1. KAPITEL

Denk an all die Menschen, die gelebt haben und gestorben sind und die nie wieder Bäume oder Gras oder die Sonne sehen werden.

Alles erscheint einem dann so kurz, so... unbedeutend. Nicht wahr? Eine Zeitlang zu leben und dann zu sterben? Es scheint alles auf so wenig nur hinauszulaufen.

Und dennoch, in gewisser Hinsicht, fällt es einem leicht, die Toten zu beneiden.

Sie sind jenseits von allem angelangt, haben das Leben und das Sterben hinter sich.

Sie können froh sein, tot zu sein, das Sterben hinter sich zu haben und nicht mehr leben zu müssen. Unter der Erde zu liegen, keinen... keinen Schmerz mehr zu spüren, keine Angst vor dem Tod mehr zu haben.

Sie müssen nicht mehr leben. Und nicht mehr sterben. Oder Schmerz empfinden. Oder etwas leisten. Oder sich fragen, was als nächstes zu tun ist. Oder sich den Kopf darüber zerbrechen, wie es wohl sein wird, wenn man stirbt.

Warum erscheint einem das Leben so häßlich und wunderschön, so traurig und wichtig, wenn man lebt, und so trivial, wenn es vorbei ist?

Das Leben schwelt eine Zeitlang und verglimmt, und die Gräber warten geduldig, bis sie gefüllt werden, und das Ende allen Lebens ist der Tod, und das neue Leben jubiliert fröhlich im sanften Wind, und niemand schert sich um das alte Leben oder weiß noch etwas darüber, und dann stirbt auch das neue Leben wieder.

Das Leben ist ein konstantes Ins-Grab-Sinken. Man lebt, und schließlich stirbt man, und immer wieder leben manche gut und andere schlecht, aber sterben müssen sie immer, und der Tod ist

das einzige, was allen gemeinsam ist.

Woran liegt es, daß die Menschen Angst vor dem Sterben haben?

Nicht am Schmerz.

Nicht immer.

Der Tod kann unmittelbar und beinah ohne Schmerzen eintreten.

Der Tod selbst beendet den Schmerz.

Warum haben Menschen dann Angst vor dem Sterben?

Was können wir von jenen lernen, die tot sind, falls sie Wege und Mittel finden sollten, zu uns zurückzukehren?

Wenn sie von den Toten auferstehen?

Werden sie unsere Freunde sein? Oder unsere Feinde?

Werden wir in der Lage sein, mit ihnen umzugehen? Wir... die wir nie unsere Furcht überwunden haben, mit dem Tod konfrontiert zu werden.

Bei Einbruch der Dunkelheit entdeckten sie schließlich die winzige Kirche. Sie stand abseits der Straße und wurde von Ahornbäumen verdeckt, so daß man sie beinah nicht sehen konnte, und wenn sie jetzt nicht doch noch auf sie gestoßen wären, dann hätten sie sie wahrscheinlich überhaupt nicht gefunden.

Hinter der Kirche lag der Friedhof, der das eigentliche Ziel ihrer Reise war. Die Suche hatte sie alles in allem fast zwei Stunden gekostet. Sie hatten eine kurvenreiche Landstraße nach der anderen abgefahren, deren Furchen so tief waren, daß der Wagenboden immer wieder aufsaß und sie mit einer Geschwindigkeit von weniger als fünfzehn Meilen pro Stunde vor sich hin tuckern mußten. Unablässig verfolgte sie das nervtötende Geräusch des Schotters, der gegen die Kotflügel geworfen wurde. Die Hitze und den gelben Staub konnten sie kaum mehr ertragen.

Sie waren gekommen, um einen Kranz auf das Grab ihres Vaters zu legen.

Johnny parkte den Wagen am Wegrand, direkt unter einer grasbewachsenen Terrasse, während seine Schwester Barbara zu ihm hinüberschaute und seufzte. Damit wollte sie ihm klarmachen, daß sie sowohl müde als auch erleichtert war.

John hatte den Motor noch nicht abgeschaltet, und Barbara wußte sofort, was es damit auf sich hatte. Er wollte sie noch ein bißchen länger in dem überhitzten Wagen schmoren lassen, um sie nachdrücklich daran zu erinnern, daß er diesen Ausflug von Anfang an abgelehnt hatte und daß er sie für die ganzen Unbequemlichkeiten verantwortlich machte. Jetzt war er müde und empört und schwieg mit eisiger Miene, doch während der zwei Stunden, in denen sie umhergeirrt waren, hatte er seine Wut und seinen Groll an ihr ausgelassen. Ohne Unterlaß hatte er ihr Vorhaltungen gemacht und sich geweigert, einen Hauch von Fröhlichkeit an den Tag zu legen, während der Wagen über die Furchen polterte. Die ganze Zeit über versuchte er, sich zusammenzureißen und nicht voller Ingrimm aufs Gaspedal zu treten.

