Ich stand auf der Spitze des Hügels und blickte auf das Haus hinab. Da ich ringsum von Gebüsch umgeben war, fiel ich nicht besonders auf.
Ich weiß eigentlich nicht, was ich zu sehen erwartete. Eine ausgebrannte Ruine? Einen Wagen in der Auffahrt? Eine Familie auf den Rotholzstühlen der Veranda? Bewaffnete Wächter?
Mir fiel auf, daß das Dach an einigen Stellen neue Schindeln vertragen konnte und daß der Rasen vor langer Zeit in seinen Naturzustand zurückgefallen war. Es überraschte mich, daß ich an der Rückseite nur eine zerbrochene Glasscheibe sehen konnte.
Das Haus sollte also verlassen aussehen. Interessant.
Ich breitete mein Jackett auf dem Boden aus und setzte mich darauf. Dann zündete ich mir eine Zigarette an. Die nächsten Häuser lagen ziemlich weit entfernt.
Für die Diamanten hatte ich fast siebenhunderttausend Dollar bekommen. Das Geschäft war in anderthalb Wochen erledigt gewesen. Von Antwerpen waren wir nach Brüssel gereist und hatten mehrere Abende in einem Klub an der Rue de Char et Pain verbracht, ehe mich der Mann aufstöberte, den ich sprechen wollte.
Arthur zeigte sich ziemlich erstaunt über meine Wünsche. Er war ein schlanker, weißhaariger Mann mit gepflegtem Schnurrbart, ein ehemaliger RAF-Offizier mit Oxford-Erziehung, und er hatte schon nach den ersten beiden Minuten den Kopf zu schütteln begonnen und mich mit Fragen über die Form der Lieferung unterbrochen. Er war zwar kein Sir Basil Zaharoff, doch machte er sich Sorgen, wenn ihm die Pläne eines Kunden zu unausgereift vorkamen. Es beunruhigte ihn, wenn zu bald nach der Lieferung etwas schiefgehen konnte. Er schien anzunehmen, so etwas könnte auf ihn zurückfallen. Aus diesem Grund war er bei der Verschiffung von Waffen nützlicher als die anderen. Und er hakte bei meinen Transportplänen ein, weil ich überhaupt keine zu haben schien.
Bei einem solchen Arrangement braucht man normalerweise eine Art Endverbraucher-Zertifikat. Im Prinzip handelt es sich dabei um ein Dokument mit der Bestätigung, daß das Land X die fraglichen Waffen bestellt hat. Man braucht diese Bescheinigung, um eine Exporterlaubnis des Herstellerlandes zu bekommen. Mit dem Dokument wahrt der Hersteller den Anschein der Seriosität, auch wenn die Sendung in das Land Y umgeleitet wird, sobald sie die Grenze überquert hat. Zur Beschaffung der Papiere versichert man sich üblicherweise durch entsprechende Zahlungen der Hilfe eines Botschaftsmitgliedes von Land X – vorzugsweise eines Mannes, der zu Hause Verwandte oder Freunde beim Verteidigungsministerium hat. Die Bescheinigung kostet ziemlich viel, und meinem Gefühl nach hatte Arthur die derzeit gültigen Tarife ausnahmslos im Kopf.
»Aber wie wollen Sie die Waffen versenden?« fragte er immer wieder. »Wie wollen Sie sie ans gewünschte Ziel bringen?«
»Das«, erwiderte ich, »ist mein Problem. Darüber zerbreche ich mir den Kopf.«
Doch er setzte sein Kopfschütteln fort.
»Es ist nicht ratsam, sich die Sache in diesem Punkt leichtzumachen, Colonel«, sagte er. (Für ihn galt ich seit unserer ersten Begegnung vor einigen Dutzend Jahren als Colonel. Den Grund weiß ich nicht genau.) »Das ist absolut nicht empfehlenswert. Wenn Sie auf diese Weise ein paar Dollar sparen wollen, können Sie die ganze Ladung verlieren und sich wirklichen Ärger einhandeln. Ich könnte Sie durch eines der jungen afrikanischen Länder problemlos absichern lassen . . .«
»Nein – beschaffen Sie mir nur die Waffen.«
Während des Gesprächs saß Ganelon dabei und trank Bier, rotbärtig und düster-eindrucksvoll wie eh und je, und er nickte zu allem, was ich sagte. Da er kein Englisch verstand, hatte er keine Ahnung vom Stand der Dinge. Ihm war das im Grunde auch egal. Er befolgte allerdings meine Anweisungen und wandte sich von Zeit zu Zeit in Thari an mich, woraufhin wir uns einen Augenblick lang in dieser Sprache über Belanglosigkeiten unterhielten. Der arme alte Arthur war ein vorzüglicher Sprachenkenner und wollte natürlich wissen, für welches Land seine Waffen bestimmt waren. Ich spürte deutlich, daß er sich große Mühe gab, die unbekannten Laute zu identifizieren. Schließlich begann er vor sich hinzunicken, als hätte er eine Lösung gefunden.
