Kapitel 20

Als Maxwell das Gebäude des Zeit-College verließ, kamen die ersten Sterne heraus. Der Nachtwind war frostig. Die großen Ulmen waren dunklere Stellen in der Dunkelheit, und sie schoben sich vor die erleuchteten Fenster der Gebäude.

Maxwell stellte den Kragen seiner Jacke hoch und ging schnell auf den schmalen Weg hinüber, der entlang der Promenade verlief. Es waren wenige Leute im Freien.

Er merkte, daß er Hunger hatte. Seit dem frühen Morgen hatte er nichts mehr zu sich genommen. Und er mußte fast lachen, daß er jetzt, wo die letzte Hoffnung zerstört schien, an Essen dachte. Nicht nur an Essen — ihm fiel auch ein, daß er kein Dach mehr über dem Kopf hatte. Denn vor Oops Hütte lauerten die Reporter. Allerdings war es jetzt gleichgültig, ob er ihnen auswich oder nicht. Er konnte nichts mehr gewinnen oder verlieren, wenn er seine Geschichte erzählte. Aber er schreckte vor dem Gedanken an ihre ungläubigen Gesichter zurück, vor dem Gedanken an die Fragen, die sie stellen würden, und vor der Skepsis, die sie an den Tag legen würden.

Einen Moment lang blieb er unentschlossen stehen. Wohin sollte er gehen? Er überlegte, ob er ein Abendrestaurant kannte, in dem keine Mitglieder seiner Fakultät verkehrten. Heute, an diesem Abend der Entscheidung, hatte er wenig Lust, bekannten Gesichtern zu begegnen.

Etwas raschelte hinter ihm, und er drehte sich schnell um. Gespenst stand hinter ihm.

»Ah, du bist es«, sagte er.

»Ich habe auf dich gewartet«, sagte Gespenst. »Du warst lange da drinnen.«

»Ich mußte warten. Dann kamen wir ins Gespräch.«

»Hat es etwas genützt?«

»Überhaupt nichts. Das Ding ist verkauft und schon bezahlt. Der Rollenfüßler holt es morgen früh ab. Ich fürchte, damit ist die Sache entschieden. Ich könnte versuchen, noch mit Arnold zu sprechen, aber es hat keinen Sinn mehr.«

»Oop hält einen Tisch für uns frei. Ich kann mir vorstellen, daß du hungrig bist.«

»Und wie«, sagte Maxwell.

Gespenst wählte einen ungewöhnlich langen Weg durch Hintergäßchen und Seitenwege.

»Ein Lokal, in dem wir nicht auffallen werden«, sagte Gespenst. »Doch das Essen ist ordentlich, und der Whisky kostet nicht viel. Oop hat das eigens betont.«

Schließlich kamen sie über eine Eisentreppe in ein Kellerlokal. Maxwell schob die Tür auf. Das Innere war spärlich beleuchtet. Von irgendwo kamen Essensgerüche.

»Hier wird wie daheim serviert«, erklärte Gespenst. »Sie stellen das Zeug auf den Tisch, und jeder kann sich bedienen. Oop ist begeistert davon.«

Oops massige Gestalt wurde an einem der Tische sichtbar. Er winkte ihnen. Maxwell sah, daß außer ihnen höchstens ein halbes Dutzend Leute anwesend waren.

»Hierher!« schrie Oop. »Ich möchte dir jemand vorstellen.«

Gefolgt von Gespenst ging Maxwell quer durch das Lokal. Am Tisch saßen Carol und ein Fremder — mit einem dunklen, bärtigen Gesicht.

»Unser Gast«, sagte Oop. »Meister William Shakespeare.«

Shakespeare stand auf und streckte Maxwell die Hand entgegen. Über dem Bart wurden weiße Zähne sichtbar, als er lächelte.

»Ich schätze mich glücklich, so grobe, waschechte Kerle getroffen zu haben«, sagte er.

