9

Morgan verbrachte den Rest des Tages in der Küche bei einer alten Frau, die hergekommen war, um das Kochen zu übernehmen, aber die meiste Zeit damit verbrachte, Bier aus einer Metallflasche zu trinken und Essen aus den Töpfen zu stehlen. Die alte Frau gönnte ihm kaum einen Blick und auch dann nur lange genug, um etwas Unverständliches über seltsame Männer zu murmeln, so daß er weitgehend sich selbst überlassen war. Er nahm in einem der hinteren Räume in einer alten Wanne ein Bad (weil er es wollte und nicht weil Matty Roh es vorgeschlagen hatte, sagte er sich), nachdem er genug dampfendes Wasser in über dem Feuer erhitzten Eimern herangetragen hatte, um darin untertauchen zu können. Er streckte sich eine Weile lang in der Wanne aus, ließ mehr als nur Schmutz und Staub fortsickern und blieb noch lange, nachdem das Wasser abgekühlt war, darin liegen.

Als das Whistledown geöffnet wurde, verließ er die Küche und ging in den Hauptraum hinaus, um sich umzusehen. Er stand an der Theke und beobachtete, wie die Bewohner Varfleets kamen und gingen. Die Menge war gut angezogen, sowohl Männer als auch Frauen, und es wurde sofort deutlich, daß das Whistledown nicht das Wirtshaus der Arbeiter war. Mehrere der Tische waren von Föderationssoldaten besetzt, einige waren auch mit ihren Ehefrauen oder Gefährtinnen gekommen. Gespräch und Gelächter erklangen gedämpft, und niemand war besonders ungestüm. Ein- oder zweimal hielten Soldaten der Föderationspatrouillen lange genug inne, um einen schnellen Blick in das Wirtshaus zu werfen, gingen dann aber weiter. Ein kräftiger Bursche mit lockigem, dunklem Haar zapfte Bier aus den Fässern, und eine Bedienung trug Tabletts mit dem schäumenden Gebräu zu den Tischen.

Auch Matty Roh arbeitete, obwohl Morgan nicht sofort klar wurde, was ihre Aufgabe war. Manchmal fegte sie den Boden, manchmal räumte sie Tische ab, und gelegentlich ging sie einfach nur umher und rückte Dinge gerade. Er beobachtete sie eine Zeitlang, bis er erkannte, daß sie in Wirklichkeit die Unterhaltungen der Wirtshausgäste belauschte. Sie war immer beschäftigt und schien niemals herumzustehen oder länger als einen Moment an einem Platz zu sein. Ihre Gegenwart war äußerst unauffällig, und Morgan konnte nicht sagen, ob jemand erkannte, daß sie ein Mädchen war oder nicht, aber auf jeden Fall beachteten sie sie kaum.

Nach einiger Zeit trat sie mit einem Tablett voller leerer Gläser an die Theke und stellte sich neben ihn. Während sie nach einem frischen Geschirrtuch griff, sagte sie: »Ihr steht zu auffällig hier herum. Geht zurück in die Küche.« Und dann wandte sie sich wieder dem Gastraum zu.

Obwohl ihn dies verwirrte, tat er dennoch, was sie gesagt hatte.

Um Mitternacht schloß das Whistledown. Morgan half beim Aufräumen, und schließlich sagten die alte Köchin und der Bursche mit dem dunklen Haar gute Nacht und gingen durch die Hintertür hinaus. Matty Roh blies die Lampen im Gastraum aus, überprüfte die Schlösser an den Türen und kam zurück in die Küche. Morgan wartete an dem kleinen Tisch auf sie, und sie kam herüber und setzte sich ihm gegenüber.

»Was habt Ihr also heute abend erfahren?« fragte er, halb im Spaß. »Irgend etwas Nützliches?«

Sie sah ihn kühl an. »Ich habe beschlossen, Euch zu vertrauen«, verkündete sie.

Sein Lächeln verblaßte. »Danke.«

»Denn wenn Ihr nicht der seid, der Ihr zu sein behauptet, dann seid Ihr der schlechteste Föderationsspion, den ich jemals gesehen habe.«

Er kreuzte abwehrend die Arme. »Vergeßt den Dank. Ich nehme ihn zurück.«

»Es gibt ein Gerücht«, sagte sie, »daß die Föderation Padishar in Tyrsis gefangengenommen hat.« Die kobaltblauen Augen ruhten unbewegt auf ihm. »Es hat etwas mit einem Gefängnisausbruch zu tun. Ich habe einen Föderationshauptmann darüber sprechen hören. Sie behaupten, daß sie ihn haben.«

Morgan dachte einen Moment lang darüber nach. »Padishar ist schwer zu fangen. Vielleicht ist es wirklich nur ein Gerücht.«

Sie nickte. »Vielleicht. Es ist noch gar nicht so lange her, daß sie behauptet haben, sie hätten ihn am Jut getötet. Sie sagten, die Bewegung sei erledigt.« Sie hielt inne. »Wir werden die Wahrheit auf jeden Fall am Firerim Reach erfahren.«

»Wir werden hingehen?« fragte Morgan schnell.