Nach weiteren Diskussionen wagte er sich vor. »Ich kenne die Zeitungsberichte«, sagte er. »Ich bin sicher, seine Anhänger können sich die Versicherungskosten leisten.«
Das war es fast wert, ihm die Wahrheit zu sagen.
Doch ich hielt mich an meinen Plan. »Nein«, sagte ich. »Glauben Sie mir – wenn ich die automatischen Gewehre übernehme, werden sie von der Erdoberfläche verschwinden.«
»Das wäre ein hübscher Trick«, sagte er, »zumal ich noch nicht einmal weiß, wo wir sie übernehmen.«
»Der Ort ist egal.«
»Selbstvertrauen ist eine gute Sache. Die nächste Stufe ist die Tollkühnheit . . .« Er zuckte die Achseln. »Wie Sie wollen – Ihr Problem.«
Dann eröffnete ich ihm meine Wünsche hinsichtlich der Munition, und das schien ihn nun endgültig zu überzeugen, ich müsse den Verstand verloren haben. Er starrte mich sekundenlang verdattert an und verzichtete diesmal sogar darauf, den Kopf zu schütteln. Es kostete mich fast zehn Minuten, ihn nur dazu zu bringen, sich die Detailangaben anzusehen. Daraufhin begann er doch wieder mit dem Kopf zu schütteln und murmelte etwas von Silberkugeln und nichtzündenden Zündern.
Der wirksamste Anreiz, Bargeld, ließ ihn schließlich auf meine Wünsche eingehen. Mit den Gewehren oder Lastwagen gab es keine Schwierigkeiten; doch eine Waffenfabrik dazu zu bringen, meine ulkige Munition herzustellen – das würde teuer werden, meinte er. Er war nicht einmal sicher, ob er eine finden würde, die so etwas mitmachte. Als ich ihm sagte, die Kosten spielten keine Rolle, schien ihn das noch mehr aufzuregen. Wenn ich es mir leisten könnte, mit verrückter Versuchsmunition herumzuspielen, meinte er, könnte ein Endverbrauchszertifikat doch auch nicht mehr soviel ausmachen . . .
Ich blieb hart. »Nein«, sagte ich. »Mein Problem, denken Sie daran.«
Er seufzte ergeben und zupfte an seinen Schnurrbartspitzen. Dann nickte er. Also gut, alles sollte so geschehen, wie ich es wünschte.
Natürlich berechnete er mir viel zuviel. Da ich in allen anderen Dingen vernünftig auftrat, schien die Alternative zu einer Psychose darin zu bestehen, daß ich mich auf eine raffinierte Gaunerei eingelassen hatte. Diese Überlegung erregte sicher sein Interesse, doch kam er offenbar zu dem Schluß, er solle lieber die Nase nicht zu tief in ein so kitzliges Unternehmen stecken. Er war sogar bereit, jede Chance zu ergreifen, sich von dem Projekt abzusetzen. Sobald er den Munitionshersteller gefunden hatte – er überzeugte schließlich eine Firma in der Schweiz –, erklärte er sich einverstanden, daß ich direkten Kontakt aufnahm. Auf diese Weise hatte er nichts mehr damit zu tun – natürlich bis auf das Geld.
Ganelon und ich reisten mit falschen Papieren in die Schweiz. Mein Begleiter trat als Deutscher auf, ich als Portugiese. Mir war im Grunde gleichgültig, was meine Papiere auswiesen, solange die Fälschungen gut waren, doch ich hatte Deutsch als die Sprache bestimmt, die Ganelon am besten lernen konnte; schließlich mußte er eine Sprache dieser Schatten-Welt beherrschen, und die deutschen Touristen schienen in der Schweiz besonders zahlreich zu sein. Er machte schnelle Fortschritte. Wenn Ganelon von einem Deutschen oder einem Schweizer nach seiner Herkunft gefragt wurde, sollte er antworten, er sei in Finnland aufgewachsen.