Er war sechsundzwanzig Jahre alt und Barbara gerade erst neunzehn, aber in vielerlei Hinsicht war sie erwachsener als er -und während der letzten Jahre hatte sie gelernt, mit seinen Launen umzugehen.

Ohne ein Wort zu verlieren, stieg sie einfach aus dem Wagen aus und ließ ihn allein weiter durch die Windschutzscheibe stieren.

Plötzlich spuckte das Radio, das eingeschaltet war, aber nicht funktionierte, ein paar Worte aus, die Johnny jedoch nicht verstand, und verstummte dann wieder. Er starrte das Radio an, schlug dann auf das Gerät und drehte wie wild an dem Senderwahlknopf, aber es gelang ihm nicht, einen weiteren Ton zu empfangen. Das ist seltsam, dachte er, und ebenso verwirrend und frustrierend und quälend wie alles andere, das ihm an diesem ekelhaften Tag widerfahren war. Er kochte vor Wut. Wenn das Radio tot war, warum spuckte es dann hin und wieder ein paar Worte aus? Es sollte entweder tot oder nicht tot sein, anstatt sich launisch oder halb verrückt zu gebärden.

Er hieb noch ein paarmal auf das Gerät ein und fingerte an den Knöpfen herum. Er glaubte, das Wort »Notstand« in dem Wirrwarr von Wortfetzen aufgeschnappt zu haben, das durch das Rauschen drang. Aber seine Hiebe hatten keinerlei Erfolg. Das Radio blieb stumm.

»Verflucht noch mal!« sagte Johnny laut, als er den Schlüssel aus der Zündung riß und ihn in seiner Tasche verstaute. Dann stieg er aus und schlug die Tür zu.

Er schaute sich nach Barbara um. Ihm fiel der Kranz ein, den sie mitgebracht hatten, um ihn auf das Grab ihres Vaters zu legen. Daher öffnete er den Kofferraum des Wagens und holte ihn heraus. Er war in einer braunen Papiertüte, die er unter den Arm klemmte, während er den Kofferraumdeckel ins Schloß fallen ließ - und wieder schaute er sich nach Barbara um. Als er feststellte, daß ihr nicht in den Sinn gekommen war, auf ihn zu warten, wurde er wieder wütend.

Sie war die Terrasse hochgestiegen, von wo aus sie einen guten Ausblick auf die Kirche hatte, die in einer Senke zwischen Bäumen versteckt lag. Das Gotteshaus war mitten im Wald errichtet worden. Ganz vorsichtig, damit seine Schuhe nicht schmutzig wurden, stieg er den grasbewachsenen Abhang hinunter und trat neben sie.

»Das ist eine nette Kirche«, sagte sie. »Mit den Bäumen und allem. Das ist ein schöner Ort.«

Es handelte sich um eine typisch ländliche Kirche, einen weiß angestrichenen Holzbau mit einem roten Kirchturm und hohen, schmalen, altmodischen Fenstern aus farbigem Glas.

»Na, dann laß uns mal erledigen, weswegen wir gekommen sind, und dann machen wir uns wieder auf den Weg«, sagte Johnny in seinem mürrischen Tonfall. »Es ist schon fast dunkel, und wir haben noch eine dreistündige Fahrt vor uns, bis wir wieder daheim sind.«

Verdrießlich zuckte sie mit den Schultern, doch jetzt folgte er ihr zur Kirche hinunter.

Es gab keinen Rasen, kein Tor - nur Grabsteine, die aus dem hohen Gras unter den Bäumen herausragten. Hin und wieder knirschte Laub unter ihren Füßen. Die Reihe der Grabsteine begann schon ein paar Meter neben der Kirche und zog sich durch die Bäume und das Blätterwerk bis hin zum Rand des Waldes.

