen. Sie befreiten ihn von seinem Pferd und brachten ihn in Sicherheit, aber dadurch brach ihre gesamte Front zusammen.

Als die Föderationssoldaten Siegesrufe von der rechten Flanke hörten, gruppierten sie sich neu und führten einen Gegenangriff auf Barsimmon Oridio. Ohne zweite Front war der Elfenbefehlshaber gezwungen, ebenfalls zurückzuweichen oder überwältigt zu werden. Die Föderation wogte auf ihn zu, zwar noch immer unorganisiert, aber sie zählten Tausende und gewannen schon durch das bloße Gewicht ihrer Anzahl an Boden. Als es schien, als könne Bar die Sicherheit des Rhenn nicht mehr erreichen, ohne sich stellen und kämpfen zu müssen, sandte Wren die Flugreiter ins Gefecht. Sie strichen aus den Wolken herab, brachten die vordersten Reihen des Föderationsangriffs durcheinander und hielten sie lange genug auf, bis der Großteil von Bars Truppe entkommen war.

Der Angriff brach ab, als beide Armeen innehielten, um sich erneut zu formieren. Die Elfen verschanzten sich erneut an den Hängen und an der Vorderseite des Rhenn, um dort auf den Vorstoß der Föderation zu warten. Die Föderation überführte ihre Toten und Verwundeten zur Rückfront und begann ihre Soldaten für einen massiven Angriff zu sammeln. Der Plan war einfach. Sie beabsichtigten, direkt auf die Elfen loszustürmen und sie zu überrennen. Es gab für sie keinen Grund zu der Annahme, daß sie damit keinen Erfolg haben würden.

Wren besuchte Desidio und sah, daß er große Schmerzen hatte. Sein Bein und sein Arm waren gesplittert und bandagiert, und sein Gesicht war aschfahl. Er war wütend darüber, daß er verletzt worden war, und bat darum, zu seinen Soldaten zurückgebracht zu werden. Sie verweigerte ihm diesen Wunsch und sandte ihn, unterstützt durch die Befehle Barsimmon Oridios, zurück nach Arborlon, womit seine Beteiligung an der Schlacht beendet war.

Bar versuchte sie zu beeindrucken und verkündete, daß ein Befehlshaber namens Ebben Cruenal Desidios Kommando übernehmen würde. Wren nickte wortlos. Sie beide wußten, daß niemand Desidio angemessen ersetzen konnte.

Der Tag wurde heller, aber die Wolken und der Nebel blieben und ließen das Land in feuchtheißer Schwüle zurück. Der Morgen schritt dem Mittag zu. Die Elfen sandten Kundschafter nach Osten und nach Westen, um gegen Angriffe von den Flanken gewappnet zu sein, aber es waren keine geplant. Die Föderation war anscheinend zuversichtlich, daß ein direkter Angriff erfolgreich sein würde.

Der Angriff erfolgte kurz nach Mittag. Die Trommeln dröhnten aus dem Nebel, während die Armee vorrückte: Woge auf Woge schwarz und scharlachrot gekleideter Soldaten, die in ihrem Rhythmus marschierten und glänzende Speere und Schwerter bereithielten. Bogenschützen bewachten die Flanken, und Kavalleriepatrouillen sollten an den Außenrändern vor Überraschungsangriffen warnen. Aber die Elfen hatten nicht so viele Leute, daß sie ihre Kräfte hätten aufteilen können, und sie waren gezwungen, sich auf die Verteidigung des Rhenn zu konzentrieren. Die Föderation marschierte in das Tal hinein, als interessiere es sie nicht, was dort auf sie wartete, und marschierte direkt in die Fänge der Elfenstreitmacht hinein.