Wir brachten drei Wochen in der Schweiz zu, ehe ich mit der Qualitätskontrolle meiner Munition zufrieden war. Wie angenommen, tat das Zeug in diesem Schatten bei der Zündung keinen Muckser. Doch ich hatte die Formel bis ins letzte Detail ausgearbeitet, worauf es jetzt einzig und allein ankam. Das Silber war natürlich ziemlich teuer. Vielleicht war ich zu vorsichtig. Doch immerhin gibt es in Amber einige Dinge, die man am besten mit diesem Metall beseitigt; außerdem konnte ich´s mir leisten. Ganz abgesehen davon: Gab es eine bessere Kugel – einmal abgesehen von Gold – für einen König? Wenn es dazu kam, daß ich Eric erschießen mußte, beging ich auf diese Weise wenigstens keine Majestätsbeleidigung. Habt Nachsicht mit mir, Brüder.
Anschließend überließ ich Ganelon ein wenig sich selbst, da er sich geradezu mit Begeisterung in seine Touristenrolle gefunden hatte. Ich setzte ihn in Italien ab, eine Kamera vor dem Bauch und einen abwesenden Blick in den Augen, und flog zurück in die Vereinigten Staaten.
Zurück? Ja, das heruntergekommene Gebäude am Hang unter mir war fast zehn Jahre lang mein Zuhause gewesen. Zu diesem Haus war ich seinerzeit unterwegs gewesen, als ich von der Straße gedrängt und in den Unfall verwickelt wurde, welcher zu allen bisherigen Ereignissen führte.
Ich zog an meiner Zigarette und betrachtete das Gebäude. Damals war es nicht heruntergekommen gewesen. Ich hatte mich immer gut darum gekümmert. Das Haus war voll bezahlt. Sechs Zimmer und eine angebaute Garage für zwei Wagen. Ein Grundstück von etwa sieben Morgen, praktisch der ganze Hang. Ich hatte dort die meiste Zeit allein gelebt – ein Zustand, der mir gefiel. Einen großen Teil meiner Zeit verbrachte ich im Arbeitszimmer und in der Werkstatt. Ich fragte mich, ob der Holzschnitt von Mori noch im Arbeitszimmer hing. Von Angesicht zu Angesicht hieß er – die Darstellung zweier Krieger in tödlichem Kampf. Es wäre nett, wenn ich das Bild zurückhaben könnte. Aber sicher war es längst gestohlen; das sagte mir ein Gefühl. Wahrscheinlich waren die Dinge, die man nicht gestohlen hatte, zur Begleichung ausstehender Steuern versteigert worden. Ich konnte mir vorstellen, daß der Staat New York so etwas fertigbrachte. Es überraschte mich etwas, daß das Haus selbst noch keine neuen Bewohner hatte. Ich setzte meine Wacht fort, um ganz sicherzugehen. Himmel, ich hatte keine Eile. Ich wurde nirgendwo erwartet.
Kurz nach meiner Ankunft in Belgien hatte ich mich mit Gérard in Verbindung gesetzt. Ich hatte überlegt und dann zunächst auf den Versuch verzichtet, mit Benedict zu sprechen. Ich hatte Angst, daß er mich sofort wieder angreifen würde, so oder so.
Gérard hatte mich seltsam lauernd angesehen. Er war irgendwo in offenem Gelände und schien allein zu sein.
»Corwin?« fragte er schließlich. »Ja . . .«
»Ja. Was war mit Benedict?«
»Ich fand ihn, wie du gesagt hattest, und ließ ihn frei. Er wollte dich sofort verfolgen, doch ich konnte ihn überzeugen, daß seit meinem Gespräch mit dir ziemlich viel Zeit vergangen sei. Da du gesagt hattest, er wäre bewußtlos gewesen, hielt ich das für den besten Weg. Außerdem war sein Pferd sehr erschöpft. Wir sind dann gemeinsam nach Avalon zurückgekehrt. Ich bin bis nach der Beerdigung bei ihm geblieben und habe mir dann ein Pferd ausgeliehen. Jetzt reite ich nach Amber zurück.«
»Beerdigung? Was für eine Beerdigung?«
Von neuem traf mich sein lauernder Blick.
