I Das Dorf Saltus

Morwennas Gesicht, lieblich und von Haaren so dunkel wie mein Mantel umrahmt, schwebte im Lichtkegel; Blut prasselte vom Nacken auf die Steine. Ihre Lippen bewegten sich tonlos. Eingefaßt zwischen ihnen gewahrte ich (als wäre ich der Increatus, der durch einen Spalt der Ewigkeit in die Welt der Zeit spähte) das Gehöft, Stachys, ihren Gemahl, der sich gequält auf dem Lager wälzte, den kleinen Chad, der sich am Teich das fiebrige Gesicht benetzte.

Draußen schrie Eusebia, Morwennas Anklägerin, wie eine Hexe. Ich versuchte, die Gitterstäbe zu erreichen, um sie zum Stillsein anzuhalten, aber sofort verlor ich mich in der Finsternis der Zelle. Als ich endlich Licht entdeckte, war es die grüne Straße, die aus dem düsteren Gewölbe des Erbärmlichen Tores führte. Blut strömte von Dorcas’ Wange, und obschon so viele schrien und kreischten, hörte ich es auf den Boden prasseln. Ein so gewaltiger Bau war die Mauer, daß sie die Welt teilte wie die bloße Linie zwischen den Buchrücken zweier Bände; vor uns stand ein Wald, der wohl so alt wie die Urth selbst war, mit turmhohen Bäumen, in makelloses Grün gehüllt. Dazwischen verlief die Straße, die junges Gras bedeckte und auf der sich Männer und Frauen drängten. Ein brennender Einspänner belud die reine Luft mit Rauch.

Fünf Reiter bestiegen ihre Renner, deren gebogene Hauer mit Lazulith belegt waren. Die Männer trugen Helme und indigoblaue Umhänge und führten Lanzen, deren Spitzen stahlblau flackerten; ihre Gesichter glichen sich mehr als die Gesichter von Brüdern. An diesen Reitern brach sich der Strom der Reisenden, wie sich eine Welle an einem Fels bricht – nach links und rechts weichend. Dorcas wurde mir aus den Armen gezogen, und ich zückte Terminus Est, um alle zwischen uns Stehenden niederzuhauen, bemerkte jedoch, daß ich im Begriff war, auf Meister Malrubius einzuschlagen, der mit meinem Hund Triskele an seiner Seite ruhig inmitten des Tumults stand. Als ich ihn sah, wußte ich, daß ich träumte, wußte aber ebenfalls, daß die früheren Visionen von ihm, auch wenn ich sie im Schlaf erlebte, keine Träume gewesen waren.

Ich warf die Decken zur Seite. Das Leuten des Carillons vom Glockenturm drang an meine Ohren. Es war Zeit zum Aufstehen, Zeit zum Anziehen und Antreten in der Küche, Zeit, für den Bruder Koch einen Topf umzurühren und eine Wurst zu stehlen – eine pralle, pikante, halb verbrannte Wurst vom Bratrost. Zeit zum Waschen, Zeit, die Gesellen zu bedienen, Zeit, mir die Lektionen vorzusagen, ehe Meister Palaemon uns austrüge.

Ich erwachte im Lehrlingsschlafsaal, aber alles war verkehrt: eine blinde Wand, wo die runde Pforte hätte sein sollen, ein viereckiges Fenster, wo ein Bullauge hätte sein sollen. Die Reihe der harten, schmalen Pritschen war verschwunden, und die Decke war zu niedrig.

Dann war ich wach. Landdüfte – fast wie das liebliche Aroma der Blüten und Bäume, das von der Nekropolis durch die verfallene Ringmauer heranwehte, nun aber mit scharfem Stallgeruch versetzt – drangen durchs Fenster. Wieder läuteten Glocken von einem nahegelegenen Campanile und riefen die wenigen noch gläubigen Menschen zum Gebet um das Nahen der Neuen Sonne, obwohl es noch sehr früh war und die alte Sonne den Schleier der Urth kaum von ihrem Gesicht genommen hatte und im Dorf bis auf das Geläute Ruhe herrschte.

Wie Jonas am Abend zuvor entdeckt hatte, enthielt unser Wasserkrug Wein. Ich spülte mir damit den Mund, und seine zusammenziehende Eigenschaft wirkte erfrischender als Wasser, dennoch wollte ich mir mit ein wenig Wasser das Gesicht benetzen und das Haar glätten. Vor dem Schlafengehen hatte ich meinen Mantel mit der Klaue in der Mitte zusammengerollt, um ihn als Kopfkissen zu benützen. Ich breitete ihn wieder aus und steckte die Klaue in den Stiefelschaft, da mir einfiel, wie Agia einst versucht hatte, in meine Tasche am Gürtel zu greifen.

