Richte deinem Herrn aus, ich habe seine Botschaft abgeliefert«, sagte ich.
Hildegrin lächelte. »Und hast du eine Antwort zurückzubringen? Ich bin wohlgemerkt vom eichenen Penetralium.«
»Nein«, entgegnete ich. »Keine.«
Dorcas blickte auf. »Aber ich. Jemand im Garten des Hauses Absolut sagte mir, ich würde jemand begegnen, der sich als solcher ausgäbe, und ich hätte ihm mitzuteilen: ›Wenn die Bäume ausgeschlagen haben, muß der Wald gen Norden marschieren.‹«
Hildegrin legte einen Finger an seine Nase. »Der ganze Wald? Hat es so geheißen?«
»Er sagte wortwörtlich, was ich wiedergab, mehr nicht.«
»Dorcas«, fragte ich, »warum hast du mir das nicht erzählt?«
»Ich hatte kaum Gelegenheit, allein mit dir zu sprechen, seit wir uns an der Kreuzung wiederfanden. Außerdem ahnte ich, daß es ein gefährliches Wissen sei. Ich sah keinen Grund, dir diese Gefahr aufzuhalsen. Es war der Mann, der Dr. Talos das viele Geld gegeben hatte, der mir das sagte. Allerdings hat er es nicht Dr. Talos mitgeteilt – das weiß ich, weil ich ihnen zugehört habe. Er sagte nur, er sei dein Freund, und vertraute mir dann die Nachricht an.«
»Mit dem Auftrag, sie mir auszurichten?«
Dorcas schüttelte den Kopf.
Das Kichern aus Hildegrins rauher Kehle hörte sich an, als käme es von unter der Erde. »Nun, das macht doch gar nichts mehr, oder? Sie wurde abgeliefert, und mir persönlich hätte es offengestanden nichts ausgemacht, wenn es noch ein bißchen gedauert hätte. Wir alle hier sind Freunde, bis auf das kranke Mädchen vielleicht, aber es kann wohl nicht hören, was wir sagen, oder verstehen, was wir meinen, falls es uns hört.
Wie, sagtest du, heißt die Kranke? Ich konnte euch nicht allzu deutlich verstehen, als ich drüben auf der anderen Seite war.«
»Deswegen nicht, weil ich ihn gar nicht sagte«, erklärte ich ihm. »Aber sie heißt Jolenta.« Beim Aussprechen von Jolenta blickte ich zu ihr, erkannte aber im Schein des Feuers, daß sie nicht mehr Jolenta war – nichts von der schönen Dame, die Jonas geliebt hatte, war in diesem hageren Gesicht verblieben.
»Und das war ein Vampyrbiß? Müssen in letzter Zeit ungewöhnlich häufig auftreten. Ich wurde selbst ein paar Mal gebissen.« Ich warf ihm einen durchdringenen Blick zu, und er fügte hinzu: »O ja, ich hab’ sie schon einmal gesehen, junger Herr, genau wie dich und die kleine Dorcas. Du hast doch nicht geglaubt, ich ließe dich und das andere Mädel einfach gehen aus dem Botanischen Garten, oder? Nicht, wo du davon sprachst, nach Norden zu ziehen und dich mit einem Offizier der Septentrionen zu schlagen. Ich sah den Kampf und sah dich den jungen Burschen köpfen – ich half übrigens bei seiner Festnahme, weil ich dachte, er sei bestimmt aus dem Haus Absolut –, und ich war hinten im Publikum, als ihr in jener Nacht euer Stück aufführtet. Ich verlor dich erst bei dem Zwischenfall im Tor am nächsten Tag aus den Augen. Ich hab’ dich gesehn und hab’ sie gesehn, obschon von ihr nicht mehr viel übrig ist bis aufs Haar, und sogar das ist anders geworden.«
Merryn fragte die Sibylle: »Soll ich’s ihnen sagen, Mutter?«
Die Greisin nickte. »Wenn du kannst, Kind.«
»Ihr wurde ein falscher Glanz verliehen, der sie schön machte. Er verfällt nun, weil sie viel Blut verloren und große Strapazen hinter sich hat. Bis morgen früh werden nur mehr Spuren davon zu sehen sein.«
Dorcas fuhr auf. »Zauberei, meinst du?«
»Es gibt keine Zauberei. Es gibt nur Wissen, das mehr oder weniger verborgen ist.«
Hildegrin betrachtete Jolenta mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck. »Wußte nicht, daß sich das Aussehen so verändern läßt. Wär’ vielleicht nützlich, das wär’s. Kann deine Herrin das?«
»Sie könnte viel mehr, wenn sie nur wollte.«
Dorcas flüsterte: »Aber wie wurde das gemacht?«