»Du weißt es wirklich nicht?«
»Verdammt – würde ich fragen, wenn ich es wüßte?«
»Seine Dienstboten. Sie wurden alle ermordet. Er behauptet, du hättest es getan.«
»Nein!« rief ich. »Nein. Das ist lächerlich! Warum sollte ich seine Bediensteten umbringen? Ich begreife das alles nicht . . .«
»Kurz nach seiner Rückkehr begann er die Leute zu suchen, da sie nicht zur Begrüßung erschienen waren. Er fand sie ermordet vor – und du warst mit deinem Begleiter verschwunden.«
»Ich kann mir vorstellen, wie das auf ihn gewirkt haben muß«, sagte ich. »Wo waren die Leichen?«
»Vergraben, nicht sehr tief, in dem Wäldchen hinter dem Garten.«
Aha . . . Aber ich sollte lieber nicht erwähnen, daß ich von dem Grab gewußt hatte.
»Welchen Grund sollte ich wohl haben, so etwas zu tun?« fragte ich.
»Er ist inzwischen ziemlich verwirrt, Corwin. Er begreift nicht, warum du ihn nicht umgebracht hast, als du die Gelegenheit dazu hattest, und warum du mich geholt hast, wo du ihn doch hättest liegen lassen können.«
»Ich verstehe jetzt, warum er mich während unseres Kampfes immer wieder einen Mörder genannt hat, aber . . . Hast du ihm meine Worte ausgerichtet: daß ich niemanden getötet habe?«
»Ja. Zuerst hat er das als Schutzbehauptung abgetan. Ich sagte ihm, du schienst es ehrlich zu meinen und wärst ziemlich ratlos gewesen. Ich glaube, es hat ihm zu schaffen gemacht, daß du so beharrlich gewesen bist. Er fragte mich mehrmals, ob ich dir glaubte.«
»Und glaubst du mir?«
Er senkte den Blick. »Verdammt, Corwin! Was soll ich wohl glauben? Ich bin mitten in diese Sache hineingeraten! Wir waren so lange getrennt . . .«
Er hielt meinem Blick stand.
»Das ist aber noch nicht alles«, sagte er dann.
»Was meinst du damit?«
»Warum hast du mich gerufen? Du hattest Benedict ein komplettes Spiel Tarockkarten abgenommen. Du hättest dich an jeden von uns wenden können.«
»Du machst Witze«, sagte ich.
»Nein. Ich möchte eine Antwort haben.«
»Na schön. Du bist der einzige, dem ich noch traue.«
»Ist das alles?«
»Nein. Benedict möchte nicht, daß sein Aufenthaltsort in Amber bekannt wird. Du und Julian, ihr seid die beiden einzigen, von denen ich wußte, daß ihr Benedicts Wohnort kanntet. Und Julian mag ich nicht, ich traue ihm nicht. Also habe ich dich gerufen.«
»Woher wußtest du, daß Julian und ich über Benedict Bescheid wußten?«
»Er hat euch vor einiger Zeit beigestanden, als ihr auf der schwarzen Straße Probleme hattet, und er bot euch Unterkunft, während ihr wieder zu Kräften kamt. Dara hat mir davon erzählt.«
»Dara? Wer ist das überhaupt?«
»Die Waisentochter eines Ehepaars, das einmal für Benedict gearbeitet hat«, sagte ich. »Sie war im Haus, als du und Julian dort wart.«
»Und du hast ihr ein Armband geschickt. Du hast schon einmal von ihr gesprochen, am Straßenrand, als du mich gerufen hattest.«
»Richtig. Was ist denn los?«
»Nichts. Ich erinnere mich nur gar nicht an sie. Sag mir, warum bist du so plötzlich abgereist? Du mußt doch zugeben, daß das der Handlungsweise eines schuldbewußten Menschen entspricht.«
»Ja«, sagte ich. »Ich war auch schuldig – doch nicht eines Mordes. Ich war nach Avalon gekommen, um mir etwas zu besorgen. Ich bekam es und verschwand. Du hast ja selbst meinen Wagen gesehen, auf dem ich eine Ladung hatte. Ich bin vor Benedicts Rückkehr verschwunden, um ihm keine Fragen beantworten zu müssen über die Ladung. Himmel! Wenn ich einfach nur hätte ausreißen wollen, würde ich doch nicht einen hinderlichen Wagen mitgenommen haben! Ich wäre auf dem Pferderücken geflohen, schnell und mühelos.«
»Was war denn auf dem Wagen?«
»Nein«, entgegnete ich. »Ich wollte Benedict nichts darüber sagen, und ich werde dir auch nichts verraten. Oh, er kann es sicher herausfinden. Doch dazu soll er sich ruhig anstrengen, wenn er unbedingt will. Die Frage ist aber unwichtig. Die Tatsache, daß ich aus einem bestimmten Grund nach Avalon gekommen war und mir das Gewünschte geholt habe, müßte eigentlich ausreichen. In Avalon ist das Material nicht besonders wertvoll – um so mehr aber an einem anderen Ort. Genügt das?«
»Ja«, sagte er. »Das scheint mir jedenfalls einen Sinn zu ergeben.«
»Dann beantworte meine Frage: Glaubst du, daß ich die Leute umgebracht habe?«
»Nein«, entgegnete er. »Ich glaube dir.«
»Was ist mit Benedict? Was glaubt er heute?«
»Er würde dich nicht noch einmal auf der Stelle angreifen – er würde erst mit dir sprechen. Ihn bewegen Zweifel, das weiß ich.«
»Gut. Das ist ja wenigstens etwas. Vielen Dank, Gérard. Ich unterbreche jetzt die Verbindung.«
Ich machte Anstalten, die Karte zu verdecken.
