4

Über die unheimlichen und verrückten Wege nach Avalon ritten wir, Ganelon und ich, durch Gassen aus Träumen und Alpträumen, unter der hallenden Stimme der Sonne und den weißen Inseln der Nacht, bis diese zu Gold- und Diamantbrocken wurden und der Mond wie ein Schwan dahinsegelte. Der Tag schrie das Grün des Frühlings hinaus, wir überquerten einen breiten Strom, und die Berge vor uns waren mit Nacht überkrustet. Ich schickte einen Pfeil meiner Schöpfung in die mitternächtliche Schwärze empor, und der Schaft fing über mir Feuer und brannte sich wie ein Meteor nach Norden. Der einzige Drache, auf den wir stießen, war lahm und humpelte hastig in ein Versteck, wobei sein keuchender, quietschender Atem Gänseblümchen versengte. Schimmernde Vogelscharen deuteten pfeilförmig unser Ziel an, kristallklare Stimmen aus den Seen ließen unsere Worte widerhallen, während wir vorüberritten. Ich sang im Sattel, und nach einer Weile fiel Ganelon ein. Wir waren nun schon über eine Woche unterwegs, und das Land und der Himmel und die Windstöße verrieten mir, daß wir Avalon nahe gekommen waren.

Als sich die Sonne hinter den Felsen verbarg und der Tag zu Ende ging, lagerten wir in einem Wald in der Nähe eines Sees, Ich ging zum Wasser, um zu baden, während Ganelon unsere Sachen auspackte. Das Wasser war kalt und atemberaubend erfrischend. Ich plätscherte eine Weile darin herum.

Dabei glaubte ich, mehrere Schreie zu hören – doch es blieb bei einem vagen Gefühl. Wir befanden uns in einem unheimlichen Wald, aber ich machte mir keine großen Sorgen. Trotzdem zog ich mich hastig an und kehrte ins Lager zurück.

Unterwegs vernahm ich es erneut: ein Jammern, ein Flehen. Als ich näher kam, erkannte ich, daß ein Gespräch im Gange war.

Schließlich betrat ich die kleine Lichtung, die wir als Lagerplatz erwählt hatten. Unsere Sachen lagen im Gras, eine Feuerstelle war halb fertiggestellt.

Ganelon hockte unter einem alten Eichenbaum auf den Fersen. Der Mann hing an einem Ast.

Er war jung und blond. Mehr vermochte ich auf den ersten Blick nicht festzustellen. Es ist schwierig, sich einen Eindruck von den Gesichtszügen und der Größe eines Mannes zu machen, wenn er mehrere Fuß über dem Boden kopfunter an einem Baum hängt.

Die Hände waren ihm auf dem Rücken gefesselt worden, und er hing an einem Seil, das an seinem rechten Fußknöchel befestigt war.

Er stieß hastige, kurze Antworten auf Ganelons Fragen hervor, und sein Gesicht war feucht von Speichel und Schweiß. Er hing nicht schlaff herab, sondern pendelte hin und her. Seine Wange wies eine Abschürfung auf, an seiner Brust waren mehrere Blutflecken zu sehen.

Ich blieb stehen, zwang mich dazu, nicht einzugreifen, und beobachtete die beiden. Ganelon behandelte den Mann sicher nicht ohne Grund auf diese Weise, so daß ich nicht gerade von Mitleid für den Burschen überwältigt wurde. Was immer Ganelon auf diese Verhörmethode gebracht hatte, in jedem Fall waren die Informationen auch für mich interessant. Außerdem interessierten mich die Erkenntnisse, die mir das Verhör über Ganelon bringen würde, der nun immerhin eine Art Verbündeter war. Und ein paar weitere Minuten mit dem Kopf nach unten konnten dem Burschen nicht groß schaden . . .

Als das Pendeln nachließ, stieß Ganelon seinen Gefangenen mit der Schwertspitze an und ließ ihn erneut heftig ausschwingen. Dies führte zu einer weiteren leichten Brustwunde; ein neuer roter Fleck breitete sich aus. Gleichzeitig stieß der Jüngling einen Schrei aus. An seiner Gesichtsfarbe erkannte ich, daß er noch ziemlich jung war. Ganelon streckte sein Schwert aus und hielt die Spitze mehrere Zoll über die Stelle, die der Hals des Jungen beim Zurückschwingen passieren mußte. Im letzten Augenblick ließ er die Schneide zurückschnellen und lachte leise, als der Junge sich hin und her warf und zu flehen begann. »Bitte!«

»Ich will alles hören«, sagte Ganelon.

»Das ist schon alles«, sagte der Gepeinigte. »Ich weiß wirklich nicht mehr!«

»Warum nicht?«

»Sie sind dann an mir vorbeigaloppiert! Ich konnte nichts mehr sehen!«

»Warum bist du ihnen nicht gefolgt?«

»Sie waren beritten – ich war zu Fuß.«

»Warum bist du ihnen nicht zu Fuß gefolgt?«

»Ich war durcheinander.«

»Durcheinander? Du hattest Angst! Du bist desertiert!«

»Nein!«

Ganelon streckte die Waffe aus und zog sie wieder im letzten Augenblick zurück.

»Nein!« rief der Jüngling.

Wieder hob Ganelon die Klinge.

»Ja!« kreischte der Junge. »Ja, ich hatte Angst!«

»Und dann bist du geflohen?«

»Ja! Ich bin immer weiter geflohen! Ich bin seither auf der Flucht . . .«

»Und du weißt nicht, wie sich die Sache weiterentwickelt hat?«

»Nein!«

»Du lügst!«

Wieder geriet die Klinge in Bewegung.

»Nein!« flehte der Junge. »Bitte . . .«

Ich trat vor. »Ganelon«, sagte ich.

Er sah mich an und senkte grinsend seine Waffe. Der Junge sah mich an.

»Was haben wir denn hier?« fragte ich.

»Ha!« rief Ganelon und klatschte dem Jungen eins auf den Sack, daß er aufschrie. »Einen Dieb, einen Deserteur – mit einer interessanten Geschichte.«

»Dann schneide ihn los und erzähl mir, was du erfahren hast«, sagte ich.

Ganelon machte kehrt und durchtrennte mit einem einzigen Schwerthieb die Schnur. Der Junge fiel zu Boden und begann zu schluchzen.

»Ich habe ihn erwischt, wie er unsere Vorräte stehlen wollte, und kam auf den Gedanken, ihn nach der Gegend zu befragen«, sagte Ganelon. »Er kommt von Avalon – auf schnellstem Wege.«

»Was meinst du damit?«

»Er war Fußsoldat in einer Schlacht, die dort vor zwei Nächten geschlagen wurde. Während des Kampfes gewann seine Feigheit die Oberhand, und er ist desertiert.«

Der Jüngling wollte widersprechen, und Ganelon versetzte ihm einen Tritt.

»Sei still!« sagte er. »Ich erzähle doch nur, was du mir gesagt hast!«

Der junge Mann bewegte sich seitwärts wie ein Krebs und starrte mich mit weitaufgerissenen Augen flehend an.

»Schlacht? Wer hat denn gekämpft?« fragte ich.

Ganelon lächelte grimmig.

»Die Geschichte dürfte Euch bekannt vorkommen«, sagte er. »Die Streitkräfte Avalons gingen in die schwerste – und vielleicht letzte – einer ganzen Reihe von Auseinandersetzungen mit Wesen, deren Herkunft nicht natürlich zu erklären ist.«

»Oh?«

Ich musterte den Jungen, der den Blick senkte – doch ich sah die Angst in seinen Augen, ehe die Lider herabglitten.

». . . Frauen«, sagte Ganelon. »Bleichgesichtige Furien aus einer unbekannten Hölle, lieblich und kalt. Bewaffnet und in Rüstung. Langes, helles Haar. Augen wie Eis. Sie reiten auf dem Rücken weißer feuerspeiender Reittiere, die sich von Menschenfleisch ernähren. Sie stürmen nachts aus einem Höhlengewirr in den Bergen hervor, welches vor einigen Jahren von einem Erdbeben geöffnet wurde. Sie veranstalteten zahlreiche Überfälle und nahmen junge Männer als Gefangene mit, brachten alle anderen um. Viele tauchten später als seelenlose Infanterie in ihrem Gefolge wieder auf. Das alles hört sich sehr nach den Menschen des Kreises an, mit denen wir es zu tun hatten.«

»Aber von denen waren viele noch am Leben, als sie befreit wurden«, sagte ich. »Im Kampf wirkten sie gar nicht so seelenlos, nur irgendwie betäubt – so wie es mir auch einmal ergangen ist. Seltsam«, fuhr ich fort, »daß man die Höhlen nicht am Tage versperrt hat, wo die Reiterinnen ihr Unwesen doch nur nachts getrieben haben . . .«

»Der Deserteur hat mir berichtet, daß man so etwas versucht hat«, sagte Ganelon. »Doch die unheimlichen Wesen seien nach einer gewissen Zeit stets wieder aufgetaucht, stärker denn je zuvor.«

Das Gesicht des Jungen war gespenstisch bleich, doch als ich ihn fragend ansah, nickte er.

»Sein General, den er den Protektor nennt, hat sie oft besiegt«, fuhr Ganelon fort. »Er hat sogar den Teil einer Nacht mit der Anführerin, einer bleichen Hexe namens Lintra, verbracht – ob im Liebesspiel oder zu Verhandlungen, weiß ich nicht genau. Jedenfalls ist nichts dabei herausgekommen. Die Überfälle gingen weiter, und die Macht der unheimlichen Wesen wuchs. Der Protektor faßte schließlich den Plan, einen umfassenden Angriff einzuleiten, um den Gegner völlig zu vernichten. Und während dieses Kampfes ist unser Freund hier geflohen« – er deutete mit dem Schwert auf den jungen Mann –, »weshalb wir jetzt nicht wissen, wie die Geschichte ausgegangen ist.«

»Verhält es sich so?« fragte ich den Gefangenen.

Der Junge wandte sich von der Spitze des Schwerts ab, hielt einen Augenblick lang meinem Blick stand und nickte langsam.

»Interessant«, sagte ich zu Ganelon. »Sehr interessant. Ich habe das Gefühl, daß die Probleme Avalons mit den Gefahren zu tun haben, die wir vor kurzem bannen konnten. Wenn ich nur wüßte, wie der Kampf hier ausgegangen ist!«

Ganelon nickte und faßte seine Waffe fester.

