III Das Zelt des Schaustellers

Der Anblick erstarrte, als stünden wir beide und alle ringsum in einem Gemälde. Agias aufschauendes Gesicht – meine großen Augen; so verharrten wir inmitten der bäuerlichen Schar mit bunten Kleidern und Bündeln. Dann rührte ich mich, und sie war weg. Ich wäre zu ihr gelaufen, wenn ich gekonnt hätte; aber ich mußte mich durch die Schaulustigen zwängen, und es dauerte vielleicht hundert Herzschläge, bis ich an die Stelle gelangte, wo sie gestanden hatte.

Sie war inzwischen spurlos verschwunden in diesem Menschenauflauf, der sich immerfort wandelte und verteilte wie das Wasser unter dem Bug eines Schiffes. Barnoch, der im grellen Sonnenlicht aufschrie, wurde herausgeführt. Ich klopfte einem Bergmann auf die Schulter und rief ihm eine Frage zu, aber er hatte nicht auf die junge Frau neben sich geachtet und keine Ahnung, wohin sie gegangen sein mochte. Ich folgte der Menge, die dem Gefangenen folgte, bis ich mich vergewissert hatte, daß sie nicht darunter war. Weil mir nichts Besseres einfiel, begann ich dann auf dem Markt zu suchen, spähte in die Zelte und Buden, befragte Bäuerinnen, die ihr duftendes Ingwerbrot feilboten, und erkundigte mich bei den Verkäufern, die ihr gebratenes Fleisch anpriesen.

All dies klingt – indessen ich es, gemächlich einen Faden zinnoberroter Tinte des Hauses Absolut spinnend, niederschreibe – wohlbedacht, ja methodisch. Nichts könnte von der Wahrheit entfernter sein. Keuchend und schwitzend tat ich all das und plärrte, oft nicht einmal auf eine Antwort wartend, meine Fragen hinaus. Wie ein Antlitz in einem Traum schwebte Agias Gesicht vor meinem geistigen Auge: die breiten, flachen Wangen, das sanft gerundete Kinn, die sommersprossige, sonnengebräunte Haut und die langen, lachenden, höhnischen Augen. Weswegen sie hergekommen war, konnte ich mir nicht erklären; ich wußte nur, daß sie hier war und daß ihr Anblick die quälende Erinnerung an ihren Aufschrei wieder er weckte.

»Hast du eine Frau von dieser Größe mit braunen Haaren gesehen?« wiederholte ich in einem fort wie der Duellant, der »Cadroe von den Siebzehn Steinen« ausgerufen hatte, bis der Spruch so bedeutungslos wie das Zirpen der Zikaden geworden war.

»Ja. Jedes Landmädchen, das hierherkommt.«

»Weißt du, wie sie heißt?«

»Eine Frau? Sicher kann ich dir eine Frau besorgen.«

»Wo hast du sie verloren?«

»Keine Sorge, du findest sie bald wieder. Der Markt ist nicht so groß, daß jemand lange unauffindbar bleiben kann. Habt ihr beiden keinen Treffpunkt ausgemacht? Trink etwas Tee von mir – du siehst so müde aus.« Täppisch suchte ich nach einem Geldstück.

»Du brauchst nicht zu bezahlen, das Geschäft geht gut. Nun, wenn du unbedingt willst. Kostet nur ein Aes. Hier.«

Die alte Frau kramte aus ihrer Schürzentasche eine Handvoll Kleingeld hervor und goß dann dampfenden Tee aus ihrer Kanne in eine irdene Tasse, zu der sie mir einen Halm aus einem matten, silbrigen Metall anbot. Ich winkte ab.

»Ist sauber. Ich spüle alles nach jedem Kunden.«

»Ich bin das nicht gewohnt.«

»Dann paß auf –’s ist heiß. Hast du an der Richtstätte nachgesehn? Dort sind viele Leute.«

»Wo das Vieh ist? Ja.« Es war ein würziger, etwas bitterer Matetee.

»Weiß sie, daß du sie suchst?«

»Ich glaub’ nicht. Selbst wenn sie mich gesehen hat, wird sie mich nicht erkannt haben. Ich … ich bin anders angezogen als sonst.«

Die alte Frau schnaubte verächtlich und schob eine lose graue Haarsträhne unter das Kopftuch zurück. »Zum Markt zu Saltus? Natürlich! Jeder trägt sein bestes Gewand zum Jahrmarkt, was sich jedes vernünftige Mädchen denken kann. Was ist mit dem Ufer, wo der Gefangene in Ketten liegt?«