»Ihr Blut wurde mit Sekreten gewisser tierischer Drüsen versetzt, um die Einlagerung von Gewebe zu beeinflussen. So bekam sie eine schlanke Taille, Brüste wie Melonen und so weiter. Vielleicht wurden sie auch benutzt, um ihre Waden zu vergrößern. Eine gründliche Reinigung und die Anwendung heilsamer Brühen für die Haut verliehen ihrem Gesicht ein frisches Aussehen. Auch die Zähne wurden gesäubert, und einige wurden abgeschliffen und mit falschen Kronen versehen – eine ist nun, wie man sieht, herausgefallen. Ihr Haar wurde getönt und durch ein eingenähtes Netz farbiger Seifenfäden dichter gemacht. Gewiß wurde auch die Körperbehaarung dauerhaft entfernt, und wenigstens das wird so bleiben. Am allerwichtigsten aber ist, daß ihr, in Trance versetzt, Schönheit eingeredet worden ist. Solche Versprechungen werden mit einer Zuversicht, die größer als die eines jeden Kindes ist, geglaubt, und ihr Glaube hat euch den eurigen abgenötigt.«
»Kann man nichts für sie tun?« wollte Dorcas wissen.
»Ich kann’s nicht, und eine Sibylle befaßt sich nicht mit derlei Dingen, außer in höchster Not.«
»Aber sie wird am Leben bleiben?«
»Wie Mutter sagte – obwohl sie es gar nicht will.«
Hildegrin räusperte sich und spuckte über den Rand des Daches. »Das war’ also erledigt. Wir haben für sie getan, was wir können, und mehr können wir nicht tun. Ich würd’ also sagen, packen wir an, wozu wir gekommen sind. Ich geb’ dir recht, Sibylle, es ist gut, daß die hier aufgetaucht sind. Ich hab’ die Nachricht, auf die ich gewartet hab’, und sie sind wie ich Freunde vom Herrn des Laubes. Der junge Mann kann mir helfen, diesen Apu-Punchau raufzuholen, und darüber bin ich recht froh, sind meine zwei Gefährten unterwegs doch umgebracht worden. Was hält uns also t noch ab, anzufangen?«
»Nichts«, murmelte die Sibylle. »Der Stern steht im Aszendenten.«
Dorcas meinte: »Wenn wir euch schon helfen sollen, wär’s dann nicht besser, wir wüßten, worum’s geht?«
»Die Vergangenheit zurückzuholen«, verkündete Hildegrin. »Wieder in die alte Glanzzeit der Urth einzutauchen. In diesem Haus, auf dem wir sitzen, hat einmal jemand gelebt, der Dinge gewußt hat, die von ausschlaggebender Bedeutung sein könnten. Ich will ihn raufholen. Das ist sozusagen der Höhepunkt einer Laufbahn, die in einschlägigen Kreisen als ganz schön spektakulär gilt.«
Ich fragte: »Du willst das Grab öffnen? Aber selbst mit Alzabo …«
Die Sibylle streckte die Hand aus und streichelte Jolenta beruhigend die Stirn. »Nennen wir es ein Grab, aber es ist nicht das seine gewesen. Eigentlich sein Haus.«
»Du wirst’s schon sehn, wenn du an meiner Seite arbeitest«, erklärte Hildegrin. »Hin und wieder hab’ ich dieser Chatelaine einen Gefallen getan. Mehr als einen, wenn ich das sagen darf, und mehr als zwei. Ich hab’ mir gedacht, nun sei es allmählich Zeit zum Abkassieren. Also trug ich meinen kleinen Plan dem Herrn des Waldes vor. Und so sind wir hier.«
Ich entgegnete: »Soviel ich gehört habe, dient die Sibylle dem Vater Inire.«
»Sie zahlt ihre Schulden«, eröffnete Hildegrin dünkelhaft. »Wie alles, was etwas taugt. Und man muß keine weise Greisin sein, um zu wissen, daß es klug wäre, ein paar Freunde auf der Gegenseite zu haben – für den Fall, daß diese Seite gewinnt.«
Dorcas fragte die Sibylle: »Wer war dieser Apu-Punchau, und warum steht sein Palast noch, während der Rest der Stadt dem Erdboden gleich ist?«
Als die Greisin keine Antwort gab, erwiderte Merryn: »Es ist weniger als eine Legende, denn nicht einmal die Gelehrten kennen seine Geschichte. Die Mutter hat uns gesagt, sein Name bedeute Haupt des Tages. In den frühesten Äonen erschien er in dieser Gegend und lehrte die Leute viele wunderbare Geheimnisse. Er verschwand oft, kehrte aber immer wieder. Schließlich kam er nicht mehr zurück, und Eindringlinge legten seine Städte in Schutt und Asche. Nun soll er ein letztes Mal wiederkehren.«
»Wirklich? Ohne Zauberei?«