»Also, wenn wir mit ihm fertig sind . . .«, sagte er.

»Moment – Ihr habt gesagt, er wollte sich etwas zu essen stehlen?«

»Ja.«

»Bindet ihn los. Wir geben ihm zu essen.«

»Aber er wollte uns bestehlen!«

»Habt Ihr mir nicht erzählt, Ihr hättet einmal einen Mann wegen eines Paars Schuhe umgebracht?«

»Ja, aber das war doch etwas anderes.«

»Inwiefern?«

»Na, ich – ich habe mich nicht erwischen lassen.«

Ich lachte schallend. Zuerst blickte er mich verärgert an, dann verwirrt. Schließlich begann er ebenfalls zu lachen. Der junge Mann sah uns an, als hätten wir den Verstand verloren.

»Also gut«, sagte Ganelon schließlich, »also gut.« Er bückte sich, drehte den Jungen mit einer kräftigen Handbewegung herum und schnitt die Schnur durch, die seine Handgelenke zusammenhielt.

»Komm, mein Junge«, sagte er. »Ich besorge dir etwas zu essen.« Er beschäftigte sich mit unserer Ausrüstung und öffnete mehrere Proviantpakete.

Der Junge stand auf und humpelte langsam hinter ihm her. Er ergriff, was ihm gereicht wurde, und begann es hastig hinunterzuschlingen, ohne den Blick von Ganelon zu wenden. Seine Informationen, sollten sie stimmen, warfen etliche Komplikationen für mich auf – als erstes den Umstand, daß ich in einem vom Krieg überzogenen Land meine Absichten wahrscheinlich nicht so schnell verwirklichen konnte. Auch verstärkten sich meine Befürchtungen hinsichtlich Art und Ausmaß der Störungen, die ich hervorgerufen hatte.

Ich half Ganelon ein kleines Feuer anzufachen.

»Wie beeinflußt dies Eure weiteren Pläne?« fragte er.

Ich sah eigentlich keine Alternative. Die Schatten in der Nähe dessen, was ich erstrebte, waren sicher ähnlich beeinträchtigt. Ich konnte mein Ziel natürlich in einem Schatten suchen, der nicht heimgesucht wurde – aber wenn ich dann dort eintraf, wäre es der falsche Ort für mich. Was ich erstrebte, wäre dort nicht vorhanden. Wenn die Vorstöße des Chaos auf meinem Wunschweg durch die Schatten eintraten, hingen sie mit der Art meiner Wünsche zusammen und mußten früher oder später bewältigt werden, so oder so. Ausweichen konnte man ihnen nicht. So lief das Spiel nun mal, und ich durfte mich nicht beschweren – hatte ich doch die Regeln selbst aufgestellt.

»Wir reiten weiter«, sagte ich. »Avalon ist mein Ziel.«

Der junge Mann stieß einen kurzen Schrei aus und begann warnend auf mich einzureden – vielleicht aus einem Gefühl des Verpflichtetseins heraus, weil ich Ganelon davon abgehalten hatte, ihn zu durchbohren. »Reitet nicht nach Avalon, Sir! Dort gibt es nichts, was Ihr erstreben könntet! Man würde Euch töten!«

Ich lächelte ihn an und dankte ihm. Ganelon lachte leise vor sich hin und sagte: »Nehmen wir ihn doch mit, damit er sich als Deserteur verantworten kann.«

Daraufhin rappelte sich der Jüngling auf und rannte davon. Immer noch lachend, zog Ganelon seinen Dolch und machte Anstalten, die Klinge zu schleudern. Ich hieb ihm gegen den Arm, und er traf weit daneben. Der junge Mann verschwand im Wald, und Ganelon lachte noch immer.

Er brachte den Dolch wieder an sich. »Ihr hättet mich nicht aufhalten sollen«, sagte er.

»Ich habe anders entschieden.«

Er zuckte die Achseln.

»Wenn er heute nacht zurückkehrt und uns die Hälse durchschneidet, seid Ihr vielleicht anderer Ansicht.«

»Dann allerdings. Aber er kommt nicht zurück, und das wißt Ihr auch.«

Wieder hob er die Schultern, schnitt sich ein Stück Fleisch ab und erwärmte es über den Flammen.

»Nun, der Krieg hat ihm wenigstens beigebracht, wie man die Beine unter den Arm nimmt«, sagte er anerkennend. »Vielleicht erleben wir den morgigen Tag doch noch.«

Er biß ab und begann zu kauen. Sein Beispiel spornte mich an, und ich versorgte mich ebenfalls mit einem Stück Fleisch.

Später erwachte ich aus unruhigem Schlaf und starrte durch das Dach der Blätter auf die Sterne. Ein in die Zukunft schauender Teil meines Geistes beschäftigte sich mit dem Jungen und nahm uns tüchtig ins Gebet. Es dauerte lange, bis ich wieder einschlafen konnte.


Am Morgen häuften wir Erde über die Feuerstelle und ritten weiter. Bis zum Nachmittag schafften wir es in die Berge und ließen sie am folgenden Tag hinter uns.

Auf unserem Weg zeigten sich da und dort frische Spuren – doch wir begegneten niemandem.

Am nächsten Tag kamen wir an mehreren Bauernhäusern und Siedlungen vorbei, ohne uns aufzuhalten. Ich hatte mich gegen die wilde, dämonische Route entschlossen, der ich bei der Verbannung Ganelons gefolgt war. Zwar wäre dieser Weg viel kürzer gewesen, doch hätte sich mein Begleiter bestimmt darüber aufgeregt. Außerdem brauchte ich Zeit zum Nachdenken, so daß ein solcher Ausflug nicht in Frage kam. Inzwischen ging auch der lange Weg seinem Ende entgegen. An diesem Nachmittag erlangten wir Ambers Himmel, und ich bewunderte stumm den Anblick. Es sah beinahe so aus, als ritten wir durch den Wald von Arden. Allerdings war kein Hörnerklang zu vernehmen, und kein Julian, kein Morgenstern, keine gierig hechelnden Hunde tauchten auf, wie damals, als ich zum letztenmal durch Arden kam. Wir nahmen nur den Vogelgesang in den mächtigen Bäumen wahr, das Keckem eines Eichhörnchens, das Bellen eines Fuchses, das Plätschern eines Wasserfalls, das Weiß und Blau und Rosa von Blumen in den Schatten.

Der Nachmittagswind war angenehm kühl; er stimmte mich derart friedlich, daß mich der Anblick der frischen Gräber am Wegesrand hinter einer Kurve ziemlich unvorbereitet traf. In der Nähe befand sich eine zertrampelte Lichtung. Wir verweilten kurze Zeit, erfuhren aber auch nicht mehr, als auf den ersten Blick erkennbar gewesen war.

Ein Stück weiter passierten wir eine ähnliche Stelle mit mehreren verkohlten Grasflecken und Büschen. Der Weg zeigte inzwischen Spuren intensiver Benutzung, und das Gebüsch links und rechts war geknickt und niedergetrampelt, als seien hier zahlreiche Männer und Tiere durchgekommen. Von Zeit zu Zeit roch die Luft nach Asche, und einmal kamen wir an einem Pferdekadaver vorbei, der bereits ziemlich verwest und von Raben zerfleddert war. Wir hielten eine Zeitlang den Atem an.

Der Himmel Ambers schenkte mir keine Kraft mehr, obwohl der Weg in der nächsten Zeit keine Überraschungen mehr brachte. Der Tag neigte sich dem Abend entgegen, und der Wald war schon viel lichter geworden, als Ganelon im Südosten die Rauchsäulen bemerkte. Wir schlugen den ersten Seitenweg ein, der in die Richtung zu führen schien, auch wenn uns das von Avalon fortführte. Es war schwierig, die Entfernung zu schätzen, doch wir erkannten bald, daß wir unser Ziel erst nach Einbruch der Dunkelheit erreichen würden.

»Die Armee – noch im Lager?« fragte Ganelon.

»Oder die der Eroberer.«

Er schüttelte den Kopf und lockerte die Klinge in der Scheide.

In der Dämmerung verließ ich den Weg, um ein Wasserplätschern zu erkunden. Es war ein heller, klarer Bach, der von den Bergen herabstürzte und noch etwas Gletscherkälte mit sich führte. Ich badete darin, stutzte meinen neuen Bart zurecht und befreite meine Kleidung vom Staub der Reise. Da nun das Ende unseres Ritts bevorstand, wollte ich natürlich einen zivilisierteren Eindruck machen, soweit das möglich war. Ganelon wußte meinen Wunsch zu schätzen und benetzte sein Gesicht mit Wasser und schneuzte sich einmal vernehmlich.

Schließlich stand ich am Ufer, blinzelte mit frischausgespülten Augen zum Himmel empor und sah den Mond plötzlich ganz deutlich hervortreten, sah seine Ränder scharf werden. Das widerfuhr mir zum erstenmal! Ich hörte auf zu atmen und blickte reglos hinauf. Dann suchte ich den Himmel nach ersten Sternen ab, suchte den Rand von Wolken, die Gipfel ferner Berge, weit entfernte Bäume. Noch einmal blickte ich auf den Mond, der sich noch immer klar und deutlich am Himmel zeigte. Ich konnte wieder normal sehen!

Als ich zu lachen begann, wich Ganelon zurück – und erkundigte sich weder jetzt noch später nach dem Grund.

Ich unterdrückte meinen Wunsch zu singen, stieg wieder auf mein Pferd und kehrte zum Weg zurück. Die Schatten wurden dunkler, und zwischen den Ästen über unseren Köpfen blühten Sternenwolken auf. Ich atmete ein schönes Stück der Nacht ein, hielt es einen Augenblick lang in meinen Lungen, gab es wieder frei. Ich war wieder ganz der alte – ein herrliches Gefühl!

Ganelon lenkte sein Pferd neben mich und sagte leise: »Wir müssen mit Posten rechnen.«

»Ja«, sagte ich.