Ich schüttelte den Kopf. »Sie ist wie vom Erdboden verschluckt.«

»Aber du hast noch nicht aufgegeben. Ich seh’s dir an, weil du immer nach den Leuten schielst, die vorbeigehen. Um so besser für dich. Du wirst sie schon finden, obwohl ringsum neuerdings allerlei Merkwürdiges passiert, wie man hört. Man hat einen grünen Mann gefangen, weißt du das? Steckt dort drüben, wo du das Zelt siehst. Grüne Männer wissen alles, sagt man, wenn man sie nur zum Reden bringen kann. Dann die Sache mit der Kathedrale. Davon hast du wohl gehört?«

»Die Kathedrale?«

»Nicht so etwas, was die Städter darunter verstehen – ich weiß, du bist aus der Stadt, so wie du deinen Tee trinkst –aber die einzige Kathedrale, die die meisten von uns aus Saltus je zu Gesicht bekommen haben, eine hübsche obendrein mit lauter Hängelampen und Fenstern in den Wänden aus bunter Seide. Ich selbst bin nicht gläubig – oder glaube vielmehr, wenn der Pancreator sich nicht um mich schert, schere ich mich nicht um ihn, warum sollte ich auch? Trotzdem ist’s eine Schande, was sie getan haben, wenn es stimmt, was man ihnen nachsagt. Sie einfach in Brand zu stecken.«

»Meinst du die Kathedrale der Pelerinen?«

Die alte Frau nickte gescheit. »Ha, du sagst es selber. Du machst den gleichen Fehler wie sie. Es war nicht die Kathedrale der Pelerinen, es war die Kathedrale der Klaue. Was bedeutet, sie hatten kein Recht, sie niederzubrennen.«

Ich sagte für mich: »Also haben sie das Feuer wieder angezündet.«

»Wie bitte?« Die alte Frau spitzte die Ohren. »Das hab’ ich nicht verstanden.«

»Ich meinte, sie haben sie angezündet. Sie müssen den Strohboden angezündet haben.«

»Das habe ich auch gehört. Sie haben sich einfach zurückgezogen und zugeschaut, wie sie abgebrannt ist. Sie ist zu den Ewigen Auen der Neuen Sonne aufgefahren.«

Ein Mann auf der anderen Seite der Gasse begann eine Trommel zu schlagen. Als er innehielt, versetzte ich: »Es wird behauptet, sie sei in die Luft aufgestiegen.«

»Und ob sie das ist! Als mein Enkel davon erfuhr, war er zunächst wie vom Donner gerührt. Dann klebte er sich aus Papier eine Art Hut zusammen und hielt ihn über meinen Ofen, und das Ding stieg in die Höhe. Daß die Kathedrale emporgeschwebt sei, habe nichts zu besagen, dachte er sich, sei ganz und gar kein Wunder. Das zeigt, was es heißt, ein Tor zu sein – es kam ihm nicht in den Sinn, daß alles deswegen so gemacht war, damit die Kathedrale aufstiege, wie sie’s tat. Er kann die Hand in der Natur einfach nicht sehen.«

»Er hat sie nicht selbst gesehen?« fragte ich. »Die Kathedrale, meine ich.«

Sie verstand mich falsch. »Oh, mindestens ein Dutzend Mal, wenn sie hier durchgezogen sind.«

Der rezitierende Gesang des Trommlers, der mich an das Psalmodieren von Dr. Talos erinnerte, obschon rauher und ohne die beißende Intelligenz des Doktors vorgetragen, unterbrach unser Gespräch. »Weiß alles! Kennt jeden! Grün wie eine Stachelbeere! Seht selbst!«

(Das penetrante Getrommel: BUM! BUM! BUM!)

»Glaubst du, der grüne Mann weiß, wo Agia ist?«

Die alte Frau lächelte. »So also heißt sie. Nun weiß ich Bescheid, falls jemand den Namen erwähnt. Ob er’s weiß? Vielleicht. Du hast Geld, warum probierst du’s nicht?«

Warum eigentlich nicht, dachte ich.

»Stammt aus den Urwäldern des Nordens! Ißt nicht! Verwandt mit den Büschen und Gräsern!« BUM! BUM! »Die Zukunft und die graue Vorzeit sind für ihn eins!«

Als er sah, daß ich auf den Eingang seines Zeltes zuging, hielt er mit seinem Geschrei inne. »Kostet nur ein Aes, ihn zu sehen. Zwei, mit ihm zu sprechen. Drei, mit ihm allein zu sein.«

»Allein für wie lange?« fragte ich, während ich drei kupferne Aes entnahm. Ein gequältes Lächeln huschte über das Gesicht des Trommlers. »So lange du willst.« Ich reichte ihm das Geld und trat ein.