»Wir werden hingehen.« Sie erhob sich. »Helft mir, ein wenig Proviant einzupacken. Ich werde uns einige Decken holen. Wir werden hinausschlüpfen, bevor es hell wird. Es ist besser, wenn man uns nicht sieht, wenn wir gehen.«

Er erhob sich und ging mit ihr zur Speisekammer hinüber. »Was ist mit dem Wirtshaus?« fragte er. »Muß sich nicht jemand darum kümmern?«

»Das Wirtshaus wird geschlossen bleiben, bis ich zurückkomme.«

Er schaute von dem Laib Brot, den er gerade in einen Sack stecken wollte, auf. »Ihr habt mich belogen, nicht wahr? Ihr seid die Besitzerin.«

Sie begegnete seinem Blick und hielt ihm stand. »Versucht einmal, nicht so einfältig zu sein, Hochländer. Ich habe Euch nicht belogen. Ich bin die Verwalterin, nicht die Besitzerin. Der Besitzer ist Padishar Creel.«

Sie wurden damit fertig, Vorräte und Ausrüstung zum Schlafen zusammenzupacken, banden sich alles auf den Rücken und traten durch die Hintertür in die Nacht hinaus. Die Luft war warm und von den Gerüchen der Stadt erfüllt, und sie eilten leere Straßen und Gassen hinab und achteten sehr genau auf Föderationspatrouillen. Das Mädchen war so still wie ein Geist, eine messerdünne Gestalt, die weich durch die Gebäudeschatten hindurchschnitt. Morgan stellte fest, daß sie das Schwert trug, das sie unter der Theke verborgen gehalten hatte. Sie hatte die schmale Klinge mit ihrer übrigen Ausrüstung auf den Rücken gebunden. Er fragte sich, ob sie wohl auch ihren Besen mitgenommen hatte. Zumindest hatte sie ihre seltsamen Schuhe zurückgelassen und sie durch brauchbarere Stiefel ersetzt.

Sie entfernten sich schnell von der Stadt und zogen gen Norden zum Mermidon, den sie an einer seichten Stelle überquerten, bevor sie sich ostwärts wandten. Sie folgten dem Grat der Drachenzähne, und bei Tagesanbruch zogen sie bereits wieder nördlich über den Rabb. Sie marschierten bis zum Sonnenuntergang stetig weiter und hielten mittags nur gerade lange genug inne, um etwas zu essen und die schlimmste Mittagshitze zu umgehen. Die Ebenen waren staubig und trocken und bar allen Lebens, und die Reise verlief ereignislos. Das Mädchen sprach wenig, und Morgan war es zufrieden, die Dinge so zu belassen.

Bei Sonnenuntergang errichteten sie ihr Lager in der Nähe der Drachenzähne an einem Nebenfluß des Rabb und ließen sich in einem Eschenhain nieder, der sich die Felsen hinaufzog wie Soldaten auf dem Marsch. Sie aßen ihre Abendmahlzeit, während die Sonne hinter den Bergen verschwand, eine dunstige Mischung aus Rot und Gold über die Ebenen warf und mit dem Himmel verschmolz. Als sie fertig waren, saßen sie da und beobachteten, wie sich die Dunkelheit vertiefte und das Wasser des Flusses im Licht des Mondes und der Sterne silbern schimmerte.

»Padishar hat mir erzählt, daß Ihr ihm das Leben gerettet habt«, sagte das Mädchen nach einiger Zeit.

Sie hatte seit dem Essen kein Wort mehr gesprochen. Überrascht von der Plötzlichkeit ihrer Erklärung schaute Morgan zu ihr hinüber. Sie beobachtete ihn, und ihre seltsamen blauen Augen blieben unergründlich.

»Ich habe dabei auch mein eigenes gerettet«, erwiderte er, »so daß es keine vollständig selbstlose Tat war.«

Sie kreuzte ihre Arme. »Er sagte, ich solle auf Euch aufpassen und gut für Euch sorgen. Er sagte, ich würde Euch erkennen, wenn ich Euch sähe.«

Ihr Gesichtsausdruck änderte sich niemals. Morgan grinste wider Willen. »Nun, er macht Fehler wie jeder andere auch.« Er wartete auf eine Antwort und als keine erfolgte, sagte er ein wenig überheblich: »Ihr glaubt es vielleicht nicht, aber ich kann recht gut auf mich selbst aufpassen.«

Sie schaute fort und nahm eine bequemere Haltung ein. Ihre Augen schimmerten im Sternenlicht. »Wie ist es dort, wo Ihr herkommt?«

Er zögerte verwirrt. »Was meint Ihr?«

»Das Hochland, wie ist es?«

Er glaubte einen Moment lang, daß sie ihn verspotten wolle, entschied dann aber, daß dies nicht der Fall war. Er atmete tief durch, streckte sich aus und erinnerte sich. »Es ist die wunderbarste Landschaft in den Vier Ländern«, sagte er und fuhr damit fort, sie in allen Einzelheiten zu beschreiben – die Hügel mit ihren Teppichen aus blauen, lavendelfarbenen und gelben Gräsern und Blumen, die Ströme, die in der Morgendämmerung eiskalt und in der Abenddämmerung blutrot werden, den Nebel, der mit dem Jahreszeitenwechsel kommt und geht, die Wälder und Wiesen, das Gefühl von Frieden und Zeitlosigkeit. Dem Hochland gehörte sein Herz, fast noch mehr seit seiner Abreise vor einigen Wochen. Das erinnerte ihn wieder daran, wieviel ihm die Heimat bedeutete, obwohl sie es jetzt in Wirklichkeit gar nicht mehr war, nachdem die Föderation sie besetzt hielt – obwohl sie in Wahrheit, so dachte er, dennoch noch immer mehr seine als deren Heimat war, denn er hatte das Gefühl von ihr in seinem Geist bewahrt, und ihre Geschichte lag ihm im Blut, und das würde für sie niemals gelten.