»Sollten wir dann nicht lieber den Weg verlassen?«

»Nein. Ich möchte nicht heimlichtuerisch erscheinen. Mir macht es nichts aus, notfalls auch mit einer Eskorte einzutreffen. Wir sind eben nur zwei einfache Reisende.«

»Vielleicht erkundigt man sich nach dem Grund für unsere Reise.«

»Dann geben wir uns als Söldner aus, die von den Auseinandersetzungen in der Gegend gehört haben und eine Anstellung suchen.«

»Ja. Das könnte nach unserem Aussehen klappen. Hoffentlich nimmt man sich überhaupt die Zeit, uns anzuschauen.«

»Wenn man uns so schlecht erkennen kann, bieten wir auch kein gutes Ziel.«

»Das ist wahr – trotzdem tröstet mich der Gedanke wenig.«

Ich lauschte auf unseren Hufschlag. Der Weg verlief nicht geradlinig, sondern wand sich hierhin und dorthin, streckte sich ein Stück, um sich dann erneut zu krümmen. Als wir die nächste Anhöhe erreichten, traten die Bäume noch weiter auseinander.

Als wir den Gipfel des nächsten Hügels erreichten, sahen wir vor uns ein ziemlich offenes Gelände. Gleich darauf befanden wir uns an einer Stelle, von der aus wir mehrere Meilen weit zu blicken vermochten. Wir zügelten unsere Tiere an einem Abgrund, der sich nach zehn oder fünfzehn steilen Metern zu einem gemächlichen Hang neigte und zu einer großen Ebene hinabführte, die etwa eine Meile entfernt begann und in ein hügeliges, da und dort bewaldetes Gebiet mündete. Die Ebene war mit Lagerfeuern übersät, und zur Mitte hin erhoben sich etliche Zelte. In der Nähe grasten zahlreiche Pferde. Meiner Schätzung nach saßen viele hundert Männer an den Feuern oder bewegten sich im Lager.

Ganelon seufzte. »Wenigstens scheint es sich um gewöhnliche Menschen zu handeln«, sagte er.

»Ja.«

»Und wenn es ganz normale Soldaten sind, werden wir wahrscheinlich längst beobachtet. Dieser Aussichtspunkt ist einfach zu günstig, um unbewacht zu bleiben.«

»Ja.«

Hinter uns ertönte plötzlich ein Geräusch. Wir wollten uns eben umdrehen, als eine Stimme ganz in der Nähe sagte: »Keine Bewegung!«

Ich erstarrte, vollendete aber meine Kopfbewegung und erblickte vier Männer. Zwei hatten Armbrüste auf uns gerichtet, die beiden anderen hielten Schwerter in den Fäusten. Einer der Schwertkämpfer trat zwei Schritte vor.

»Absteigen!« befahl er. »Auf dieser Seite! Langsam!«

Wir stiegen von unseren Pferden und standen ihm gegenüber, wobei wir darauf achteten, die Hände von den Waffengriffen zu lassen.

»Wer seid Ihr? Woher kommt Ihr?« fragte er.

»Wir sind Söldner«, erwiderte ich. »Aus Lorraine. Wir hörten, daß hier gekämpft würde. Wir suchen Arbeit. Unser Ziel ist das Lager dort unten. Es ist doch hoffentlich das Eure!«

». . . Und wenn ich nein sagte, wenn ich behaupten wollte, wir seien die Patrouille einer Armee, die das Lager gleich überfallen will?«

Ich zuckte die Achseln. »In dem Fall die Frage – ist vielleicht Eure Seite an ein paar frischen Männern interessiert?«

Er spuckte aus. »Der Protektor braucht Männer wie Euch nicht«, sagte er und fuhr fort: »Aus welcher Richtung kommt Ihr?«

»Aus dem Osten«, entgegnete ich.

»Habt Ihr letztlich – Schwierigkeiten gehabt?«

»Nein«, sagte ich. »Wäre das zu erwarten gewesen?«

»Schwer zu sagen«, erwiderte er. »Legt die Waffen ab. Ich schicke Euch ins Lager hinab. Man wird Euch dort befragen wollen, ob Ihr vielleicht im Osten – ungewöhnliche Dinge gesehen habt.«

»Wir haben nichts Besonderes bemerkt«, behauptete ich.

»Wie dem auch sei – man gibt Euch wahrscheinlich ein Essen. Allerdings glaube ich nicht, daß man Euch anwerben wird. Zum Kämpfen seid Ihr ein bißchen zu spät gekommen. Und jetzt die Waffen ablegen.«

Während wir die Schwertgurte lösten, rief er zwei weitere Männer aus dem Wald herbei. Er wies sie an, uns zu Fuß nach unten zu bringen. Dabei sollten wir unsere Pferde an den Zügeln führen. Die Männer ergriffen unsere Waffen, und als wir uns zum Gehen wandten, rief der Mann, der uns verhört hatte: »Wartet!«

Ich drehte mich um.

»Ihr! Wie lautet Euer Name?« wandte er sich an mich.

»Corey.«

»Bleibt stehen!«

Er kam auf mich zu und pflanzte sich dicht vor mir auf. Zehn Sekunden lang starrte er mich an.

»Was ist los?« fragte ich.

Anstelle einer Antwort fummelte er in einem Beutel an seinem Gürtel herum. Er zog eine Handvoll Münzen heraus und hielt sie sich dicht vors Gesicht.

»Verdammt! Zu dunkel«, sagte er. »Und Licht dürfen wir nicht machen.«

»Wozu?« fragte ich.

»Ach, es ist nicht weiter wichtig«, gab er Auskunft. »Allerdings kamt Ihr mir bekannt vor, und ich wollte den Grund feststellen. Ihr seht aus wie der Mann, der auf manchen unserer alten Münzen abgebildet ist. Ein paar sind noch im Umlauf.

Meinst du nicht auch?« wandte er sich an den neben ihm stehenden Armbrustschützen.

Der Mann senkte die Armbrust und trat vor. Aus zusammengekniffenen Augen starrte er mich an.

»Ja«, sagte er.

»Wer war das – der Mann, den wir meinen?«

»Einer von den Alten. Vor meiner Zeit. Ich weiß es nicht mehr.«

»Ich auch nicht. Nun ja . . .« Er zuckte die Achseln. »Ist auch unwichtig. Geht weiter, Corey. Antwortet ehrlich auf alle Fragen, dann geschieht Euch nichts.«

Ich wandte mich ab und ließ ihn im Mondlicht stehen. Er kratzte sich am Kopf und blickte mir irritiert nach.

Die Männer, die uns bewachten, gehörten nicht zum gesprächigen Typ. Was mir nur recht war.

Während wir den Hang hinabstiegen, dachte ich an die Aussage des jungen Soldaten und an die Lösung des Konflikts, den er beschrieben hatte – ich hatte hier nun die physische Analogie der gewünschten Welt erreicht und mußte mit der existierenden Situation fertig werden.

Im Lager herrschte ein angenehmer Geruch nach Mensch und Tier, nach Holzrauch, gebratenem Fleisch, Leder und Öl. All dies vermengte sich im Feuerschein, wo die Männer sich unterhielten, Waffen schliffen, ihre Ausrüstung reparierten, aßen, spielten, schliefen, tranken – und uns beobachteten, wie wir unsere Pferde mitten durch das Lager führten und uns einem fast in der Mitte gelegenen Trio zerschlissener Zelte näherten. Die Sphäre des Schweigens um uns wurde immer größer, je weiter wir vordrangen.

Vor dem zweitgrößten Zelt hielt man uns an, und einer unserer Wächter sprach mit einem Posten, der vor dem Zelt auf und ab ging. Der Mann schüttelte mehrmals den Kopf und deutete auf das größte Zelt. Das Gespräch dauerte einige Minuten, ehe unser Wächter zu uns zurückkehrte und mit seinem Begleiter sprach, der links von uns wartete. Schließlich nickte unser Begleiter und kam auf mich zu, während die anderen vom nächstgelegenen Lagerfeuer einen Mann herbeiriefen.

»Die Offiziere halten im Zelt des Protektors eine Versammlung ab«, sagte er. »Wir werden Eure Pferde anbinden und grasen lassen. Nehmt die Sättel ab und legt sie hierhin. Ihr müßt warten. Später wird der Hauptmann Euch rufen lassen.«

Ich nickte, und wir machten uns daran, unsere Besitztümer abzuschnallen und die Pferde trockenzureiben. Ich tätschelte Star am Hals und sah zu, wie ein kleiner humpelnder Mann ihn und Ganelons Feuerdrachen zu den anderen Pferden führte. Dann ließen wir uns auf unseren Bündeln nieder und warteten. Einer der Posten brachte uns heißen Tee und erhielt dafür eine Pfeifenfüllung von meinem Tabak. Anschließend zogen sich die beiden Wächter ein Stück zurück.

Ich beobachtete das große Zelt, trank meinen Tee und dachte an Amber und den kleinen Nachtclub in der Rue de Char et Pain in Brüssel, auf jener Schatten-Erde, die solange meine Heimat gewesen war. Sobald ich mir das Juweliersrouge beschafft hatte, das ich brauchte, wollte ich nach Brüssel zurückkehren, um noch einmal Geschäfte zu machen mit den Händlern der Waffenbörse. Meine Bestellung war kompliziert und teuer, das war mir klar, denn sie setzte voraus, daß ein Munitionsfabrikant einen speziellen Herstellungsgang für mich einrichtete. Auf jener Erde hatte ich dank meiner zeitweiligen militärischen Tätigkeit außer Interarmco noch andere Verbindungen, und ich nahm an, daß mich die Beschaffung des Gewünschten nur einige Monate kosten würde. Ich begann mich mit den Einzelheiten zu befassen, und die Zeit verging fast unbemerkt.

Nach etwa anderthalb Stunden gerieten die Schatten des großen Zelts in Bewegung. Es dauerte aber noch mehrere Minuten, bis die Eingangsplane zur Seite geworfen wurde und Männer ins Freie traten, langsam, sich unterhaltend und über die Schulter ins Zelt blickend. Die letzten beiden verweilten am Eingang, ins Gespräch vertieft mit jemandem, der im Innern blieb. Die übrigen Männer verteilten sich auf die anderen Zelte.

Die beiden am Eingang schoben sich seitlich ins Freie. Ich hörte ihre Stimmen, doch ich vermochte nicht zu verstehen, was sie sagten. Als sie weiter herauskamen, bewegte sich auch der Mann, mit dem sie sprachen, und ich vermochte einen Blick auf ihn zu werfen. Er hatte das Licht im Rücken, und die beiden Offiziere standen im Wege, doch ich vermochte zu erkennen, daß er dünn und sehr groß war.