Die Steine waren von unterschiedlicher Größe: angefangen von kleinen Platten, auf denen nur ein Name stand, bis hin zu großen Gedenksteinen, die äußerst sorgfältig gearbeitet waren. Hin und wieder stieß man auf ein franziskanisches Kreuz oder das in Stein gemeißelte Antlitz eines Schutzengels. Die ältesten Grabsteine, die über die Jahre hinweg grau und braun angelaufen waren, wirkten kaum noch wie Grabsteine, sondern eher wie große Steine in einem Wald. Ihre Umrisse waren in der dunklen Stille, die die kleine, ländliche Kirche umgab, kaum zu erkennen.

Am grauen Himmel schimmerte noch das sanfte Glühen der eben untergegangenen Sonne, so daß die Bäume und die langen Grashalme in der einbrechenden Dunkelheit zu leuchten schienen. Über allem lag eine friedliche Stille, die von dem unaufhörlichen Zirpen der Grillen und dem raschelnden Laub, das hin und wieder von einer leichten Brise aufgewirbelt wurde, eher unterstrichen als gestört wurde.

Johnny blieb stehen und beobachtete, wie Barbara zwischen den Gräbern herumspazierte. Sie ließ sich Zeit und achtete darauf, daß sie nicht auf ein Grab trat, während sie den Stein ihres Vaters suchte. Johnny hatte den Hauch einer Ahnung, daß die Vorstellung, nach Sonnenuntergang auf einem Friedhof zu sein, sie erschreckte. Dieser Gedanke amüsierte ihn, denn er war immer noch sauer auf sie und wollte, daß sie ein bißchen dafür litt, daß sie ihn dazu gebracht hatte, zweihundert Meilen zu fahren, um einen Kranz auf ein Grab zu legen - ein Unterfangen, das er für dumm und sinnlos hielt.

»Erinnerst du dich, in welcher Reihe es ist?« rief ihm seine Schwester erwartungsvoll zu.

Aber er weigerte sich, ihr zu antworten. Statt dessen schmunzelte er in sich hinein und beobachtete sie nur. Sie lief von Stein zu Stein und blieb vor jedem stehen, der ihr etwas bekannter vorkam. Jedesmal las sie den Namen des Verstorbenen. Sie wußte noch ganz genau, wie der Grabstein ihres Vaters aussah, und sie konnte sich auch noch an die Namen der Personen erinnern, die in seiner Nähe begraben waren. Aber in der zunehmenden Dunkelheit fiel es ihr schwer, schnell voranzukommen.

»Ich glaube, ich bin in der falschen Reihe«, sagte sie schließlich.

»Hier ist doch niemand«, sagte Johnny, der sie absichtlich daran erinnern wollte, daß sie allein waren. Dann fügte er hinzu: »Wenn es nicht so dunkel wäre, könnten wir ihn mühelos finden.«

»Tja, wenn du früher aufgestanden wärst...«, sagte Barbara. Sie sprach den Satz nicht zu Ende, sondern marschierte eine andere Gräberreihe entlang.

»Das ist das allerletzte Mal, daß ich einen Sonntag für so einen Irrsinn drangebe«, sagte Johnny. »Entweder müssen wir Mutter hier heraus verpflanzen oder das Grab in ihre Nähe verlegen lassen.«

»Manchmal glaube ich, daß du nur jammerst, um dich reden zu hören«, gab Barbara zurück. »Außerdem, du bist einfach dumm. Du weißt verdammt genau, daß Mutter viel zu krank ist,

um solch eine Fahrt auf sich zu nehmen.«

Plötzlich entdeckte Johnny einen Grabstein, der ihm bekannt vorkam. Er musterte ihn genau, erkannte, daß es der ihres Vaters war, und überlegte, ob er es vor Barbara verschweigen sollte, damit sie noch eine Weile herumirrte. Aber sein Drang heimzukehren war stärker als sein Bedürfnis, sie zu quälen.

»Ich glaube, es ist dort drüben«, sagte er. Seine Stimme klang tief und distanziert. Er beobachtete, wie Barbara hinüberlief und nachsah. Wieder achtete sie darauf, daß sie nicht auf fremde Gräber trat.

»Ja, das ist es«, rief seine Schwester. »Du solltest dich freuen, Johnny - jetzt können wir uns bald wieder auf den Weg machen.«

Er kam hinüber zum Grab ihres Vaters und betrachtete kurz die Inschrift, bevor er den Kranz aus der braunen Papiertüte holte.

»Ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, wie Vater ausgesehen hat«, sagte er. »Fünfundzwanzig Dollar für dieses Ding hier, und ich kann mich an den Kerl nicht einmal richtig erinnern.«

»Aber ich erinnere mich«, schalt Barbara ihn, »und ich war viel jünger als du, als er starb.«

Beide schauten den Kranz an, der mit Plastikblumen verziert war. Ein Stück rotes Plastikband war unten daran befestigt und zu einer großen Schleife gebunden, die eine goldene Inschrift zierte: »In ständiger Erinnerung«.

Johnny kicherte.

»Mutter möchte unseres Vaters gedenken - deshalb müssen wir zweihundert Meilen weit fahren, um einen Kranz auf ein Grab zu legen. Als ob er aus der Erde hochsehen würde, um die Dekoration zu kontrollieren und sich zu vergewissern, daß sie ihm gefällt.«

»Johnny, das kostet dich fünf Minuten«, sagte Barbara wütend, und sie kniete sich vor das Grab und fing an zu beten, während Johnny den Kranz nahm, neben den Grabstein trat und den Drahtdorn in die festgetretene Erde bohrte.

Er stand auf und bürstete seine Kleidung ab, als ob sie schmutzig geworden wäre, und schimpfte dann wieder los. »Es dauert eben nicht fünf Minuten. Es dauert drei Stunden und fünf Minuten. Nein, sechs Stunden und fünf Minuten. Drei Stunden hierher und drei Stunden zurück. Plus die zwei Stunden, die wir mit der Suche nach dem Friedhof vergeudet haben.«

Sie unterbrach ihr Gebet, blickte auf und warf ihm einen finsteren Blick zu. Schließlich hörte er auf zu reden.

Gelangweilt stierte er zu Boden. Und dann fing er an herumzuzappeln. Mit den Händen in den Taschen wippte er nervös auf und ab. Barbara betete weiter und brauchte unnötig lange - so schien es ihm wenigstens. Sein Blick schweifte ab. Er schaute sich in der Dunkelheit um und betrachtete die Umrisse der Grabsteine und die Schatten auf dem Friedhof. Wegen der Dunkelheit waren weniger Grabsteine als zuvor sichtbar. Es hatte den Anschein, als ob es gar nicht so viele gäbe, denn nur die größeren waren deutlich zu sehen. Und die Geräusche der Nacht wirkten lauter, weil keine menschlichen Stimmen zu hören waren. Johnny stierte in die Dunkelheit.

In der Ferne tauchte ein seltsamer Schatten auf, der sich bewegte, und es sah beinah so aus, als ginge eine geduckte Gestalt zwischen den Gräbern herum.

Wahrscheinlich der Friedhofsaufseher oder ein Trauernder, der spät dran ist, dachte Johnny. Ungeduldig warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. »Komm schon, Barbara, der Gottesdienst hat heute morgen stattgefunden«, sagte er nervös. Aber Barbara ignorierte ihn und fuhr mit ihrem Gebet fort. Man konnte glauben, daß sie vorhatte, es so lange wie möglich hinauszuziehen, nur um ihn auf die Palme zu bringen.

Johnny zündete sich eine Zigarette an, inhalierte genießerisch und blickte sich wieder um.

In der Ferne war tatsächlich jemand, der zwischen den Gräbern herumlief. Johnny kniff die Augen zusammen, aber es war zu dunkel. Er konnte nicht mehr als eine undeutliche Form erkennen, die mit den Umrissen der Bäume und der Grabsteine verschwamm, während sie langsam über den Friedhof spazierte.

Johnny wandte sich an seine Schwester und wollte gerade etwas sagen, aber im selben Moment bekreuzigte sie sich, stand auf und war bereit zu gehen. Schweigend wandte sie sich von dem Grab ab, und gemeinsam entfernten sie sich langsam. Johnny rauchte und kickte kleine Steine vor sich her, während er neben ihr hertrottete.

»Gebete gehören in die Kirche«, sagte er mit tiefer Stimme.

»Ein Kirchenbesuch würde dir auch ganz guttun«, hielt Barbara ihm vor. »Du verwandelst dich langsam, aber sicher in einen Heiden.«

»Na ja, Großvater hat mir schließlich erzählt, daß ich zur Hölle verdammt sei. Erinnerst du dich? Genau hier - ich versteckte mich hinter einem Baum und bin auf dich zugesprungen. Großvater machte einen Satz und sagte mir, daß ich verdammt sei und in der Hölle landen würde.«

Johnny lachte.