»Der Barde denkt daran, hierzubleiben«, erklärte Oop. »Er möchte sich bei uns niederlassen.«

»Nein, nicht der Barde«, sagte Shakespeare. »Ich bin dieses Namens nicht würdig. Ich bin nur ein ehrlicher Fleischhauer und Tuchhändler.«

»Nur ein Ausrutscher«, beruhigte Oop ihn. »Wir sind so daran gewöhnt …«

»Aye, aye, ich weiß«, sagte Shakespeare. »Ein Irrtum schleppt viele hinter sich.«

»Hierbleiben?« fragte Maxwell. Er warf Oop einen schnellen Blick zu. »Weiß Harlow, daß er hier ist?«

»Ich glaube nicht«, antwortete Oop. »Wir haben uns jedenfalls bemüht, ihn abzuschütteln.«

»Ich entkam der Leine«, sagte Shakespeare grinsend. »Jedoch nur mit Hilfe dieser Männer, wofür ich ihnen zu Dank verpflichtet bin.«

»Himmel, lernt ihr Idioten nie …«, begann Maxwell.

»Pete, seien Sie still«, unterbrach ihn Carol. »Ich finde es sehr nobel von Oop. Da kommt dieser arme Teufel aus einer anderen Zeit und möchte ganz harmlos unsere Welt kennenlernen, und …«

»Setzen wir uns«, sagte Gespenst zu Maxwell. »Du siehst aus, als könntest du einen harten Drink vertragen.«

Maxwell setzte sich neben Shakespeare. Gespenst nahm den freien Stuhl auf der anderen Seite des Gastes. Oop reichte eine Flasche über den Tisch.

»Fang nur an«, sagte er. »Keine langen Zeremonien. Hier geht es auch ohne Glas.«

Maxwell hob die Flasche an den Mund und nahm einen tiefen Schluck. Shakespeare beobachtete ihn bewundernd. Als er die Flasche absetzte, sagte Shakespeare: »Ich kann Ihr Mannestum nur bewundern. Ich versuchte einen Tropfen dieses Trankes, und er verbrannte mich nahezu.«

»Man gewöhnt sich daran«, tröstete ihn Maxwell.

Shakespeare deutete mit dem Finger auf eine halbvolle Flasche Bier. »Doch dieses Gebräu ist sanft für den Gaumen und Magen.«

Sylvester zwängte sich hinter Shakespeares Stuhl vorbei und legte seinen Kopf auf Maxwells Schoß. Maxwell kraulte ihn hinter den Ohren.

»Wird diese Katze schon wieder aufdringlich?« sagte Carol.

»Sylvester und ich sind Kumpel«, erklärte Maxwell. »Wir haben gemeinsame Kriege durchgestanden. Vergessen Sie nicht, daß wir letzte Nacht dem Rollenfüßler begegnet sind.«

»Ihre Miene ist freundlich«, sagte Shakespeare zu Maxwell. »Mich deucht, daß Ihre Geschäfte, die Sie bis jetzt ferngehalten haben, günstig verlaufen sind.«

»Sie sind überhaupt nicht verlaufen«, sagte Maxwell. »Der einzige Grund für meine freundliche Miene ist die nette Gesellschaft, in der ich mich befinde.«

»Du willst sagen, daß Harlow dich sitzenließ!« explodierte Oop. »Er hat dir nicht einmal einen Tag gegeben?«

»Er konnte nicht anders«, erklärte Maxwell. »Er hat die Bezahlung bereits erhalten, und der Rollenfüßler schafft das Ding morgen weg.«

»Wir können ihn dazu zwingen, seinen Entschluß zu ändern«, sagte Oop finster.

»Jetzt nicht mehr«, widersprach Maxwell. »Er kann nicht mehr aussteigen. Er kann weder das Geld zurückgeben, noch sein Wort brechen. Und wenn ihr das vorhabt, was ich euch an der Nasenspitze ansehe, dann braucht er nur den Vortrag abzublasen und den Leuten das Eintrittsgeld zurückzuerstatten.«

»Du hast wohl recht«, meinte Oop. »Wir wußten nicht, daß der Handel schon abgeschlossen war. Wir hatten die Absicht alle zusammen zu Arnold zu gehen und ihm handgreiflich klarzumachen, was zu tun ist. Aber das ist jetzt vorbei — darum nimm noch einen Schluck und gib mir dann die Flasche zurück.«

Maxwell nahm noch einen Schluck und reichte Oop die Flasche. Shakespeare trank sein Bier leer und knallte die Flasche auf den Tisch. Carol holte sich den Schnaps von Oop und goß sich etwas in ihr Glas.

»Es ist mir gleich, wenn ihr euch wie Barbaren aufführt«, sagte sie. »Aber ich trinke nicht aus der Flasche.«

»Bier!« brüllte Oop. »Mehr Bier für unseren werten Gast!«

»Ich danke Ihnen, Sir«, sagte Shakespeare.