Jonas schlief noch. Meiner Erfahrung nach wirken Menschen beim Schlafen jünger als beim Wachsein, Jonas indes hat älter gewirkt – vielleicht auch nur altertümlich; er hatte das Gesicht mit der flachen Nase und flachen Stirn, das ich oft auf alten Gemälden gesehen hatte. Ich begrub die letzte Glut unter der Asche und ging hinaus, ohne ihn zu wecken.

Nachdem ich mich vom Eimer des Brunnens im Hof des Gasthauses frisch gemacht hatte, wurde es laut auf der Straße vor dem Gasthaus; Hufe trappelten durch die Pfützen des Nachtregens, und krumme Hörner klapperten. Jedes Tier war mehr als mannshoch, schwarz oder scheckig und halb blind, da ihm die Mähne über die rollenden Augen wirr ins Gesicht hing. Morwennas Vater war, wie mir einfiel, Fuhrknecht; vielleicht war es seine Herde, obwohl ich das nicht für wahrscheinlich hielt. Ich wartete bis das letzte plumpe Tier vorüber war, und beobachtete die nachfolgenden Reiter. Es waren ihrer drei, staubige, gemeine Männer mit Stachelstöcken, die länger waren als sie selbst, umringt von ihren scharfen, wachsamen Kötern.

Wieder im Gasthaus, bestellte ich mein Morgenmahl und erhielt ofenwarmes Brot, frisch geschlagene Butter, eingelegte Enteneier und gepfefferten, schaumigen Kakao. (Letzterer ein sicheres Zeichen dafür, daß ich unter Leuten war, deren Gebräuche sich vom Norden ableiteten, obschon ich’s damals noch nicht wußte.) Der haarlose Zwerg von einem Wirt, der mich gewiß am Vorabend im Gespräch mit dem Alkalden gesehen hatte, schwirrte, sich die Nase am Ärmel abwischend, um meinen Tisch und erkundigte sich jedesmal, wenn etwas aufgetischt wurde, ob es mir schmecke – es mundete offengestanden vorzüglich –, wobei er mir für den Mittag ein noch besseres Essen versprach und die Köchin, seine Frau, verfluchte. Er nannte mich Sieur, nicht weil er mich für einen inkognito reisenden Beglückten hielt, wie man in Nessus zuweilen geglaubt hatte, sondern weil ein Folterer hier als wirksamer Arm des Gesetzes ein großer Mann war. Wie die meisten Bauern konnte er sich keine soziale Klasse vorstellen, die um mehr als eine Stufe höher als die eigene war.

»Das Bett, war es bequem? Genügend Decken? Wir bringen noch welche.«

Mein Mund war voll, aber ich nickte.

»Also gut. Werden drei reichen? Ihr und der andere Sieur, habt Ihr’s bequem zusammen?«

Ich wollte schon sagen, daß mir ein eigenes Zimmer lieber wäre (nicht daß ich Jonas für einen Dieb hielt, aber ich befürchtete, daß die Klaue für jeden eine zu große Versuchung darstellte, und war es überdies nicht gewöhnt, zu zweit zu schlafen), als mir einfiel, daß er sich eine eigene Unterkunft womöglich gar nicht leisten konnte.

»Werdet Ihr heute dabei sein, Sieur? Wenn sie die Mauer durchbrechen? Ein Maurer könnte die Quadersteine rausreißen, aber man hat Barnoch sich drinnen bewegen gehört, und er könnte noch bei Kräften sein. Vielleicht hat er eine Waffe gefunden. Nun, er könnte dem Maurer in die Finger beißen, wenn nicht mehr!«

