Kapitel 6

»Ich bin ein Feigling«, gestand Gespenst. »Ich gebe zu, daß ich beim Anblick von Gewaltanwendung schwach werde.«

»Ausgerechnet du«, meinte Oop. »Dir kann kein Mensch etwas anhaben.«

Sie saßen an dem primitiven, wackeligen Tisch, den Oop einmal in einem Anfall von Einrichtungswut aus rohen Brettern zusammengenagelt hatte. Carol schob ihren Teller zur Seite. »Jetzt bin ich aber gründlich satt.«

Sylvester lag zusammengerollt vor dem Kamin, den kurzen Schwanz fest an den Rumpf gelegt und die Nase auf den Vorderpfoten. Sein Schnurrbart bewegte sich sacht, wenn er atmete.

»Zum erstenmal in meinem Leben sehe ich einen satten Säbelzahntiger«, sagte Oop.

Er griff nach der Flasche und schüttelte sie. Sie klang leer. Er stand auf, kniete sich auf den Boden und entfernte eines der Dielenbretter. Dann holte er ein Marmeladeglas aus der Öffnung und stellte es zur Seite. Er erwischte ein zweites Marmeladeglas und stellte es neben das erste. Schließlich hob er triumphierend eine Flasche hoch.

Er stellte die Gläser zurück an ihren Platz und kam an den Tisch. Die Flasche machte die Runde.

»Ihr wollt sicher kein Eis«, sagte er. »Das Zeug verdünnt den Whisky nur. Außerdem habe ich keines.«

Er deutete mit dem Daumen zu dem Dielenbrett hinüber. »Mein Geheimversteck«, sagte er. »Ich habe immer einen Tropfen auf Vorrat. Es könnte sein, daß ich mir eines Tages das Bein oder sonst etwas breche, und wenn mir der Arzt dann das Trinken verbietet …«

»Doch nicht bei einem gebrochenen Bein«, widersprach Gespenst. »Keiner hätte etwas dagegen, daß du mit einem gebrochenen Bein trinkst.«

»Na ja, dann eben etwas anderes.«

Sie saßen zufrieden um den Tisch, und Gespenst starrte ins Feuer. Draußen pfiff der Wind um die Hütte.

»Mir hat es noch nie so gut wie heute geschmeckt«, sagte Carol. »Ich habe zum erstenmal mein Steak an einem Spieß über offenem Feuer gebraten.«

Oop rülpste satt. »So machten wir es in der guten alten Steinzeit. Das, oder gleich ganz roh wie der Säbeltiger. Bei uns gab es noch keine Öfen oder gar Elektroherde.«

»Ich will ja nicht aufdringlich sein«, sagte Maxwell, »aber darf ich fragen, woher du das Rippenstück hattest? Ich kann mir vorstellen, daß die Metzgerläden alle geschlossen waren.«

»Das stimmt«, gab Oop zu. »Aber der eine hatte an der Hintertür nur ein ganz primitives Schloß …«

»Eines Tages wirst du in Schwierigkeiten kommen«, prophezeite Gespenst.

Oop schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Diesmal jedenfalls nicht. Urzwang — nein, das ist wohl nicht der richtige Ausdruck. Wenn jemand hungrig ist, hat er das Recht, sich Essen zu beschaffen. Das war ein Gesetz in unserer Zeit. Ich glaube, man könnte es vor unseren heutigen Gerichten immer noch vertreten. Außerdem will ich morgen hingehen und erklären, was los war.« Er sah Maxwell an. »Hast du zufällig noch Geld?«

»Und ob«, erklärte Maxwell. »Ich hatte mein Spesengeld für die Reise nach Coonskin eingesteckt, und davon konnte ich bisher noch keinen Cent ausgeben.«

»Auf diesem anderen Planeten waren Sie Gast?« fragte Carol.