»Früher hast du hier Angst gehabt«, sagte er mit einem teuflischen Grinsen. »Erinnerst du dich? Genau hier bin ich hinter dem Baum hervorgesprungen und hab' dich erschreckt.«

»Johnny!« rief Barbara ärgerlich. Aber sie lächelte, um ihm zu zeigen, daß er ihr keine Angst machte. Doch sie wußte auch, daß es zu dunkel war, als daß er ihr Lächeln überhaupt sehen konnte.

»Ich glaube, daß du dich immer noch ängstigst«, bohrte er weiter. »Ich glaube, daß du Angst vor den Leuten in ihren

Gräbern hast. Vor den Toten. Was, wenn sie aus ihren Gräbern steigen und hinter dir her sind, Barbara? Was würdest du dann tun? Wegrennen? Beten?«

Er drehte sich um und warf ihr einen heimtückischen Blick zu, als wolle er sich jeden Augenblick auf sie stürzen.

»Johnny, hör auf!«

»Du hast immer noch Angst.«

»Nein!«

»Du hast Angst vor den Toten!«

»Hör auf, Johnny!«

»Sie steigen aus ihren Gräbern, Barbara! Sieh doch. Hier kommt schon einer von ihnen!«

Er deutete auf die geduckte Gestalt, die zwischen den Gräbern herumspaziert war. Der Aufseher, oder wer auch immer er war, blieb stehen und sah offenbar in ihre Richtung, aber es war jetzt zu dunkel, um das mit hundertprozentiger Sicherheit sagen zu können.

»Er kommt, um dich zu holen, Barbara! Er ist tot! Und er wird dich kriegen.«

»Johnny, hör auf - er wird dich jetzt hören - du bist ein Ungläubiger.«

Aber Johnny rannte von ihr weg und versteckte sich hinter einem Baum.

»Johnny, du -«, begann sie, aber dann schämte sie sich und hielt inne. Ängstlich blickte sie zu Boden. Die Gestalt, die in der Ferne herumspazierte, kam langsam näher, und es war ganz offensichtlich, daß ihre Wege sich kreuzen würden.

Es schien ihr seltsam, daß jemand anderer als sie und ihr Bruder zu dieser ungewöhnlichen Stunde auf einem Friedhof war.

Wahrscheinlich ein Trauernder oder der Aufseher.

Sie blickte auf, lächelte und wollte ihn begrüßen.

Doch plötzlich legte der Mann seine Hände um Barbaras Hals, drückte zu und riß an ihren Kleidern. Sie versuchte wegzulaufen, zu schreien oder sich zur Wehr zu setzen. Aber seine Finger umklammerten ihren Hals so fest, daß sie keine Luft mehr bekam. Der Angriff war so plötzlich gekommen und so gewalttätig, daß sie vor Angst fast gelähmt war.

Johnny kam herübergerannt, sprang gegen den Mann und griff ihn an - und alle drei gingen zu Boden. Johnny schlug mit den Fäusten auf den Mann ein, und Barbara trat ihn und schlug mit ihrer Handtasche zu. Kurz darauf rollten Johnny und der Mann über den Boden und schlugen aufeinander ein, während Barbara, die schrie und um ihr Leben kämpfte, sich endlich losreißen konnte.

In Panik geraten und verängstigt wie sie war, wollte sie zuerst einfach weglaufen.

Der Angreifer schlug um sich und klammerte sich anscheinend an allen Körperteilen von Johnny fest, die er zu fassen bekam. Johnny hatte alle Mühe, durchzuhalten. Die beiden Kämpfer kamen mühsam wieder auf die Beine, und jeder hielt den anderen so fest umklammert, wie er konnte - aber der Angreifer war wie ein wildes Tier und kämpfte weitaus gewalttätiger, als die meisten Männer das normalerweise taten. Er schlug um sich, ballte die Fäuste und biß sogar in Johnnys Hände und Hals. Voller Verzweiflung klammerte Johnny sich an ihn, und sie fielen aufeinander.

Da es total dunkel war, wirkten die beiden ineinander verschlungenen Männer auf Barbara wie ein einziges Wesen, das um sich schlug. Sie fürchtete sich vor dem Ausgang des Kampfes. Sie hatte nicht die Möglichkeit zu erkennen, welcher der beiden im Vorteil war oder welcher gewinnen oder verlieren würde. Das Mädchen war kurz davor, seinem Wunsch nachzugeben, einfach wegzulaufen, aber es wollte dennoch seinen Bruder retten, obwohl es nicht wußte, wie es das anstellen sollte.

