Kapitel 5

Die Schweinetränke war dunkel, laut und rauchig. Die Tische standen aneinandergepfercht, und nur hier und da waren enge Gänge frei. Kerzen brannten flackernd. Das Murmeln vieler Leute, die alle gleichzeitig zu reden schienen, erfüllte den niedrigen Raum.

Maxwell blieb stehen und sah sich nach einem freien Tisch um. Vielleicht hätten sie anderswo hingehen sollen, aber er wollte hier essen, denn das Lokal bedeutete für ihn die Universität.

»Vielleicht sollten wir anderswo hingehen«, sagte er zu Carol Hampton.

»Es wird gleich jemand kommen und uns einen freien Tisch zeigen«, meinte sie. »Sylvester, laß das!«

Sie wandte sich entschuldigend an die Leute, die am Tisch neben ihnen saßen. »Er hat überhaupt keine Manieren. Insbesondere keine Tischmanieren. Er nimmt sich alles, was in Reichweite ist.«

Sylvester leckte sich befriedigt die Schnauze.

»Macht überhaupt nichts, Miß«, sagte der Mann mit dem Vollbart. »Ich wollte das Steak eigentlich gar nicht. Habe es ganz automatisch bestellt.«

Jemand rief quer durch den Saal: »Pete! Pete Maxwell!«

Maxwell starrte in Richtung des Rufes. An einem weit entfernten Tisch in der Ecke hatte sich jemand erhoben und winkte mit beiden Armen. Maxwell erkannte ihn. Es war Alley Oop, und neben ihm saß die weiß verhüllte Gestalt von Gespenst.

»Freunde von Ihnen?« fragte Carol.

»Ja. Sie wollen wahrscheinlich, daß wir zu ihnen kommen. Macht es Ihnen etwas aus?«

»Der Neandertaler?« fragte sie.

»Sie kennen ihn?«

»Nein. Ich sehe ihn nur hin und wieder. Aber ich würde ihn gern kennenlernen. Und der andere ist das Gespenst?«

»Die beiden sind unzertrennlich«, sagte Maxwell.

»Gut, dann gehen wir hinüber.«

»Wir können sie kurz begrüßen und dann anderswohin gehen.«

»Fällt mir nicht ein«, widersprach sie. »Das Lokal interessiert mich.«

»Waren Sie noch nie hier?«

»Ich hatte nicht den Mut dazu.«

»Ich bahne uns einen Weg«, kündigte er an.

Langsam quetschte er sich zwischen den Tischen durch, gefolgt von dem Mädchen und der Katze.

Alley Oop kam ihm entgegen, umarmte ihn, rüttelte ihn an den Schultern und starrte ihn aufmerksam an.

»Tatsächlich der alte Pete?« fragte er. »Du hältst uns auch nicht zum Narren?«

»Ich bin Pete, wer sonst?«

»Dann möchte ich nur wissen, wen wir vor drei Wochen begraben haben«, sagte Oop. »Sowohl Gespenst als ich waren dort. Und du schuldest uns zwanzig Dollar für die Blumen, die wir hinschickten. Soviel haben sie nämlich gekostet.«

»Setzen wir uns«, sagte Maxwell.

»Hast wohl Angst vor einer Szene, was?« fragte Oop. »Dieser Ort ist wie geschaffen für Szenen. Stündliche Faustkämpfe, und alle Augenblicke steigt jemand auf einen Tisch, um eine Rede zu halten.«

»Oop«, sagte Maxwell, »es ist eine Dame anwesend, und ich möchte, daß du dich ordentlich benimmst. Miß Carol Hampton, dieser große Flegel da ist Alley Oop.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Miß Hampton«, sagte Alley Oop. »Und was bringen Sie uns da mit? Einen Säbelzahn, so wahr ich hier stehe! Ich weiß noch, wie ich bei einem Schneesturm Schutz in einer Höhle suchte, in der so eine Katze wohnte, und ich hatte außer einem stumpfen Steinmesser keine Waffe. Sehen Sie, meinen Faustkeil hatte ich verloren als ich mit dem Bären kämpfte, und …«

»Bitte, Oop«, sagte Maxwell. »Noch einen Augenblick. Miß Hampton, der Herr da drüben ist Gespenst. Ein alter Freund.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Herr Gespenst«, sagte Carol. »Nicht Herr«, verbesserte Gespenst. »Ganz einfach Gespenst. Mehr bin ich nicht. Und das Schreckliche daran ist, daß ich nicht einmal weiß, wessen Gespenst ich bin. Es freut mich außerordentlich, Sie kennenzulernen. Vier Leute am Tisch sind immer gut. In der Zahl vier liegt etwas Ausgeglichenes.«