Unsere Wächter hatten sich noch nicht geregt, was mir darauf hinzudeuten schien, daß einer der beiden Offiziere der vorhin erwähnte Hauptmann sein müsse. Ich starrte weiter in das Zelt, versuchte die Männer durch meine Willenskraft dazu zu bringen, sich weiter zu entfernen und mir einen klaren Ausblick auf ihren Befehlshaber zu verschaffen.

Nach einer Weile geschah dies auch, und Sekunden später machte der Unbekannte einen Schritt nach vorn.

Zuerst wußte ich nicht zu sagen, ob mir Licht und Schatten nicht etwa einen Streich spielten . . . Aber nein! Wieder bewegte er sich, und ich konnte ihn eine Sekunde lang deutlich sehen. Ihm fehlte der rechte Arm, der unmittelbar unter dem Ellbogen abgetrennt worden war. Die Wunde war so dick verbunden, daß die Verstümmelung wohl erst vor kurzem geschehen sein mußte.

Dann machte die große linke Hand eine weite, abwärtsgerichtete Bewegung und verharrte ein Stück vom Körper entfernt. Der Armstumpf zuckte im gleichen Augenblick hoch, und etwas regte sich im Hintergrund meines Geistes. Das Haar des Mannes war lang, glatt und braun, und ich sah, wie sein Kinn sich vorreckte . . .

Im nächsten Augenblick trat er ins Freie, und ein Windhauch verfing sich in seinem weiten Mantel und ließ ihn nach rechts ausschwingen. Ich sah, daß er ein gelbes Hemd und braune Hosen trug. Der Mantel selbst erstrahlte in einem grellen Orangeton, und er faßte mit einer unnatürlich schnellen Bewegung der linken Hand zu und zog ihn wieder über den Armstumpf.

Hastig stand ich auf, und sein Kopf richtete sich ruckhaft in meine Richtung.

Unsere Blicke begegneten sich, und mehrere Herzschläge lang rührte sich keiner von uns.

Die beiden Offiziere machten kehrt und starrten uns an, und schon schob er sie zur Seite und kam mit großen Schritten auf mich zu. Ganelon stieß einen unverständlichen Laut aus und stand hastig auf. Unsere Wächter erhoben sich ebenfalls überrascht.

Er blieb mehrere Schritte vor mir stehen, und seine haselnußbraunen Augen musterten mich von Kopf bis Fuß. Seine Lippen verzogen sich selten – doch in diesem Augenblick brachte er ein schwaches Lächeln zustande.

»Kommt mit«, sagte er und wandte sich seinem Zelt zu.

Wir folgten ihm und ließen unsere Sachen liegen.

Er entließ die beiden Offiziere mit einem Blick, blieb neben dem Zelteingang stehen und winkte uns an sich vorbei. Er folgte und ließ die Zeltplane hinter sich zufallen. Meine Augen erfaßten seinen Schlafsack, einen kleinen Tisch, Bänke, Waffen, eine Feldherrntruhe. Auf dem Tisch befanden sich eine Öllampe, Bücher, Landkarten, eine Flasche und etliche Becher. Eine zweite Lampe flackerte auf der Truhe.

Er umfaßte meine Hand und lächelte wieder.

»Corwin«, sagte er. »Lebendig wie eh und je.«

»Benedict«, sagte ich und lächelte nun ebenfalls. »Und atmet wie eh und je. Es ist teuflisch lange her!«

»Kann man wohl sagen! Wer ist dein Freund?«

»Er heißt Ganelon.«

»Ganelon«, sagte er und nickte in seine Richtung, machte aber keine Anstalten, ihm die Hand zu reichen.

Er trat an den Tisch und füllte drei Becher mit Wein. Einen reichte er mir, den zweiten Ganelon. Dann hob er den dritten.

»Auf deine Gesundheit, Bruder«, sagte er.

»Auf die deine.«

Wir tranken.

»Setzt euch«, sagte er dann, deutete auf die nächste Bank und nahm am Tisch Platz. »Und willkommen in Avalon.«

»Vielen Dank – Protektor.«

Er schnitt eine Grimasse.

»Die Bezeichnung besteht nicht zu unrecht«, sagte er tonlos, ohne den Blick von meinem Gesicht zu wenden. »Ich weiß nur nicht, ob der frühere Protektor dieser Gegend von sich dasselbe behaupten könnte.«

»Er hat eigentlich nicht genau an diesem Ort geherrscht«, sagte ich. »Und ich glaube, er könnte das von sich sagen.«

Er zuckte die Achseln.

»Natürlich«, sagte er. »Aber genug davon! Wo hast du gesteckt? Was hast du gemacht? Warum bist du hierhergekommen? Erzähl mir von dir! Unser letztes Gespräch liegt Jahre zurück.«

Ich nickte. Es war bedauerlich, gehörte aber zur Familienetikette wie auch zur Ausübung der Macht, daß ich seine Fragen beantworten mußte, ehe ich selbst Fragen stellte. Er war älter als ich, und ich war – wenn auch ahnungslos – in seinen Einflußbereich eingedrungen. Nicht daß ich ihm die Geste nicht gönnte. Er gehörte zu den wenigen Verwandten, die ich respektierte und sogar mochte. Nur lagen mir zahlreiche Fragen auf der Zunge. Wie er schon gesagt hatte – es war viel zu lange her.

Und wieviel durfte ich ihm verraten? Ich hatte keine Ahnung, welcher Seite er seine Sympathien geschenkt hatte. Ich wollte die Gründe für sein selbstgewähltes Exil nicht etwa erfahren, indem ich die falschen Themen anschnitt. Also mußte ich mit etwas Neutralem anfangen und ihn dann Zug um Zug aushorchen.

»Es muß doch irgendwo einen Anfang geben«, sagte er im gleichen Moment. »Mir ist egal, wie du die Sache anpackst.«

»Es gibt viele Anfänge«, sagte ich. »Es ist schwierig . . . am besten hole ich wohl ganz weit aus . . .«

Ich kostete einen Schluck Wein.

»Ja«, fuhr ich fort. »Das scheint mir das einfachste zu sein – obwohl ich einen großen Teil der Ereignisse erst kürzlich begriffen habe.

Es geschah mehrere Jahre nach dem Sieg über die Mondreiter von Ghenesh und deinem Verschwinden, daß Eric und ich uns ernsthaft zu streiten begannen«, setzte ich an. »Ja, es war ein Streit um die Nachfolge. Vater hatte wieder einmal von Abdankung gesprochen und weigerte sich wie eh und je, einen Nachfolger zu benennen.

Natürlich kam es sofort wieder zu den altbekannten Diskussionen darüber, wer wohl der rechtmäßige Erbe wäre. Eric und du, ihr seid natürlich älter als ich, doch während Faiella, meine und Erics Mutter, nach dem Tod von Clymnea seine Frau wurde, haben sie . . .«

»Es reicht!« brüllte Benedict und schlug so heftig auf den Tisch, daß die Platte zersplitterte.

Die Lampe hüpfte herum und begann zu flackern, stürzte aber wie durch ein Wunder nicht um. Sofort wurde der Vorhang vor dem Ausgang zur Seite geschoben, und ein Posten spähte besorgt herein. Benedict warf ihm einen Blick zu, und er zog sich hastig wieder zurück.

»Ich habe keine Lust, mir unsere jeweilige BastardVergangenheit anzuhören«, sagte Benedict leise. »Dieser obszöne Zeitvertreib war einer der Gründe, warum ich mich überhaupt aus dem Schoß der Familie und Amber entfernt habe. Bitte erzähl deine Geschichten ohne solche Fußnoten.«

»Nun – ja«, sagte ich und mußte mich räuspern. »Wie ich schon sagte, hatten wir ziemlich heftige Auseinandersetzungen über die Sache. Eines Abends blieb es dann nicht bei Worten. Wir kämpften.«

»Ein Duell?«,

»So formell war es nun auch wieder nicht. Eher könnte man sagen, daß wir gleichzeitig beschlossen, uns gegenseitig zu ermorden. Jedenfalls kämpften wir ziemlich lange miteinander, und Eric gewann schließlich die Oberhand und machte Anstalten, mir den Garaus zu machen. Auch wenn ich meiner Geschichte wieder vorgreife, muß ich hinzufügen, das mir all diese Einzelheiten erst vor etwa fünf Jahren wieder ins Gedächtnis zurückgebracht wurden.«

Benedict nickte, als verstünde er, was ich meinte.

»Ich kann nur vermuten, was unmittelbar nach meiner Bewußtlosigkeit geschah«, fuhr ich fort. »Jedenfalls hielt sich Eric im letzten Augenblick zurück und tötete mich nicht. Als ich erwachte, befand ich mich auf einem Schatten Welt namens Erde, in einem Ort, der London heißt. Die Stadt wurde gerade von der Pest heimgesucht, und ich steckte mich an. Ich erholte mich jedoch und hatte keine Erinnerung an die Zeit vor meinem Aufenthalt in London. Auf dieser Schattenwelt lebte ich viele Jahrhunderte lang und suchte nach Anhaltspunkten für meine Identität. Ich reiste viel herum, nahm oft an militärischen Feldzügen teil. Ich besuchte die dortigen Universitäten, sprach mit den klügsten Köpfen, suchte die berühmtesten Ärzte auf. Doch nirgendwo fand sich ein Schlüssel zu meiner Vergangenheit. Mir war bewußt, daß ich nicht wie die anderen Menschen war, und ich gab mir größte Mühe, diese Tatsache zu verheimlichen. Es stimmte mich wütend, daß ich alles haben konnte, was ich wollte – außer dem, was ich mir am sehnlichsten wünschte: Aufschluß über meine Identität, meine Erinnerungen.

Die Jahre vergingen, doch mein Zorn und meine Sehnsucht blieben. Es bedurfte eines Unfalls, der meinen Schädel verletzte, um jene Veränderungen auszulösen, die die ersten Erinnerungen zurückbrachten. Dies geschah vor etwa fünf Jahren, und die Ironie besteht darin, daß ich guten Grund habe, Eric als Urheber für den Unfall zu verdächtigen. Flora hatte wahrscheinlich die ganze Zeit auf jener Schatten-Erde gelebt und mich im Auge behalten.