Schließlich fing Barbara an, wie verrückt um Hilfe zu rufen. Ihre Furcht verstärkte sich jedoch durch ihr Rufen nur noch mehr, denn ganz tief drinnen war ihr bewußt, daß niemand in der Nähe war und niemand ihre Schreie hören konnte.

Die beiden Männer rollten auf dem Boden herum, schlugen aufeinander ein und stießen tierische Laute aus - einer errang einen Vorteil, und Barbara beobachtete, während seine Silhouette sich gegen den schwarzen Nachthimmel abzeichnete, wie er mit den Fäusten auf den Kopf des anderen einhämmerte.

Sie fand einen Ast, hob ihn auf und machte einen oder zwei Schritte auf die kämpfenden Männer zu.

Wieder sausten die Fäuste nach unten und landeten mit einem schweren, dumpfen Schlag auf dem Kopf des anderen. Man konnte hören, wie Knochen zerbarsten. Die Gestalt, die jetzt auf der anderen saß, hielt einen großen Stein in der Hand und schlug damit auf den Kopf des Feindes ein.

Mondlicht fiel auf das Gesicht des Siegers, und Barbara mußte feststellen, daß es nicht Johnny war.

Wieder landete der schwere Stein auf Johnnys Kopf. Barbara stand einfach nur da. Der Schock und die Angst hatten sie gelähmt. Und dann fiel der Stein zu Boden und rollte weg, und Barbara wappnete sich. Sie hielt immer noch den Ast, der ihr im Notfall als Prügel dienen konnte, aber der Angreifer erhob sich nicht, sondern kniete immer noch über dem Körper seines geschlagenen Gegners.

Und dann hörte Barbara seltsame Geräusche. Es war wie ein Reißen. Zwar konnte sie nicht deutlich sehen, was der Angreifer trieb, aber die Reißgeräusche drangen weithin durch die Nacht... immer... und... immer... wieder, als ob etwas aus Johnnys Leichnam herausgerissen würde.

Der Angreifer schien sich nicht für Barbara zu interessieren.

Ihr Herz schlug heftig, und die Angst lahmte sie immer noch. Doch diese seltsamen Geräusche hüllten sie ein und schalteten ihre Zurechnungsfähigkeit und ihren Verstand aus. Der Schock war so übermächtig, daß sie dem Tod nah war, und sie hörte nur das Reißen... Reißen, als sich der Angreifer an der Leiche ihres Bruders verging und an ihr herumriß, und - ja! - als ein Hauch Mondlicht durch die vorbeiziehenden Wolken brach, sah sie, daß der Angreifer seine Zähne in Johnnys totes Gesicht grub.

Langsam und mit weit aufgerissenen Augen - wie eine Frau, die in einem Alptraum festsitzt - ging Barbara ganz langsam auf den Mörder ihres Bruders zu. Ihr Mund öffnete sich, und sie stieß unfreiwillig einen lauten Seufzer aus.

Der Angreifer schaute zu ihr herüber. Seine Atemgeräusche -ein Rasseln, das nicht von dieser Welt war - erschreckte Barbara zutiefst. Er lief über Johnnys Leichnam und kam tief geduckt auf sie zugelaufen, wie ein Tier, das jeden Augenblick zum Sprung ansetzen will.

Barbara stieß einen schrillen Schrei aus, der ihre ganze Panik widerspiegelte, ließ ihren Prügel fallen und rannte davon. Der Mann folgte ihr langsam. Augenscheinlich hatte er Probleme, sich zu bewegen, fast so, als ob er verkrüppelt oder behindert wäre.

Er verfolgte Barbara zwischen den Grabsteinen hindurch, während sie stolpernd und keuchend vor ihm floh.

Dann hastete und rutschte sie die matschige, grasbewachsene Terrasse hinunter und landete vor ihrem Wagen, dessen Tür sie hektisch aufriß. Sie konnte die langsamen, gedämpften Schritte ihres Verfolgers hören, der immer näher kam, während sie auf den Fahrersitz rutschte und die Tür zuknallte.

Keine Schlüssel! Die Schlüssel waren in Johnnys Tasche!

Der Angreifer holte auf. Er wurde schneller und war offensichtlich verzweifelt angestrengt, das Mädchen noch zu erwischen.

Barbara umklammerte das Lenkrad, als ob das allein reichte, den Wagen in Gang zu setzen. Sie schluchzte. Und bemerkte fast zu spät, daß die Fenster noch heruntergekurbelt waren - wie eine Verrückte drehte sie sie hoch und verschloß die Türen.