Die Elfen schlugen von allen Seiten zu. Oberhalb verschanzt brachten die Bogenschützen mit ihren Angriffen aus der Deckung die Linien der Föderation durcheinander, bis die Südländer gezwungen waren, über die Körper ihrer eigenen Männer hinwegzumarschieren. Aber sie drangen noch immer weiter voran, hieben sich ihren Weg vorwärts und schirmten ihren Vorstoß durch ihre Bogenschützen ab. Wren beobachtete die Szene mit Bar und Triss vom Eingang des Tales aus, lauschte auf die Schreie und Rufe der kämpfenden Männer und auf das Zusammenschlagen ihrer Waffen und Rüstungen. Sie hatte noch niemals etwas wie dieses erlebt und schrak vor dem Zorn des Kampfes zurück. Bar stand abseits, beobachtete nüchtern, übergab Befehle an Boten, die diese dann übermittelten, und tauschte mit Mitgliedern seines Stabs und gelegentlich auch mit Triss Beobachtungen aus. Die Elfen hatten viele Kämpfe gesehen und an vielen Schlachten teilgenommen. Dies war nichts Neues für sie. Aber für Wren war es, als stünde sie inmitten eines Mahlstroms.

Während der Kampf voranschritt, stellte sie fest, daß sie daran dachte, wie sinnlos das alles war. Die Föderation versuchte die Elfen zu vernichten, weil sie glaubte, daß Elfenmagie die Vier Länder zerstörte. Obwohl die Elfenmagie tatsächlich schuld war, war sie aber nicht von den beschuldigten Elfen heraufbeschworen worden, sondern von den Abtrünnigen. Dennoch waren die beschuldigten Elfen an erster Stelle dafür verantwortlich, denn sie hatten es zugelassen, daß ihre Magie umgewandelt wurde und die Schattenwesen entstanden waren. Und die Föderation war dafür verantwortlich, daß sie die Hexenjagd fortgesetzt hatte und alle Schuld den Westlandelfen zuschieben wollte. Irrtümer und Widersprüche, Mißverständnisse und falscher Glaube – sie verflochten sich miteinander, um den Wahnsinn möglich zu machen. Die Vernunft hatte hier keinen Platz, dachte Wren angewidert. Aber andererseits war das im Krieg wohl selten der Fall.

Einige Zeit hielten die Elfen stand, und der Föderationsangriff kam zum Stillstand. Aber allmählich begann der Druck so vieler auf so wenige zum Tragen zu kommen, und die Elfen wurden zurückgedrängt, zuerst an den Hängen des Tals und dann auch auf seinem Grund. Sie wichen widerwillig, aber stetig zurück. Die Angreifer begannen sie zusammenzuschieben wie Blätter vor einem Besen. Bar setzte seine letzten Reserven ein und ging, um sich dem Kampf anzuschließen. Triss sandte den Hauptteil der Bürgerwehr zu einer Position auf den Hängen mehrere hundert Meter unterhalb der Stelle, an der er mit Wren stand. Seine Befehle waren einfach. Es sollte keinen Rückzug geben, bis er es befahl. Die Bürgerwehr würde standhalten und notfalls auch sterben, um die Königin zu beschützen.

Über ihnen trugen die Flugreiter mit ihren Rocks Holz- und Steinblöcke zum Abwurf über das Zentrum der Föderationsreihen. Der Schaden war fürchterlich, aber die feindlichen Bogenschützen hatten zwei der riesigen Vögel verwundet, und die anderen wurden dadurch abgeschreckt. Aus dem Nebel im Süden marschierte weitere Verstärkung für die Südarmee heran. Es waren einfach zu viele, dachte Wren bedrückt. Zu viele, um sie aufhalten zu können.

Sie hatte sich damit einverstanden erklärt, sich aus dem Kampf herauszuhalten und die Elfensteine für den Zeitpunkt aufzubewahren, wenn sie am dringendsten benötigt würden, entweder gegen die Kriecher oder gegen die Schattenwesen oder gegen alles andere, was die dunkle Magie vielleicht heraufbeschwor. Bisher war nichts Derartiges an dem Föderationsangriff beteiligt. Sogar die schwarzgekleideten Sucher hatten sich nicht gezeigt. Es schien, als spürten sie, daß sie nicht gebraucht wurden und daß das Heer gut allein zurechtkam. Es schien, als hätten sie recht.