Um zu meinen Vermutungen zurückzukehren – Eric muß sich im letzten Augenblick gebremst haben, denn er wünschte sich wohl meinen Tod, wollte aber nicht, daß die Tat auf ihn zurückfiel. Folglich schaffte er mich durch die Schatten an einen Ort, wo ein schneller Tod auf mich wartete – er wollte wohl nach Amber zurückkehren und sagen können, wir hätten uns gestritten und ich wäre trotzig davongeritten und hätte etwas davon gemurmelt, ich wolle wieder einmal verschwinden. Wir hatten an jenem Tag im Wald von Arden zusammen gejagt – nur wir beide.«

»Ich finde es seltsam«, unterbrach mich Benedict, »daß zwei Rivalen wie ihr unter solchen Umständen zusammen auf die Jagd geht.«

Ich trank einen Schluck Wein und lächelte.

»Vielleicht war doch etwas mehr dahinter, als ich eben erkennen ließ«, sagte ich. »Vielleicht hießen wir beide die Gelegenheit zur Jagd willkommen – nur wir beide allein im Wald.«

»Ich verstehe«, sagte er. »Es wäre also denkbar, daß die Situation auf den Kopf gestellt worden wäre?«

»Nun«, erwiderte ich, »das ist schwer zu sagen. Ich glaube nicht, daß ich soweit gegangen wäre. Natürlich spreche ich von heute. Immerhin ändern sich die Menschen. Und damals . . .? Ja, vielleicht hätte ich ihm dasselbe angetan. Ich vermag es nicht mit Sicherheit zu sagen, aber möglich ist es.«

Wieder nickte er, und ich spürte einen Anflug von Zorn in mir, der sofort in Belustigung umschlug.

»Zum Glück kommt es mir hier nicht darauf an, meine Motive zu erläutern«, fuhr ich fort. »Um meine Mutmaßungen fortzusetzen – ich glaube, daß Eric mir danach auf der Spur blieb. Gewiß war er zuerst enttäuscht, daß ich seinen Anschlag überlebt hatte, doch zugleich mußte er annehmen, daß ich ihm nicht mehr schaden konnte. Er sorgte also dafür, daß Flora mich im Auge behalten konnte, und die Welt drehte sich friedlich weiter, eine lange Zeit. Dann hat Vater vermutlich abgedankt und ist verschwunden, ohne die Frage der Nachfolge zu klären . . .«

»Ach was!« sagte Benedict. »Eine Abdankung hat es nie gegeben! Er ist einfach verschwunden. Eines Morgens war er nicht mehr in seinen Räumen. Sein Bett war unberührt. Ein Brief oder ein sonstiger Hinweis war nicht zu finden. Man hatte ihn am Vorabend bemerkt, wie er die Zimmer betrat, doch niemand hat ihn fortgehen sehen. Sein Fehlen wurde zuerst nicht mal für absonderlich gehalten. Man nahm einfach an, er sei wieder einmal in den Schatten unterwegs, um sich womöglich eine neue Braut zu suchen. Es dauerte ziemlich lange, ehe jemand ein Verbrechen zu vermuten wagte oder den Umstand als eine neuartige Form der Abdankung hinzustellen beliebte.«

»Das war mir nicht bekannt«, sagte ich. »Deine Informationsquellen waren dem Kern der Dinge offenbar näher als meine.«

Daraufhin nickte er nur und löste damit in mir unangenehme Spekulationen über seine Kontakte in Amber aus. Vielleicht stand er neuerdings auf Erics Seite!

»Wann warst du denn zum letztenmal dort?« wagte ich mich vor.

»Gut zwanzig Jahre ist das jetzt her«, erwiderte er. »Doch ich halte Kontakt und lasse mich informieren.«

Nicht mit jemandem, der diesen Umstand mir gegenüber hatte erwähnen wollen! Und das mußte ihm bekannt sein; sollte ich seine Worte nun als Warnung verstehen – oder etwa als Drohung? Meine Gedanken überschlugen sich. Natürlich besaß er ein Spiel mit den Haupttrümpfen. Ich blätterte sie im Geiste vor mir auf und ging sie hastig durch. Random hatte ahnungslos getan, als ich ihn nach Benedicts Verbleib befragte. Brand wurde schon lange vermißt. Ich hatte einen Hinweis darauf, daß er noch lebte, als Gefangener an einem unbekannten üblen Ort, unfähig, Informationen über die Geschehnisse in Amber zu erlangen. Flora konnte seine Kontaktperson auch nicht gewesen sein, da sie bis vor kurzem in den Schatten praktisch im Exil gelebt hatte. Llewella hielt sich in Rebma auf, Deirdre ebenfalls; als ich sie zum letztenmal sah, war sie außerdem in Amber in Ungnade gewesen. Fiona? Julian hatte mir gesagt, sie sei »irgendwo im Süden«. Er wußte nicht genau, wo. Wer blieb nun noch übrig?

Eric selbst, Julian, Gérard oder Caine. Eric kam nicht in Frage. Der hätte niemals Einzelheiten über Vaters Nichtabdankung auf eine Weise verbreitet, die es Benedict ermöglichte, sich eine solche Meinung zu diesem Thema zu bilden. Julian stand hinter Eric, war allerdings nicht ohne persönlichen Ehrgeiz. Wenn es ihm nützen konnte, würde er Informationen weitergeben. Das gleiche galt für Caine. Gérard dagegen hatte auf mich immer den Eindruck gemacht, als interessiere ihn das Wohl Ambers mehr als die Frage, wer denn auf seinem Thron saß. Seine Sympathie für Eric hielt sich allerdings in Grenzen, und er war einmal bereit gewesen, Bleys oder mich gegen ihn zu unterstützen. Meiner Auffassung nach hätte er Benedicts Informiertheit über die Ereignisse als eine Art Rückversicherung für das ganze Land angesehen. Ja, mit ziemlicher Sicherheit war es einer dieser drei. Julian haßte mich, Caine mochte mich nicht besonders, hatte aber auch nichts gegen mich, und Gérard und ich teilten angenehme Erinnerungen, die bis in meine Kindheit zurückreichten. Ich mußte schleunigst herausfinden, wer dahintersteckte – und Benedict war natürlich nicht so ohne weiteres bereit, mir klaren Wein einzuschenken, kannte er doch meine jetzigen Beweggründe nicht. Eine Verbindung zu Amber konnte dazu verwendet werden, mir zu schaden oder zu nützen, je nach seinen Wünschen, je nach der Person am anderen Ende. So war diese Information für ihn zugleich Waffe und Schild, und es kränkte mich doch etwas, daß er es für richtig hielt, mir diesen Umstand so deutlich vor Augen zu führen. Ich rang mich schließlich zu der Annahme durch, seine kürzliche Verwundung habe ihn unnatürlich vorsichtig gemacht – denn ich hatte ihm bisher niemals Grund zur Sorge gegeben. Allerdings führte dies dazu, daß ich ebenfalls ungewöhnlich vorsichtig war – eine traurige Erkenntnis, wenn man nach vielen Jahren einen Bruder wiedersieht.

»Interessant«, sagte ich und ließ den Wein in meinem Becher kreisen. »So gesehen hat es den Anschein, als habe jedermann voreilig gehandelt.«

»Nicht jeder«, sagte er.

Ich spürte, daß sich mein Gesicht rötete.

»Verzeihung«, sagte ich.

Er nickte knapp. »Bitte setze deinen Bericht fort.«

»Nun, zurück zu meinen Vermutungen«, setzte ich an. »Als Eric zu dem Schluß kam, der Thron habe nun lange genug leer gestanden und es wäre Zeit, danach zu greifen, muß er sich zugleich überlegt haben, daß meine Amnesie nicht ausreichte und daß es besser wäre, meinen Anspruch ein für allemal zu unterbinden. Daraufhin sorgte er dafür, daß ich auf der Schatten-Erde in einen Unfall verwickelt wurde, der tödlich hätte sein müssen – es aber nicht war.«

»Woher weißt du das alles? Wieviel vermutest du nur?«

»Als ich sie später befragte, hat Flora diesen Plan gewissermaßen eingestanden – einschließlich ihrer Rolle dabei.«

»Sehr interessant. Sprich weiter.«

»Der Schlag auf den Kopf sorgte für etwas, das mir nicht einmal Sigmund Freud hatte verschaffen können«, fuhr ich fort. »Erinnerungsfetzen regten sich in mir, die mit der Zeit immer stärker wurden – besonders als ich Flora wiedersah und allen möglichen Dingen ausgesetzt wurde, die mein Gedächtnis anregten. Ich überzeugte Flora schließlich, daß ich mich wieder an alles erinnern konnte, und brachte sie dazu, offen über Menschen und Umstände zu sprechen. Dann tauchte Random auf. Er war auf der Flucht vor etwas . . .«

»Auf der Flucht? Wovor? Warum?«

»Vor irgendwelchen seltsamen Kreaturen aus den Schatten. Den Grund habe ich nie erfahren.«

»Interessant«, meinte er, und ich mußte ihm zustimmen. In meiner Zelle hatte ich oft darüber nachgedacht und mich gefragt, warum wohl Random, von den Furien gehetzt, überhaupt auf der Bühne erschienen war. Vom Augenblick unserer Begegnung an bis zu unserer Trennung hatten wir in einer Art Gefahr geschwebt; ich war zu der Zeit mit meinen eigenen Sorgen beschäftigt, und er hatte nichts verlauten lassen über die Gründe für sein plötzliches Auftauchen. Ich hatte mir im Augenblick seines Erscheinens natürlich Gedanken gemacht, doch ich wußte nicht, ob es sich um etwas handelte, das ich hätte wissen sollen, und ließ die Frage zunächst offen. Die späteren Ereignisse lenkten mich davon ab, bis ich mich dann in der Zelle und jetzt in diesem Augenblick wieder damit befassen konnte. Interessant? In der Tat. Aber auch beunruhigend.

Ich vermochte Random über meinen Zustand zu täuschen«, fuhr ich fort. »Er nahm an, ich erstrebte den Thron, während ich mich zunächst nur darum bemühte, mein Gedächtnis wiederzufinden. Er erklärte sich einverstanden, mir bei der Rückkehr nach Amber zu helfen, und brachte mich auch tatsächlich zurück. Na ja, fast«, korrigierte ich mich. »Wir landeten in Rebma. Doch inzwischen hatte ich Random reinen Wein eingeschenkt, und er schlug vor, ich solle das Muster noch einmal abschreiten und mich auf diese Weise völlig wiederherstellen. Die Gelegenheit bot sich mir, und ich ergriff sie. Das Ergebnis war positiv, und ich nutzte die Macht des Musters, um mich nach Amber zu versetzen.«

Er lächelte. »In diesem Augenblick muß Random ein sehr unglücklicher Mensch gewesen sein«, bemerkte er.

