Während ich diese müßige Geschichte vorlas, blickte ich hin und wieder zu Jonas, aber ich bemerkte in seiner Miene nie auch nur die geringste Regung, obschon er nicht schlief. Als ich geendet hatte, sagte ich: »Ich bin mir nicht sicher, ob ich verstehe, warum der Student seinen Sohn sofort für tot hielt, als er die schwarzen Segel sah. Das Schiff, das das Ungeheuer schickte, trug schwarze Segel, aber es kam im Jahr nur einmal und war bereits gekommen.«
»Ich weiß es«, erwiderte Jonas so monoton, wie ich ihn noch nie hatte sprechen hören.
»Heißt das, du kennst die Antwort auf diese Fragen?«
Er gab keine Antwort, und eine Weile saßen wir schweigend da, ich mit dem braunen Buch (das so nachhaltige Erinnerungen an Thecla und die gemeinsamen Abende wachrief), das ich mit dem Zeigefinger noch geöffnet hielt, er mit dem Rücken zur kalten Wand dieses Gefängnisses, die Hände, eine aus Stahl, die andere aus Fleisch, neben sich, als hätte er sie vergessen.
Schließlich wagte eine zaghafte Stimme die Bemerkung: »Das muß wirklich eine uralte Geschichte sein.« Es war das kleine Mädchen, das mir die Deckenkassette angehoben hatte.
Ich war so um Jonas besorgt, daß ich im ersten Moment ungehalten war über die Störung; aber Jonas murmelte: »Ja, eine uralte Geschichte, und der Held hatte dem König, seinem Vater, gesagt, daß er, falls er scheiterte, mit schwarzen Segeln nach Athen zurückkehren werde.« Ich bin mir nicht sicher, was diese Äußerung bedeutet, und vielleicht hat er nur im Fieberwahn geplappert; aber da es so gut wie das letzte gewesen ist, was ich Jonas hab’ sagen hören, meine ich, daß ich es hier aufführen sollte, wie ich auch das Märchen, das diesen Spruch ausgelöst hat, wiedergegeben habe.
Eine Zeitlang bemühten sich sowohl das Mädchen als auch ich darum, Jonas zum Sprechen zu bewegen. Aber er blieb stumm, so daß wir schließlich aufgaben. Ich verbrachte den Rest des Tages an seiner Seite sitzend, und nach einer Wache oder so gesellte sich zu uns Hethor (dessen Geistreicheleien die Gefangenen bald, wie ich vermutete, müde geworden waren). Nach einer kurzen Aussprache mit Lomer und Nicarete richteten sie es so ein, daß er an der gegenüberliegenden Saalseite einen Schlafplatz bekam.
Wir mögen sagen, was wir wollen, aber zuweilen leiden alle von uns unter Schlafstörungen. Manche schlafen in Wirklichkeit fast überhaupt nicht, andere jedoch, die ausgiebig schlafen, beteuern das Gegenteil. Einige werden unablässig von Träumen heimgesucht, und ein paar wenige Glückliche sind mit Träumen von erfreulicher Art gesegnet. Einige werden sagen, sie seien zu einer Zeit im Schlaf gestört worden, hätten das aber nun »überwunden«, als ob Bewußtsein eine Krankheit wäre – was es vielleicht auch ist.
Bei mir liegt der Fall so, daß ich normalerweise ohne denkwürdige Träume schlafe (obwohl ich solche manchmal habe, wie sich der Leser, der bis hierher mit mir gegangen ist, erinnern wird) und selten vor dem Morgen erwache. Aber in dieser Nacht war mein Schlaf so anders als sonst, daß ich mich manchmal fragte, ob ich ihn überhaupt so nennen sollte. Vielleicht war es ein anderer Zustand, der sich für Schlaf ausgab, wie sich Alzabos, nachdem sie Menschenfleisch genossen, für Menschen ausgeben.
Ist es die Folge natürlicher Anlässe gewesen, schreibe ich es einer Verflechtung unglücklicher Umstände zu. Ich, der ich all mein Lebtag harte Arbeit und körperliche Betätigung gewohnt war, hatte einen ganzen Tag untätig im beengten Gefängnis sitzen müssen. Die Geschichte aus dem braunen Buch hatte meine Phantasie angeregt – die durch das Buch selbst und seine gefühlsmäßige Verknüpfung mit Thecla und das Wissen, nun innerhalb der Mauern des Hauses Absolut zu sein, von dem ich sie so oft hatte sprechen hören, noch viel stärker beflügelt wurde. Am bedeutsamsten waren vielleicht die niederschmetternde Sorge um Jonas und die Ahnung (die sich im Laufe des Tages in mir gefestigt hatte), daß an diesem Ort meine Reise ein Ende fände; daß ich nie nach Thrax gelangte; daß ich die arme Dorcas nicht wiedersähe; daß ich die Klaue nie zurückgeben, mich ihrer nicht einmal entledigen könnte; daß der Increatus, dem der Besitzer der Klaue gedient hatte, für mich, der ich so viele Gefangene hatte sterben sehen, vorsehe, mein Leben selbst als solcher zu beschließen.