Die Sibylle sah Dorcas aus Augen an, die so hell wie die Sterne schienen. »Wörter sind Symbole. Merryn beschränkt die Zauberei gern als etwas, das nicht existiert … also existiert sie nicht. Wenn du das, was wir hier tun werden, als Zauberei bezeichnen willst, dann existiert Zauberei, während wir sie betreiben. In einem fernen Land gab es einmal zwei Reiche, die durch ein Gebirge getrennt wurden. Ein Herrscher kleidete seine Soldaten gelb, der andere die seinen grün. Hundert Generationen lang bekriegten sie sich. Ich sehe, dein Begleiter kennt die Geschichte.«
»Und nach hundert Generationen«, fuhr ich fort, »kam ein Einsiedler zu ihnen und riet dem Herrscher des gelben Heeres, seine Mannen grün zu kleiden, und dem Führer der gelben Armee, seine Krieger in gelbe Uniformen zu stecken. Aber der Kampf ging weiter wie zuvor. In meiner Gürteltasche habe ich ein Buch, das heißt Die Wunder von Himmel und Urth, und darin steht diese Sage.«
»Das ist das weiseste aller menschlichen Bücher«, sagte die Sibylle, »obwohl daraus nur wenige vom Lesen einen Nutzen ziehen können. Kind, erkläre diesem Mann, der eines Tages ein Weiser sein wird, was wir heut’ nacht tun.«
Die junge Hexe nickte. »Die ganze Zeit existiert. Das ist die Wahrheit, die alle Legenden übersteigt. Wenn die Zukunft jetzt nicht existiert, wie könnten wir uns darauf zubewegen? Wenn die Vergangenheit nicht noch existierte, wie könnten wir sie hinter uns lassen? Im Schlaf ist der Geist in seine Zeit eingebettet, weswegen wir so oft die Stimmen der Toten hören oder Wissen über das Kommende erlangen. Jene, die wie die Mutter gelernt haben, wachend in diesen Zustand zu gelangen, leben, von ihren Leben umgeben, genauso wie der Abraxus die ganze Zeit als einen immerwährenden Augenblick gewahrt.«
Es hatte wenig Wind gegeben in dieser Nacht, doch fiel mir nun auf, daß der wenige sich nun ganz gelegt hatte. Eine Stille lag in der Luft, daß Dorcas Worte trotz ihrer sanften Stimme in meinen Ohren zu dröhnen schienen. »Ist’s denn das, was diese Frau, die du die Sibylle nennst, tun wird? In diesen Zustand überzugehen und mit der Stimme des Toten diesem Manne zu sagen, was er zu wissen wünscht?«
»Das kann sie nicht. Sie ist sehr alt, aber diese Stadt ist längst zerstört gewesen, als sie Leben erlangt hat. Nur ihre eigene Zeit umgibt sie, denn mehr kann der Geist aus eigener Erfahrung nicht erfassen. Um die Stadt Wiederaufleben zu lassen, müssen wir uns eines Geistes bedienen, der gelebt hat, als sie ganz gewesen ist.«
»Gibt es denn auf der Welt jemand, der so alt ist?«
Die Sibylle schüttelte den Kopf. »In der Welt? Nein. Dennoch existiert ein solcher Geist. Schau, wohin ich zeige, Kind, unmittelbar über den Wolken! Der rote Stern dort heißt Fischmaul, und auf seiner einzigen überlebenden Welt wohnt ein uralter, scharfsinniger Geist. Merryn, nimm meine Hand, und du, Dachs, nimm die andere! Folterer, nimm die Rechte deiner kranken Freundin und Hildegrins Rechte. Deine Buhlin muß die Linke der Kranken und Merryns Linke nehmen … Nun ist der Kreis geschlossen, die Männer auf der einen, die Frauen auf der anderen Seite.«
»Und wir sollten uns besser beeilen«, brummte Hildegrin. »Es kommt ein Unwetter, würd’ ich sagen.«
»Ja – so schnell es geht. Nun muß ich den Geist eines jeden von euch benutzen, und der Geist der Kranken wird mir keine große Hilfe sein. Ihr werdet spüren, wie ich euer Denken lenke. Tut, was ich euch sage.«
Indem sie Merryns Hand kurz losließ, griff die alte Frau (falls sie überhaupt eine Frau war) in ihr Mieder und zog eine Wurzel hervor, deren Spitzen sich in der Dunkelheit auflösten, als lägen sie am Rande meines Blickfelds, obwohl die Wurzel nicht länger als ein Dolch war. Sie öffnete den Mund; um die Wurzel zwischen den Zähnen zu halten, wie ich glaubte, aber sie schluckte sie hinunter. Im nächsten Moment erkannte ich das leuchtende Gebilde als scharlachroten Schatten unter der lappigen Haut ihres Halses.
