5

Ich kaute auf einem Grashalm herum und sah, wie sich das Mühlenrad drehte. Ich lag auf dem Bauch am gegenüberliegenden Ufer des Flusses und hatte den Kopf in die Hände gestützt. Im Dunst über dem Gischten und Schäumen am Fuße des Wasserfalls hatte sich ein winziger Regenbogen gebildet, und ab und zu flog ein Tropfen sogar bis zu mir. Das gleichmäßige Rauschen und das Knarren des Rades löschten alle anderen Geräusche des Waldes aus. Die Mühle lag heute verlassen da, und ich starrte nachdenklich hinüber, hatte ich doch ein solches Bauwerk seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Das Rad zu beobachten und dem Wasser nachzulauschen – das war mehr als eine Erholung. Es war irgendwie hypnotisch.

Es war unser dritter Tag als Benedicts Gäste. Ganelon war auf einer Vergnügungstour in der Stadt. Ich hatte ihn am Vortag begleitet und alle Erkundigungen eingezogen, die ich brauchte. Jetzt hatte ich keine Zeit mehr, den Touristen zu spielen. Ich mußte nachdenken und so schnell wie möglich handeln. Im Lager hatte es keine Probleme mehr gegeben. Benedict hatte uns zu essen vorgesetzt und uns, wie versprochen, eine Karte und ein Einführungsschreiben überreicht. Wir waren bei Sonnenaufgang losgeritten und gegen Mittag am Landhaus eingetroffen. Man empfing uns zuvorkommend, und nachdem wir unsere Sachen ausgepackt hatten, waren wir in die Stadt gegangen, wo wir den Rest des Tages verbrachten.

Benedict gedachte noch einige Tage im Feld zu bleiben. Wenn er zurückkam, mußte ich die mir gestellte Aufgabe erledigt haben. Folglich stand ein Höllenritt auf dem Programm. Zeit für eine gemächliche Reise blieb mir nicht. Ich mußte mich an die richtigen Schatten erinnern und mich bald auf den Weg machen.

Es hätte sehr angenehm sein können, an diesem Ort zu verweilen, der mich so sehr an mein Avalon erinnerte, wenn meine dunklen Pläne nicht förmlich zur Besessenheit geworden wären. Die Erkenntnis dieser Tatsache war jedoch nicht gleichbedeutend mit ihrer Bewältigung. Die vertrauten Szenen und Geräusche hatten mich nur kurz ablenken können, ehe ich mich wieder meinen Plänen zuwandte.

Soweit ich es überschauen konnte, würde es keine Schwierigkeiten geben. Mit dem geplanten Ausflug müßten sich zwei Probleme lösen lassen, wenn ich ihn vollenden konnte, ohne Verdacht zu erregen. Dies bedingte, daß ich über Nacht ausblieb, doch ich hatte so etwas schon geahnt und Ganelon gebeten, meine Abwesenheit zu decken.

Im Rhythmus der quietschenden Geräusche des Mühlrades sank mir der Kopf herab, und ich verdrängte alles andere aus meinem Geist und machte mich daran, die richtige Beschaffenheit des Sandes heraufzubeschwören, seine Färbung und Temperatur, die Winde, den Geschmack von Salz in der Luft, die Wolken . . .

Und ich schlief ein und begann zu träumen – doch nicht von dem Ort, den ich erstrebte.

Ich beobachtete ein riesiges Roulette, und wir alle saßen darauf – meine Brüder, meine Schwestern, ich selbst und andere, die ich kannte oder einst gekannt hatte; wir stiegen auf und stürzten hinab, jeder in der ihm zugeteilten Sektion. Wir alle forderten lautstark, das Rad möge für uns anhalten, und begannen zu jammern, wenn wir die Spitze passierten und wieder abwärts schossen. Die Fahrt des Rades begann sich zu verlangsamen, und ich befand mich auf dem Weg nach oben. Ein blonder Jüngling hing mit dem Kopf nach unten vor mir, flehte mich an und äußerte düstere Warnungen, doch seine Worte gingen in der Kakophonie der Stimmen unter. Sein Gesicht verdunkelte sich, zerschmolz, verwandelte sich in etwas unbeschreiblich Schreckliches, und ich hieb nach der Schnur, die sein Fußgelenk hielt, und er stürzte aus meinem Blickfeld. Als ich mich der Spitze näherte, verlangsamte das Rad die Fahrt noch mehr – und in diesem Augenblick sah ich Lorraine. Sie schwenkte die Arme, gab mir verzweifelt Zeichen, rief meinen Namen. Ich sah sie ganz deutlich und beugte mich in ihre Richtung, ich sehnte mich nach ihr, wollte ihr helfen. Doch als das Rad seine Drehung fortsetzte, verschwand sie wieder.