»Warte, Corwin! Warte!«
»Was ist?«
»Wie hast du die schwarze Straße durchtrennt? An der Stelle, an der du sie überquert hast, ist ein Stück zerstört worden. Wie ist dir das gelungen?«
»Mit dem Muster«, sagte ich. »Wenn du je Ärger mit dem Ding bekommst, verwende das Muster als Waffe. Du weißt doch, daß man es sich manchmal im Geiste vorstellen muß, wenn einem die Schatten zu entgleiten drohen und die Lage unhaltbar wird.«
»Ja. Ich hab´s versucht, aber es klappte nicht. Ich bekam nur Kopfschmerzen davon. Die Straße ist kein Teil der Schatten.«
»Ja und nein«, sagte ich. »Ich weiß, was sie ist. Du hast dich nicht genug angestrengt. Ich habe das Muster eingesetzt, bis sich mein Kopf anfühlte, als würde er zermalmt, bis ich vor Schmerzen halb blind und einer Ohnmacht nahe war. Doch statt dessen löste sich die Straße ringsum plötzlich auf. Die Sache war beileibe nicht leicht, doch sie hat funktioniert.«
»Ich werd´s mir merken«, sagte er. »Wirst du jetzt noch mit Benedict sprechen?«
»Nein«, sagte ich. »Er weiß schon all die Dinge, die wir eben besprochen haben. Da er sich etwas beruhigt hat, wird er sich wieder mehr mit den Tatsachen beschäftigen. Mir ist lieber, wenn er das allein tut – und ich möchte keinen neuen Kampf riskieren. Wenn ich jetzt Schluß mache, werde ich mich lange nicht mehr melden. Ich werde mich auch allen Kontaktversuchen widersetzen.«
»Was ist mit Amber, Corwin? Was ist mit Amber?«
Ich senkte den Blick.
»Bleib mir aus dem Weg, wenn ich zurückkehre, Gérard. Glaub mir, die Sache wird kein Wettstreit . . .«
»Corwin . . . Warte. Ich möchte dich bitten, dir die Sache noch einmal gründlich zu überlegen. Greif Amber nicht gerade jetzt an. Es ist schwach, doch aus anderen Gründen.«
»Tut mir leid, Gérard. Aber ich bin sicher, daß ich in den letzten fünf Jahren mehr und öfter über das Problem nachgedacht habe als ihr alle zusammen.«
»Dann tut es mir leid.«
»Ich sollte jetzt lieber gehen.«
Er nickte. »Auf Wiedersehen, Corwin.«
»Auf Wiedersehen, Gérard.«
Nachdem ich mehrere Stunden lang auf den Sonnenuntergang gewartet hatte, der das Haus in ein vorzeitiges Dämmerlicht hüllte, drückte ich meine letzte Zigarette aus, zog meine Jacke an und stand auf. Auf dem Grundstück hatte sich nichts gerührt, niemand bewegte sich hinter den Fenstern, hinter der zerbrochenen Scheibe. Vorsichtig stieg ich den Hügel hinab.