»So könnte man es nennen«, erwiderte Maxwell. »Ich war mir über das genaue Verhältnis zu den Fremden nie recht im klaren.«

»Waren es nette Leute?«

»Nett, gewiß — aber Leute? Das könnte ich nicht sagen.«

Er wandte sich Oop zu. »Wieviel brauchst du?«

»Ich denke, hundert müßten reichen. Da ist das Fleisch und die beschädigte Tür, ganz zu schweigen von den angeknacksten Gefühlen unseres Freundes, des Metzgers.«

Maxwell holte einen Schein aus der Tasche und reichte ihn Oop.

»Danke. Ich gebe es dir irgendwann zurück.«

»Laß nur«, winkte Maxwell ab. »Die Party geht auf meine Kosten. Ich wollte Carol zum Abendessen einladen, doch leider entwickelten sich die Dinge anders.«

Am Kamin streckte sich Sylvester und gähnte, dann wälzte er sich auf den Rücken und schlief weiter.

»Sie sind vorübergehend hier, Miß Hampton?« fragte Gespenst.

»Nein«, sagte Carol überrascht. »Ich arbeite hier. Wie kamen Sie auf die Idee?«

»Der Tiger«, sagte Gespenst. »Ein Biomech, wie Sie sagten. Da dachte ich natürlich, daß Sie bei einem biologisch-mechanischen Institut arbeiten.«

»Ach so«, sagte Carol. »In Wien oder New York.«

»In Ulan Bator ist noch eines, wenn ich mich nicht täusche«, sagte Gespenst.

»Waren Sie dort?«

»Nein, ich habe nur davon gehört.«

»Aber er könnte hin«, sagte Oop. »Er kann überall hin. Im Nu. Deshalb beschäftigen sich ja die Leute der Übernatürlichen Fakultät immer noch mit ihm. Sie hoffen, daß sie eines Tages herausbringen, wie er das schafft. Aber unser gutes Gespenst ist schweigsam.«

»Der wirkliche Grund für sein Schweigen besteht darin, daß er für die Transportleute arbeitet«, sagte Maxwell. »Zumindest wird er von ihnen bezahlt. Denn, wenn er verrät, wie er sich fortbewegt, machen alle Transportunternehmen pleite.«

»Und er ist ein Muster an Feingefühl«, sagte Oop. »Er wollte nämlich eigentlich fragen, weshalb Sie sich einen Biomech leisten können.«

»Ach so«, sagte Carol. »Das stimmt natürlich. Die Dinger kosten viel Geld. Ich bin nicht reich. Aber mein Vater arbeitete vor seiner Pensionierung im Institut von New York. Sylvester war das Ergebnis eines seiner Seminare. Die Studenten schenkten ihn Dad, als er pensioniert wurde.«

»Ich kann immer noch nicht glauben, daß die Katze ein Biomech ist«, sagte Oop. »Sie hat ein ganz gemeines Glitzern in den Augen, wenn sie mich ansieht.«

»Um die Wahrheit zu sagen«, erklärte Carol. »In den meisten steckt heutzutage mehr Biologie als Mechanik. Der Name Biomech entstand, als man die fein ausgeklügelten elektronischen Gehirne und Nervensysteme in besonderen Protoplasmalösungen unterbrachte. Aber jetzt werden nur noch die Organe, die sich schnell abnutzen, auf mechanischem Wege hergestellt — Herz, Nieren, Lungen und so fort. Die Hauptaufgabe der Institute ist es, ausgestorbene Geschöpfe wieder ins Leben zu rufen — aber das wissen Sie sicher.«

»Es gibt ein paar sonderbare Geschichten«, sagte Maxwell. »Eine Gruppe von Supermenschen, die unter Schloß und Riegel gehalten werden. Haben Sie davon schon gehört?«

»Gehört schon«, sagte sie. »Solche Gerüchte entstehen immer.«

»Ich habe erst kürzlich wieder so ein tolles Ding aufgeschnappt«, sagte Oop. »Jemand sagte mir, daß die Übernatürliche Fakultät jetzt versucht, mit dem Teufel in Verbindung zu treten. Was hältst du davon, Pete?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Maxwell. »Ich schätze, jemand hat es versucht. Ja, ich bin sogar überzeugt davon. Es liegt einfach auf der Hand, daß jemand sich darüber Gedanken macht.«

»Sie glauben, daß es tatsächlich den Teufel gibt?« fragte Carol.