»So«, meinte Oop, »jetzt, da wir einander kennen, gehen wir zu den ernsthaften Dingen über. Ich bestelle etwas zu trinken. Es ist scheußlich, wenn ein Mann immer allein trinken muß. Ich mag Gespenst gern, aber ich hasse Leute, die nicht trinken.«

»Du weißt, daß ich nicht trinken kann«, verteidigte sich Gespenst. »Ebensowenig wie essen oder rauchen. Ein Gespenst ist nun mal von solchen Dingen ausgeschlossen. Aber ich wollte, du würdest nicht jedesmal wieder davon anfangen.«

Oop wandte sich an Carol. »Sie scheinen überrascht zu sein, daß ein barbarischer Neandertaler so elegant mit Ihrer englischen Sprache umgeht.«

»Nicht nur überrascht, sondern höchst verblüfft«, gestand Carol.

»Oop hat in den letzten zwölf Jahren mehr Bildung aufgeschnappt als die meisten anderen Menschen«, erklärte Maxwell. »Er begann richtig im Kindergarten und arbeitet jetzt an seinem Doktor. Und das Komische ist, daß er dann weitermachen will. Man könnte sagen, daß er unser berufsmäßiger Student ist.«

Oop winkte und brüllte einen Kellner herbei. »Hierher«, schrie er. »Hier sind Leute, die Ihnen vielleicht ein Trinkgeld geben, wenn sie nicht vorher verdursten.«

»Was ich besonders an ihm bewundere, ist seine scheue, zurückhaltende Art«, sagte Gespenst.

»Ich studiere nicht so sehr aus Wissensdurst weiter«, erklärte Oop, »sondern weil es mir Vergnügen bereitet, die verblüfften Gesichter dieser aufgeblasenen Professoren und dieser dämlichen Studenten zu sehen.« Er wandte sich an Maxwell. »Natürlich sind nicht alle Professoren aufgeblasen.«

»Danke.«

»Die meisten scheinen zu denken, daß der Homo sapiens neanderthalensis nichts anderes als ein stupides Tier sein kann. Schließlich starb er aus, was schon der Beweis für seine Zweitrangigkeit ist. Ich werde mein Leben der Aufgabe widmen …«

Der Kellner erschien neben Oop. »Schon wieder Sie«, sagte er. »Ich hätte Sie am Gebrüll erkennen müssen. Oop, Sie haben keine Manieren.«

Oop überhörte die Beleidigung und sagte: »Wir haben hier einen Mann, der von den Toten zurückgekehrt ist. Ich glaube, wir sollten seine Auferstehung mit einem Freundschaftstropfen feiern.«

»Sie wollen also etwas zu trinken?«

»Warum bringen Sie nicht einfach eine ganze Flasche, dazu einen Eiskübel und vier — nein, drei Gläser? Gespenst trinkt nicht, wie Sie wissen.«

»Ich weiß«, sagte der Kellner.

»Oder will Miß Hampton vielleicht lieber einen dieser niedlichen Cocktails?«

»Warum sollte ich das Fest vermasseln?« fragte Carol. »Was gibt es denn zu trinken?«

»Bourbon«, sagte Oop. »Pete und ich haben bei Getränken einen ordinären Geschmack.«

»Also Bourbon«, meinte Carol.

»Ich nehme an, daß ich Bargeld sehe, sobald ich die Flasche auf den Tisch stelle«, sagte der Kellner. »Ich erinnere mich noch …«

»Wenn es bei mir nicht mehr reicht, springt unser guter alter Pete ein«, erklärte Oop.

»Pete?« Der Kellner starrte Maxwell an. »Professor!« rief er. »Ich hörte, daß Sie …«

»Das versuche ich Ihnen doch schon die ganze Zeit klarzumachen«, unterbrach ihn Oop. »Wir feiern seine Auferstehung von den Toten.«

»Aber das verstehe ich nicht.«

»Ist auch nicht nötig«, meinte Oop. »Bringen Sie nur schnell die Flasche.«

Der Kellner eilte weg.

»Und jetzt«, wandte sich Gespenst an Maxwell, »erzähle uns erst einmal, was du bist. Du bist kein Gespenst, oder wenn du eines bist, dann hat eine tiefgreifende Verbesserung seit der Zeit stattgefunden, in der ich auf die Schippe sprang.«

»Offenbar bin ich so etwas wie eine gespaltene Persönlichkeit«, erklärte ihnen Maxwell. »Soviel ich weiß, hatte einer von mir einen Unfall und starb.«

»Aber das ist unmöglich«, sagte Carol. »Gespaltene Persönlichkeit im Verstandesbereich, das lasse ich mir eingehen, aber körperlich …«

»Es gibt nichts zwischen Himmel und Erde, das unmöglich wäre«, sagte Gespenst.