Das Mädchen schwieg einen Moment lang, nachdem er geendet hatte, und sagte dann: »Ich mag es, wie Ihr Eure Heimat beschreibt. Ich mag es, wie Ihr darüber empfindet. Wenn ich dort leben würde, würde ich vermutlich dasselbe empfinden.«

»Das würdet Ihr«, versicherte er ihr und betrachtete das Profil ihres Gesichts, während sie aufgewühlt über den Rabb hinausschaute. »Aber ich denke, daß jedermann so für seine Heimat empfindet.«

»Ich nicht«, sagte sie.

Er richtete sich erneut auf. »Warum nicht?«

Ihre Stirn furchte sich. Dadurch wurde die Weichheit ihrer Gesichtszüge nur geringfügig beeinträchtigt, obwohl es sie völlig anders aussehen ließ, gleichzeitig sowohl nach innen gerichtet als auch weit entfernt. »Ich vermute, das ist so, weil ich keine guten Erinnerungen an meine Heimat habe. Ich wurde auf einer kleinen Farm südlich von Varfleet geboren, in einer von mehreren Familien, die dort gemeinsam ein Tal bewohnten. Ich lebte dort mit meinen Eltern und meinen Brüdern und einer Schwester. Ich war die Jüngste. Wir zogen Milchkühe und Getreide. Im Sommer waren die Felder so golden wie die Sonne. Im Herbst war die Erde, nachdem sie gepflügt worden war, ganz schwarz.« Sie zuckte die Achseln. »Ich erinnere mich nicht an viel mehr als daran. Nur an die Krankheit. Es scheint lange her zu sein, aber ich vermute, das ist es gar nicht. Zuerst wurde das Land krank, dann das Vieh und schließlich meine Familie. Alles begann zu sterben. Jedermann. Zuerst meine Schwester, dann meine Mutter, meine Brüder und mein Vater. Das gleiche geschah mit den Leuten auf den anderen Farmen. Es geschah ganz plötzlich. Innerhalb weniger Monate waren alle tot. Eine der Frauen von einer anderen Farm fand mich und nahm mich mit nach Varfleet. Ich habe bei ihr gelebt. Wir waren die letzten. Ich war sechs Jahre alt.«

Sie ließ dies alles klingen, als sei es nichts Außergewöhnliches. Es war keinerlei Gefühl in ihrer Stimme. Sie beendete ihren Bericht und schaute fort. »Ich glaube, es wird unterwegs regnen«, sagte sie.

Sie schliefen bis zur Dämmerung, nahmen ein Frühstück aus Brot, Obst und Käse zu sich und brachen wieder gen Norden auf. Der Himmel hatte sich bereits bewölkt, als sie erwachten, und kurz nachdem sie den Rabb überquert hatten, begann es zu regnen. Gewitterwolken bauten sich auf, und Blitze schössen durch die Schwärze. Als der Regen in Strömen herabzustürzen begann, suchten sie an der windgeschützten Seite eines alten Ahorns Schutz, der sich gegen einen Felsenhang lehnte. Während das Wasser von ihren Gesichtern und ihrer Kleidung herablief, setzten sie sich zurück, um den Sturm abzuwarten. Die Luft kühlte leicht ab, und die Ebenen schimmerten vor Feuchtigkeit.

Schulter an Schulter saßen sie mit dem Rücken gegen den Ahorn da, schauten hinaus in den Dunst und lauschten auf das Geräusch des Regens.

»Wie seid Ihr Padishar begegnet?« fragte Morgan, nachdem sie einige Zeit geschwiegen hatten.

Sie zog ihre Knie hoch und legte die Arme darum. Wasser perlte auf ihrer Haut und glitzerte in ihrem schwarzen Haar. »Ich ging bei Hirehone in die Lehre, als ich alt genug war, um arbeiten zu können. Er hat mich Eisen schmieden und kämpfen gelehrt. Nach einiger Zeit war ich in beidem besser als er. Also hat er mich in die Bewegung eingeführt, und so bin ich Padishar begegnet.«

Erinnerungen an Hirehone bevölkerten Morgans Geist. Er ließ sie einen Moment verweilen und verbannte sie dann. »Wie lange kümmert Ihr Euch schon um das Whistledown?«

»Mehrere Jahre. Es bietet die Gelegenheit, Dinge zu erfahren, die den Freigeborenen helfen können. Es ist ein Ort, an dem man es im Moment gut aushalten kann.«

Er schaute zu ihr hinüber. »Aber es ist nicht der Ort, an dem Ihr sterben wollt, wolltet Ihr das damit sagen?«

Sie lächelte ihn flüchtig an. »Auf die Dauer ist es nichts für mich.«

»Was dann?«

»Ich weiß es noch nicht. Wißt Ihr es?«

Er dachte darüber nach. »Vermutlich nicht. Ich habe mir noch nicht erlaubt, über das hinaus zu denken, was in diesen letzten Wochen geschehen ist. Ich bin so schnell gelaufen, daß ich keine Zeit hatte, stehenzubleiben und nachzudenken.«

Sie lehnte sich zurück. »Ich bin nicht gelaufen. Ich bin an einem Ort geblieben und habe darauf gewartet, daß etwas geschehen würde.«