»Schließt alle die Augen … Es ist eine Dame hier, die ich nicht kenne, eine hohe Dame in Fesseln … Schon gut, Folterer, ich kenne sie jetzt … Daß mir keiner die Hand losläßt.«
In der Benommenheit, die Vodalus’ Bankett gefolgt war, hatte ich erlebt, was es hieß, mit einem anderen das Denken zu teilen. Nun war es anders. Die Sibylle erschien nicht so, wie ich sie gesehen hatte, oder als jüngerere Version ihrer selbst oder (so hatte ich den Eindruck) als sonst etwas. Vielmehr spürte ich, wie sich ihre Gedanken um die meinen legten, wie ein Fisch in einem Glas in einer unsichtbaren Wasserblase schwimmt. Thecla war bei mir, aber ich konnte sie nicht ganz sehen. Mir war, als stände sie hinter mir; bald sah ich ihre Hand auf meiner Schulter, bald fühlte ich ihren Atem auf meiner Wange.
Dann war sie verschwunden, und mit ihr alles übrige. Ich spürte, wie meine Gedanken, verloren in den Ruinen, in die Nacht hinausgetragen wurden.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Dach neben dem Feuer. Vor meinen Mund war Schaum aus Speichel und Blut getreten, denn ich hatte mir Lippen und Zunge zerbissen. Meine Beine waren so schwach, daß ich nicht aufstehen konnte, aber ich vermochte mich aufzusetzen.
Zunächst glaubte ich, die anderen seien nicht mehr da. Das Dach unter mir war fest, aber die anderen hatten sich in spukartig verschwommene Erscheinungen aufgelöst. Ein Gespenst Hildegrin lag ausgestreckt zu meiner Rechten –ich hielt die Hand an seine Brust und fühlte das Herz dagegenschlagen wie ein Nachtfalter, der zu entkommen sucht.
Jolenta war am benommensten, fast weggetreten. Man hatte mit ihr mehr gemacht, als Merryn vermutet hatte; ich sah Drähte und Metallstreifen unter ihrem Fleisch hervorschimmern. Ich schaute dann auf mich und meine Beine und bemerkte, daß die Klaue wie eine blaue Flamme durch das Leder meines Stiefels strahlte. Ich griff danach, hatte aber keine Kraft in den Fingern und konnte sie nicht hervorziehen.
Dorcas schien zu schlafen. Über ihre Lippen floß kein Schaum, und ich konnte sie deutlicher als Hildegrin sehen. Merryn war zu einer schwarzgewandeten Puppe zusammengesackt – so dünn und verschwommen, daß Dorcas neben ihr richtig robust wirkte. Da keine Intelligenz mehr diese elfenbeinerne Maske belebte, zeigte sie sich mir als bloßes Pergament über Knochen.
Wie ich angenommen hatte, war die Sibylle gar keine Frau; allerdings war sie auch keine dieser Schreckensgestalten, die ich im Garten des Hauses Absolut erblickt hatte. Etwas schlüpfrig Schlangenhaftes wand sich um die leuchtende Wurzel. Ich suchte nach dem Kopf, aber fand ihn nicht, obschon ein jedes Muster auf dem Rücken der Natter ein Gesicht mit verzückten Augen war.
Dorcas erwachte, während ich mich reihum in der Runde umsah. »Was ist mit uns geschehen?« fragte sie. Hildegrin regte sich.
»Ich glaube, wir sehen uns aus einer Perspektive, die länger als ein einziger Augenblick ist.«
Ihr Mund öffnete sich, aber kein Schrei drang über ihre Lippen.