Floras Haus in Westchester war bereits vor einigen Jahren verkauft worden – ein Umstand, der mich nicht überraschte. Aus reiner Neugier hatte ich mich dort umgesehen, da ich zufällig in der Gegend war. Ich war sogar einmal an dem Grundstück vorbeigefahren. Sie hatte schließlich keinen Grund, auf der Schatten-Erde zu bleiben. Nachdem ihr langes Wächteramt mit einem Erfolg geendet hatte, stand sie nun am Hofe Ambers in hohen Gnaden; das war jedenfalls der Stand der Dinge, als ich sie zum letztenmal gesehen hatte. Meiner Schwester solange so nahe gewesen zu sein, ohne von ihr zu wissen, war doch ziemlich ärgerlich.
Ich hatte überlegt, ob ich mich mit Random in Verbindung setzen sollte, war aber davon abgekommen. Er konnte mir im Grunde nur mit Informationen über die aktuellen Ereignisse in Amber nützen. Das mochte zwar ganz unterhaltsam sein, war aber nicht absolut erforderlich. Ich war ziemlich sicher, daß ich ihm trauen konnte. Schließlich hatte er mir schon einmal geholfen. Zugegeben, seine Motive waren nicht gerade altruistisch gewesen – doch immerhin war er etwas weiter gegangen, als er es nötig gehabt hätte. Das Ganze lag allerdings schon fünf Jahre zurück, und seither war viel geschehen. Er wurde in Amber wieder geduldet und hatte inzwischen eine Frau. Vielleicht lag ihm daran, sich etwas Ansehen zu verschaffen. Ich wußte es nicht. Doch als ich die möglichen Vorteile gegen die Risiken aufwog, hielt ich es doch für besser zu warten und ihn bei meinem nächsten Besuch in Amber persönlich zu sprechen.
Ich hatte mein Wort gehalten und mich allen Kontaktversuchen widersetzt. In den ersten beiden Wochen auf der Schatten-Erde verspürte ich das vertraute Bohren fast täglich. Doch inzwischen waren mehrere Wochen vergangen, ohne daß ich belästigt worden war. Warum sollte ich jemandem freien Zugang zu meiner Denkmaschine gewähren? Nein danke, Brüder.
Ich näherte mich der Rückseite des Hauses, schob mich von der Seite an ein Fenster heran, wischte es mit dem Ellbogen sauber. Drei Tage lang beobachtete ich das Haus nun schon und hielt es für sehr unwahrscheinlich, daß sich jemand im Innern aufhielt. Trotzdem . . .
Ich lugte hinein.
Drinnen herrschte natürlich ein fürchterliches Durcheinander, und ein großer Teil der Einrichtung fehlte. Einige Stücke waren allerdings noch vorhanden.
Ich bewegte mich nach links und drehte den Türknopf. Verschlossen. Leise lachte ich vor mich hin.
Ich ging auf die Terrasse. Neunter Stein von links, vierter Stein von unten. Der Schlüssel lag noch dort. Ich wischte ihn an meiner Jacke sauber und kehrte zurück. Dann betrat ich das Haus.
Überall lag Staub, der allerdings da und dort Spuren aufwies. Kaffeedosen, Sandwichhüllen und die Überbleibsel eines versteinerten Hamburgers im Kamin. In meiner Abwesenheit hatte sich die Natur durch den Schornstein Einlaß verschafft. Ich ging hinüber und schloß die Klappe.
Ich stellte fest, daß das Schloß der Vordertür aufgebrochen worden war. Ich drückte dagegen. Die ganze Füllung schien zugenagelt zu sein. An die Flurwand hatte jemand einen obszönen Spruch gemalt. Ich ging in die Küche, die völlig versaut war. Was von den Dieben nicht mitgenommen worden war, lag auf dem Boden herum. Herd und Eisschrank waren fort, der Fußbodenbelag zeigte noch die Kratzspuren, die die Einbrecher dabei hinterlassen hatten.
Ich kehrte in den Flur zurück und sah mich in meinem Arbeitszimmer um. Auch dort hatten die Langfinger tüchtig zugegriffen; es war praktisch nichts mehr übrig.
Ich ging weiter und war überrascht, mein Bett vorzufinden, noch immer ungemacht, und zwei teure Stühle, die niemand angerührt hatte.
Und eine noch angenehmere Überraschung wartete auf mich. Der große Tisch war mit Unrat und Staub bedeckt – aber das war auch schon früher so gewesen. Ich zündete mir eine Zigarette an und setzte mich dahinter. Wahrscheinlich war der Tisch zu schwer zum Mitnehmen. Meine Bücher standen auf den Regalen. Nur Freunde stehlen Bücher. Und dort . . .
Ich traute meinen Augen nicht! Ich stand auf und ging quer durch das Zimmer und starrte aus der Nähe darauf.