Ich schlief, wenn man es als Schlaf bezeichnen konnte, nur kurz. Ich hatte das Gefühl zu fallen; ein Krampf, das instinktive Zucken eines Opfers, der aus einem hohen Fenster gestürzt wird, verrenkte mir die Glieder. Als ich mich aufsetzte, konnte ich nichts als Dunkelheit sehen. Ich hörte Jonas atmen, und meine Finger sagten mir, daß er noch so saß, wie ich ihn zurückgelassen hatte, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Ich legte mich nieder und schlief wieder.
Oder versuchte vielmehr zu schlafen und fiel in jenen Dämmerzustand, in dem man weder schläft noch ganz wach ist. Bei anderen Gelegenheiten empfand ich diesen Halbschlaf als angenehm, nicht aber jetzt – ich war mir bewußt, daß ich den Schlaf brauchte, und ich war mir bewußt, daß ich nicht schlief. Dennoch war es kein »Bewußtsein« in der normalen Bedeutung dieses Wortes. Ich vernahm gedämpfte Stimmen im Hof des Gasthauses und hatte irgendwie das Gefühl, bald würden vom Campanile die Glocken schlagen und es wäre Tag. Wieder durchzuckte ein Krampf meine Glieder, und ich setzte mich auf.
Im ersten Moment glaubte ich, ein grünes Feuer aufblitzen zu sehen, aber es war nichts da. Ich hatte mich mit meinem Mantel zugedeckt; als ich ihn zurückwarf, wurde ich gewahr, daß ich mich im Vorzimmer des Hauses Absolut befand und das Gasthaus zu Saltus weit hinter mir gelassen hatte, obgleich neben mir noch Jonas lag, auf dem Rücken schlafend, die heile Hand im Nacken. Der blasse Schimmer, den ich sah, stammte von seinem rechten Augenweiß, obschon sein Atem tief und ruhig wie bei einem Schlafenden ging. Ich war selbst zu schlaftrunken zum Sprechen und hatte die dumpfe Ahnung, daß er mir sowieso nicht antworten würde.
Ich legte mich wieder hin und gab mich meinem Ärger hin, nicht schlafen zu können. Ich dachte an die Herde, die durch Saltus getrieben worden war, und zählte die Tiere aus dem Gedächtnis: hundertund-siebenundreißig. Dann fielen mir die Soldaten ein, die singend vom Gyoll heraufmarschiert waren. Der Wirt hatte mich gefragt, wie viele es seien, und ich hatte die Zahl geschätzt und zählte sie erst jetzt. Er hätte ein Spion sein können.
Meister Palaemon, der uns so viel gelehrt hatte, hatte uns nie das Schlafen gelehrt – kein Lehrling hätte das lernen müssen nach einem Tag, den Botengängen, Putzarbeit und Küchendienst ausfüllten. Abends hatten wir uns in unserem Quartier eine halbe Wache lang ausgetobt und dann geschlafen wie die Bewohner der Nekropolis, bis er uns zum Bodenschrubben und Müllschleppen wieder weckte.
Es hängt ein Gestell mit Messern über dem Tisch, wo Bruder Aybert das Fleisch schneidet. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben Messer, alle mit einer einfacheren Klinge als die von Meister Gurloes. Bei einem fehlt ein Niet am Griff. Bei einem anderen ist der Griff leicht angekohlt, weil Bruder Aybert es einmal auf den Herd gelegt hat …
Ich war wieder hellwach, oder glaubte das zumindest, und wußte nicht warum. Neben mir lag Drotte in tiefem Schlaf. Ich schloß wiederum die Augen und versuchte, einzuschlafen wie er.
Dreihundertundneunzig Stufen sind es vom Erdgeschoß zu unserem Schlafsaal. Wie viele noch bis zur Kammer in der Turmspitze, wo die Kanonen stehen? Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs Kanonen. Eins, zwei, drei bewohnte Zellengeschosse in unserer Oubliette. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht Flügel in jeder Etage. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf, zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn, sechzehn, siebzehn Zellen in jedem Flügel. Eins, zwei, drei Gitterstäbe am kleinen Fenster meiner Zellentür.