»Das ist ein dummes Zitat«, stellte Oop fest. »Und außerdem hast du nicht den richtigen Wortlaut gebraucht.«

Er legte eine Hand an die haarige Brust und kratzte sich heftig.

»Sie brauchen mich nicht so entsetzt anzusehen«, sagte er zu Carol. »Es juckt mich. Ich bin ein primitives Naturgeschöpf, deshalb kratze ich mich. Außerdem bin ich nicht nackt. Ich habe Shorts an.«

»Er ist stubenrein«, sagte Maxwell. »Aber das ist auch alles.«

»Um zu der gespaltenen Persönlichkeit zurückzukommen«, meinte das Mädchen. »Was ist nun wirklich geschehen?«

»Ich wollte zu einem der Coonskin-Planeten reisen«, erklärte Maxwell. »Unterwegs verdoppelte sich mein Wellenschema irgendwie, und es tauchten zwei Peter Maxwells an verschiedenen Orten auf.«

»Wenn ich du wäre, würde ich sie verklagen. Diese Transportleute können sich doch alles erlauben. Vielleicht schindest du einiges heraus. Ich und Gespenst könnten als Zeugen mitkommen. Wir waren bei deiner Beerdigung.« Er überlegte einen Moment und fuhr dann fort: »Eigentlich müßten Gespenst und ich auch klagen — wegen seelischer Grausamkeit. Unser bester Freund stumm und starr im Sarg, und wir gebrochen vor Gram.«

»Du, das ist nicht gelogen«, fügte Gespenst ein.

»Ich habe es auch nicht bezweifelt«, sagte Maxwell.

»Ich muß sagen, ihr nehmt die Sache alle drei zu leicht«, erklärte Carol.

»Was sollen wir tun?« fragte Oop. »Halleluja singen? Oder vor Staunen Stielaugen bekommen? Wir haben einen Kumpel verloren, und jetzt ist er wieder da und …«

»Aber einer von ihm ist tot!«

»Also, was uns betrifft«, meinte Oop, »so hat es immer nur einen gegeben. Und das ist vielleicht auch besser so. Stellen Sie sich die peinlichen Situationen vor, wenn immer zwei Exemplare von ihm herumliefen!«

Carol wandte sich Maxwell zu. »Und Sie?«

Er schüttelte den Kopf. »In ein paar Tagen werde ich mir die Sache allen Ernstes überlegen. Aber im Moment wird mir schwindlig, wenn ich nur daran denke. Heute abend lasse ich mir den Kummer von einem hübschen Mädchen, zwei alten Freunden, einer großen Miezekatze und einer guten Flasche vertreiben. Später gibt es vielleicht sogar etwas zu essen.«

Er lachte sie an. Sie zuckte mit den Schultern.

»So etwas Verrücktes habe ich noch nie gesehen«, stellte sie fest. »Aber es gefällt mir.«

Der Kellner kam und stellte die Flasche mit dem Eiskübel hart auf den Tisch.

»Wollen Sie jetzt bestellen?« fragte er.

»Wir wissen noch nicht, ob wir in diesem Bumslokal essen«, sagte Oop. »Zum Besaufen geht es ja, aber …«

»Dann die Rechnung bitte, Sir«, sagte der Kellner.

Oop wühlte in seinen Taschen nach und holte das Geld hervor. Maxwell zog die Flasche und den Eimer zu sich heran und füllte die Gläser.

»Wir essen doch hier, oder nicht?« fragte Carol. »Wenn Sylvester das Steak nicht bekommt, das Sie ihm versprochen haben, kann ich für nichts garantieren. Er war ohnehin schon so brav und geduldig, obwohl es überall nach Essen riecht …«

»Immerhin hatte er schon ein Steak«, stellte Maxwell fest. »Wieviel verträgt er denn?«

»Unheimlich viel«, erwiderte Oop. »Früher nagte so eine Bestie einen Elch bis auf die Knochen ab. Habe ich euch übrigens schon erzählt …«

»Ganz bestimmt«, sagte Gespenst.

»Aber das war doch ein gebratenes Steak«, protestierte Carol. »Er mag sie lieber roh. Außerdem war es winzig.«

»Oop«, sagte Maxwell, »ruf den Kellner noch einmal her. Du machst das immer so schön.«

Oop winkte mit seinem stämmigen Arm und brüllte. Er wartete einen Moment, dann brüllte er wieder — ohne Erfolg.