Der Nachmittag schritt mit betäubender Langsamkeit voran. Die Föderationsarmee hielt jetzt den Eingang des Tales besetzt und bewegte sich stetig voran. Alle Bemühungen, ihr Voranschreiten zu verzögern, waren fehlgeschlagen. Die Elfen wichen vor ihr zurück. Sie waren erheblich in der Minderheit, waren verzweifelt, erschöpft und kämpften überwiegend aus heißer Wut. Wren beobachtete, wie die schwarzen und scharlachroten Horden näher herandrängten, und ihre Hand schloß sich über dem Beutel mit den Elfensteinen und zog ihn hervor. Sie hatte gehofft, die Steine nicht benutzen zu müssen. Sie war sich selbst jetzt nicht einmal sicher, daß sie es konnte. Dies waren keine Kriecher, die sie vernichten würde, es waren Menschen. Es kam ihr falsch vor, die Magie gegen Menschen einzusetzen. Es schien ihr skrupellos. Die Elfensteine zu gebrauchen entzog ihr Stärke und Willenskraft. Sie wußte dies von ihren Begegnungen mit Schattenwesen hier und auf Morrowindl. Aber sie zu gebrauchen, entzog ihr auch Menschlichkeit und lieferte sie jedesmal einer Seite ihres Wesens aus, die sie niemals wieder sie selbst sein lassen wollte. Tötungen jeder Art bewirkten dies, aber es war sicherlich noch schlimmer, wenn sie gezwungen war, menschliche Wesen zu töten.

Triss trat neben sie. »Steckt sie ein, Mylady«, sagte er ruhig. »Ihr müßt sie nicht benutzen.«

Es war, als hätte er ihre Gedanken gelesen, aber so war es zwischen ihnen, so war es seit Morrowindl.

»Ich kann die Elfen nicht verlieren lassen«, flüsterte sie.

»Ihr könnt ihnen auch nicht zum Sieg verhelfen, wenn Ihr Euch selbst verliert.« Er legte seine Hand über ihre. »Steckt sie ein. Die Dämmerung bricht herein. Vielleicht können wir so lange durchhalten.«

Er erwähnte nicht, was geschehen würde, wenn der Morgen käme und die riesige Armee sie erneut angreifen würde, aber sie wußte, daß es keinen Sinn hatte, sich damit zu beschäftigen. Sie tat, was er vorgeschlagen hatte. Sie steckte die Elfensteine wieder ein.

Unter ihnen hatte der Kampf an Heftigkeit zugenommen. An manchen Stellen brachen die Föderationssoldaten durch die Elfenlinien hindurch.

»Ich muß die Bürgerwehr hinabschicken, um ihnen zu helfen«, sagte Triss schnell und wandte sich bereits zum Gehen. »Wartet hier auf mich.« Er rief den Angehörigen der Bürgerwehr, die sie umstanden, um sie zu beschützen, etwas zu und eilte dann schnell den Hang hinab und außer Sicht.

Wren stand da und sah auf das Gemetzel unter ihr hinab. Sie war jetzt mit Faun und acht Beschützern allein. Allein auf einer Insel der Ruhe, während rund um sie herum die See tobte. Sie haßte, was sie sah. Sie haßte, daß es geschah. Wenn sie dies überlebte, so schwor sie sich, würde sie den Rest ihres Lebens damit verbringen, die Elfentradition des Heilens wieder neu zu erwecken und die Inhaber dieser Fähigkeit zurück in die Vier Länder und zu den anderen Rassen zu bringen.