»Corwin?«

Ich versuchte ihren Schrei zu ignorieren, denn ich war fast oben. Der Laut ertönte von neuem, doch ich spannte die Muskeln an und bereitete mich darauf vor, nach oben zu springen. Wenn das Rad nicht für mich anhielt, wollte ich das verdammte Ding hereinlegen, wenn es ging – auch wenn ein Sturz in die Tiefe meinen völligen Ruin bedeutet hätte. Ich setzte zum Sprung an. Noch ein Klicken . . .

»Corwin!«

Das Rad wich zurück, kehrte zurück, verblaßte, und ich blickte wieder auf das Mühlrad, während mir mein Name in den Ohren nachklang und sich mit dem Plätschern des Bachs vermischte, damit verschmolz, darin verhallte.

Ich blinzelte und fuhr mir mit den Fingern durchs Haar. Dabei fielen mir einige Gänseblümchen auf die Schultern, und irgendwo hinter mir ertönte ein Kichern.

Verblüfft drehte ich mich um.

Sie stand etwa ein Dutzend Schritte von mir entfernt, ein großes, schlankes Mädchen mit dunklen Augen und kurzgeschnittenem braunem Haar. Sie trug eine Fechtjacke und hielt in der rechten Hand ein Rapier, in der linken eine Maske. Sie sah mich lachend an. Ihre Zähne waren weiß, ebenmäßig und ein wenig zu lang; ein Streifen Sommersprossen zog sich über ihre schmale Nase und den oberen Teil der gebräunten Wangen. Sie war von einer Aura aus Vitalität umgeben, die eine andere Anziehungskraft ausübte als bloße Anmut. Und vermutlich besonders, wenn sie mit dem Auge langjähriger Erfahrung gesehen wird.

Sie grüßte mich mit der Klinge.

»En garde, Corwin«, sagte sie.

»Wer seid Ihr, zum Teufel?« fragte ich. Im gleichen Moment fiel mein Blick auf Jacke, Maske und Rapier neben mir im Gras.

»Keine Fragen, keine Antworten«, sagte sie. »Erst müssen wir miteinander fechten.«

Sie setzte die Maske auf und wartete.

Ich stand auf und nahm die Jacke zur Hand. Mir war klar, daß es leichter sein würde, mit ihr zu kämpfen, als mit ihr zu diskutieren. Die Tatsache, daß sie meinen Namen kannte, beunruhigte mich, und je mehr ich darüber nachdachte, desto bekannter kam sie mir irgendwie vor. Sicher war es am besten, ihr die Freude zu machen, sagte ich mir, zog die Jacke an und knöpfte sie zu.

Dann nahm ich die Klinge zur Hand und setzte die Maske auf.

»Na gut«, sagte ich, deutete einen Salut an und trat vor. »Also gut.«

Sie kam mir entgegen, und wir begannen zu kämpfen. Ich ließ sie angreifen.

Sie attackierte schnell mit Schlag – Finte – Finte – Stoß. Meine Riposte kam zweimal ebenso schnell, doch sie vermochte zu parieren und mit gleichem Tempo erneut vorzustoßen. Ich reagierte darauf mit einem langsamen Rückzug, um sie aus der Reserve zu locken. Sie lachte und folgte mir, begann mich zu bedrängen. Sie war gut, was sie auch wußte. Sie wollte ein bißchen angeben. Tatsächlich wäre es ihr zweimal fast gelungen, mich zu treffen, zweimal auf dieselbe Weise, sehr tief, was ich nicht so mochte. Danach gab ich mir Mühe und erwischte sie schließlich mit einem angehaltenen Stoß. Sie fluchte leise vor sich hin, bestätigte den Treffer und fiel sofort wieder über mich her. Normalerweise fechte ich nicht gern mit Frauen, so gut sie auch sein mögen – doch diesmal hatte ich zu meiner Überraschung Spaß an der Sache. Die Geschicklichkeit und die Anmut, mit der sie ihre Angriffe vortrug und durchhielt, bereitete mir Freude, ließ mich lebhaft reagieren, und ich dachte unwillkürlich an den Verstand, der hinter diesem Kampfstil stecken mußte. Zuerst war ich bestrebt gewesen, sie schnell zu ermüden, den Kampf zu beenden und dann meine Fragen zu stellen. Doch jetzt beherrschte mich der Wunsch, die Auseinandersetzung in die Länge zu ziehen.