»Vor zweihundert Jahren«, sagte Maxwell, »fragten die Leute im gleichen Tonfall wie Sie, ob es denn Trolle und Kobolde tatsächlich gäbe.«

»Und Gespenster«, fügte Gespenst hinzu.

»Sie sprechen also ganz im Ernst!« rief Carol.

»Das nicht«, korrigierte Maxwell. »Aber ich wage es nicht, den Teufel einfach abzuleugnen.«

»Was habt ihr nur mit diesen Dingern?« fragte Oop. »Da werden sie wiederentdeckt und aus der Vergangenheit heraus in Reservationen gelockt. Übrigens längst nicht alle. Es gab schauerliche Geschöpfe, wie man sie heutzutage nicht mehr kennt.«

»Sie scheinen sie nicht sonderlich verehrt zu haben«, stellte Carol fest.

»Da haben Sie recht, Miß«, sagte Oop.

»Ich finde, das wäre ein fruchtbares Forschungsgebiet für das Zeit-College«, meinte Gespenst. »Offensichtlich gab es eine ganze Menge Primaten, die keinerlei Ähnlichkeit mit Affen oder Menschen hatten.«

»Eines Tages wird sich das Zeit-College darum kümmern«, sagte Carol. »Die Leute wissen doch Bescheid?«

»Ich habe ihnen die Wesen oft genug beschrieben«, erwiderte Oop.

»Das Zeit-College hat zuviel zu tun«, erinnerte Maxwell sie. »Die ganze Vergangenheit ist zu bewältigen — und unter den verschiedensten Aspekten.«

»Dazu fehlt das Geld«, erklärte Carol.

»Hier spricht eine treue Bedienstete des Zeit-College«, lachte Maxwell.

»Aber es ist wahr«, rief sie. »Die anderen Fakultäten könnten soviel von den Untersuchungen des Zeit-College lernen. Man kann sich auf die Geschichtsbücher nicht verlassen. In vielen Fällen war die Wirklichkeit ganz anders. Aber glauben Sie, daß uns die anderen Abteilungen Mittel zur Verfügung stellen würden? Nein! Einige Ausnahmen gibt es natürlich. Die Juristen haben großartig mit uns zusammengearbeitet. Doch die anderen haben Angst. Sie wollen ihre bequemen kleinen Welten nicht einstürzen sehen. Nehmen Sie nur die Sache mit Shakespeare. Man möchte meinen, daß die Literatur-Fakultät froh wäre, wenn sich herausstellt, daß Oxford die Stücke geschrieben hat. Schließlich stellte man sich im Laufe der Zeit oft genug die Frage, von wem die Werke wirklich stammten. Aber nein, sie nahmen uns die Entdeckung übel.«

»Und jetzt holt das Zeit-College Shakespeare her, damit er einen Vortrag hält, weshalb er die Stücke nicht geschrieben hat«, sagte Maxwell. »Finden Sie nicht, daß das etwas boshaft wirkt?«

»Darum geht es doch überhaupt nicht«, sagte Carol. »Das Schlimme ist, daß wir zu diesem Theater gezwungen werden, um nebenbei etwas Geld zu verdienen. So ist es immer. Sie glauben doch nicht, daß es Dekan Sharp Spaß macht …«

»Ich kenne Harlow Sharp«, sagte Maxwell, »und ich weiß, wie er sich ins Fäustchen lacht.«

»Das ist Blasphemie«, sagte Oop mit gespieltem Entsetzen. »Weißt du nicht, daß du für solche Worte ans Kreuz genagelt werden kannst?«

»Ihr macht euch über mich lustig«, sagte Carol. »Ihr macht euch über alles und jeden lustig. Auch Sie, Peter Maxwell.«

»Ich entschuldige mich für sie«, sagte Gespenst, »da keiner den Anstand besitzt, sich selbst zu entschuldigen. Man muß zehn bis fünfzehn Jahre mit ihnen zusammen gelebt haben, um zu verstehen, daß sie es nicht böse meinen.«

»Aber der Tag kommt, an dem unser College Geld in Hülle und Fülle hat«, sagte Carol. »Dann können wir unsere Lieblingsprojekte durchführen und es mit den anderen Fakultäten aufnehmen. Wenn das Geschäft klappt …«

Sie unterbrach sich abrupt. Sie saß steif da. Man konnte spüren, daß sie am liebsten die Hand vor den Mund gepreßt hätte.