»Jedenfalls ist er nicht gerade in Jubelrufe ausgebrochen«, sagte ich. »Er hatte Moires Urteil akzeptiert – er mußte eine Frau ihrer Wahl heiraten, ein blindes Mädchen namens Vialle, und mindestens ein Jahr lang bei ihr bleiben. Ich ließ ihn zurück und erfuhr später, daß er das Urteil erfüllt hatte. Deirdre war ebenfalls dort. Wir hatten sie unterwegs getroffen; sie war aus Amber geflohen, und wir suchten zu dritt in Rebma Schutz. Auch sie blieb dort.«

Ich leerte meinen Becher, und Benedict deutete mit einer Kopfbewegung auf die Flasche, die aber schon fast leer war. Er nahm eine neue aus seiner Truhe, und wir füllten unsere Becher. Ich trank einen großen Schluck. Dieser Wein war noch besser als der erste – vermutlich sein Privatvorrat.

»Im Palast«, fuhr ich fort, »schlug ich mich in die Bibliothek durch, wo ich mir ein Spiel Tarockkarten verschaffte. Dies war der Hauptgrund für meinen Vorstoß. Doch Eric überraschte mich gleich darauf, und wir kämpften in der Bibliothek. Ich verwundete ihn und hätte ihn wohl auch besiegen können, doch nun traf Verstärkung für ihn ein, und ich mußte fliehen. Ich setzte mich mit Bleys in Verbindung, der mich zu sich in die Schatten holte. Den Rest weißt du sicher von deinen Informanten. Daß Bleys und ich uns zusammentaten, Amber angriffen und die Schlacht verloren. Er stürzte vom Kolvir in die Tiefe. Ich warf ihm meine Karten zu, und er fing sie auf. Soweit ich gehört habe, wurde seine Leiche bis jetzt nicht gefunden. Doch es war ein tiefer Sturz – wenn ich auch annehme, daß in jenem Augenblick Flut herrschte. Ich weiß nicht, ob er an jenem Tag gestorben ist oder nicht.«

»Ich auch nicht«, sagte Benedict.

»Ich wurde gefangengenommen, und Eric wurde gekrönt. Man zwang mich, der Krönung beizuwohnen, obwohl ich mich eigentlich nicht dazu bereitfinden wollte. Es gelang mir, mich zu krönen, bevor der Bastard – genealogisch gesprochen – das Ding wieder an sich nahm und es sich auf den Kopf setzte. Dann ließ er mich blenden und ins Verlies werfen.«

Benedict beugte sich vor und starrte mir ins Gesicht.

»Ja«, sagte er. »Ich habe davon gehört. Wie hat man es gemacht?«

»Mit glühenden Eisen«, sagte ich und zuckte unwillkürlich zusammen. Ich verspürte den Drang, meine Augen zu berühren. »Ich bin ohnmächtig geworden.«

»Sind die Augäpfel verletzt gewesen?«

»Ja«, sagte ich. »Ich glaube schon.«

»Und wie lange hat die Regeneration gedauert?«

»Es dauerte etwa vier Jahre, bis ich wieder verschwommene Umrisse sehen konnte«, sagte ich. »Und erst jetzt ist die Sehschärfe wieder normal. Alles in allem etwa fünf Jahre, würde ich sagen.«

Er lehnte sich zurück, seufzte und lächelte schwach.

»Gut», sagte er. »Du machst mir Hoffnung. Natürlich haben schon andere von uns Körperteile verloren und eine Regeneration erfahren – doch ich bin bisher noch nie so schlimm verstümmelt worden.« Er hob den Armstumpf.

»O ja«, sagte ich. »Eine eindrucksvolle Serie, die mich immer sehr interessiert hat. Allerlei Kleinigkeiten, sicher nur noch den Beteiligten und mir in Erinnerung: Fingerkuppen, Zehen, Ohrläppchen. Ich würde meinen, daß du wegen deines Arms hoffen darfst. Aber es wird seine Zeit dauern. – Nur gut, daß du Rechts- und Linkshänder bist«, fügte ich hinzu.

Er lächelte unbehaglich und trank von seinem Wein. Nein, er war noch nicht bereit, mir zu sagen, was ihm widerfahren war.

Auch ich griff wieder nach meinem Becher. Ich wollte ihm nichts von Dworkin sagen. Ich hatte Dworkin als eine Art Trumpf im Ärmel behalten wollen. Keiner von uns kannte die volle Macht dieses Mannes, der offensichtlich verrückt war. Doch er war beeinflußbar. Offensichtlich hatte sogar Vater mit der Zeit Angst vor ihm bekommen und ihn einsperren lassen. Was hatte er mir doch in meiner Zelle gesagt? Daß Vater ihn ins Gefängnis geworfen hätte, nachdem er verkündet hatte, ein Mittel zur Vernichtung von ganz Amber gefunden zu haben. Wenn es sich hierbei nicht nur um das Geplapper eines Wahnsinnigen handelte und wenn dies der eigentliche Grund für seinen Aufenthalt in einer Zelle war, dann war Vater großzügiger gewesen, als ich es hätte je sein können. Der Mann war zu gefährlich, um am Leben zu bleiben. Andererseits hatte Vater versucht, ihn von seiner Krankheit zu heilen. Dworkin hatte von Ärzten gesprochen – von Männern, die er verscheucht oder vernichtet hatte, indem er seine Macht gegen sie richtete. Meine Erinnerungen zeigten ihn als klugen, freundlichen alten Mann, Vater und dem Rest der Familie treu ergeben. Es wäre wahrlich schwierig, einen solchen Menschen umzubringen, solange es noch Hoffnung gab. Er war in ein Quartier verbannt worden, das eigentlich als fluchtsicher galt. Doch als er die Sache eines Tages über hatte, war er einfach ins Freie marschiert. Da kein Mensch in Amber durch die Schatten schreiten kann, wo es nun mal keine Schatten gibt, mußte er etwas bewirkt haben, das ich nicht begriff und das mit dem Prinzip hinter den Trümpfen zusammenhing, woraufhin er dann sein Quartier verlassen konnte. Ehe er dorthin zurückkehrte, vermochte ich ihn zu überreden, mir einen ähnlichen Ausgang aus meiner Zelle zu verschaffen, einen Ausgang, der mich zum Leuchtturm von Cabra versetzte, wo ich mich erholte, ehe ich jene Reise antrat, die mich nach Lorraine führte. Wahrscheinlich hatte man seine Umtriebe noch gar nicht entdeckt. Meines Wissens hatte unsere Familie schon immer besondere Kräfte besessen, doch es war an ihm gewesen, sie zu analysieren und ihre Funktionen im Muster und in den Tarockkarten zu formalisieren. Oft hatte er die Sprache auf dieses Thema gebracht, doch den meisten von uns war der Stoff schrecklich abstrakt und langweilig vorgekommen. Wir sind eben eine sehr pragmatische Familie. Brand war der einzige, der offenbar Interesse für diese Dinge aufbrachte. Und Fiona. Das hatte ich fast vergessen. Auch Fiona hörte ihm manchmal zu. Und Vater. Vater besaß erstaunliche Kenntnisse über Dinge, die er niemals erwähnte. Er hatte nie viel Zeit für uns und hatte so viele Seiten, die wir nicht kannten. Doch hinsichtlich der Prinzipien, die hier angewendet wurden, war er vermutlich ebenso kenntnisreich wie Dworkin. Der Hauptunterschied zwischen den beiden Männern lag in der Anwendung dieser Kenntnisse. Dworkin war ein Künstler. Was Vater war, weiß ich eigentlich nicht. Obwohl er kein unzugänglicher Patriarch war, lud er uns nie zur Aussprache ein. Sobald er uns einmal wahrnahm, war er großzügig mit Geschenken und unterhaltenden Einfallen. Doch unsere Erziehung überließ er Angehörigen seines Hofs. Meinem Gefühl nach tolerierte er uns als gelegentliche unvermeidliche Folgen der Leidenschaft. Im Grunde bin ich einigermaßen überrascht, daß unsere Familie nicht viel größer ist. Wir dreizehn, außerdem zwei Brüder und eine Schwester, die inzwischen tot waren, stellten nahezu fünfzehnhundert Jahre elterlicher Fortpflanzung dar. Da gab es noch einige andere Geschwister lange vor uns, von denen ich hatte sprechen hören und die nicht mehr lebten. Kein sensationelles Ergebnis für ein so lustvolles Familienoberhaupt – allerdings waren wir selbst auch nicht besonders fruchtbar geworden. Wir waren kaum in der Lage, für uns selbst zu sorgen und durch die Schatten zu schreiten, als Vater uns ermutigte, diese Fähigkeiten auszunutzen, uns Orte zu suchen, wo wir glücklich leben konnten, und uns dort niederzulassen. Dies war meine Verbindung zu jenem Avalon, das es heute nicht mehr gibt. Soweit ich weiß, war Vaters Herkunft nur ihm selbst bekannt. In meinem ganzen Leben war ich keinem Menschen begegnet, dessen Gedächtnis in eine Zeit zurückreichte, da es keinen Oberon gegeben hatte. Ist das seltsam? Nicht zu wissen, woher der eigene Vater kommt, nachdem man Jahrhunderte zur Verfügung gehabt hat, die Neugier walten zu lassen? Ja. Aber er war geheimnisvoll, mächtig, schlau – Aspekte, die wir alle zum Teil in uns wiederfanden. Er wollte uns gut versorgen und zufriedenstellen, das spüre ich – doch durften wir nicht so gut gestellt sein, daß wir zur Gefahr für seine Herrschaft werden konnten. In ihm regte sich vermutlich ein Element des Unbehagens, ein nicht unberechtigtes Gefühl der Vorsicht angesichts der Möglichkeit, daß wir zuviel über ihn und die alten Zeiten erfuhren. Ich nehme nicht an, daß er sich jemals eine Periode vorgestellt hatte, da er nicht mehr in Amber herrschen würde. Zwar sprach er von Zeit zu Zeit scherzhaft oder grollend von seiner Abdankung. Doch meinem Gefühl nach stand immer eine kühle Berechnung dahinter, der Wunsch zu sehen, welche Reaktion darauf erfolgte. Er mußte die Situation erkannt haben, die sein Tod hervorrufen würde, weigerte sich aber anzuerkennen, daß es je soweit kommen würde. Und keiner von uns hatte einen Überblick über all seine Pflichten und Verantwortungen, über seine heimlichen Aufgaben. So unangenehm mir dieses Eingeständnis auch war, ich kam langsam zu der Überzeugung, daß keiner von uns wirklich geeignet war, den Thron zu übernehmen. Nur zu gern hätte ich Vater die Schuld an dieser Unfähigkeit zugeschoben, doch leider war ich seit meinem Aufenthalt auf der Schatten-Erde zu gut mit Freud bekannt, um nicht einen Teil der Schuld auch bei mir zu suchen. Außerdem kamen mir Zweifel über die Gültigkeit unserer Ansprüche. Wenn es keine Abdankung gegeben hatte und er tatsächlich noch lebte, konnte einer von uns bestenfalls auf eine Regentschaft hoffen. Es wäre sicher kein angenehmer Augenblick – und schon gar nicht, wenn man auf dem Thron saß, ihn in eine andere Situation zurückkehren zu sehen. Sagen wir es ganz offen – ich hatte Angst vor ihm, und das nicht ohne Grund. Nur ein Dummkopf hat keine Angst vor einer realen Macht, die er nicht versteht. Doch ob es nun um den Königstitel oder die Regentschaft ging, mein Anspruch war fundierter als der von Eric, und ich war noch immer entschlossen, ihn durchzusetzen. Wenn eine Macht aus Vaters düsterer Vergangenheit, die keiner von uns wirklich verstand, mir helfen konnte, diesen Anspruch zu sichern, und wenn Dworkin eine solche Macht war, dann mußte er im verborgenen bleiben, bis ich ihn zu meinen Gunsten einsetzen konnte.

