XV Feuerwerk

Ich wurde von Gesichtern umzingelt. Zwei Frauen nahmen Jonas von mir und trugen ihn mit dem Versprechen, für ihn zu sorgen, fort. Die übrigen begannen, mich mit Fragen zu überhäufen. Wie ich hieße. Was für Kleider ich trüge. Woher ich käme. Ob ich den und den und den kenne. Ob ich je in dieser oder jener Stadt gewesen sei. Ob ich aus dem Haus Absolut sei. Aus Nessus. Vom Ostufer des Gyoll oder vom westlichen. Aus welchem Viertel. Ob der Autarch noch lebe. Ob Vater Inire. Wer Archon in der Stadt sei. Wie es mit dem Krieg stehe. Ob ich vom Hauptmann soundso etwas wisse. Oder vom Kavalleristen soundso. Oder von einem Chiliarchen soundso. Ob ich singen, Gedichte aufsagen oder ein Instrument spielen könne.

Wie man sich vorstellen kann, habe ich ob dieses Redeschwalls fast keine Frage zu beantworten vermocht. Als der erste Ansturm vorüber war, brachten ein alter, graubärtiger Mann und eine Frau, die fast genauso betagt schien, die übrigen zum Schweigen und trieben sie fort. Ihre Methode, die woanders gewiß nicht funktioniert hätte, bestand daraus, daß sie einem um den anderen auf die Schulter klopften, in den hintersten Winkel des Saales zeigten und forsch sagten: »Viel Zeit.« Allmählich wurden alle still und gingen anscheinend bis zum Rand der Hörweite davon, woraufhin es in dem niedrigen Raum wieder so ruhig wie beim Türöffnen war. »Ich bin Lomer«, erklärte der alte Mann. Er räusperte sich laut. »Das ist Nacarete.«

Ich sagte ihnen meinen und Jonas’ Namen.

Die alte Frau hörte wohl die Sorge aus meiner Stimme. »Es geschieht ihm nichts, keine Bange. Die Mädchen behandeln ihn, so gut sie können, denn sie hoffen, sie werden bald mit ihm reden können.« Sie lachte, und etwas in der Art, wie sie den wohlgestalteten Kopf zurückwarf, verriet mir, daß sie einmal schön gewesen war.

Ich begann meinerseits, Fragen zu stellen, aber der alte Mann unterbrach mich. »Komm mit uns«, sagte er, »in unsere Ecke! Dort können wir uns niedersetzen, und ich kann dir einen Becher Wasser anbieten.«

Kaum hatte er dieses Wort ausgesprochen, merkte ich, wie durstig ich war. Er führte uns hinter den Lumpenschirm, der der Tür am nächsten war, und schenkte mir aus einem irdenen Krug Wasser in einen feinen Porzellanbecher. Es gab dort neben Kissen ein Tischchen von nur einer Spanne Höhe.

»Frage für Frage«, begann er. »Das ist die alte Regel. Wir haben dir unseren Namen gesagt, und du hast uns den deinen gesagt, also beginnen wir von neuem. Warum bist du eingesperrt worden?«

Ich erklärte, daß ich das nicht wisse, es sei denn, das bloße Betreten des Grundstückes sei der Grund.

Lomer nickte. Seine Haut war bleich wie bei allen, die nie an die Sonne kommen; mit seinem struppigen Bart und den schiefen Zähnen hätte er in jeder anderen Umgebung abstoßend gewirkt, aber hierher paßte er genauso wie die halb ausgetretenen Steinplatten des Fußbodens. »Ich bin hier aufgrund der Niedertracht der Chatelaine Leocadia. Ich war Marjordomus ihrer Rivalin, der Chatelaine Nympha, und als sie mich ins Haus Absolut mitnahm, um den Stand ihrer Güter zu überprüfen, während sie den Riten des Philomaten Phocas beiwohnte, lockte mich die Chatelaine Leocadia in eine Falle mit Hilfe von Sancho, die …«

Die Greisin Nicarete fiel ihm ins Wort. »Sieh!« rief sie. »Er kennt sie.«

Und dem war so. Ein Gemach in Rosa und Elfenbein war vor mein geistiges Auge gerückt; ein Zimmer, von dem zwei Wände aus klarem, vorzüglich gerahmtem Glas waren. Feuer brannte in marmornen Herden, vom Sonnenlicht gedämpft, das durch das Glas strömte, aber es erfüllte das Zimmer mit einer trockenen Wärme und dem Duft von Sandelholz. Eine alte Frau saß, in viele Umhängetücher gehüllt, auf einem Stuhl, der einem Thron glich; eine Karaffe aus geschliffenem Kristall und mehrere braune Arzneifläschchen standen auf einem eingelegten Tisch neben ihr. »Eine ältere Dame mit einer Hakennase«, sagte ich. »Die Witwe von Fors.«