Ich schreckte aus dem Schlaf, frierend, aber was mich gestört hatte, war nur das Zuschlagen einer der Luken weit hinten im Korridor gewesen. Neben mir lag mein halbwüchsiger Liebhaber, Severian, im unbeschwerten Schlaf der Jugend. Ich setzte mich auf und überlegte, ob ich die Kerze anzünden sollte, um ein wenig die frische Farbe dieses scharf geschnittenen Gesichtes zu betrachten. Jedesmal, wenn er zu mir kam, glühte ein Fünkchen Freiheit in diesem Gesicht. Jedesmal nahm ich es und hauchte es an und hielt es an meine Brust, und jedesmal verging es schmachtend und erlosch; manchmal indes nicht, und anstatt unter dieser Last von Erde und Metall tiefer zu sinken, stieg es durch Metall und Erde zum Wind und Himmel empor.
Das redete ich mir jedenfalls ein. Es stimmte nicht, doch die einzige Freude, die mir geblieben, war, dieses Fünkchen zu umfangen.
Aber als ich nach der Kerze tastete, fand ich sie nicht, und meine Augen, meine Ohren und sogar die Haut meines Gesichtes sagten mir, daß mit ihr die Zelle selbst verschwunden war. Ein schwacher Lichtschein umgab mich hier – sehr schwach, aber nicht das Licht von der Kerze des Folterers im Korridor, das Licht, das durch die drei Gitterstäbe zum Zellenfenster hereinfiel. Schwache Echos verkündeten mir, daß ich mich in einem Raum, der hundertmal größer als eine solche Zelle war, befand; meine Wangen und meine Stirn, von der Beengtheit der vier Wände abgestumpft, bestätigten es.
Ich erhob mich und glättete mein Gewand und setzte mich in Bewegung, fast wie ein Schlafwandler … Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben Schritte, und der Geruch nach zusammengepferchten Menschen und die drückende Luft verrieten mir, wo ich war: im Vorzimmer! Ruckartig offenbarte sich mir die Ortsverschiebung. Hatte der Autarch mich hierher tragen lassen, während ich schlief? Würden sie anderen mich mit ihren Geißeln verschonen, wenn sie mich sähen?
Die Tür! Die Tür!
Meine Verwirrung war so groß, daß ich, vom Dickicht meiner Gedanken umfangen, beinahe gestürzt wäre.
Verzweifelt rang ich die Hände, aber es waren nicht meine Hände, die ich rang. Meine Rechte fühlte sich viel zu groß und kräftig an, und gleichzeitig spürte meine Linke eine ähnliche Hand.
Thecla fiel wie ein Traum von mir ab. Ich sollte vielleicht besser sagen, löste sich in nichts auf und verschwand dabei aus meinem Innern, bis ich wieder ich selbst war und fast allein.
Dennoch war es mir nicht entgangen. Die Lage der Tür, der Geheimtür, durch die die jungen Beglückten bei Nacht mit ihren energiegeladenen Peitschen aus umflochtenem Draht eindrangen, hatte ich im Gedächtnis behalten. Und damit alles, was ich sah oder dachte. Ich könnte morgen fliehen. Oder schon jetzt.
»Bitte«, sagte eine Stimme neben mir, »wo ist die Dame hin?«
Es war wieder das Kind, das kleine Mädchen mit dem dunklen Haar und den großen Augen. Ich fragte es, ob es eine Frau gesehen habe.
Es nahm mich mit der eigenen winzigen bei der Hand. »Ja, eine große Dame, und ich habe Angst. Etwas Schreckliches lauert in der Dunkelheit. Hat es sie gefunden?«
»Du fürchtest dich doch nicht vor so etwas, weißt du noch? Über das grüne Gesicht hast du gelacht.«
»Es ist anders, etwas Schwarzes, das im Dunkeln schleicht.« Das Entsetzen in ihrer Stimme war unverkennbar, und das Händchen, das mich hielt, zitterte.