Er wandte sich zu ihr um. »So war ich auch, bevor ich in den Norden gekommen bin. Ich habe meine ganze Zeit damit verbracht, mir Möglichkeiten auszudenken, wie man das Leben für die Föderationsbesetzer unangenehm werden lassen könnte – für all jene Hauptmänner und Soldaten, die in dem Heim wohnten, das meiner Familie gehört hatte, und so taten, als sei es ihres. Ich dachte, ich würde etwas tun, aber in Wahrheit habe ich nur stillgehalten.«

Sie sah ihn neugierig an. »Und jetzt lauft Ihr statt dessen. Ist das in irgendeiner Weise besser?«

Er lächelte und zuckte die Achseln. »Zumindest sehe ich mehr von dem Land.«

Der Regen nahm ab, der Himmel begann aufzuklaren, und sie nahmen ihre Reise wieder auf. Morgan bemerkte, daß er Matty Roh heimlich beobachtete, ihren Gesichtsausdruck betrachtete, die Linien ihres Körpers und die Art, wie sie sich bewegte. Er hielt sie für interessant, weil so viel mehr in ihr angedeutet war, als sie zu zeigen erlaubte. An der Oberfläche war sie kühl und entschlossen und trug eine sorgfältig aufgetragene Maske, die stärkere und tiefergehende Gefühle unter sich verbarg. Aus Gründen, die er nicht erklären konnte, glaubte er, daß sie zu fast allem fähig war.

Es war fast Mittag, als sie ihn in die Felsen hineinführte und einem Pfad zu folgen begann, der in die Hügel hinaufführte, die den Drachenzähnen gegenüberlagen. Sie betraten eine Wand aus Bäumen, die die Berge vor ihnen und die Ebenen hinter ihnen verbarg, und als sie daraus hervorkamen, befanden sie sich am Fuß der Berge. Der Pfad verschwand mit den Bäumen, und sie erkletterten bald zerklüftete Hänge und bahnten sich ihren Weg über Felsen, so gut sie konnten. Morgan merkte, daß er sich, eher hartherzig, fragte, ob Matty Roh wußte, wohin sie ging. Nach einer Weile erreichten sie einen Paß und folgten ihm durch einen Spalt in den Felsen in eine tiefe Schlucht. Die Klippenwände schlössen sich um sie herum, bis über ihnen nur noch ein schmales Band bewölkten blauen Himmels zu sehen war. Vögel flohen von ihren Felsenplätzen und verschwanden in die Sonne. Wind pfiff in plötzlichen Böen die Länge der Schlucht entlang und verursachte ein schrilles und leeres Geräusch.

Als sie innehielten, um einen Schluck aus dem Wasserschlauch zu nehmen, betrachtete Morgan das Mädchen, um zu sehen, wie sie sich hielt. Ein Schimmer von Schweiß war auf ihrem Glatten Gesicht zu sehen, aber ihr Atem ging ruhig. Sie bemerkte seinen Blick, und er wandte sich schnell ab.

Irgendwo tief in dem Spalt führte Matty Roh sie in eine Ansammlung wuchtiger Felsen hinein, die Teil eines alten Felsrutschs zu sein schienen. Hinter den Felsen fanden sie einen Durchgang, der in die Klippenwand hineinführte. Sie betraten ihn und begannen einen spiralförmigen Gang hinaufzusteigen, der auf einen Sims in halber Höhe hinausführte. Morgan spähte vorsichtig hinab. Es war ein steiler Abhang. Ein schmaler Pfad wand sich von dort, wo sie standen, aufwärts, der Einschnitt von unten nicht sichtbar, und sie folgten dem Pfad zum Gipfel der Klippe und an seinem Rand entlang zu einem weiteren Spalt, der dieses Mal kaum mehr als ein Riß in den Felsen war, so schmal, daß nur ein Mensch auf einmal hindurchgelangen konnte.

Matty Roh blieb am Eingang stehen. »Sie werden uns jeden Moment holen«, verkündete sie, ließ den Wasserschlauch von ihrer Schulter gleiten und gab ihn Morgan, damit er trinken konnte.

Er lehnte das Angebot höflich ab. Wenn sie nicht trinken mußte, dann brauchte er es auch nicht. »Woher werden sie wissen, daß wir hier sind?« fragte er.

Ein flüchtiges Lächeln kam und ging. »Sie haben uns während der letzten Stunde beobachtet. Habt Ihr sie nicht bemerkt?«

Natürlich hatte er das nicht, und sie wußte es, also zuckte er nur unbeteiligt die Achseln.

Kurz darauf drangen zwei Gestalten aus den Schatten des Spalts, bärtige, hartgesichtige Männer mit Langbogen und Messern. Sie grüßten Matty Roh und Morgan flüchtig und bedeuteten ihnen dann, sie sollten ihnen folgen. In einer Reihe betraten sie den Spalt und gingen dann einen Pfad entlang, der sich aufwärts in ein Wirrwarr von Felsen wand, die jegliche Sicht darauf, was vor ihnen lag, verbargen. Morgan kletterte pflichtgemäß weiter und mußte dabei feststellen, daß Matty Roh immer noch wirkte, als befände sie sich auf einem Mittagsspaziergang.