»Du kennst sie also.« Lomer’s Kopf nickte bedächtig, als wollte er die Frage beantworten, die über die eigenen Lippen gekommen war. »Du bist der erste in vielen Jahren.«

»Sagen wir, daß ich mich an sie erinnere.«

»Gut.« Der Greis nickte. »Angeblich ist sie schon gestorben. Aber zu meiner Zeit war sie eine feine, gesunde, junge Dame. Die Chatelaine Leocadia hatte sie dazu überredet und dann veranlaßt, daß man uns entdeckte, was Sancha ja wußte. Da sie erst vierzehn war, wurde sie nicht eines Verbrechens bezichtigt. Wir hatten sowieso nichts verbrochen; sie hatte eben damit begonnen, mich zu entkleiden.«

Ich sagte: »Du mußt selbst noch recht jung gewesen sein.«

Da er nichts erwiderte, antwortete Nicarete für ihn. »Er war achtundzwanzig.«

»Und du?« fragte ich. »Warum bist du hier?«

»Ich bin eine Freiwillige.«

Ich sah sie mit großen Augen an.

»Jemand muß für das Böse auf Urth Buße tun, oder die Neue Sonne wird nie kommen. Und jemand muß auf diesen Ort und alle ähnlichen Orte aufmerksam machen. Ich stamme aus einer Waffenträgerfamilie, die mich wohl noch nicht vergessen hat, so daß die Wachen auf mich und alle anderen zu achten haben, so lange ich hier bin.«

»Heißt das, du kannst gehen und willst nicht?«

»Nein«, antwortete sie kopfschüttelnd. Ihr Haar war weiß, trotzdem trug sie es wie junge Frauen lose, über die Schultern hängend. »Ich werde gehen, aber nur unter meinen Bedingungen, die lauten, daß alle, die seit so langer Zeit hier sind, daß sie ihre Verbrechen vergessen haben, ebenfalls freigelassen werden.«

Ich mußte an das Küchenmesser, das ich für Thecla gestohlen hatte, denken und an das scharlachrote Rinnsal, das unter ihrer Zellentür in der Oubliette hervorgedrungen war, und sagte: »Stimmt es, daß die Gefangenen hier ihre Verbrechen wirklich vergessen?«

Lomer blickte auf. »Halt! Frage für Frage – lautet die Regel, die alte Regel. Wir hier halten die alten Regeln noch. Wir sind die letzten der alten Sippe, Nicarete und ich, aber solange wir leben, gelten die alten Regeln noch. Frage gegen Frage. Hast du Freunde, die sich für deine Freilassung einsetzen könnten?«

Dorcas würde das sicherlich tun, wenn sie wüßte, wo ich bin. Dr. Talos war so unberechenbar wie die Figuren, die man in den Wolken sieht, und hätte mich aus eben diesem Grunde hier herausholen können, obwohl ihm ein wirkliches Motiv dafür fehlte. Von größter Bedeutung war vielleicht, daß ich Vodalus’ Bote war, und Vodalus hatte wenigstens einen Getreuen im Haus Absolut – den Mann, dem ich die Nachricht überbringen sollte. Ich hatte während unseres Rittes nach Norden zweimal versucht, das stählerne Ding fortzuwerfen, was ich aber nicht über mich brachte; offenbar hatte mir der Alzabo einen weiteren Bann auferlegt, wofür ich nun dankbar war.

»Hast du Freunde? Verwandte? Dann könntest du womöglich etwas für uns tun.«

»Freunde, vielleicht«, sagte ich. »Sie würden mir wohl helfen, wenn sie nur wüßten, was mir zugestoßen ist. Hätten sie denn überhaupt Möglichkeiten dazu?«

In dieser Art unterhielten wir uns eine lange Zeit; wollte ich das alles niederschreiben, würde meine Geschichte kein Ende nehmen. In diesem Saal kann man nichts anderes tun als reden und sich mit ein paar einfachen Spielen beschäftigen, was die Gefangenen so lange betreiben, bis alle Würze aus ihnen gewichen ist und sie ausgelaugt sind wie ein Knorpel, auf dem ein Hungriger den ganzen Tag herumgekaut hat. In vielerlei Hinsicht haben es diese Gefangenen besser als die Klienten unter unserem Turm; bei Tag brauchen sie keine Qualen zu fürchten und sind nicht allein. Aber weil die meisten davon schon so lange hier sind, was in unserer Oubliette nur selten der Fall ist, sind unsere Klienten zum großen Teil voller Hoffnung, während diejenigen des Hauses Absolut verzweifeln.