Obwohl mit den finsteren Wolken kein Wind aufgekommen war, wirbelte Staub durch die Straßen unter uns. Ich weiß nicht, wie ich es anders beschreiben soll als zu sagen, es handelte sich anscheinend um eine unzählige Schar winziger Insekten, hundertmal kleiner als Mücken, die in den Fugen des krummen Pflasters verborgen gewesen waren und nun, vom Mondschein angelockt, ihren Hochzeitsflug antraten. Ihre Bewegungen waren lautlos und ungeordnet, aber nach einer Weile schloß sich die wirre Masse zu Schwärmen zusammen, die hin und her schwirrten, immer größer und dichter wurden und sich schließlich wieder auf das Steinfeld niederließen. Es schien nun, als flögen die Insekten nicht mehr, sondern kröchen durch- und übereinander, der Mitte des Schwarms zustrebend. »Sie sind lebendig«, sagte ich.
Aber Dorcas flüsterte: »Sieh doch, sie sind tot!«
Sie hatte recht. Die bis vor einem Moment so lebensprühenden Schwärme boten sich dem Auge als bleiche Gerippe dar; die Staubkörnchen, die sich zusammenfügten, wie man alte Scherben zusammenfügt, um vor abertausend Jahren zu Bruch gegangene Glasmalereien wiederherzustellen, bildeten Schädel, die fahl im Mondschein schimmerten. Tiere – Aelurodonten, plumpe Speläen und schleichende Gestalten, für die ich keinen Namen hatte, bewegten sich – verschwommener als wir, die vom Dach zusahen – zwischen den Toten.
Nach und nach standen sie auf, und die Tiere verschwanden. Sie machten sich, zunächst noch schwächlich, daran, ihre Stadt wiederaufzubauen; Steine wurden gestemmt, und aus Asche geformte Balken wurden in den errichteten Mauern verankert. Die Leute, die zuerst nur wie wandelnde Leichname gewirkt hatten, sammelten bei ihrem Werk Kraft und wurden ein säbelbeiniges Volk mit dem Gang von Matrosen, das mit starken, breiten Schultern gigantische Steine rollte. Bald war ihre Stadt wieder ganz, und wir warteten, was nun geschähe.
Trommeln brachen die Stille der Nacht; dem Klang nach zu urteilen hatte bei ihrem letzten Ertönen ein Wald die Stadt umgeben, denn die Schläge hallten wider, wie ein Laut nur zwischen mächtigen Baumstämmen widerhallt. Ein Schamane mit geschorenem Haupt schritt durch die Straße, nackt und bemalt mit so ausdrucksvollen Schriftzeichen, wie ich sie noch nie gesehen hatte; die bloße Form der Wörter schrie einem die Bedeutung schier entgegen.
Ihm folgten, hintereinander im Gleichschritt gehend und Kapriolen machend, hundert oder mehr Tänzer, die Hände jeweils auf den Kopf des Vorangehenden gelegt. Ihre Gesichter waren nach oben gerichtet, so daß ich mich fragte (und noch frage), ob sie mit ihrem Tanz nicht die hundertäugige Schlange, die wir Sibylle nannten, nachahmten. Langsam ringelten und wanden sie sich die Straße auf und ab, um den Schamanen herum und wieder zurück, bis sie an den Eingang des Hauses gelangten, von dem aus wir zusahen. Wie mit einem Donnerschlag fiel die Steintafel der Tür um. Ein Duft wie von Myrrhe und Rosen drang hervor.
Heraus trat ein Mann, um die Tänzer zu begrüßen. Hätte er auch hundert Arme gehabt oder das Haupt in den Händen getragen, ich wäre nicht verblüffter gewesen, denn sein Gesicht kannte ich seit meiner Kindheit von der bronzenen Totenstatue im Mausoleum, worin ich als Knabe oft gespielt hatte. Reife aus gediegenem Gold schmückten seine Arme, besetzt mit Hyazinthen und Opalen, Karneolen und funkelnden Smaragden. Gemessenen Schrittes ging er in die Mitte des Reigens der sich wiegenden Tänzer. Dann kehrte er sich uns zu und erhob die Arme. Er blickte zu uns, und ich wußte, daß von den Hunderten dort Versammelten er allein uns wirklich sah.
Ich war so verzückt von dem Schauspiel unter mir, daß ich nicht bemerkt hatte, wie Jonas vom Dach gestiegen war. Nun huschte er – wenn man bei einem so grobschlächtigen Mann von Huschen sprechen kann – in die Menge und ergriff Apu-Punchau.