Faun regte sich auf ihrer Schulter, rieb sich an ihrer Wange. »Ruhig, ruhig, Kleiner«, flüsterte sie tröstend. »Es ist in Ordnung.«

Das Tal war überspült von Männern, die an den Hängen und auf dem Talboden vor- und zurückwogten, und die Kampfgeräusche waren lauter geworden. Sie suchte den Himmel im Westen nach Anzeichen der herannahenden Dunkelheit ab, die den Kampf beenden würde, aber sie war noch immer zu fern, um Hoffnung bewirken zu können. Die Elfen konnten bis dahin nicht durchhalten, dachte sie düster. Sie würden nicht überleben.

»So weit sind wir gekommen, um jetzt zu unterliegen«, murmelte sie sich selbst so leise zu, daß nur Faun es hören konnte. Der Baumschreier schnatterte leise. »Das ist nicht fair. Das ist nicht...«

Dann stieß Faun einen Warnschrei aus, und sie wirbelte herum und sah eine Woge schwarzgekleideter Sucher aus der Deckung hinter ihr hervorbrechen und aus dem Wald strömen, wo die Schatten und der Nebel die tiefste Dunkelheit bewirkten. Die Sucher kamen schnell heran und marschierten eindeutig auf sie zu. Ihre Waffen glitzerten gefährlich in dem Halblicht, und die Wolfskopfembleme auf ihrer Brust schimmerten. Die Bürgerwehr eilte zu ihrer Verteidigung und sprang heran, um die Angreifer aufzuhalten. Aber die Sucher waren schnell und gnadenlos, töteten die Elfen fast so schnell, wie sie sie erreichten. Warnschreie erklangen, Hilferufe für jene unten im Tal, aber die Kampfgeräusche erstickten sie vollständig.

Wren geriet in Panik. Sechs Angehörige der Bürgerwehr waren gefallen, und den letzten stand dasselbe Schicksal bevor. Die Sucher mußten sich an den Kundschaftern vorbei in den dichten Wald geschlichen haben, um zu ihr zu gelangen. Sie war auf drei Seiten umzingelt, und der Kreis schloß sich. Es gab keinen Zweifel, was geschehen würde, wenn sie sie erst einmal in der Falle hatten. Sie hatten sie einmal verloren. Das würden sie nicht erneut riskieren.

Sie wandte sich um und wollte fliehen, strauchelte, stolperte und fiel hin. Die Sucher hatten den letzten Angehörigen der Bürgerwehr getötet und kamen auf sie zu. Sie war jetzt allein. Faun sprang mit einem Satz zischend von ihrer Schulter. Sie griff in ihre Tunika nach dem Beutel mit den Elfensteinen, ihre Finger schlössen sich darum, zogen ihn hervor und hoben ihn hoch. Alles dauerte so lange. Sie versuchte zu atmen und stellte fest, daß ihre Kehle wie zugefroren war. Klingen wurden von ihr gehoben, fuhren aufwärts, während die Sucher auf sie zukamen. Sie taumelte rückwärts durch das hohe Gras, während sie sich anstrengte, die Elfensteine aus dem Beutel herauszubekommen. Nein! Nein! Sie konnte sich nicht schnell genug bewegen. Sie war in geschmolzenes Erz geworfen worden und kühlte zu Eisen ab. Sie war betäubt. Rote Augen glühten in den Kapuzen der Angreifer. Wie hatten sie hindurchgelangen können? Wie hatte das geschehen können?

Ihre Hände rissen in Panik das Zugband entzwei, stießen wild hinein und stießen tiefer hinein. Der erste der Sucher erreichte sie, und sie trat mit ihrem Stiefel zu und stieß ihn beiseite. Sie ergriff den Beutel, stand taumelnd auf und trat den restlichen Suchern unbewaffnet entgegen. Sie schrie zornig, gab den Gedanken auf, die Elfensteine einzusetzen, schloß ihre Hand über dem Lederbeutel zu einer Faust und schwang sie dem nächststehenden Sucher entgegen, wehrte so seine Klinge von ihrer Kehle ab, so daß sie an ihrem Arm entlangschnitt, ihren Umhang zerriß und Blut hervorrinnen ließ. Sie fuhr herum und trat zu, und ein weiterer ihrer Angreifer flog beiseite. Aber es waren zu viele, um sie allein besiegen zu können.