»Wie hast du denn dieses Loch gefunden?« wollte Maxwell wissen.

»Ich kenne die Hintergassen des Universitätsviertels«, sagte Oop.

»Es war genau das Richtige für uns«, sagte Gespenst. »Die Leute vom Zeit-College werden die Gegend nach unserem Freund abklappern. Hat Harlow dir erzählt, daß er verschwunden ist?«

»Nein«, erwiderte Maxwell. »Aber er schien etwas nervös. Er erwähnte, daß er in Schwierigkeiten sei, aber man merkte ihm nicht an, daß es so schlimm stand. Ich glaube, er gehört zu den Leuten, die auf einem explodierenden Vulkan sitzen können, ohne die Miene zu verziehen.«

»Was ist mit den Reportern?« fragte Maxwell nach einiger Zeit. »Belagern sie immer noch die Hütte?«

Oop schüttelte den Kopf. »Nein. Aber sie werden zurückkommen. Wir müssen eine andere Schlafstelle für dich finden.«

»Ich kann mich ihnen ebensogut stellen«, sagte Maxwell. »Irgendwann kommt die Geschichte doch ans Tageslicht.«

»Ganz genau«, rief Oop. »Laß die Galaxis wissen, was sie verloren hat.«

»Nein«, sagte Maxwell. »Harlow ist mein Freund. Ich kann ihm das nicht antun.«

Ein Kellner brachte eine Flasche Bier und stellte sie ab.

»Eine Flasche!« wütete Oop. »Was soll das, eine Flasche? Gehen Sie sofort zurück und holen Sie einen ganzen Arm voll. Unser Freund hier ist vollkommen ausgetrocknet.«

»Hätten Sie ja gleich sagen können!« meinte der Kellner. »Ich kann es schließlich nicht riechen.«

Er schlurfte weg, um mehr Bier zu holen.

»Ihre Gastfreundschaft ist ohne Tadel«, sagte Shakespeare. »Doch ich fürchte, ich komme zu einer Zeit, da Sie mit Sorgen beladen sind.«

»Das mit den Sorgen stimmt«, erklärte Gespenst. »Gerade deshalb sind Sie uns willkommen.«

»Wie meinte Oop das, als er sagte, Sie wollten sich hier niederlassen?« erkundigte sich Maxwell.

»Meine Zähne sind krank«, sagte Shakespeare. »Sie hängen lose im Kiefer, und zu Zeiten leide ich an furchtbaren Schmerzen. Ich habe erfahren, daß es hier großartige Meister gibt, die sie ohne Schmerzen ziehen und mir neue einsetzen können.«

»Das ist tatsächlich möglich«, sagte Gespenst.

»Ich ließ ein Weib mit keifender Zunge daheim«, fuhr Shakespeare fort, »und es wäre mir lästig, zu ihr zurückzukehren. Auch ist das Getränk, das ihr Bier nennt, über alle Maßen wohlschmeckend, und ich hörte mit Freude, daß ihr ohne Zank mit den Kobolden und Feen zusammenlebt. Und daß ich hier, an diesem Tisch, mit einem Gespenst zusammensitzen kann, geht über all mein Verständnis hinaus und gibt mir das Gefühl, am Born der Weisheit zu schöpfen.«

Der Kellner kam mit einer ganzen Batterie von Flaschen und knallte sie auf den Tisch.

»Da!« sagte er knurrig. »Das wird wohl eine Weile reichen. Die Köchin sagt, daß das Essen gleich kommt.«

»Sie haben also nicht die Absicht, zu dem Vortrag zu erscheinen?« fragte Maxwell Shakespeare.

»Das wäre fürwahr ungeschickt«, erwiderte Shakespeare. »Man würde mich sofort nach der Rede zurück nach England schicken.«

»Da hat er recht«, warf Oop ein. »Sobald sie ihn in den Klauen haben, lassen sie ihn nicht mehr los.«

»Aber wovon wollen Sie hier leben?« fragte Maxwell. »Ihre Fähigkeiten passen nicht mehr in diese Welt.«

»Ich werde etwas finden«, sagte Shakespeare, »sobald mich die Not dazu zwingt.«

Der Kellner kam mit einem hochbeladenen Servierwagen. Er begann, das Essen auf den Tisch zu richten.

»Sylvester!« rief Carol.