»Er hört einfach nicht auf mich«, knurrte Oop. »Vielleicht war es nicht unser Kellner. Ich kann diese Affen nicht unterscheiden. Für mich sieht einer wie der andere aus.«

»Die Menge gefällt mir heute nicht«, meinte Gespenst. »Ich habe sie beobachtet. Es liegt etwas in der Luft.«

»Was ist denn?« fragte Maxwell.

»Es sind zu viele Kerle von der Literatur-Fakultät da. Die halten sich normalerweise nicht hier auf.«

»Du meinst diese Shakespeare-Sache?«

»Das könnte es sein«, erklärte Gespenst.

Maxwell reichte Carol ein Glas und schob das zweite Glas Oop zu.

»Es ist eine Schande, daß Sie nichts bekommen«, sagte Carol zu Gespenst. »Wollen Sie nicht mal dran riechen?«

»Keine Sorge«, meinte Oop. »Der Junge berauscht sich an Mondstrahlen. Er kann auf einem Regenbogen tanzen. Er hat uns viel voraus. Zum Beispiel ist er unsterblich. Was könnte schon ein Gespenst umbringen?«

»Ich bin da nicht so sicher«, wehrte Gespenst ab.

»Wissen Sie, was mir im Kopf herumgeht?« fragte Carol. »Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel …«

»Aber nein«, sagte Gespenst.

»Sie erwähnten vorhin, daß Sie nicht wüßten, wessen Gespenst Sie sind. Stimmt das, oder war es nur ein Scherz?«

»Es stimmt tatsächlich. Und ich muß gestehen, daß es mich in Verwirrung und Verlegenheit bringt. Aber ich habe es ganz einfach vergessen. Ich komme aus England — das steht zumindest fest. Aber an den Namen kann ich mich nicht erinnern. Ich könnte mir denken, daß die meisten anderen Gespenster …«

»Wir haben keine anderen Gespenster«, sagte Maxwell. »Kontakte mit anderen Gespenstern, das schon. Auch Interviews und Konversationen. Aber kein anderes Gespenst hat sich bisher bereit erklärt, bei uns zu leben. Übrigens, Gespenst — weshalb hast du es getan?«

»Ihr gebt mir ein gewisses Gefühl der Realität«, sagte Gespenst.

»Nun, wir sind jedenfalls froh, daß du da bist«, meinte Maxwell.

»Sie drei sind wohl schon lange Freunde?« erkundigte sich Carol.

»Und das kommt Ihnen komisch vor?« entgegnete Oop.

»Hm, vielleicht«, sagte sie. »Ich weiß es selbst nicht recht.«

Weiter vorn hörte man Stühlescharren. Carol und Maxwell drehten sich um, aber sie konnten nicht viel sehen.

Plötzlich sprang ein Mann auf den Tisch und begann zu singen:

»Es lebe Billy Shakespeare,

der keine Zeile schrieb,

der toll es mit den Mädchen trieb

und Zoten sang bis nachts um vier …«

Spott- und Buhrufe kamen von den vorderen Tischen. Jemand warf ein Glas nach dem Sänger. Ein Teil der Menge nahm den Vers auf.

»Es lebe Billy Shakespeare,

der keine Zeile schrieb …«

Jemand mit Stentorstimme brüllte: »Zum Teufel mit Bill Shakespeare!«

Der Saal verwandelte sich in ein Schlachtfeld. Stühle kippten um. Leute standen auf den Tischen Schreie klangen auf, und ein Stoßen und Schieben setzte ein. Fäuste wurden geschwungen, und die verschiedensten Gegenstände segelten durch die Luft.

Maxwell sprang auf und schob Carol hinter sich. Oop griff über die Tischplatte hinweg mit einem wilden Kriegsschrei an. Dabei blieb er mit dem Fuß am Eiskübel hängen, und das Eis flog in alle Himmelsrichtungen.

»Ich mähe sie nieder«, schrie er Maxwell zu. »Du schichtest sie schön in der Ecke auf!«

Maxwell sah aus dem Nichts eine Faust kommen und duckte sich. Über seine Schulter streckte sich Oops sehniger Arm vor und traf den Gegner voll im Gesicht.

Carol stand an einem Tisch und hielt krampfhaft Sylvesters Nackenhaare fest. Sylvester stand auf den Hinterpfoten und schlug mit den Vorderpfoten wild um sich. Er knurrte, und seine Fänge blitzten.

»Wenn wir nicht verschwinden, bekommt die Katze ihr Steak«, stellte Oop fest. Er schlang einen Arm um Sylvesters Mitte und steuerte auf die Hintertür zu. »Kümmere du dich um das Mädchen«, rief er Maxwell zu. »Und nimm die Flasche mit. Wir werden sie noch brauchen.«

Maxwell griff nach der Flasche.

Von Gespenst war nichts zu sehen.

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