Auf einmal sprang Faun in den Kampf, warf seinen kleinen Körper dem nächststehenden Angreifer entgegen, zog und zerrte und riß mit seinen Klauen und Zähnen an ihm. Der dahinter herannahende Sucher verlangsamte seinen Schritt. Er war nicht sicher, was sich ihnen entgegenstellte, denn er war von dem plötzlichen Auftauchen des Baumschreiers überrascht worden. Wren stolperte erneut rückwärts und kämpfte sich hoch. Faun! versuchte sie zu rufen, aber ihre Kehle schnürte sich bei dem Schrei zusammen. Der Sucher, den Faun angegriffen hatte, schlug wild um sich, riß den kleinen Körper von seinem Gesicht fort und warf ihn zu Boden. »Nein!« heulte Wren und hob den Arm, der die Elfensteine hielt. Faun traf auf dem felsigen Untergrund auf, und der Sucher senkte den Stiefel. Das Geräusch brechender Knochen und ein schriller Schrei erklangen.

Und damit zersprang alles in Wren Elessedil, ein Wirbelwind des Zorns und der Qual und der Verzweiflung löste sich, und aus seinem Kern erhob sich die Magie der Elfensteine. Sie brach in ihrer Faust aus, zerriß den Lederbeutel, drang zwischen ihren Fingern hindurch, wie Wasser durch Sand rinnt. Sie erwischte den Sucher, der über Faun stand, und verschlang ihn. Sie raste auf die anderen zu, die sie zu erreichen versuchten, und prallte in sie hinein. Sie gingen zu Boden, als wären sie aus Papier, als würden sie zerschnitten und wieder zuammengeklebt und an Fäden aufgehängt, um der Kraft und Gewalt eines Sturmwinds zu widerstehen. Einige gelangten vorbei und erreichten sie, Hände ergriffen sie und rissen an ihr. Einige hielten sie fest und wollten sie überwältigen. Aber Wren war über ihre Macht, über ihre Empfindungen, über alles außer über die Elfenmagie hinausgelangt, während sie durch sie hindurchrauschte. Sie war ihrem Zweck übergeben worden, und nichts konnte sie zurückbringen, bis dieser Zweck erfüllt war. Die Magie fuhr erneut herum, um jene zu erwidern, die sie ergriffen hatten, und riß sie fort wie lose Fäden ihrer Kleidung. Sie wandte sich um, um sie zu vernichten, und sie verbrannten in den Flammen der Magie wie Laub. Sie gab keinen Laut von sich, während sie sie bekämpfte, all ihre Worte waren vergessen, und ihr Gesicht war zu einer Todesmaske verzerrt. Die Schlacht zwischen den Elfen und der Föderation verschwand in einem roten Nebel. Sie konnte über den Boden hinaus, auf dem sie kämpfte, nichts mehr sehen. Sucher griffen sie an und starben in dem Feuer der Elfensteinmagie, und der Geruch ihrer Asche war alles, was sie wahrnahm.