Sie ermüdete nur sehr langsam. In diesem Punkt brauchte ich mir keine Sorgen zu machen. Während wir am Ufer des Flusses vor- und zurücksprangen, ging mir jedes Zeitgefühl verloren; unsere Klingen klirrten in ständigem Rhythmus gegeneinander.

Es mußte ziemlich viel Zeit vergangen sein, als sie schließlich mit dem Fuß aufstampfte und die Klinge zu einem letzten Gruß hob. Dann riß sie sich die Maske vom Gesicht und lächelte mich an.

»Vielen Dank«, sagte sie schweratmend.

Ich erwiderte den Gruß und warf die Netzmaske ab. Dann drehte ich mich um und fummelte an den Jackenschnallen herum, und ehe ich etwas merkte, war sie heran und küßte mich auf die Wange. Dazu brauchte sie sich nicht einmal auf die Zehenspitzen zu stellen. Im ersten Augenblick war ich verwirrt, dann lächelte ich. Ehe ich etwas sagen konnte, hatte sie meinen Arm ergriffen und mich in die Richtung gedreht, aus der wir gekommen waren.

»Ich habe einen Picknickkorb für uns mitgebracht«, sagte sie.

»Ausgezeichnet. Ich bin hungrig. Außerdem bin ich neugierig . . .«

»Ich erzähle Euch alles, was Ihr wissen wollt«, sagte sie fröhlich.

»Wie war´s mit Eurem Namen?«

»Dara«, erwiderte sie. »Ich heiße Dara, wie meine Großmutter.«

Dabei sah sie mich an, als hoffe sie auf eine Art Reaktion von mir. Es tat mir fast leid, sie enttäuschen zu müssen, doch zumindest nickte ich und wiederholte den Namen. »Warum habt Ihr mich Corwin genannt?« fragte ich.

»Weil Ihr nun mal so heißt«, sagte sie. »Ich habe Euch erkannt.«

»Woran?«

Sie ließ meinen Arm los.

»Hier ist er«, sagte sie, griff hinter einen Baum und nahm einen Korb zur Hand, der dort zwischen den Wurzeln gestanden hatte.

»Ich hoffe, daß sich die Ameisen nicht schon darüber hergemacht haben«, sagte sie, ging zu einer schattigen Stelle am Fluß und breitete ein Tuch auf dem Boden aus.

Ich hängte die Fechtausrüstung auf einen Busch in der Nähe.

»Ihr scheint eine ganze Menge Sachen mit Euch herumzuschleppen«, bemerkte ich.

»Mein Pferd steht dort hinten«, erwiderte sie und deutete mit einer Kopfbewegung flußabwärts.

Dann widmete sie sich wieder der Aufgabe, das Tuch zu beschweren und den Korb auszupacken.

»Warum dort hinten?« fragte ich.

»Damit ich mich an Euch heranschleichen konnte, natürlich. Bei Hufschlag wärt Ihr doch sicher sofort aufgewacht.«

»Da habt Ihr wahrscheinlich recht«, sagte ich.

Sie schwieg einen Augenblick lang, als hinge sie ernsten Gedanken nach, um diesen Eindruck schließlich mit einem Kichern verfliegen zu lassen.

»Trotzdem – beim erstenmal habt Ihr mich nicht gehört. Aber immerhin . . .«

»Beim erstenmal?« fragte ich, da sie die Frage offenbar von mir erwartete.

»Ja. Ich hätte Euch vorhin fast niedergeritten«, sagte sie. »Ihr habt fest geschlafen. Als ich Euch erkannte, bin ich nach Hause zurückgeritten und habe den Picknickkorb und die Fechtsachen geholt.«

»Ich verstehe.«

»Kommt und setzt Euch«, sagte sie. »Und öffnet doch bitte die Flasche, ja?«

Sie stellte eine Flasche vor mich hin und packte vorsichtig zwei Kristallkelche aus, die sie auf das Tuch stellte.

Ich begab mich an meinen Platz und setzte mich.

»Das ist Benedicts bestes Kristall«, stellte ich fest, als ich die Flasche öffnete.

»Ja«, sagte sie. »Seid vorsichtig beim Eingießen. Vielleicht sollten wir lieber nicht anstoßen.«

»Da habt Ihr sicher recht«, sagte ich und schenkte ein.