Schließlich erreichten sie ein Plateau, das sich nordwärts, südwärts und westwärts erstreckte und den atemberaubendsten Ausblick auf die Drachenzähne und das dahinterliegende Land bot, den Morgan jemals gesehen hatte. Der Sonnenuntergang näherte sich, und der Himmel verwandelte sich durch die Nebelwand, die um die Bergspitzen hing, zu einem hellen Karmesinrot. Daher der Name Firerim Reach, dachte Morgan. Im Osten wich das Plateau zu einem Grat hin zurück, der dicht mit Fichten und Zedern bewachsen war. Dort hatten die Geächteten ihr Lager. Ihr überdachter Schutzraum schob sich in die Bäume vor, ihre Herdfeuer schwelten in von Steinen gesäumten Gruben. Es gab keine gemauerte Festung wie am Jut, denn das Plateau fiel in ein Gewirr gezackter Risse und tiefer Schluchten ab, und seine bloßen Wände waren nicht erklimmbar für einen Menschen, ganz zu schweigen von irgendeiner Art größerer Streitmacht. Zumindest schien es von der Stelle aus, an der Morgan stand, so zu sein, und er nahm an, daß es auf allen Seiten der Hochebene das gleiche war. Der einzige Weg hierher war offenbar der Weg, auf dem sie gekommen waren. Dennoch kannte der Hochländer Padishar Creel gut genug, um darauf wetten zu können, daß es noch mindestens einen anderen gab.

Er wandte sich um, als eine vertraute, stämmige Gestalt schwerfällig zu ihnen herankam. Chandos war so schwarzbärtig und grimmig wie immer mit seinem fehlenden Auge und Ohr und dem vernarbten Gesicht. Er umarmte Matty Roh herzlich, verschlang sie fast mit seiner Umarmung, und streckte dann die Hand nach Morgan aus.

»Hochländer«, grüßte er ihn, nahm Morgans Hand in seine und quetschte sie. »Es ist gut, dich wieder bei uns zu haben.«

»Es ist gut, wieder bei euch zu sein.« Morgan spreizte schmerzerfüllt seine Hand. »Wie geht es dir, Chandos?«

Der große Mann schüttelte den Kopf. »Recht gut, nach allem, was geschehen ist.« Ein verärgerter, enttäuschter Ausdruck trat in seine dunklen Augen. Entschlossen streckte er das Kinn vor. »Komm mit mir irgendwohin, wo wir reden können.«

Er führte Morgan und Matty Roh vom Rand der Klippen fort. Die Wächter, die sie hereingeführt hatten, verschwanden den Weg entlang, den sie gekommen waren. Chandos bewegte sich bewußt vom Lager und den anderen Geächteten fort. Morgan schaute fragend zu Matty Roh hinüber, aber das Gesicht des Mädchens blieb undurchdringlich.

Als sie mit Sicherheit außer Hörweite waren, sagte sie plötzlich zu Chandos: »Sie haben ihn, nicht wahr?«

»Padishar?« Chandos nickte. »Sie haben ihn vor zwei Nächten in Tyrsis gefangengenommen.« Er wandte sich um und sah Morgan an. »Der Talbewohner war bei ihm, der kleinere, derjenige, den Padishar so sehr mochte – Par Ohmsford. Offensichtlich sind die beiden in die Gefängnisse der Föderation eingedrungen, um Damson Rhee zu retten. Sie haben sie herausgebracht, aber Padishar wurde dabei gefangengenommen. Damson ist jetzt hier. Sie kam gestern an.«

»Was ist mit Par geschehen?« fragte Morgan, der sich gleichzeitig auch fragte, warum Coll nicht erwähnt wurde.

»Damson sagte, daß er auf die Suche nach seinem Bruder gegangen sei – und erzählte etwas von Schattenwesen.« Chandos wischte die Frage beiseite. »Im Moment ist nur Padishar wichtig.« Sein vernarbtes Gesicht furchte sich. »Ich habe es den anderen noch nicht gesagt.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich es tun soll oder nicht. Wir sollen Ende dieser Woche am Jannisson Axhind die Trolle treffen. In fünf Tagen. Wenn wir Padishar nicht bei uns haben, werden sie sich uns nicht anschließen, fürchte ich. Ich denke, sie werden sich umdrehen und einfach den Weg zurückgehen, den sie gekommen sind. Fünftausend Mann!« Sein Gesicht rötete sich. »Wir brauchen sie, wenn wir überhaupt eine Chance gegen die Föderation haben wollen. Besonders nachdem wir den Jut verloren haben.«

Er sah sie hoffnungsvoll an. »Ich war niemals gut im Pläneschmieden. Wenn ihr also eine Idee habt...«

Matty Roh schüttelte den Kopf. »Wenn die Föderation Padishar hat, wird er nicht sehr lange am Leben bleiben.«

Chandos runzelte die Stirn. »Vielleicht länger, als ihm lieb ist, wenn sich die Sucher seiner annehmen.«

Morgan erinnerte sich einen Moment lang an die Grube und ihre Bewohner und verdrängte den Gedanken dann sehr schnell wieder. Etwas an allem diesen ergab keinen Sinn. Padishar war schon vor Wochen auf die Suche nach Par und Coll gegangen. Warum hatte er so lange gebraucht, sie zu finden? Warum waren die Ohmsfordbrüder die ganze Zeit in Tyrsis geblieben? Und als Par und Padishar in die Gefängnisse eingedrungen waren, um Damson zu retten, wo war Coll da gewesen? Hatten die Schattenwesen etwa auch Coll?

Es schien Morgan, daß noch furchtbar vieles ungeklärt war.

»Ich möchte mit Damson Rhee sprechen«, verkündete er plötzlich. Er hatte sich schon zu Anfang über sie gewundert, und plötzlich begann er sich erneut über sie zu wundern.