Sylvester hatte sich schnell erhoben, die Tatzen auf den Tisch gelegt und sich zwei halbgare Scheiben Rostbraten geangelt. Mit dem Fleisch in der Schnauze verschwand er unter dem Tisch.

»Das Kätzchen ist hungrig«, sagte Shakespeare.

»Wenn es ums Essen geht, hat er überhaupt keine Manieren«, klagte Carol.

Unter dem Tisch hörte man das Krachen von Knochen.

»Meister Shakespeare«, sagte Gespenst, »Sie kommen aus England. Aus einem Städtchen am Avon.«

»Eine dem Auge wohltuende Landschaft«, sagte Shakespeare. »Aber angefüllt mit Gesindel. Wir haben Wilddiebe, Langfinger, Mörder, Straßenräuber und noch mehr dieses ekelerregenden Volkes …«

»Aber ich erinnere mich an die Schwäne im Fluß«, sagte Gespenst, »und an die Weiden am Ufer und …«

»Was?« kreischte Oop los. »Du kannst dich erinnern?«

Gespenst stand langsam auf, und an seinen Bewegungen war etwas, das die anderen verwirrte. Sie starrten ihn an. Er hob die Hand, die keine richtige Hand, sondern eher eine Tuchfalte war.

Seine Stimme war hohl, als käme sie aus weiter Ferne.

»Ja, ich erinnere mich«, erklärte er. »Nach all den Jahren erinnere ich mich. Ich hatte es entweder vergessen oder nie gewußt …«

»Meister Gespenst«, sagte Shakespeare. »Ihr Betragen ist befremdend. Welch sonderbare Stimmung hat Besitz von Ihnen ergriffen?«

»Ich weiß jetzt, wer ich bin«, sagte Gespenst triumphierend. »Ich weiß, wessen Geist ich bin.«

»Gott sei Dank«, rief Oop. »Dann hört endlich das Gefasel über die Vergangenheit auf.«

»Ich bitte Sie, wessen Geist könnten Sie wohl sein?« fragte Shakespeare.

»Der deine!« jammerte Gespenst. »Ich weiß es jetzt — ich weiß es jetzt — ich bin William Shakespeares Geist.«

Einen Moment lang saßen alle schweigend und benommen da. Dann kam aus Shakespeares Kehle ein erstickter Schrei. Mit einem plötzlichen Satz schnellte er von seinem Stuhl hoch, sprang über die Tischplatte und rannte zur Tür. Der Tisch kippte mit Getöse um. Maxwells Stuhl wurde mitgerissen, und eine Soßenschüssel ergoß ihren Inhalt in Maxwells Gesicht.

Er versuchte die Soße mit beiden Händen aus den Augen zu wischen. Von irgendwo weiter oben hörte man Oops Gebrüll.

Maxwell konnte wieder sehen, aber die Soße klebte ihm immer noch in den Haaren. Er kroch unter dem Tisch hervor und kam schwankend auf die Beine.

Carol saß inmitten der Essensreste auf dem Boden. Bierflaschen rollten hin und her. In der Küchentür stand die Köchin, eine mächtige Frau mit dicken Armen und wirrem Haar. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt. Sylvester saß neben dem Rostbraten, zerkleinerte ihn und fraß ihn gierig, bevor jemand etwas dagegen tun konnte.

Oop kam humpelnd von der Tür zurück.

»Keiner von ihnen zu sehen«, berichtete er.

Er streckte die Hand aus und hievte Carol hoch.

»So ein Esel!« sagte er bitter, und sie wußten, daß er Gespenst meinte. »Weshalb konnte er nicht den Mund halten? Selbst wenn er es wußte …«

»Aber er wußte es doch nicht«, sagte Carol. »Es fiel ihm erst in diesem Augenblick ein. Die Gegenüberstellung hat es ausgemacht. Oder irgend etwas, das Shakespeare sagte. Schließlich hat es ihn jahrelang beschäftigt, und als er es dann mit einemmal wußte …«

»Da haben wir den Salat«, erklärte Oop. »Shakespeare ist auf der Flucht, und wir werden ihn nicht mehr finden.«

»Gespenst bringt ihn schon zurück«, sagte Maxwell. »Deshalb lief er ihm ja nach.«

»Wie soll er das schaffen?« fragte Oop skeptisch. »Wenn Shakespeare ihn sieht, stellt er einen neuen Weltrekord im Dauerlauf auf.«

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