Der Angreifer riß an den Türgriffen und schlug mit Wucht auf den Wagen ein.

Barbara schrie wieder los, aber den Angreifer berührte ihr Geschrei anscheinend überhaupt nicht. Er schien keine Angst zu haben, entdeckt oder überrascht zu werden.

Auf einmal hob er einen großen Stein auf, der auf der Straße lag, und schlug damit auf das Fenster der Beifahrertür ein, so daß es in tausend Scherben zerbarst. Ein weiterer Schlag, und der Stein krachte durch das Fenster. Die Hände des Mannes griffen nach Barbara. Er versuchte sie an den Haaren zu packen, ihr Gesicht, ihre Arme oder einen anderen Körperteil zu erwischen.

Jetzt erst konnte sie einen Blick auf sein Gesicht werfen. Er war leichenblaß, die Züge gräßlich verzerrt - als spiegele es Verrücktheit oder unermeßlichen Schmerz wider.

Ohne zu zögern, schlug sie ihm mit der Faust ins Gesicht. Und im selben Augenblick legte sie ihre Hand auf die Handbremse und löste sie. Der Wagen rollte langsam bergab, aber der Angreifer rannte nebenher, schlug auf den Wagen ein, riß an den Türgriffen und war sichtlich entschlossen, sich nicht abschütteln zu lassen.

Je steiler der Abhang wurde, desto schneller bewegte der Wagen sich vorwärts, und der Mann war abgeschüttelt. Ihm blieb nichts anderes übrig, als nebenherzutrotten. Der Wagen beschleunigte noch mehr, und der Mann konnte nicht länger Schritt halten. Er versuchte, sich am Kotflügel und dann an der Stoßstange festzuhalten, stolperte aber und landete mit einem dumpfen Schlag auf der Straße. Jetzt, wo der Verfolger sich nicht mehr festklammerte, wurde der Wagen immer schneller.

Aber der Mann stand wieder auf und setzte erneut zur Verfolgung an, unbeirrbar und stur, wie er war. Mit schwerfälligen Schritten stolperte er die Straße hinunter.

Der Wagen holperte nun einen steilen, kurvenreichen Hügel hinab. Barbara saß regungslos auf dem Fahrersitz und umklammerte das Lenkrad. Die Dunkelheit und Geschwindigkeit erschreckten sie, doch sie war viel zu verängstigt, um abzubremsen.

Die Scheinwerfer! Sie schaltete sie ein, und ihre Lichtstrahlen tanzten zwischen den Bäumen herum. Das Mädchen riß das Steuer hart herum, um einem Schlagloch auszuweichen. Der Wagen machte einen Satz und sprang darüber hinweg, und sie sah, daß die Straße auf einmal wesentlich schmaler wurde, einspurig, und daß knapp siebzig Meter weiter vorn die abschüssige Strecke zu Ende war und die Straße wieder anstieg.

Hügelaufwärts wurde der Wagen langsamer... und langsamer... denn der Schwung ließ immer mehr nach. Barbara warf einen Blick nach hinten, konnte aber nichts sehen - doch dann zeichnete sich die Gestalt ihres Verfolgers auf einmal gegen den hellen Straßenbelag ab. Der Angreifer kam gerade um eine Kurve gelaufen, und sie wußte, daß er sie über kurz oder lang einholen würde.

Dann, ein paar Meter weiter, blieb der Wagen auf der Steigung stehen. Und kurz darauf mußte Barbara sogar feststellen, daß er langsam zurückrollte und sie ihrem Angreifer näher brachte, der beharrlich aufholte. Der Wagen wurde immer schneller, während sie vor Angst erstarrte.

Schließlich umklammerte sie die Handbremse und riß sie so unvermittelt hoch, daß sie dabei in den Sitz geschleudert wurde. Sie zerrte an dem Türgriff herum, aber die Tür bewegte sich nicht, bis ihr plötzlich einfiel, daß sie ja die Verriegelung lösen mußte. Der Angreifer war nicht mehr allzu weit entfernt, als sie endlich die Tür aufstieß und aus dem Wagen sprang.

Sie rannte.

Der Mann hinter ihr kam immer näher und bemühte sich verzweifelt, seine schlurfenden, stolpernden Schritte zu beschleunigen. Barbara rannte, so schnell sie konnte, die steile Schotterstraße hoch. Doch dann fiel sie hin. Riß sich die Knie auf. Stand wieder auf und lief weiter, während der Mann sie immer noch verfolgte.