Offensichtlich hatte er damit gerechnet, daß ich nicht lange bleiben wollte, und ich hatte einen Gestank oder etwas anderes Ekliges erwartet. Es roch jedoch nur ein wenig nach trocknendem Heu. Das durch eine Öffnung im Zeltdach einfallende Sonnenlicht bildete in der Mitte einen Lichtkegel, in dem der Staub fütterte, worin angekettet ein Mann von der Farbe heller Jade saß. Er trug einen Kilt aus Laub, das schon welkte; neben ihm stand ein bis zum Rand mit klarem Wasser gefüllter Tonkrug.

Zunächst herrschte Schweigen. Ich betrachtete ihn stehend. Er blickte zu Boden. »Das ist keine Bemalung«, sagte ich. »Und gefärbt ist es wohl auch nicht. Und du hast nicht mehr Haare als der Mann, der aus dem zugemauerten Haus geschleppt worden ist.«

Er sah zu mir auf, dann wieder vor sich nieder. Selbst sein Augenweiß hatte eine grünliche Tönung.

Ich versuchte, ihn zu reizen. »Wenn du wirklich eine Pflanze bist, solltest du Haare aus Gras haben.«

»Nein.« Er hatte eine sanfte Stimme, die nur wegen ihrer Tiefe nicht weiblich klang.

»Also bist du eine Pflanze? Eine sprechende?«

»Du bist kein Landmann.«

»Ich komme aus Nessus. Vor ein paar Tagen habe ich die Stadt verlassen.«

»Mit etwas Bildung.«

Ich dachte an Meister Palaemon, dann an Meister Malrubius und meine arme Thecla, und zuckte die Achseln. »Ich kann lesen und schreiben.«

»Dennoch weißt du nichts über mich. Ich bin keine sprechende Pflanze, wie du eigentlich sehen müßtest. Selbst wenn eine Pflanze der einen Evolutionslinie unter vielen Millionen, die zu Intelligenz führt, folgen würde, ist es ausgeschlossen, daß sie sich zu einem Duplikat der menschlichen Gestalt in Holz und Laub entwickelte.«

»Dasselbe ließe sich von Steinen sagen, trotzdem gibt es Statuen.«

Obwohl tiefe Verzweiflung seine Miene prägte (er machte ein viel traurigeres Gesicht als mein Freund Jonas), zerrte etwas an seinen Mundwinkeln. »Schön gesagt. Du hast keine wissenschaftliche Ausbildung, aber du bist gebildeter, als du glaubst.«

»Im Gegenteil, meine ganze Ausbildung ist wissenschaftlich gewesen – wenn auch solch phantastische Spekulationen nicht Teil davon gewesen sind. Was bist du?«

»Ein großer Seher. Ein großer Lügner wie jeder, dessen Fuß in einer Falle steckt.«

»Wenn du mir sagst, was du bist, versuche ich, dir zu helfen.«

Er sah mich an, und mir war, als hätte ein großes Gewächs Augen aufgeschlagen und ein menschliches Gesicht offenbart. »Ich glaube dir«, versetzte er. »Wie kommt’s, daß du unter den Aberhunderten, die in mein Zelt pilgern, Mitleid kennst?«

»Ich kenne kein Mitleid, aber ich bin durchdrungen von Achtung vor Recht und Gerechtigkeit und kenne den Alkalden dieses Dorfes. Ein grüner Mensch ist dennoch ein Mensch; und falls er Sklave ist, muß sein Herr darlegen, wie er das geworden und wie er selbst in seinen Besitz gekommen ist.«

Der grüne Mann erwiderte: »Es ist wohl töricht von mir, dir zu vertrauen. Doch ich tu’s. Ich bin ein freier Mann und komme aus eurer Zukunft, um eure Zeit zu erforschen.«

»Das ist unmöglich.«

»Die grüne Farbe, die euch Herrschaften so verdutzt, kommt lediglich von dem, was ihr Algen nennt. Wir haben sie umgeformt, so daß sie in unserm Blut leben können, und durch diesen Eingriff den langen Kampf der Menschheit mit der Sonne endlich friedlich beendet. In uns leben und sterben die winzigen Pflanzen, und unser Körper ernährt sich von ihnen und ihren Toten und bedarf keiner anderen Nahrung mehr. Alle Hungersnöte, alle Mühen des Ackerbaus sind beendet.«

»Aber ihr braucht Sonne.«

»Ja«, antwortete der grüne Mann. »Und ich habe hier nicht genug. Die Tage meines Zeitalters sind heller.«

Dieser einfache Ausspruch fesselte mich wie nichts anderes seit meinem ersten Blick auf die dachlose Kapelle im Bruchhof unserer Zitadelle. »Also kommt die Neue Sonne wie prophezeit«, sagte ich, »und gibt es tatsächlich ein zweites Leben für unsere Urth – falls es stimmt, was du sagst.«