Dann war sie plötzlich wieder allein, und die letzten der Sucher liefen auf den Wald zu. Sie flohen voller Entsetzen, und ihre zerrissenen schwarzen Gewänder rauchten. Wren sammelte das Feuer ein und ließ es hinter ihnen herschießen, und damit schwand ihre letzte Kraft. Ihr Arm sank herab, und das Feuer erlosch. Sie fiel auf die Knie. Das Gras um sie herum war schwarz verkohlt und stank. Zwischen den Körpern der Angehörigen der Bürgerwehr waren überall Aschehaufen zu sehen. Sie hörte Rufe von den Hängen unter ihr, wo Triss und der Hauptteil der Bürgerwehr ihre Posten bezogen hatten, um der Föderation entgegenzutreten. Berührt mich nicht, sagte sie als Antwort. Kommt mir nicht nahe. Aber sie war nicht sicher, ob sie die Worte ausgesprochen hatte oder nicht. Die Rufe schwollen an und hallten jetzt von überall rund um das Tal von Rhenn her wider. Etwas geschah. Etwas Unerwartetes.

Sie stand mühsam wieder auf und schaute durch das schwindende, dunstige Licht hinaus.

Weit im Osten, jenseits der Stelle, an der sich der Eingang des Tals zum Grasland hin öffnete, war eine neue Armee erschienen. Sie kam eilig heran, die Kämpfer schwenkten ihre Waffen und stießen Kampfschreie aus. Sie kamen fast alle zu Fuß und waren mit Schwertern und Bogen bewaffnet. Sie schlössen sich aber nicht den Föderationskräften an, wie sie zunächst geglaubt hatte, sondern griffen die Südländer statt dessen mit unvergleichlichem Zorn und unvergleichlicher Entschlossenheit an und drängten in sie hinein wie ein Fels in feuchte Erde. Die Schreie, die sie ausstießen, waren selbst dort noch zu hören, wo sie stand. Geäch- tete! Geächtete! Sie rollten über den Wahnsinn hinweg wie ein frischer Wind über einen Sumpf. Und dann kam über die Hänge, an denen die Elfen gestanden hatten und gestorben waren und rückwärts getrieben worden waren, Woge um Woge schwer gerüsteter Körper heran, die wie aus Stein gemeißelt schienen. Felsentrolle, die acht Fuß lange Speere, Streitkolben, Äxte und große eisenbeschlagene Schilde mit sich trugen, marschierten im Gleichschritt aus der Dämmerung heran und in die Reihen der Föderation hinein.

Wie ein Mann zusammenstehend, fuhren die Geächteten und die Felsentrolle in die Südlandarmee hinein. Mehrere Minuten lang hielten die Föderationssoldaten stand, da sie ihren Angreifern an Zahl noch immer weit überlegen waren. Aber dieser neuerliche Ansturm war zuviel für Männer, die bereits seit Sonnenaufgang gekämpft hatten. Die Südlandsoldaten fielen zunächst nur langsam zurück, dann schneller, und schließlich wandten sie sich um und liefen davon. Das Tal von Rhenn leerte sich von Südlandtruppen, als der Föderationsangriff zerfiel. Elfen beteiligten sich an der Verfolgung, und die vereinten Armeen der Geächteten, der Felsentrolle und der Elfen trieben die Masse der Föderierten zurück in den Nebel und die Dämmerung im Süden und hinterließen erneut Spuren der Vernichtung, tränkten den Boden erneut mit Blut.

Wren wandte sich um, um Faun zu suchen. Sie hörte, wie Triss nach ihr rief, während er den Hang hinter ihr heraufkam, hörte auch die Geräusche der Bürgerwehr, die ihn begleitete. Sie antwortete nicht. Sie stieß die Elfensteine in ihre Tunikatasche, als wären sie mit der Pest belegt, und ließ sie dort, die Hände noch immer vom Feuer der Magie kribbelnd, ihr Geist noch immer erfüllt von einem seltsamen Brummen. Faun lag zertreten inmitten von Aschehaufen. Überall war Blut. Wren kniete sich neben den Baumschreier und hob die zerschmetterte Gestalt in ihre Hände.

Sie hielt das kleine Wesen noch immer geborgen, als Triss und die Bürgerwehr sie schließlich erreichten. Sie schaute nicht auf. Sie konnte es nicht erklären, aber sie hatte das Gefühl, als berge sie das ganze Elfenvolk.

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