»Welches Geschäft?« fragte Maxwell.

»Ich glaube, ich weiß Bescheid«, sagte Oop. »Ich hörte ein kleines Gerücht, auf das ich nicht sonderlich achtete. Obwohl — wenn man es genauer bedenkt, sind meistens die kleinen Gerüchte Wahrheit. Die großen dagegen …«

»Oop, bitte, keine Rede«, sagte Gespenst. »Sag uns, was du gehört hast.«

»Es ist unglaublich«, sagte Oop. »Ihr würdet es einfach nicht ernst nehmen.«

»Ach, hören Sie doch auf!« rief Carol.

Sie sahen sie an und warteten.

»Es war ein Ausrutscher von mir«, sagte sie. »Am liebsten würde ich Sie bitten, die Sache wieder zu vergessen, denn ich bin noch nicht einmal sicher, daß sie stimmt.«

»Ich glaube, unsere rauhe Gesellschaft hat Sie etwas verwirrt«, meinte Maxwell lächelnd.

Sie schüttelte den Kopf. »Man hat dem Zeit-College ein Angebot für das Ding unterbreitet«, sagte sie.

Es wurde still im Zimmer, und die anderen drei sahen sich atemlos an. Sie blickte von einem zum anderen und wußte nicht recht, was los war.

Schließlich rührte sich Gespenst. »Sie verstehen unsere Bindung zu dem Ding nicht«, sagte er.

»Sie haben uns empfindlich getroffen«, ergänzte Oop.

»Das Ding«, sagte Maxwell leise. »Das eine große Geheimnis, das die Welt bisher nicht lösen konnte …«

»Der seltsame Stein«, sagte Oop.

»Nein, kein Stein«, korrigierte Gespenst.

»Dann können Sie mir vielleicht sagen, was es ist?« fragte Carol.

Und daran lag es, dachte Maxwell. Weder Gespenst noch sonst jemand wußte es. Zeitforscher hatten es vor etwa zehn Jahren auf einem Berggipfel der Jura-Epoche entdeckt und mit großem Arbeits- und Geldaufwand in die Gegenwart gebracht. Niemand hatte seine Funktion erkennen können. Ein massiver Block aus einer Materie, die weder Stein noch Metall war und jeder Untersuchung trotzte. Das Ding war zwei Meter lang und hatte eine Seitenhöhe von etwa einem Meter — eine schwarze Masse, die Energie weder aufnahm noch abgab, an der jegliche Strahlung abprallte, die weder geritzt noch geätzt werden konnte und für die ein Laserstrahl überhaupt nicht existierte. Kein Mensch konnte auch nur andeutungsweise sagen, was das Ding darstellte.

»Weshalb dann die Bestürzung?« fragte Carol.

»Weil Pete das Gefühl hat, daß das Ding früher eine Art Gottheit für das Kleine Volk war. Das heißt, wenn diese lausigen Kerle überhaupt die Fähigkeit besitzen, einen Gott anzubeten.«

»Es tut mir leid«, sagte Carol. »Es tut mir aufrichtig leid. Ich wußte es ja nicht. Wenn das Zeit-College davon erfahren würde …«

»Ich habe nicht genügend Beweise, um darüber zu sprechen«, sagte Maxwell. »Es ist mehr oder weniger eine Ahnung. Man hört gewisse Dinge beim Kleinen Volk. Aber selbst sie sind nicht sicher. Es ist schon so lange her.«

So lange, dachte er. Mein Gott, fast zweihundert Millionen Jahre!

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