Nach mindestens zehn Wachen gingen die glimmenden Lampen an der Decke allmählich aus, und ich erklärte Lomer und Nicarete, daß ich nicht länger wach bleiben könnte. Sie führten mich an eine Stelle, weit von der Tür entfernt, wo es sehr finster war, und eröffneten mir, daß diese mir gehöre, bis einer der Gefangenen stürbe und ich an einen besseren Platz vorrücken könne.

Als sie wieder gingen, hörte ich Nicarete fragen: »Ob sie heut’ nacht kommen?« Lomer gab eine Antwort, die ich jedoch nicht verstand, und zum Fragen war ich zu müde. Mit den Füßen spürte ich eine dünne Schlafdecke auf dem Boden; ich setzte mich nieder und wollte mich gerade der Länge nach ausstrecken, als ich mit der Hand gegen einen lebendigen Körper stieß.

Ich vernahm Jonas’ Stimme. »Brauchst nicht zu erschrecken. Bin nur ich.«

»Warum hast du nichts gesagt? Ich sah dich umhergehen, aber ich konnte von den zwei alten Leuten nicht weg. Wieso bist du nicht hergekommen?«

»Ich sagte nichts, weil ich überlegte. Ich kam nicht rüber, denn ich konnte zuerst nicht weg von den Frauen, die sich um mich kümmerten. Dann konnten sie nicht von mir weg. Severian, ich muß von hier fliehen.«

»Das will wohl jeder«, erwiderte ich. »Ich bestimmt.«

»Aber ich muß!« Seine schmale, harte Hand – seine linke, echte – ergriff die meine. »Wenn nicht, bring’ ich mich um oder verlier’ den Verstand. Ich bin dein Freund, nicht wahr?« Er sprach nun im allerleisesten Flüsterton. »Kann der Talisman, den du bei dir hast … das blaue Juwel … uns befreien? Ich weiß, daß die Prätorianer es nicht gefunden haben; ich habe beobachtet, wie du durchsucht worden bist.«

»Ich will’s nicht rausnehmen«, versetzte ich. »Es leuchtet so im Finstern.«

»Ich halte als Sichtschutz eine der Matten aufgestellt hoch.«

Ich wartete, bis er die Decke in der richtigen Lage hatte, und zog dann die Klaue heraus. Ihr Schein war so schwach, ich hätte sie mit der Hand abschirmen können.

»Ist sie am Erlöschen?« wollte Jonas wissen.

»Nein, so ist sie oft. Aber wenn sie aktiv wird – als sie das Wasser in unserer Karaffe verwandelt oder die Menschenaffen in Angst und Bange versetzt hat – leuchtet sie hell. Wenn sie unsere Flucht überhaupt ermöglichen kann, so jedenfalls nicht jetzt.«

»Wir müssen damit zur Tür. Vielleicht springt das Schloß auf.« Seine Stimme bebte.

»Später, wenn alle schlafen. Ich befreie sie, wenn wir selbst frei kommen; aber wenn die Tür nicht aufgeht – und das wird sie wohl nicht – soll keiner wissen, daß ich die Klaue habe. Und nun sag mir, warum du sofort fliehen mußt!«.

»Während du mit den alten Leuten sprachst, wurde ich von einer ganzen Familie ausgefragt«, begann Jonas. »Es waren mehrere alte Frauen, ein Mann um die Vierzig, ein jüngerer um die Dreißig, drei weitere Frauen und eine Kinderschar. Sie hatten mich in ihre kleine Mauernische getragen, wohin die übrigen Gefangenen nur kommen durften, wenn sie eingeladen waren, was sie nicht wurden. Ich rechnete damit, daß sie etwas über Freunde von draußen, Politik oder die Kämpfe in den Bergen erfahren wollten. Statt dessen wollten sie offenbar nur ihren Spaß an mir haben. Sie fragten mich über den Fluß aus, wo ich überall gewesen sei, wie viele Leute sich so wie ich kleideten – und übers Essen draußen. Sie stellten viele Fragen übers Essen, darunter recht alberne. Hätte ich schon einmal beim Schlachten zugesehn. Flehten die Tiere tatsächlich um ihr Leben. Und sei es wahr, daß diejenigen, die Zucker machten, vergiftete Schwerter trügen und kämpften, um ihn zu verteidigen …

Sie haben noch nie Bienen gesehen und offenbar geglaubt, sie wären groß wie Hasen. Nach einer Weile begann ich selbst, Fragen zu stellen und fand heraus, daß keiner von ihnen, nicht einmal die ältesten Frauen, je frei gewesen waren. Wie es scheint, werden Männer und Frauen zusammen in diesen Raum gesteckt, so daß sie naturgemäß Kinder bekommen. Einige davon werden zwar entfernt, aber die meisten bleiben ihr ganzes Leben hier. Sie haben keinen Besitz und keinerlei Hoffnung auf Freilassung. Sie wissen zwar nicht, was Freiheit bedeutet, und obschon mir der ältere Mann und ein Mädchen allen Ernstes versichert haben, sie würden gern hinauskommen, glaube ich nicht, daß sie draußen bleiben wollten. Die alten Frauen sind schon Gefangene in der siebten Generation, wie sie gesagt haben – allerdings hat eine angedeutet, daß auch ihre Mutter schon Gefangene in der siebten Generation gewesen sei.