Chandos zuckte die Achseln. »Sie schläft. Sie ist die ganze Nacht gewandert, um hierher zu gelangen.«

Bilder von Teel tanzten in Morgans Kopf und flüsterten heimtückisch. »Dann sollten wir sie wecken.«

Chandos sah ihn mürrisch an. »In Ordnung, Hochländer. Wenn du glaubst, daß es wichtig ist. Aber du wirst es tun müssen, nicht ich.«

Sie gingen zum Lager hinüber und an den Herdfeuern und den Geächteten vorbei, die darum herum beschäftigt waren. Die Sonne war weiter gen Westen gesunken, und die Essenszeit nahte. Die Mahlzeiten wurden in den Kochkesseln zubereitet, und ihre Düfte wurden von der Sommerluft herangetragen. Morgan bemerkte sie kaum, denn sein Geist beschäftigte sich mit etwas anderem. Schatten krochen aus den Bäumen und verlängerten sich, während die Dunkelheit herannahte. Morgan dachte über Par und Coll nach, die sich nach all dieser Zeit noch immer in Tyrsis befanden. Sie waren der Grube vor Wochen entkommen. Warum waren sie dort geblieben, fragte er sich noch immer. Warum waren sie so lange geblieben?

Während die Fragen auf ihn eindrangen, sah er wieder Teels Gesicht vor sich – und das Schattenwesen, das sich darunter verborgen hatte.

Sie erreichten eine kleine Hütte, die zwischen den Bäumen verborgen lag, und Chandos blieb stehen. »Sie ist dort drinnen. Wecke sie auf, wenn du willst. Kommt und eßt mit mir, wenn ihr fertig seid, ihr beide.«

Morgan nickte. Dann wandte er sich an Matty Roh. »Wollt Ihr mitkommen?«

Sie sah ihn abschätzend an. »Nein. Ich denke, Ihr solltet dies allein tun.«

Es schien einen Moment, als wollte sie vielleicht noch mehr sagen, aber dann wandte sie sich um und ging hinter Chandos her durch die Bäume davon. Sie wußte etwas, was sie nicht sagte, sagte sich Morgan. Er beobachtete ihren Weggang und dachte erneut, daß Matty Roh weitaus komplizierter war, als es ihm anfangs schien.

Er schaute zu der Hütte zurück und war einen Moment lang unentschlossen, wie er Damson Rhee anpacken sollte. Verdächtigungen und Ängste sollten seine Vernunft nicht behindern. Aber er konnte das Bild von Teel als Schattenwesen nicht abschütteln. Es könnte mit diesem Mädchen ohne weiteres das gleiche sein. Das mußte er herausfinden.

Er griff über die Schulter, um sicherzugehen, daß das Schwert von Leah leicht herauszuziehen war, atmete tief durch, ging dann auf die Tür zu und klopfte. Sie öffnete sich fast sofort, und ein Mädchen mit flammend rotem Haar und smaragdgrünen Augen stand darin und sah ihn an. Ihr Gesicht war gerötet, als sei sie gerade eben erwacht, und ihre dunkle Kleidung war in Unordnung. Sie war groß, wenn auch nicht so groß wie Matty, und sehr hübsch.

»Ich bin Morgan Leah«, sagte er.

Sie blinzelte und nickte dann. »Pars Freund, der Hochländer. Ja, hallo. Ich bin Damson Rhee. Es tut mir leid, aber ich habe geschlafen. Wie spät ist es?« Sie spähte durch die Bäume in den Himmel hinauf. »Fast dunkel, nicht wahr? Ich habe zu lange geschlafen.«

Sie trat zurück, als wollte sie hineingehen, blieb dann stehen und wandte sich ihm wieder zu. »Ihr habt von Padishar gehört, vermute ich. Seid Ihr gerade erst hier angekommen?«

Er nickte und beobachtete ihr Gesicht. »Ich wollte von Euch hören, was geschehen ist.«

»In Ordnung.« Sie schien nicht überrascht zu sein. Sie schaute über ihre Schulter und trat dann hinaus ins Licht. »Laßt uns hier draußen sprechen. Ich bin es müde, eingesperrt zu sein. Müde in Räumen ohne Licht zu sein. Was hat Chandos Euch bereits erzählt?«

Sie trat mit sehr entschlossenem Schritt von der Hütte fort zu den Bäumen, und er wurde einfach von ihr überfahren. »Er hat mir erzählt, daß Padishar von der Föderation gefangengenommen worden ist, als er und Par Euch zur Rettung eilten. Er hat gesagt, Par hätte Euch verlassen, um Coll zu suchen – und daß es etwas mit den Schattenwesen zu tun habe.«

»Alles hat etwas mit den Schattenwesen zu tun, nicht wahr?« flüsterte sie, den Kopf müde gesenkt.

Sie trat zum Stumpf eines morschen Baumstamms und setzte sich. Morgan zögerte, noch immer wachsam, und setzte sich schließlich doch zu ihr. Sie wandte sich leicht um, so daß sie ihn ansehen konnte. »Ich muß Euch eine sehr lange Geschichte erzählen, Morgan Leah«, sagte sie.