»Wie hat die Dame ausgesehen?«
»Weiß ich nicht. Ich konnte sie nur sehen, weil sie dunkler als die Schatten war, aber daß es eine Dame war, erkannte ich an der Art ihres Gangs. Als ich ging und nachschaute, warst nur noch du da.«
»Ich verstehe«, sagte ich, »obwohl du’s wohl nicht wirst. Nun geh zu deiner Mutter und leg dich schlafen.«
»Es kommt an der Wand entlang«, erwiderte sie. Dann ließ sie meine Hand los und verschwand. Allerdings bin ich mir sicher, daß sie nicht gehorcht hat. Vielmehr muß sie Jonas und mir gefolgt sein, denn ich habe sie schon zweimal gesehen seit meiner Rückkehr zum Haus Absolut, wo sie zweifellos von gestohlenen Speisen lebt. (Es ist denkbar, daß sie zum Essen das Vorzimmer aufgesucht hat, ich habe jedoch veranlaßt, daß alle dort Eingesperrten freizulassen sind, selbst wenn es erforderlich wäre – was bei einigen wohl wird sein müssen –, die meisten hinter vorgehaltenen Spießen herauszutreiben. Ich habe gleichfalls veranlaßt, daß Nicarete zu mir zu bringen sei, und als ich vorhin von unserer Gefangennahme geschrieben habe, hat mir mein Haushofmeister vermeldet, sie warte darauf, empfangen zu werden.)
Jonas lag da, wie ich ihn zurückgelassen hatte, und wieder sah ich das Weiß seiner Augen im Dunkeln. »Du hast gesagt, du müßtest fort von hier, um nicht den Verstand zu verlieren. Also komm!« forderte ich ihn auf. »Der Sender der Notulen, wer immer das sein mag, hat eine neue Waffe ergriffen. Ich habe einen Ausgang gefunden, und wir machen uns nun auf den Weg.«
Da er sich nicht rührte, mußte ich ihn schließlich am Arm packen und aufheben. Viele der Metallteile von ihm mußten aus jenen weißen Legierungen geformt sein, welche die Hand durch ihre Leichtigkeit täuschen, denn mir war, als würde ich einen Knaben aufheben; aber sowohl die Metallteile als auch seine Haut waren von einem dünnen Schleim befeuchtet. Mein Fuß spürte die gleiche eklige Nässe auf dem Boden nahebei und an der Mauer. Was immer es auch gewesen sein mochte, wovor mich das Mädchen gewarnt hatte, es war gekommen und gegangen, während ich mit dem Kind sprach, und wonach es gesucht hatte, war nicht Jonas gewesen.
Die Tür, durch welche die Peiniger eindrangen, befand sich nicht weit von unserem Schlafplatz entfernt in der Mitte der Hinterwand des Vorzimmers. Sie ließ sich öffnen durch ein wirksames Wort, wie es bei solchen Altertümern fast immer der Fall ist. Ich flüsterte, und wir durchschritten die geheime Pforte, die wir nicht wieder schlossen; der arme Jonas an meiner Seite stakte wie ein Gebilde ganz aus Metall.
Eine schmale Treppe, von den Netzen bleicher Spinnen umrankt und mit Staub bedeckt, führte in engen Windungen hinab. Dessen besann ich mich, aber was hinter der Stiege kam, daran konnte ich mich nicht erinnern. Ganz gleich, was uns erwartete, die stickige Luft schmeckte nach Freiheit; sie nur zu atmen, war eine Wonne. Trotz aller Bedrängnis hätte ich laut lachen können.
Unerforschliche Türen gingen an den vielen Treppenabsätzen ab, aber es schien wahrscheinlich und mehr als wahrscheinlich, daß wir jemandem begegnen würden, träten wir durch sie hindurch, während sich auf der Treppe offenbar niemand aufhielt. Bevor mich irgendein Bewohner des Hauses Absolut sähe, wollte ich so weit wie möglich vom Vorzimmer entfernt sein.
Wir waren etwa hundert Stufen hinabgestiegen, da gelangten wir an eine Tür, die mit einem wirren, scharlachroten Zeichen bemalt war, das mir vorkam wie eine Hieroglyphe einer auf. Urth fremden Zunge. In diesem Augenblick vernahm ich Schritte auf der Wendeltreppe. Da sie weder Knauf noch Klinke hatte, warf ich mich gegen die Tür, die nach anfänglichem Widerstand aufflog. Jonas folgte mir; sie fiel so schnell wieder zu hinter uns, daß ein großes Getöse hätte erdröhnen müssen, aber sie machte keinen Laut.
In der Kammer hinter der Tür war es düster, aber nach dem Eintreten wurde das Licht heller. Nachdem ich mich vergewissert hatte, daß bis auf uns niemand anwesend war, bediente ich mich dieses Lichtes, um Jonas zu untersuchen. Seine Miene war noch starr wie vorhin, als er mit dem Rücken zur Wand im Vorzimmer gesessen hatte, aber es war nicht mehr die leblose Fratze, die ich zu sehen befürchtet hatte. Es war gleichsam das Gesicht eines Schläfers kurz vor dem Erwachen, und in seine Wangen hatten Tränen feuchte Furchen gegraben.