Galt das aber auch, wenn die von ihm vertretene Macht die Fähigkeit war, ganz Amber zu vernichten – und damit sämtliche Schatten-Welten, das gesamte Universum, wie ich es kannte?

Dann besonders, gab ich mir zur Antwort. Denn wem sonst konnte man eine solche Macht anvertrauen?

Wir sind wirklich eine sehr pragmatische Familie.

Ich trank mehr Wein, dann fummelte ich an meiner Pfeife herum, säuberte sie, stopfte sie von neuem.

»In den Grundzügen ist das meine Geschichte bis heute«, sagte ich, stand auf und holte mir Feuer von der Lampe. »Als ich wieder sehen konnte, gelang mir die Flucht aus Amber. Ich trieb mich eine Zeitlang in einem Land namens Lorraine herum, wo ich Ganelon kennenlernte, dann kam ich hierher.«

»Warum?«

Ich nahm Platz und sah ihn an.

»Weil dieser Ort dem Avalon nahe ist, das mir einmal am Herzen lag«, sagte ich.

Ich hatte absichtlich nicht erwähnt, daß ich Ganelon von früher kannte, und hoffte, daß mein Begleiter sich entsprechend verhielt. Dieser Schatten war unserem Avalon nahe genug, daß sich Ganelon in der Landschaft und mit den meisten Lebensgewohnheiten auskennen mußte. Was immer ich daraus gewinnen mochte, mir schien es jedenfalls geraten, Benedict diese Information vorzuenthalten.

Er ging darüber hinweg, wie ich es erwartet hatte, stand dieser Aspekt doch im Schatten interessanterer Details.

»Und deine Flucht?« fragte er. »Wie hast du das geschafft?«

»Mir wurde bei meiner Flucht aus der Zelle natürlich geholfen. Als ich erst einmal draußen war . . . Nun, es gibt noch einige Passagen, die Eric nicht kennt.«

»Ich verstehe«, sagte er verständnisvoll nickend – natürlich in der Hoffnung, ich würde nun die Namen meiner Helfer nennen, doch klug genug, um nicht offen danach zu fragen.

Ich zog an meiner Pfeife und lehnte mich lächelnd zurück.

»Es ist angenehm, Freunde zu haben«, sagte er, als stimme er Gedanken zu, die mir jetzt durch den Kopf gehen mochten.

»Wir alle dürften ein paar Freunde in Amber haben.«

»Das bilde ich mir jedenfalls ein«, sagte er und fuhr fort: »Wie ich gehört habe, hast du die zum Teil angekratzte Zellentür verriegelt zurückgelassen, nachdem du deine Bettstatt angezündet hattest. Außerdem hast du Bilder an die Wand gemalt.«

»Ja«, sagte ich. »Das lange Eingesperrtsein bleibt nicht ohne Einfluß auf den Geist. Ich bekam die Folgen jedenfalls sehr zu spüren. Ich machte lange Perioden durch, in denen ich nicht ganz bei Verstand war.«

»Ich beneide dich nicht um diese Erfahrung, Bruder«, sagte er. »Ganz und gar nicht. Was hast du jetzt für Pläne?«

»Die sind noch ungewiß.«

»Verspürst du vielleicht den Wunsch, hierzubleiben?«

»Ich weiß es nicht«, entgegnete ich. »Wie stehen die Dinge hier?«

»Ich habe die Führung«, sagte er – eine einfache Feststellung, keine Prahlerei. »Ich glaube, es ist mir soeben gelungen, die einzige wirkliche Gefahr für das Territorium zu beseitigen. Wenn ich recht habe, steht uns eine einigermaßen ruhige Zeit bevor. Der Preis war hoch« – er deutete auf seinen Armstumpf –, »aber der Einsatz hat sich gelohnt, wie sich bald erweisen wird, wenn das Leben wieder in seine normalen Bahnen zurückkehrt.«

Er beschrieb mir eine Situation, die in den Grundzügen mit der Schilderung des jungen Soldaten übereinstimmte. Sein Bericht gipfelte in dem Sieg über die höllischen Frauen. Die Anführerin war umgekommen, ihre Reiter waren geflohen und auf der Flucht getötet worden. Das Höhlensystem war von neuem verschlossen worden. Benedict hatte sich vorgenommen, eine kleine Streitmacht im Feld zu belassen, um jedes Risiko auszuschließen, während seine Kundschafter die Gegend nach Überlebenden absuchten.

Von seiner Zusammenkunft mit Lintra, der gegnerischen Anführerin, sprach er nicht.

»Wer hat die Anführerin getötet?« wollte ich wissen.

»Das ist mir gelungen«, sagte er und machte eine heftige Bewegung mit dem Armstumpf. »Allerdings habe ich beim ersten Hieb ein wenig zu lange gezögert.«

Ich wandte den Blick ab. Ganelon tat es mir nach. Als ich meinen Bruder wieder ansah, hatte sich sein Gesicht beruhigt, und der verstümmelte Arm hing wieder an seiner Seite herab.

»Wir hatten nach dir gesucht. Wußtest du das, Corwin?« fragte er. »Brand suchte in vielen Schatten nach dir, ebenso Gérard. Du hattest recht mit deiner Vermutung über die Äußerungen, die Eric am Tag nach deinem Verschwinden machte. Doch wir waren nicht geneigt, sein Wort ohne weiteres hinzunehmen. Wiederholt bemühten wir deine Trumpfkarte, doch es kam keine Antwort. Offensichtlich kann ein Gehirnschaden den Trumpf blockieren. Eine interessante Vorstellung. Die mangelnde Reaktion auf den Trumpf führte uns schließlich zu der Überzeugung, daß du umgekommen wärst. Dann schlossen sich Julian, Caine und Random der Suche an.«

»Ihr alle? Wirklich? Ich bin erstaunt!«

Er lächelte.

»Oh«, sagte ich und mußte ebenfalls lächeln.

Ihr Mitmachen bei der Suche bedeutete, daß es ihnen nicht um mein Wohl gegangen war, sondern um die Möglichkeit, Beweise für einen Brudermord zu finden, Beweise, mit denen Eric entmachtet oder erpreßt werden konnte.

»Ich habe in der Nähe Avalons nach dir gesucht«, fuhr Benedict fort. »Und da fand ich diesen Ort und blieb hier hängen. Er war damals in einem jämmerlichen Zustand, und generationenlang mühte ich mich, dem Land wieder zu seiner früheren Pracht zu verhelfen. Während ich die Arbeit im Gedenken an dich begann, entwickelte sich in mir mit der Zeit eine Zuneigung zu dem Land und seinem Volk. Die Menschen hier sahen mich bald als ihren Protektor an – und ich mich ebenfalls.«

Seine Worte beunruhigten und rührten mich zugleich. Wollte er sagen, ich hätte die Sache hier vermasselt, und er habe sich ins Geschirr gelegt, um alles wieder in Ordnung zu bringen – gewissermaßen als Aufräumaktion für den jüngeren Bruder? Oder wollte er mir mitteilen, er habe erkannt, daß ich diese – oder eine ihr sehr ähnlich sehende – Welt geliebt hatte, und er habe für Ruhe und Ordnung gesorgt, um damit sozusagen meine Wünsche zu erfüllen? Vielleicht war ich nun doch etwas zu empfindlich.

»Es ist ein angenehmes Gefühl, zu wissen, daß man mich gesucht hat«, sagte ich, »und daß du das Land hier beschützt. Ich würde mir diesen Ort gern einmal ansehen – denn er erinnert mich tatsächlich an das Avalon von früher. Hättest du etwas gegen einen Besuch einzuwenden?«

»Ist das alles, was du möchtest? Einen Besuch machen?«

»Mehr hatte ich nicht im Sinn.«

»Dann solltest du dir klarmachen, daß die hiesige Meinung über den Schatten deiner selbst, der einmal hier geherrscht hat, nicht besonders gut ist. In dieser Welt erhält kein Kind den Namen Corwin, auch trete ich nicht als Corwins Bruder auf.«

»Ich verstehe«, sagte ich. »Mein Name ist Corey. Können wir alte Freunde sein?«

Er nickte.

»Alte Freunde sind hier immer gern gesehen«, sagte er.

Ich lächelte und nickte. Ich war gekränkt über seine Vorstellung, daß ich womöglich Absichten auf diesen Schatten eines Schatten hätte – ich, der ich das kalte Feuer der Amber-Krone auf meiner Stirn gespürt hatte, wenn auch nur eine Sekunde lang.

Ich überlegte, wie er sich verhalten würde, wenn er von meiner eigentlichen Schuld an diesen Überfällen erfuhr. So gesehen, war ich vermutlich auch am Verlust seines Arms schuld. Doch ich zog es vor, die Situation noch um einen Schritt zurückzustufen und Eric als Gesamtverantwortlichen zu sehen. Schließlich war es sein Vorgehen, das meinen Fluch ausgelöst hatte.