Was nun folgte, kann ich kaum beschreiben. In gewisser Weise war es wie das kleine Drama im Haus des gelben Waldes im Botanischen Garten; dennoch war’s viel seltsamer, wenn auch vielleicht nur deswegen, weil ich damals gewußt hatte, daß die Frau und ihr Bruder und der Wilde unter einem Bann standen. Nun war mir fast, als seien Hildegrin, Dorcas und ich einem Zauber unterlegen. Die Tänzer konnten Hildegrin bestimmt nicht sehen, aber irgendwo wurden sie ihn gewahr, denn sie beschrien ihn und schlugen mit ihren gezackten Steinkeulen durch die Luft.
Apu-Punchau, dessen war ich mir sicher, sah ihn bestimmt, wie er uns auch auf dem Dach und wie Isangoma Agia und mich gesehen hatten. Dennoch glaubte ich nicht, daß er Hildegrin so wie ich ihn gesehen hat; mag sein, daß ihm das, was er gesehen hat, so seltsam vorgekommen ist wie mir die Sibylle. Hildegrin hielt ihn fest, konnte ihn aber nicht überwältigen. Apu-Punchau wehrte sich, konnte sich aber nicht losreißen. Hildegrin blickte zu mir empor und schrie um Hilfe.
Ich weiß nicht, warum ich seinem Ruf nachgekommen bin. Es war mir kein bewußtes Bedürfnis mehr, Vodalus und seinen Zielen zu dienen. Vielleicht war es eine Nachwirkung des Alzabos oder nur die Erinnerung daran, daß Hildegrin Dorcas und mich über den Vogelsee gerudert hatte.
Ich versuchte, die säbelbeinigen Männer zurückzustoßen, aber einer der ziellosen Schläge traf mich an der Schläfe, so daß ich auf die Knie sackte. Als ich mich wieder erhob, hatte ich Apu-Punchau zwischen den hüpfenden, grölenden Tänzern offenbar aus den Augen verloren. Statt dessen sah ich zwei Hildegrins; einen, der mit mir rang, und einen, der gegen etwas Unsichtbares kämpfte. Entsetzt schüttelte ich den einen ab und versuchte, dem anderen zu Hilfe zu eilen.
»Severian!«
Der Regen, der auf mein nach oben gekehrtes Gesicht prasselte, weckte mich – dicke Tropfen kalten Regens, wie Hagel stechend. Donner rollte über der Pampa. Zuerst glaubte ich, blind zu sein; dann sah ich im Blitz windgepeitschtes Gras und Steinhaufen.
»Severian!«
Es war Dorcas. Ich versuchte aufzustehen, und meine Hand berührte Stoff und Schlamm. Ich ergriff das Tuch und zog es aus dem Schlick – ein langes, schmales Stück Seide, mit Quasten eingefaßt.
»Severian!«
In der Stimme lag schreckliche Angst.
»Hier!« rief ich. »Hier unten bin ich!« Als es wieder blitzte, sah ich das Gebäude und Dorcas’ wild gestikulierende Silhouette auf dem Dach. Ich eilte um die blinden Mauern herum und fand die Treppe. Unsere Reittiere waren verschwunden. Ebenso die Hexen auf dem Dach; Dorcas, ganz allein, beugte sich über Jolenta. Im Schein des Blitzes sah ich das tote Gesicht der Serviererin, die Dr. Talos, Baldanders und mich im Café zu Nessus bedient hatte. Alle Schönheit war zerronnen. Letzten Endes gibt es nur Liebe, nur diese Göttlichkeit. Daß wir nur sein können, was wir sind, bleibt unsere unverzeihliche Sünde.
Hier halte ich abermals inne,’ nachdem ich dich, Leser, von Stadt zu Stadt geführt habe – von der kleinen Bergwerkstadt Saltus zur öden Steinstadt, deren Name längst im Strudel der Jahrtausende untergegangen ist. Saltus war für mich das Tor zur Welt jenseits der Ewigen Stadt. Auch die steinerne Stadt war für mich ein Tor, ein Tor zu den Bergen, die ich durch ihre verfallenen Bögen geschaut hatte. Von nun an sollte mich ein langer Weg durch ihre Schluchten und Bastionen, ihre blinden Augen und brütenden Gesichter führen.
Hier halte ich inne. Wenn du nicht mehr mit mir gehen willst, Leser, kann ich’s dir nicht verübeln. Es ist kein leichter Weg.