Sie begann damit, wie sie Par und Coll gefunden hatten, nachdem sie der Grube in Tyrsis entkommen waren. Sie erzählte davon, wie sie beschlossen hatten, noch ein letztes Mal wieder in die Brutstätte der Schattenwesen zurückzukehren, wie sie um die Hilfe des Maulwurfs geworben hatten und ihren Weg durch die Tunnel unter der Stadt hindurch zum alten Palast gefunden hatten. Von dort waren die Brüder auf der Suche nach dem Schwert von Shannara zusammen fortgegangen. Par war allein zurückgekommen. Er hatte jene Klinge bei sich getragen, die er für den Talisman hielt, und sei halb verrückt vor Kummer und Entsetzen gewesen, weil er seinen Bruder getötet habe. Sie hatte ihn in dem unterirdischen Heim des Maulwurfs wochenlang gepflegt, ihn langsam wieder zu sich gebracht und ihn vorsichtig aus seinem dunklen Alptraum herausgeführt. Von dort waren sie von einem sicheren Haus zum nächsten geflohen, das Schwert von Shannara im Schlepptau, und hatten sich vor den Suchern und der Föderation verborgen und einen Fluchtweg aus der Stadt heraus gesucht. Schließlich hatte Padishar sie gefunden, aber während ihrer Flucht vor der Föderation war Damson selbst gefangengenommen worden. Padishar und Par waren zurückgekommen, um sie zu retten, und das hatte dann zu Padishars Gefangennahme geführt. Nachdem sie der Stadt schließlich zu zweit entkommen waren, weil es schließlich dafür einen Weg gegeben hatte und weil sie ohne Hilfe nichts für Padishar hatten tun können, waren sie durch den Kennon nach Norden gekommen.

Sie berührte impulsiv seinen Arm. »Und was wir gesehen haben, Morgan Leah, von hoch oben in dem Paß, in weiter Ferne hinter den Wachfeuern der Föderation, aber so deutlich, wie ich Euch sehe, war Paranor. Er ist zurück, Hochländer, aus der Vergangenheit zurückgekehrt. Par war sich dessen sicher. Er sagte, es bedeute, daß Walker Boh Erfolg gehabt hat!«

Dann beschrieb sie, jetzt wieder gedämpft, wie sie aus dem Paß heraus weitergereist waren, berichtete von ihrer schicksalhaften Begegnung mit Coll – oder dem Wesen, zu dem Coll geworden war, eingehüllt in diesen seltsamen, glänzenden Umhang, gebeugt und verzerrt, als wären seine Knochen neu angeordnet worden. In dem folgenden Kampf war plötzlich die Macht des Schwertes von Shannara heraufbeschworen worden und hatte enthüllt, was Par jetzt für die Wahrheit über seinen totgeglaubten Bruder hielt.

»Er ist natürlich hinter Coll hergegangen«, schloß sie. »Was sonst hätte er tun können? Ich wollte nicht, daß er ging, daß er ohne mich ging – aber ich hatte nicht das Recht, ihn aufzuhalten.« Sie suchte Morgans Blick. »Ich bin nicht so sicher wie er, daß es Coll ist, dem er folgt, aber ich verstehe, daß er auf die eine oder andere Weise herausfinden muß, ob er jemals Frieden finden kann.«

Morgan nickte. Er dachte daran, wieviel Damson Rhee von sich selbst aufgegeben hatte, um Par Ohmsford zu helfen, daß sie mehr riskiert hatte, als er von jemand anderem außer sich selbst und Coll erwartet hätte. Er dachte auch, daß die Geschichte, die sie ihm erzählt hatte, wahr klang, daß sie in ausgewogenem Gleichgewicht stand. Die Zweifel, die er mit hergebracht hatte, begannen zu schwinden. Sicherlich war Pars Beharrlichkeit, das Schwert von Shannara zu suchen, eine Charaktersache, wie auch diese neuerliche Suche nach seinem Bruder. Das Problem war jetzt, daß Par noch mehr allein war denn je, und Morgan wurde erneut an sein Versagen erinnert. Er selbst hätte auf seinen Freund aufpassen sollen.

Er bemerkte, daß Damson ihn beobachtete. Es war ein fester, prüfender Blick, und ohne Vorwarnung flammte sein Mißtrauen erneut auf. Damson Rhee – war sie der Freund, für den Par sie gehalten hatte, oder der Feind, dem er so verzweifelt zu entkommen suchte? Sicherlich hätte sie auch der Grund dafür sein können, daß er häufig nur sehr knapp entkommen war, der Grund dafür, daß die Schattenwesen ihn so häufig fast erwischt hatten. Aber andererseits, war sie nicht auch der Grund dafür, daß er entkommen war?

»Ihr seid Euch nicht sicher, was mit mir ist, nicht wahr?« fragte sie ruhig.

»Nein«, gab er zu. »Das bin ich nicht.«

Sie nickte. »Ich weiß nicht, was ich tun kann, um Euch zu überzeugen, Morgan. Ich weiß nicht, ob ich es überhaupt versuchen will. Ich muß alle mir noch verbliebene Energie dafür aufsparen, einen Weg für Padishars Befreiung zu finden. Und danach werde ich Par suchen.«

Sein Blick schweifte in die Räume ab, und er dachte an das düstere Mißtrauen, das die Schattenwesen in ihnen allen hervorriefen und wünschte, es könnte anders sein. »Als ich mit Padishar am Jut war«, sagte er, »war ich gezwungen, ein Mädchen zu töten, das in Wirklichkeit ein Schattenwesen war.« Er schaute wieder zu ihr hinüber. »Ihr Name war Teel. Mein Freund Steff liebte sie, und das kostete ihn das Leben.«

Er erzählte ihr dann von Teels wiederholtem Verrat und der Konfrontation tief in den Katakomben der Berge hinter dem Jut, wo er das Schattenwesen getötet, das Teel gewesen war, und Padishars Leben gerettet hatte.