Sie sind in mancherlei Hinsicht bemerkenswerte Leute. Im Äußeren hat sie dieser Ort, an dem sie ihr ganzes Leben verbracht haben, geprägt. Darunter jedoch gibt es …« – Jonas hielt inne, und ein drückendes Schweigen kam über uns – »Familienüberlieferungen, könnte man es wohl nennen. Traditionen von der Außenwelt, die von Generation zu Generation von den ursprünglichen Gefangenen, von denen sie abstammen, zu ihnen gelangt sind. Einige der Wörter verstehen sie zwar nicht mehr, dennoch halten sie an den Traditionen, den Geschichten fest, denn das ist alles, was sie noch haben: die Geschichten und ihre Namen.«

Er verstummte. Ich hatte die schwach funkelnde Klaue wieder in den Stiefelschaft gesteckt, so daß uns völlige Finsternis umgab. Jonas keuchte wie ein Blasebalg in einer Schmiede.

»Ich fragte sie nach dem Namen des ersten Gefangenen, des frühesten, von dem ab sie die Generationen zählten. Er hieß Kimleesoong … Hast du diesen Namen schon einmal gehört?«

Ich verneinte.

»Oder einen ähnlichen? Stell ihn dir als drei Wörter vor.«

»Nein, nichts dergleichen«, versetzte ich. »Die meisten Leute, die ich kenne, haben einen einfachen Namen wie du, wenn nicht ein Titel oder irgendein Spitznamen angehängt ist, weil es zu viele Bolcans oder Altos oder was auch immer gibt.«

»Du hast mir einmal gesagt, mein Name sei ungewöhnlich. Kim Lee Soong wäre ein durchaus üblicher Name gewesen, als ich – ein Knabe war. Ein üblicher Name in Städten, die nun im Meer versunken liegen. Hast du schon einmal von meinem Schiff gehört, Severian? Es war die Glückliche Wolke.«

»Ein Spielhöllenschiff? Nein, aber …«

Mein Blick fiel auf einen fahlen Lichtstrahl, der so schwach war, daß man ihn selbst in dieser Finsternis kaum sehen konnte. Mit einemmal hallte der breite, niedrige, winklige Raum von raunenden Stimmen wider. Ich hörte Jonas auf die Beine springen. Ich folgte seinem Beispiel, doch kaum hatte ich mich aufgerichtet, blendete mich ein blauer Lichtblitz. Noch nie hatte ich einen so heftigen Schmerz gespürt; es war, als würde mir das Gesicht abgerissen. Ich wäre gestürzt, wenn nicht die Wand gewesen wäre.

Irgendwo ein Stück weiter weg blitzte das blaue Licht abermals auf, und eine Frau schrie aus Leibeskräften.

Jonas fluchte – zumindest verriet mir sein Tonfall, daß er fluchte, denn die Wörter, die er ausstieß, stammten aus fremden Sprachen. Ich hörte seine Stiefel auf dem Boden. Wieder flammte das Licht auf, und ich erkannte es als das blitzähnliche Leuchten wieder, das ich an jenem Tag gesehen hatte, als Meister Gurloes, Roche und ich Thecla dem Revolutionär unterzogen. Gewiß hatte wie ich auch Jonas aufgeschrien, aber es herrschte inzwischen ein solcher Tumult, daß ich seine Stimme nicht unterscheiden konnte.

Das fahle Licht wurde stärker. Halb gelähmt vor Schmerz und Furcht, wie ich sie noch nie erlebt hatte, sah ich zu, wie es sich zu einem gewaltigen Gesicht vereinigte, das mich aus Glotzaugen anstarrte, um rasch wieder zu erlöschen.

All dies war viel grauenvoller, als ich es in Worte fassen könnte, und würde ich auch eine Ewigkeit darum ringen. Es war die Angst sowohl vor Blindheit als auch vor Schmerz, aber wir waren sowieso schon alle blind. Es gab kein Licht, und wir konnten keines machen. Nicht einer von uns hatte eine Kerze oder ein Stück Zunder. Schreien, Weinen und Beten erfüllte diesen höhlenartigen Raum. Daneben vernahm ich das klare Lachen einer jungen Frau; dann war es wieder verschwunden.

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