Oben auf dem Hügel stieß sie auf die Hauptstraße. Dort riß sie sich ihre Schuhe von den Füßen und rannte schneller weiter -was auf Asphalt eher möglich war als auf Schotter. Sie hoffte, auf einen Wagen oder LKW oder irgendein Fahrzeug zu stoßen, das sie anhalten konnte. Aber kein einziger Wagen kam in Sicht. Schließlich gelangte sie an eine niedrige Steinmauer, die parallel zur Straße verlief und sie wußte, daß irgendwo dahinter ein Haus sein mußte. Schwerfällig kletterte sie hinüber und überlegte kurz, ob sie sich nicht einfach dahinter verstecken sollte, aber sie konnte schon wieder das rasselnde Atmen und die polternden Schritte ihres Verfolgers hören, der nicht sonderlich weit hinter ihr war. Sicherlich würde er einen Blick hinter die Mauer werfen und dort nach ihr suchen - denn daß sie als Versteck herhalten konnte, war allzu offensichtlich.

Dann, als sie sich umschaute, um sich zu orientieren, glaubte sie, in der Ferne ein schwach erleuchtetes Fenster zu sehen. Das Haus mußte auf der anderen Seite des Feldes liegen. Der Lichtschein drang durch die belaubten, tiefhängenden Äste einzelner Bäume.

Im Dunklen stolperte sie über Steine, abgebrochene Äste und knotige Wurzeln, als sie auf das erleuchtete Fenster auf der gegenüberliegenden Seite des Feldes zurannte.

Zuerst erreichte sie einen Schuppen, der am Rande einer unbefestigten Straße stand, die zu dem Haus führte. Neben dem Schuppen, in den Lichtschein einer nackten Glühbirne getaucht, um die Insekten kreisten, standen zwei Benzinpumpen von der

Art, wie Bauern sie besitzen, um ihre Traktoren und anderen Fahrzeuge aufzutanken. Barbara blieb stehen und versteckte sich kurz hinter einer der Pumpen - bis ihr bewußt wurde, daß sie in dem Lichtschein des Schuppens leicht zu entdecken war.

Als sie sich umwandte, fiel der Lichtschein auf ihren Angreifer. Mit schweren Schritten schlurfte er über das dunkle Feld, das mit Büschen, Bäumen und Sträuchern übersät war.

Sie lief auf das Haus zu und fing an, so laut um Hilfe zu rufen, wie es ihr möglich war. Aber niemand kam nach draußen. Niemand trat auf die Veranda. Das Haus blieb still und wirkte wenig einladend, wenn man von dem Lichtschein absah, der aus einem einzelnen Fenster drang.

In einer finsteren Ecke preßte sie sich an die Hauswand und versuchte, einen Blick durch das Fenster zu werfen, aber sie sah nichts, wovon sie auf die Anwesenheit von Menschen schließen konnte, und es war offensichtlich, daß niemand ihre Schreie gehörte hatte und niemand herauskommen würde, um ihr zu helfen.

Der Mann, der ihren Bruder getötet hatte, wurde als Silhouette vor dem Schuppen sichtbar. Er kam näher.

Völlig verstört rannte sie zur Rückseite des Hauses und verbarg sich im Schatten einer kleinen Veranda. Zuerst wollte sie einem Impuls nachgeben und wieder um Hilfe rufen, doch dann bemühte sich sich, sich still zu verhalten, damit der Verfolger nicht herausbekam, wo sie sich versteckte. Sie schnappte nach Luft, stellte fest, wie laut sie atmete, und versuchte, den Atem anzuhalten. Stille... Geräusche der Nacht... und das laute Pochen ihres hektisch schlagenden Herzens... und dabei hörte sie, daß die Schritte ihres Verfolgers zunehmend langsamer wurden... bis er schließlich nur noch schlenderte. Und dann waren auf einmal überhaupt keine Schritte mehr zu hören.

Barbara blickte sich hektisch um. Auch auf der Rückseite des Hauses befand sich ein Fenster. Das Mädchen warf einen Blick hinein, aber drinnen herrschte absolute Dunkelheit. Ihr Verfolger war wieder losgelaufen, sie konnte seine unheimlichen Schritte laut und deutlich hören. Mit dem Rücken an die Tür des Hauses gepreßt, suchte sie den Türknauf. Sie blickte hinunter und war sich eigentlich sicher, daß die Tür abgeschlossen war. Trotzdem drückte sie sie nach unten. Die Tür ging auf.

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