Der grüne Mann warf den Kopf zurück und lachte. Viel später sollte ich hören, wie der Schrei des Alzabos klingt, wenn er durch die schneeverwehten Hochebenen des Gebirges schweift; sein Lachen ist schrecklich, aber das des grünen Mannes war schrecklicher, und ich wich zurück. »Du bist kein Mensch«, stieß ich hervor. »Jedenfalls nicht jetzt, falls du je einer gewesen bist.«

Er lachte abermals. »Und ich hoffte auf dich. Was bin ich für ein armes Geschöpf. Ich dachte, ich hätte mich damit abgefunden, hier in diesem Volk zu sterben, das nicht mehr als wandelnder Staub ist; aber mit dem kleinsten Hoffnungsschimmer bröckelte alle Resignation ab. Ich bin ein wahrer Mensch, Freund. Du nicht. In ein paar Monaten werd’ ich tot sein.«

Ich dachte an seinesgleichen. Wie oft hatte ich die froststarren Stengel der Sommerblumen gesehen, die der Wind gegen die Wände der Mausoleen in unserer Nekropolis drückte. »Ich verstehe dich. Die warmen Sonnentage kommen, aber wenn sie gehen, gehst du mit ihnen. Samen ziehen, solange es geht.« Ernüchtert entgegnete er: »Du glaubst mir nicht und verstehst nicht einmal, daß ich ein Mensch wie du bin, dennoch hast du Mitleid mit mir. Vielleicht hast du recht, und es ist für uns eine neue Sonne gekommen, die wir, weil sie gekommen ist, vergessen haben. Sollte es mir je gelingen, in meine Zeit zurückzukehren, werde ich ihnen davon berichten.«

»Wenn du tatsächlich aus der Zukunft stammst, warum kannst du nicht einfach vorwärts, heimwärts gehen und so entkommen?«

»Weil ich angekettet bin, wie du siehst.« Er streckte das Bein vor, um mir die Schelle um seinen Knöchel zu zeigen. Sein fruchtiges Fleisch war rundherum geschwollen wie die Borke eines Baumes, den ein Eisenring beengt.

Der Türvorhang ging auf, und der Trommler steckte den Kopf herein. »Du bist noch hier? Leute warten draußen.« Nach einem vielsagenden Blick auf den grünen Mann zog er sich zurück.

»Er meint, ich soll dich abwimmeln, oder er schließt die Öffnung, durch die mein Sonnenlicht fällt. Die bezahlen, um mich zu sehen, wimmle ich ab, indem ich ihnen die Zukunft vorhersage, und so will ich auch die deinige vorhersagen. Du bist noch jung und stark. Aber noch ehe diese Welt sich zehnmal um die Sonne bewegt hat, wirst du schwächer sein, und die Kraft, die du nun hast, nicht wiedererlangen. Wenn du Söhne zeugst, schaffst du dir Feinde gegen dich. Wenn …«

»Genug!« unterbrach ich. »Was du mir sagst, ist lediglich jedermanns Zukunft. Beantworte mir eine Frage wahrheitsgemäß, und ich werde gehen. Ich suche eine Frau namens Agia. Wo werde ich sie finden?«

Er rollte die Augen nach oben, bis unter den Lidern nur mehr schmale, hellgrüne Sicheln sichtbar waren. Ein leichtes Beben überkam ihn; er stand auf und breitete die Arme aus, wobei seine Finger zitterten wie Zweige. Langsam antwortete er: »Über der Erde.«

Das Zucken ließ nach, und er nahm wieder Platz, älter und noch bleicher wirkend.

»Du bist nur ein Schwindler«, erwiderte ich, als ich mich abkehrte. »Und ich Einfaltspinsel habe dir geglaubt.«

»Hör zu!« flüsterte der grüne Mann. »Als ich hierhergekommen bin, habe ich deine ganze Zukunft durchlaufen. Zum Teil erinnere ich mich, wenn auch dunkel. Ich habe dir nur die Wahrheit gesagt – und wenn du tatsächlich ein Freund des hiesigen Alkalden bist, will ich dir noch etwas sagen, das du ihm gern ausrichten darfst – etwas, das ich durch die Fragen, die mir hier gestellt werden, in Erfahrung gebracht habe. Bewaffnete Männer versuchen, einen Mann namens Barnoch zu befreien.«

Ich nahm meinen Wetzstein aus der Gürteltasche, brach ihn auf dem Anbindepflock entzwei und gab ihm eine Hälfte. Zunächst war ihm nicht klar, was er da in Händen hielt. Dann sah ich, wie in ihm die Ahnung dämmerte, so daß er sich in seiner Freude anscheinend entfaltete, als badete er sich schon im helleren Licht seiner eigenen Zeit.

Загрузка...