»Weißt du, wer ich bin?« fragte ich, und er nickte wortlos. »Jonas, ich muß, wenn ich kann, Terminus Est wiederbekommen. Ich bin getürmt wie der größte Feigling, aber jetzt habe ich Zeit zum Besinnen gehabt und weiß, daß ich umkehren und es holen muß. Mein Brief an den Archon von Thrax steckt in seiner Scheide, und ohne mein Schwert zu gehen, wäre mir sowieso unerträglich. Aber wenn du es versuchen und von diesem Ort fliehen willst, habe ich Verständnis. Du bist mir nicht verpflichtet.«
Er schien mir nicht zuzuhören. »Ich weiß, wo wir sind«, sagte er und hob steif den Arm, um auf etwas zu deuten, das ich für einen Wandschirm gehalten hatte.
Ich war entzückt, ihn sprechen zu hören, und fragte, größtenteils in der Hoffnung, er würde wieder sprechen: »Wo sind wir denn?«
»Auf Urth«, antwortete er und schritt durch das Zimmer zur beweglichen Wand. Die Rückseite war traubenförmig mit Diamanten besetzt, wie ich nun entdeckte, und ähnlich der Tür mit verschlungenen Zeichen aus Schmelzglas verziert. Dennoch waren diese Zeichen nicht seltsamer als das Handeln meines Freundes Jonas, der die Flügel einfach aufklappte. Die Steifheit, die mir an ihm bis jetzt aufgefallen war, hatte sich gelöst – obwohl er noch nicht wieder der alte war.
Es war in diesem Moment, daß es bei mir dämmerte. Wir haben alle schon einmal beobachtet, wie jemand, der (gleich ihm) eine Hand verloren und durch einen Haken oder eine andere Prothese ersetzt bekommen hat, ein Werk verrichtet, wozu beide, die echte und die falsche Hand erforderlich sind. So war es auch, als ich Jonas beim Zurückziehen der Flügel beobachtete; aber die künstliche Hand war die Hand aus Fleisch. Als ich das erkannte, verstand ich, was er unlängst gesagt hatte: daß bei einem Schiffsunglück sein Gesicht zerstört worden sei.
Ich sagte: »Die Augen … Sie konnten deine Augen nicht ersetzen. Hab’ ich recht? Also gaben sie dir dieses Gesicht. Fand er auch den Tod?«
Er sah sich gedankenverloren nach mir um, was mir verriet, daß er meine Anwesenheit vergessen hatte. »Er war am Boden«, antwortete er.
»Wir töteten ihn unabsichtlich beim Aufsetzen. Ich brauchte seine Augen und seinen Kehlkopf und bekam noch ein paar andere Teile.«
»Deshalb warst du in der Lage, mich, einen Folterer, zu dulden. Du bist eine Maschine.«
»Du bist nicht schlechter als die übrigen der Deinen. Bedenke, als ich dir begegnete, war ich längst einer von euch geworden. Nun bin ich schlechter als du. Du hättest mich nicht verlassen, aber ich verlasse dich. Nun habe ich die Gelegenheit, die Möglichkeit, die ich mir in all den Jahren meines unsteten Wanderns durch die sieben Kontinente dieser Welt auf der Spur der Hierodulen erhoffte, dieweil ich mich mit unfertigen Mechanismen herumschlug.«
Ich überdachte alles, was sich zugetragen hatte von dem Zeitpunkt an, da ich Thecla das Messer brachte; und obwohl ich nicht allen seinen Äußerungen folgen konnte, sagte ich: »Wenn du keine andere Möglichkeit hast, dann geh, und viel Glück. Falls ich Jolenta je begegne, will ich ihr sagen, du habest sie einst geliebt, und mehr nicht.«
Jonas schüttelte den Kopf. »Verstehst du nicht? Ich werde zurückkehren zu ihr, wenn ich repariert bin. Wenn ich wieder heil und ganz bin.«
Hierauf trat er in den Kreis der Platten, und strahlendes Licht erleuchtete über seinem Haupt.
Wie dumm, sie Spiegel zu nennen. Sie haben soviel Ähnlichkeit mit einem Spiegel wie das ausgespannte Himmelszelt mit dem Luftballon eines Kindes. Gewiß, sie reflektieren das Licht; aber das hat, denke ich, nichts mit ihrer wahren Funktion zu tun. Sie reflektieren die Wirklichkeit, die metaphysische Substanz, die der Welt aus Materie zugrunde liegt.
Jonas schloß den Kreis und stellte sich in seine Mitte. Etwa ein Stoßgebet lang sah ich etwas wie Leitungen und Blitze, und metallischer Staub tanzte über den Platten; dann war alles vorüber, und ich war allein.