Trotzdem hoffte ich, daß Benedict niemals die Wahrheit erfuhr.

Ich hätte zu gern gewußt, wie er zu Eric stand. Würde er ihn unterstützen oder sich hinter mich stellen oder sich aus der Sache ganz heraushalten, wenn ich zu handeln begann? Er seinerseits fragte sich bestimmt, ob mein Ehrgeiz erloschen war oder noch immer glomm – und was ich, wenn ich noch Pläne hatte, zu unternehmen gedachte. Also . . .

Wer würde die Sprache auf das Thema bringen?

Ich zog mehrmals kräftig an meiner Pfeife, leerte den Becher, schenkte mir nach, rauchte weiter. Ich lauschte auf die Geräusche des Lagers, auf den Wind . . .

»Was hast du langfristig vor?« fragte er mich dann fast beiläufig.

Ich konnte antworten, ich hätte mich noch nicht entschlossen, ich sei es zufrieden, frei zu sein, zu leben, sehen zu können . . . Ich konnte ihm weismachen, das wäre mir im Augenblick genug, ich hätte keine speziellen Pläne . . .

. . . Und er hätte gewußt, daß ich ihm Lügen auftischte. Denn er kannte mich besser.

»Du kennst meine Pläne«, sagte ich also.

»Wenn du mich um Hilfe bitten würdest«, sagte er, »müßte ich sie dir verweigern. Amber ist auch ohne einen neuen Machtkampf übel genug dran.«

»Eric ist ein Usurpator«, sagte ich.

»Ich betrachte ihn eher als Regenten. Im Augenblick ist jeder von uns ein Usurpator, der Anspruch auf den Thron erhebt.«

»Dann nimmst du also an, daß Vater noch am Leben ist?«

»Ja. Am Leben und ziemlich mitgenommen. Er hat mehrmals versucht, Verbindung aufzunehmen.«

Es gelang mir, mein Gesicht unbewegt zu halten. Ich war also nicht der einzige. Jetzt meine eigenen Erfahrungen zu offenbaren, hätte sich heuchlerisch, opportunistisch und geradezu unwahr angehört – hatte er mir doch bei unserem Kontakt vor fünf Jahren den Weg zum Thron freigegeben. Allerdings konnte er auch eine Regentschaft gemeint haben . . .

»Als Eric den Thron übernahm, hast du ihm nicht geholfen«, sagte ich. »Würdest du ihn jetzt unterstützen, da er auf dem Thron sitzt, wenn ein Versuch unternommen würde, ihn zu stürzen?«

»Ich habe es schon gesagt«, erwiderte er. »Ich betrachte ihn als Regenten. Das soll nicht heißen, daß ich die Situation billige, doch ich möchte in Amber keine weiteren Unruhen erleben.«

»Du würdest ihn also unterstützen?«

»Ich habe gesagt, was ich in dieser Sache sagen wollte. Du bist herzlich eingeladen, mein Avalon zu besuchen, doch nicht, es als Ausgangspunkt für einen Angriff auf Amber zu benutzen. Klärt das die Lage hinsichtlich der Dinge, die du vielleicht in deinem Köpfchen bewegst?«

»Allerdings«, sagte ich.

»Und möchtest du uns noch immer besuchen?«

»Ich weiß nicht recht«, sagte ich. »Wirkt sich dein Wunsch, in Amber Unruhen zu vermeiden, auch zur anderen Seite hin aus?«

»Was meinst du damit?«

»Ich meine, wenn man mich etwa gegen meinen Willen nach Amber zurückbrächte, würde ich dort natürlich denkbar viel Unruhe schaffen, um eine Rückkehr in meine frühere Lage zu verhindern.«

Sein Gesicht entspannte sich, und er senkte langsam den Kelch.

»Ich wollte nicht andeuten, daß ich dich verraten würde. Glaubst du etwa, ich hätte keine Gefühle, Corwin? Ich möchte nicht, daß du wieder in Gefangenschaft gerätst und erneut geblendet wirst – oder daß etwas Schlimmeres mit dir passiert. Als Gast bist du mir stets willkommen, und du kannst an unseren Grenzen außer deinem Ehrgeiz auch deine Ängste zurücklassen.«

»Dann möchte ich dir meinen Besuch nach wie vor abstatten«, sagte ich. »Ich habe keine Armee und bin auch nicht in der Absicht gekommen, Soldaten auszuheben.«

»Dann bist du herzlich willkommen, das weißt du.«

»Vielen Dank, Benedict. Ich habe zwar nicht erwartet, dich hier vorzufinden – doch ich bin froh darüber.«

Sein Gesicht rötete sich etwas, und er nickte.

»Ich freue mich ebenfalls«, sagte er. »Bin ich der erste aus der Familie, den du – nach deiner Flucht zu sehen bekommst?«

Ich nickte. »Ja, und ich bin natürlich neugierig, wie es den anderen geht. Irgendwelche wichtigen Neuigkeiten?«

»Es hat keine neuen Todesfälle gegeben«, sagte er.

Wir lachten leise vor uns hin, und ich wußte, daß ich den Familienklatsch auf anderem Wege in Erfahrung bringen mußte. Der Versuch hatte sich aber gelohnt.

»Ich gedenke noch eine Zeitlang im Felde zu bleiben«, sagte er; »und die Patrouillenritte fortzusetzen, bis ich sicher bin, daß von den Angreifern niemand mehr im Freien unterwegs ist. Es dauert vielleicht noch eine Woche, bis wir uns endgültig zurückziehen.«

»Oh? War euer Sieg denn nicht total?«

»Ich glaube schon – doch ich gehe niemals unnötige Risiken ein. Es lohnt sich, ein wenig mehr Zeit aufzuwenden, um ganz sicherzugehen.«

»Klug gehandelt«, sagte ich und nickte.

». . . Wenn du also nicht unbedingt bei uns im Lager bleiben möchtest, sehe ich keinen Grund, warum du nicht zur Stadt vorausreiten und dich dem Kern der Dinge nähern solltest. Ich besitze mehrere Wohnungen in Avalon und denke daran, dir ein kleines Landhaus zur Verfügung zu stellen, das ich ganz hübsch finde. Es liegt nicht weit von der Stadt.«

»Ich freue mich darauf.«

»Ich gebe dir morgen früh eine Karte und einen Brief an meinen Hausverwalter.«

»Vielen Dank, Benedict.«

»Ich stoße zu dir, sobald ich hier fertig bin«, fuhr er fort. »Außerdem schicke ich täglich Boten in die Stadt. Durch sie bleibe ich mit dir in Verbindung.«

»Einverstanden.«

»Dann such dir ein bequemes Plätzchen«, sagte er. »Ich bin sicher, du wirst den Gong zum Frühstück nicht verschlafen.«

»Das passiert mir selten«, erwiderte ich. »Ist es dir recht, wenn wir dort schlafen, wo unsere Sachen liegen?«

»Aber ja«, sagte er, und wir leerten unsere Becher.

Als wir das Zelt verließen, packte ich den Vorhang beim Öffnen ganz oben und vermochte ihn ein Stück zur Seite zu zerren, als ich ihn beiseite stieß. Benedict wünschte uns eine gute Nacht und wandte sich ab, während ich die Plane zurückfallen ließ. Er übersah den mehrere Zoll breiten Schlitz, den ich an einer Seite geschaffen hatte.

Ich schlug mein Lager ein Stück rechts von unseren Besitztümern auf, wobei ich zu Benedicts Zelt hinübersah, und ich stapelte die Sachen um, während ich sie durchsah. Ganelon warf mir einen fragenden Blick zu, doch ich nickte nur und machte mit den Augen eine Bewegung zum Zelt. Er blickte in die Richtung, gab mir das Nicken zurück und machte sich daran, seine Decke weiter rechts auszulegen.

Ich maß die Entfernung mit den Augen, ging zu ihm und sagte: »Wißt Ihr, ich möchte doch lieber hier schlafen. Hättet Ihr etwas dagegen, mit mir zu tauschen?« Ich unterstrich meine Worte mit einem Augenzwinkern.

»Mir egal«, sagte er achselzuckend.

Die Lagerfeuer waren ausgegangen oder brannten nieder, und die meisten Soldaten hatten sich schlafen gelegt. Der Posten kümmerte sich kaum um uns. Im Lager war es sehr still, und keine Wolke verdeckte den Glanz der Sterne. Ich war müde und empfand den Geruch nach Rauch und feuchter Erde als sehr angenehm, fühlte ich mich doch an frühere Zeiten und ähnliche Orte erinnert, an die Rast am Ende eines langen Tages.

Doch anstatt die Augen zu schließen, nahm ich mein Bündel und stellte es mir in den Rücken. Ich füllte meine Pfeife erneut und entzündete sie.

Zweimal mußte ich die Stellung wechseln, während Benedict im Zelt hin und her schritt. Einmal verschwand er aus meinem Blickfeld und war einige Sekunden lang nicht zu sehen. Doch dann bewegte sich das hintere Licht, und ich erkannte, daß er seine Truhe geöffnet hatte. Im nächsten Augenblick kam er wieder in Sicht und räumte den Tisch ab. Er trat einen Augenblick zurück, kehrte zurück und setzte sich an seinen alten Platz. Ich schob mich so zurecht, daß ich seinen linken Arm im Auge behalten konnte.

Er blätterte in einem Buch oder sortierte etwas, das ungefähr die gleiche Größe hätte.

Etwa Karten?

Natürlich!

Ich hätte viel gegeben für einen Blick auf den Trumpf, den er schließlich auswählte und vor sich hinhielt. Ich hätte viel dafür gegeben, Grayswandir in meiner Hand zu fühlen, für den Fall, daß plötzlich eine weitere Person in dem Zelt erschienen wäre – und zwar nicht durch den Eingang, durch den ich die Szene verfolgte. Meine Handflächen und Fußsohlen begannen zu kribbeln in Erwartung des Kampfes.

Doch er blieb allein.

Reglos saß er da, etwa eine Viertelstunde lang, und als er sich schließlich wieder bewegte, legte er die Karten in seine Truhe zurück und löschte die Lampen.

Die Wächter setzten ihren monotonen Dienst fort, und Ganelon begann zu schnarchen.

Ich klopfte meine Pfeife aus und rollte mich auf die Seite.

Morgen, so sagte ich mir. Wenn ich morgen hier erwache, ist alles in Ordnung . . .

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