Yoshitoshi Moris herrlicher Holzschnitt hing dort, wo er immer gehangen hatte, sauber, eindrucksvoll, elegant, gewalttätig. Der Gedanke, daß sich niemand mit einem meiner Lieblings stücke davongemacht hatte . . .
Sauber?
Ich starrte auf das Bild. Ich fuhr mit dem Finger über den Rahmen.
Zu sauber. Hier fehlten der Staub und der Schmutz, die alles andere bedeckten.
Ich suchte nach Alarmdrähten, ohne welche zu finden, nahm das Bild vom Haken, senkte es.
Nein, die Wand dahinter war nicht heller als der Rest – die Tapete war grau wie überall.
Ich stellte Moris Werk auf die Fensterbank und kehrte an meinen Tisch zurück. Unruhe hatte mich befallen – und das war zweifellos beabsichtigt. Jemand hatte das Bild offenbar an sich genommen imd gut aufbewahrt, was ich nicht ohne Dankbarkeit vermerkte, und hatte es erst kürzlich wieder hierhergehängt. Es war, als hätte jemand meine Rückkehr erwartet.
Was eigentlich ein Grund zur sofortigen Flucht war, nehme ich an. Aber das war dumm. Wenn dies zu einer Falle gehörte, war sie längst zugeschnappt. Ich zerrte die Automatic aus meiner Jackentasche und steckte sie griffbereit in den Gürtel. Ich hatte ja selbst nicht gewußt, daß ich hierher kommen würde. Ich hatte mich kurzfristig dazu entschlossen, weil ich etwas Zeit hatte. Ich war mir nicht einmal sicher, warum ich das Haus eigentlich wiedersehen wollte.
Es handelte sich also um eine Art Vorsichtsmaßnahme. Wenn ich an den alten Herd zurückkehrte, dann vielleicht, um den einzigen Gegenstand an mich zu bringen, dessen Besitz sich lohnte. Also galt es diesen Gegenstand zu erhalten und so aufzuhängen, daß ich ihn bemerken mußte. Schön, ich hatte das Bild bemerkt. Man hatte mich noch nicht angegriffen, also schien es sich nicht um eine Falle zu handeln. Was sonst?
Eine Nachricht. Eine Art Botschaft.
Was? Wie? Und von wem?
Der sicherste Ort im Haus war, wenn man ihn nicht aufgebrochen hatte, der Safe. Allerdings war er vor den Fähigkeiten meiner Geschwister nicht sicher. Ich näherte mich der rückwärtigen Wand, drückte auf die Verkleidung und ließ das Paneel aufschwingen. Ich drehte das Zahlenschloß, stellte die Kombination ein, öffnete behutsam und aus sicherer Deckung die Tür mit meinem alten Offiziersstab.
Keine Explosion. Gut. Ich hatte eigentlich auch keine erwartet.
Im Safe hatten sich keine sonderlich wertvollen Dinge befunden – ein paar hundert Dollar in bar, etliche Wertpapiere, Quittungen, Korrespondenz.
Ein Umschlag. Ein frischer weißer Umschlag lag ganz obenauf. Ich konnte mich nicht daran erinnern . . .
Er enthielt einen Brief und eine Karte.