»Nicht als Amtsperson. Vielleicht sehe ich zu, wenn ich kann.«

»Alle kommen.« Der kahlköpfige Mann rieb sich die Hände, die rutschten wie geölt. »Es wird einen Jahrmarkt geben, wißt Ihr. Der Alkalde hat ihn ausgerufen. Recht geschäftstüchtig, unser Alkalde. Nehmt einen durchschnittlichen Mann – er sieht Euch in meiner Stube, aber denkt sich nichts dabei. Oder wenigstens nicht mehr, als Euch die Hinrichtung Morwennas aufzutragen. Ganz anders der unsrige! Er sieht alles. Er sieht alle Möglichkeiten. Im Nu entsprang der ganze Jahrmarkt seinem Kopf – bunte Zelte und Bänder, Bratfleisch und Zuckerwatte und alles, was dazu gehört. Heute? Nun, heute öffnen wir das versiegelte Haus und ziehen diesen Barnoch wie einen Dachs heraus. Das wird die Leute auftauen lassen, das wird sie von weither ringsum anlocken. Dann werden wir zusehen, wie Ihr mit dieser Morwenna und diesem Bauernkerl verfährt. Morgen beginnt Ihr mit Barnoch – mit heißen Eisen fangt Ihr für gewöhnlich an, nicht wahr? Und ein jeder wird dabeisein wollen. Übermorgen geht’s ihm an den Kopf, und die Zelte werden abgebrochen. Es taugt nichts, wenn sie zu lange herumhängen, nachdem sie ihr Geld ausgegeben haben; dann fangen sie nur zu betteln und zu raufen an und so weiter. Alles bestens geplant, bestens ausgedacht! Ihr könnt Euch auf den Alkalden verlassen!«

Ich ging nach dem Frühstück wieder hinaus und beobachtete, wie die zauberhaften Ideen des Alkalden Gestalt annahmen. Bauersleute mit feilen Früchten, Tieren und selbstgewebten Tuchen stapften ins Dorf; darunter einige Autochthonen, die Pelze und zu Bündeln aufgereihte, mit der Cerbotana getötete schwarzgrüne Vögel mitführten. Nun wünschte ich mir, daß ich den von Agias Bruder gekauften Umhang noch hätte, denn mein rußschwarzer Mantel trug mir manch seltsamen Blick ein. Ich wollte mich abermals ins Gasthaus zurückziehen, als ich den Schnellschritt einer aufmarschierenden Schar hörte, einen durch die exerzierende Garnison in der Zitadelle mir vertrauten Laut, den ich seit meiner Abreise von dort jedoch nicht mehr vernommen hatte.

Das Vieh, das ich am frühen Morgen zu Gesicht bekommen hatte, war hinab zum Fluß gezogen, um dort auf Lastkähne verladen zu werden und darin das letzte Stück Weges in die Schlachthäuser von Nessus anzutreten. Diese Soldaten kamen aus der entgegengesetzten Richtung, vom Fluß herauf. Ob deswegen, weil ihre Offiziere sie mit einem Fußmarsch stählen wollten, oder weil die Schiffe, mit denen sie gekommen waren, anderswo gebraucht wurden, oder weil sie in ein vom Gyoll abgelegenes Gebiet kommandiert waren, wußte ich nicht. Ich hörte den gerufenen Befehl zum Singen, als sie auf die zusammenlaufende Menschenmasse stießen, und fast gleichzeitig damit die Schläge von den Ruten der Vingtner und die Schreie der Unglücklichen, die getroffen wurden.

Die Männer waren Kelau; ein jeder trug als Waffe eine Schleuder mit einem zwei Ellen langen Griff und einen bemalten Lederbeutel mit Brandgeschossen. Wenige wirkten älter als ich, und die meisten schienen jünger, aber ihre vergoldeten Schuppenpanzer und reichverzierten Gürtel und Scheiden für den langen Dolch wiesen sie als Mitglieder eines Elitekorps der Erentarii aus. Ihr Lied handelte nicht von Krieg oder Weibern wie die meisten Soldatenlieder, sondern war ein echtes Schleuderwerferlied. Insoweit als ich es an diesem Tag hörte, ging es so:

»Die Mutter sagte, lang ist’s her,

Schlafe Knabe, wein nicht mehr;

Für die Fremde bist du erkoren,

Unter einem Schweifstern geboren.

Der Vater schlug mich ins Gesicht,

Wonach er zu dem Sohne spricht:

Er klagt nicht ob der brennenden Ohren,

Der unter einem Schweifstern geboren.

Einen Weisen traf ich, dieser droht:

Ich sehe deine Zukunft rot,

Hast dich dem Brand und Krieg verschworen,

Der du unter dem Schweifstern geboren.

Einen Hirten traf ich, der sinniert:

›Wir Schafe gehn, wohin man uns führt;

Zu den Engeln in den Himmelstoren,

Auf der Bahn des Schweifsterns verloren.‹«

Und so weiter, Vers um Vers. Manche waren mysteriös (wie mir schien), andere lediglich komisch und wieder andere waren gewiß nur um des Reimes willen geschmiedet worden.