»Was mir angst macht«, sagte er, »ist die Tatsache, daß Ihr eine weitere Teel sein könntet, so daß Par wie Steff enden würde.«

Sie antwortete nicht. Ihr Blick war abwesend und verloren, und sie schien durch ihn hindurchzusehen. Tränen traten in ihre Augen.

Er griff plötzlich nach hinten und zog das Schwert von Leah hervor. Damson beobachtete ihn regungslos. Ihre grünen Augen blieben auf die schimmernde Klinge gerichtet, während er sie mit der Spitze nach unten in die Erde steckte. Die Hände ließ er um den Knauf geschlossen.

»Legt Eure Hände auf die flache Seite der Klinge, Damson«, sagte er weich.

Sie sah ihn schweigend an und bewegte sich lange Zeit nicht. Er wartete, lauschte auf die entfernten Geräusche der Geächteten, die sich zum Essen versammelten, und versuchte die Stille um sie herum zu durchdringen. Das Licht schwand jetzt schnell, und Schatten waren überall. Er fühlte sich seltsam entrückt von allem um ihn herum, als sei er mit Damson Rhee in der Zeit festgefroren.

Nicht dieses Mädchen, hörte er sich im stillen beten. Nicht noch einmal.

Schließlich streckte sie die Hände aus und berührte das Schwert von Leah, legte ihre Handflächen fest gegen das Metall. Dann schloß sie freiwillig ihre Finger um die Schneide. Morgan beobachtete entsetzt, wie die Klinge tief in ihre Haut einschnitt und ihr Blut daran hinabzulaufen begann.

»Ein Schattenwesen könnte das nicht tun, nicht wahr?« flüsterte sie.

Er griff schnell hinab und zog ihre Finger fort. »Nein«, sagte er. »Es würde die Magie auslösen.« Er legte den Talisman beiseite, riß mehrere Streifen Stoff von seinem Umhang ab und begann ihre Hände zu verbinden. »Das hättet Ihr nicht tun müssen«, warf er ihr vor.

Ihr Lächeln war schwach und sehnsuchtsvoll. »Nein? Wäret Ihr Euch sonst meinetwegen sicher gewesen, Morgan Leah? Das glaube ich nicht. Und wenn Ihr Euch meinetwegen nicht sicher seid, wie können wir einander dann helfen? Es muß Vertrauen zwischen uns bestehen.« Sie sah ihn mit ihren sanften Augen an. »Besteht es jetzt?«

Er nickte schnell. »Ja. Es tut mir leid, Damson.«

Ihre verbundenen Hände griffen aufwärts, um seine zu umfassen. »Ich möchte Euch etwas sagen.« Wieder traten Tränen in ihre Augen. »Ihr habt gesagt, daß Euer Freund Steff Teel geliebt hat? Nun, Hochländer, ich liebe Par Ohmsford.«

Dann erkannte er dies alles selbst. Warum sie bei Par geblieben war, sich ihm so vollständig ergeben hatte, ihm sogar in die Grube gefolgt war, auf ihn aufgepaßt hatte, ihn beschützt hatte. Es war das, was er für Quickening getan hätte – zu tun versucht hatte. Damson Rhee hatte eine Verpflichtung übernommen, von der sie nur der Tod würde entbinden können.

»Es tut mir leid«, sagte er erneut und dachte, wie unangemessen das doch klang.

Ihre Hände ergriffen seine fester und ließen nicht los. In der Dämmerung sahen sie einander lange Zeit schweigend an. Während er ihre Hände hielt, wurde Morgan an Quickening erinnert, an die Art, wie sie sich angefühlt hatte, an die Gefühle, die sie in ihm hervorgerufen hatte. Er stellte fest, daß er sie verzweifelt vermißte und alles gegeben hätte, sie zurückzubekommen.

»Genug geprüft«, flüsterte Damson. »Laßt uns statt dessen sprechen. Ich werde Euch alles erzählen, was mir widerfahren ist. Ihr werdet dasselbe von Euch erzählen. Par und Padishar brauchen uns. Vielleicht können wir zusammen einen Weg finden, ihnen zu helfen.«

Sie drückte seine Hände, als würden die ihren nicht schmerzen, und lächelte ihm ermutigend zu. Er beugte sich hinab, um das Schwert von Leah wieder aufzunehmen, und ging dann mit ihr durch die Bäume auf den Widerschein der Herdfeuer zu. Sein Geist arbeitete, durchdachte das, was sie ihm erzählt hatte, trennte Eindrücke von Tatsachen und versuchte, etwas Nützliches herauszufiltern. Damson hatte recht. Der Talbewohner und der Anführer der Geächteten brauchten sie. Morgan war entschlossen, keinen von beiden im Stich zu lassen.

Aber was konnte er tun?

Der Duft von Essen von den Herdfeuern drang verlockend bis zu ihm herüber. Das erste Mal, seit er angekommen war, war er hungrig.

Par und Padishar.

Padishar zuerst, dachte er.

Chandos hatte von fünf Tagen gesprochen.

Wenn die Sucher ihn nicht zuerst erwischten...

Es drang ganz plötzlich auf ihn ein. Das Bild in seinem Geist war so klar, daß er fast aufschrie. Er griff impulsiv hinüber und legte seinen Arm um Damsons Schultern.

»Ich glaube, ich weiß, wie wir Padishar befreien können«, sagte er.

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