Bruder Corwin, begann der Brief, wenn Du dies liest, ist unser Denken noch insoweit ähnlich, als ich in mancher Beziehung Deine Schritte vorausahnen kann. Ich danke Dir für die Leihgabe des Holzschnitts – nach meiner Auffassung einer von zwei möglichen Gründen für Deine Rückkehr in diesen trostlosen Schatten. Ich trenne mich ungern davon, da auch unser Geschmack in mancher Beziehung ähnlich ist und das Bild nun schon seit einigen Jahren meine Räume schmückt. Die Darstellung rührt etwas ganz Besonderes in mir an. Die Rückgabe des Bildes möge als Zeichen meines guten Willens verstanden werden und als Bitte um Deine Aufmerksamkeit. Da ich ehrlich sein muß, wenn ich die Chance haben will, Dich von irgend etwas zu überzeugen, werde ich mich für nichts entschuldigen. Ich bedaure nur, daß ich Dich nicht umgebracht habe, als ich die Möglichkeit dazu hatte. Es war die Eitelkeit, die mich schließlich als Narren dastehen läßt. Zwar mag die Zeit Deine Augen geheilt haben, doch ich bezweifle, daß sie es jemals vermag, unsere Gefühle füreinander wesentlich zu beeinflussen. Dein Brief »Ich komme zurück« liegt in diesem Augenblick auf meinem Schreibtisch. Hätte ich ihn geschrieben, dann wüßte ich, daß ich zurückkehren würde. Da wir in mancher Beziehung gleich sind, erwarte ich also Dein Auftauchen – und nicht ohne einen Anflug von Sorge. Da ich weiß, daß Du kein Dummkopf bist, rechne ich damit, daß Du möglicherweise mit einer Armee eintriffst. Und das ist der Punkt, da die Eitelkeit der Vergangenheit den Stolz der Gegenwart zunichtemacht. Ich würde mir Frieden zwischen uns wünschen, Corwin, im Interesse des ganzen Landes – nicht in meinem Interesse. Aus den Schatten sind starke Kräfte hervorgebrochen, die Amber vernichten wollen, und ich begreife nicht, was dahintersteckt. Zur Abwehr dieser Attacken, die schlimmste Gefahr, die meiner Erinnerung nach Amber jemals bedroht hat, ist die Familie geschlossen hinter mich getreten. Ich möchte auch Dich bitten, mir in diesem Kampf Deine Unterstützung zu gewähren. Wenn Du Dich dazu nicht bereit erklären kannst, bitte ich Dich, auf Deine Invasion zunächst zu verzichten. Entschließt Du Dich zur Mithilfe, erwarte ich nicht, daß Du Dich unterwirfst, sondern Du solltest lediglich meine Führung für die Dauer der Krise anerkennen. Dir würden Deine normalen Ehren zuteil. Es ist wichtig, daß Du Dich mit mir in Verbindung setzt, um Dich zu überzeugen, daß ich die Wahrheit sage. Da ich Dich durch Deinen Trumpf nicht erreichen konnte, lege ich den meinen bei für Deinen Gebrauch. Zwar wird Dich die Möglichkeit beschäftigen, daß ich lüge, doch ich gebe Dir mein Wort, daß das nicht der Fall ist. — Eric, Lord von Amber.
Ich las den Brief ein zweitesmal und lachte leise vor mich hin. Was glaubte er denn, wozu ein Fluch gut war?
Das genügt nicht, liebes Brüderchen. Es war nett von dir, in der Not an mich zu denken – und ich glaube dir, keine Sorge, denn wir sind doch alle Männer von Ehre – doch unser Zusammentreffen wird nach meinem Plan ablaufen, nicht nach dem deinen. Und was Amber angeht, so bin ich mir seiner Bedürfnisse durchaus bewußt, und ich werde mich zu einem von mir gewählten Zeitpunkt und auf meine Weise darum kümmern. Eric, du begehst den Fehler, dich für unersetzbar zu halten. Die Friedhöfe sind voll mit Männern, die in der irrigen Auffassung lebten, es gäbe keinen Ersatz für sie. Doch ich will warten und dir diese Wahrheit ins Gesicht sagen.
Ich schob seinen Brief und den Trumpf in meine Jackentasche. Dann drückte ich in dem schmutzigen Aschenbecher auf dem Tisch meine Zigarette aus. Schließlich holte ich ein Laken aus dem Schlafzimmer, um meine ›Kämpfenden‹ einzuwickeln. Sie sollten diesmal an einem besser gesicherten Ort auf mich warten.
Als ich noch ein letztesmal durch das Haus ging, fragte ich mich, warum ich wirklich hierher zurückgekehrt war. Ich dachte an einige Menschen, die ich gekannt hatte, als ich hier lebte, und überlegte, ob sie jemals an mich dachten, ob sie sich wohl fragten, was aus mir geworden war. Eine Frage, die natürlich niemals eine Antwort finden würde.
Die Nacht war hereingebrochen, der Himmel war klar, und die ersten Sterne schimmerten hell, als ich ins Freie trat und die Tür hinter mir verschloß. Ich ging um die Ecke und legte den Schlüssel ins Versteck zurück. Dann erstieg ich den Hügel.
Als ich einen letzten Blick in die Tiefe warf, schien das Haus in der Dunkelheit eingeschrumpft zu sein, schien zu einem Stück der ganzen Trostlosigkeit ringsum geworden zu sein, wie eine leere Bierdose am Straßenrand. Ich ging über den Kamm und stieg wieder hinab, ging auf die Stelle zu, wo ich meinen Wagen abgestellt hatte, und wünschte mir, ich hätte nicht zurückgeschaut.