»Ein prächtiger Anblick, nicht wahr?« Es war der Wirt, dessen Glatzkopf an meiner Schulter auftauchte. »Südländer – seht, wie viele blondes Haar und Sommersprossen haben. Sind es von da unten kalt gewöhnt und müssen in die Berge. Möchte direkt mitgehen, wenn man sie so singen hört. Wie viele sind’s, was meint Ihr?«

Die Packtiere kamen nun in Sicht. Sie waren schwer mit Proviant und Ausrüstung beladen und wurden mit spitzen Schwertern vorwärtsgetrieben. »Zweitausend. Vielleicht zweieinhalb.«

»Danke, Sieur. Ich möchte mich auf dem laufenden halten. Ihr würdet mir nicht glauben, wie viele ich schon durch unsere Straßen habe ziehen sehn. Aber herzlich wenig kommen zurück. Nun, so ist nun mal der Krieg, glaube ich. Ich versuche mir immer einzureden, sie seien noch da – ich meine, dort, wohin sie gezogen sind – aber Ihr wißt so gut wie ich, daß viele für immer gegangen sind. Trotzdem, als Mann möchte man direkt mitgehen, wenn man sie so singen hört.«

Ich fragte, ob er Neues vom Krieg wisse.

»O ja, Sieur. Ich verfolge das Geschehen nun schon seit x Jahren, obwohl die Schlachten, die man führt, nie eine große Änderung bringen, wenn Ihr versteht, was ich meine. Anscheinend rückt die Front weder näher, noch rückt sie weiter fort. Ich denke mir immer, unser Autarch und der ihrige verabreden sich zu einer Schlacht und ziehen dann, ist sie geschlagen, wieder heim. Meine Frau, töricht wie sie ist, glaubt überhaupt nicht, daß wirklich Krieg herrscht.«

Hinter dem letzten Maultiertreiber strömten die Leute wieder zusammen; mit jedem Wort, das wir wechselten, wurde die Menge dichter. Geschäftige Männer errichteten Stände und Zelte, so daß die Straße immer schmaler und das Gedränge immer dichter wurden; finstere Masken auf hohen Stangen schienen wie Pilze aus dem Boden zu wachsen. »Was glaubt denn deine Frau dann, wohin die Soldaten ziehen?« fragte ich den Wirt.

»Sie suchen nach Vodalus, sagt sie. Als ob der Autarch – dessen Hände in Gold schwimmen und dessen Feinde ihm die Ferse küssen – seine ganze Armee schickte, um einen Räuber zu fangen!«

Nach Vodalus hörte ich kaum mehr ein Wort.

Alles, was ich besitze, gäbe ich darum, einer von euch zu werden, die tagtäglich über ein schwindendes Gedächtnis klagen. Das meine schwindet nicht. Meine Erinnerungen bleiben bestehen und so lebendig wie zum Zeitpunkt des Erlebens; sind sie erst einmal herbeigerufen, tragen sie mich wie gebannt fort.

Ich wandte mich wohl vom Wirt ab und mischte mich unter die drängenden Bauern und schwatzhaften Händler, ohne all das zu gewahren. Vielmehr spürte ich unter meinen Füßen die mit Knochen geschotterte Wegzeile unserer Nekropolis und sah durch die Nebelfetzen, die vom Fluß heranwehten, die schlanke Gestalt von Vodalus, wie er die Pistole seiner Herrin übergab und das Schwert zog. Nun (es ist traurig, ein Mann geworden zu sein) ging mir diese törichte, verschwenderische Geste sehr nahe. Er, der sich auf hundert heimlichen Plakaten dazu bekannt hatte, für das Althergebrachte zu kämpfen, für die frühere, nun abgelöste Hochkultur unserer Urth, entledigte sich der wirksamen Waffe jener Zivilisation.

Wenn meine Erinnerungen an die Vergangenheit bestehen bleiben, so vielleicht nur deshalb, weil die Vergangenheit nur in der Erinnerung existiert. Vodalus, der sie wie ich Wiederaufleben lassen wollte, blieb dennoch ein Geschöpf der Gegenwart. Daß wir nur sein können, was wir sind, bleibt unsere unverzeihliche Sünde.

Wäre ich einer von euch, deren Gedächtnis schwindet, hätte ich ihn an diesem Morgen gewiß verstoßen, als ich mir mit den Ellbogen einen Weg durch die Menge bahnte, und wäre so diesem Tod im Leben entkommen, der mich selbst jetzt, da ich diese Worte schreibe, beschleicht. Oder aber ich wäre überhaupt nicht entkommen. Ja, höchstwahrscheinlich nicht. In jedem Fall waren die alten Gefühle, die ich mir ins Gedächtnis zurückrief, zu stark. Ich war gefangen in der Bewunderung dafür, was ich einst bewundert hatte, wie eine Fliege in Bernstein die Gefangene einer längst vergangenen Kiefer bleibt.

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