Sie hob das Glas.

»Auf das Wiedersehen«, sagte sie.

»Was für ein Wiedersehen?«

»Das unsere.«

»Ich habe Euch noch nie zuvor gesehen.«

»Seid nicht so prosaisch«, bemerkte sie und trank einen Schluck.

Ich zuckte die Achseln. »Auf unser Wiedersehen.«

Daraufhin begann sie zu essen, und ich tat es ihr nach. Sie hatte so viel Spaß an der Atmosphäre der Rätselhaftigkeit, die sie geschaffen hatte, daß ich gern auf ihr Spiel einging, nur um sie fröhlich zu sehen.

»Wollen mal sehen – woher könnten wir uns kennen?« fragte ich. »Von einem großen Hof? Vielleicht aus einem Harem . . .?«

»Vielleicht aus Amber«, sagte sie. »Ihr wart dort . . .«

»Amber?« fragte ich und mußte daran denken, daß ich hier Benedicts Glas in der Hand hielt, und beschränkte meine Emotionen auf die Stimme. »Wer seid Ihr eigentlich?«

». . . Dort standet Ihr – gutaussehend, eingebildet, von allen Damen bewundert«, fuhr sie fort. »Und ich – ein unansehnliches kleines Ding, das Euch aus der Ferne anhimmelte. Ein graues, ganz und gar nicht lebhaftes Geschöpf, die kleine Dara – ein Spätentwickler, wie ich noch schnell hinzufügen möchte –, die sich nach Euch verzehrte . . .«

Ich murmelte eine Verwünschung vor mich hin, und sie lachte erneut.

»War es nicht so?« fragte sie.

»Nein«, entgegnete ich und tat mich noch einmal an Fleisch und Brot gütlich. »Es dürfte sich eher um jenes Freudenhaus gehandelt haben, in dem ich mich am Rücken verletzte. In dieser Nacht war ich betrunken . . .«

»Ihr erinnert Euch also!« rief sie. »Ich habe dort ausgeholfen. Tagsüber ritt ich Pferde ein.«

»Ich geb´s auf«, sagte ich und schenkte Wein nach.

Am meisten irritierte mich die Tatsache, daß sie mir wirklich verdammt bekannt vorkam. Nach ihrem Aussehen und Verhalten schätzte ich ihr Alter allerdings auf etwa siebzehn Jahre – und das schloß eine frühere Begegnung so ziemlich aus.

»Hat Euch Benedict das Fechten beigebracht?« fragte ich.

»Ja.«

»Was bedeutet er Euch?«

»Er ist natürlich mein Liebhaber«, erwiderte sie. »Er behängt mich mit Schmuck und Pelzen.«

Wieder lachte sie.

Ich nahm den Blick nicht von ihrem Gesicht.

Ja, möglich war es . . .

»Ich bin gekränkt«, sagte ich schließlich.

»Warum?« fragte sie.

»Benedict hat mir keinen reinen Wein eingeschenkt.«

»Reinen Wein?«

»Ihr seid seine Tochter, nicht wahr?«

Ihr Gesicht rötete sich, doch sie schüttelte den Kopf.

»Nein«, sagte sie. »Aber Ihr kommt der Sache schon näher.«

»Enkelin?«

»Na ja . . . gewissermaßen.«

»Das verstehe ich nicht ganz.«

»Großvater – so soll ich ihn immer nennen. Doch in Wirklichkeit ist er der Vater meiner Großmutter.«

»Ich verstehe. Habt Ihr noch Geschwister?«

»Nein, ich bin allein.«

»Was ist mit Eurer Mutter – und Großmutter?«

»Beide tot.«

»Wie sind sie gestorben?«

»Gewaltsam. Beide Male geschah es, als er in Amber war. Deshalb ist er wohl seit langer Zeit nicht mehr dortgewesen. Er läßt mich nicht gern ohne Schutz hier – auch wenn er weiß, daß ich selbst auf mich aufpassen kann. Und Ihr wißt das jetzt auch, nicht wahr?«

Ich nickte. Damit fanden verschiedene Dinge ihre Erklärung – unter anderem die Frage, warum er hier Protektor war. Er mußte seine Enkelin irgendwo aufwachsen lassen, da er sie zweifellos nicht nach Amber bringen wollte. Sicher wollte er auch nicht, daß die übrigen Familienangehörigen von ihrer Existenz erfuhren. Zu leicht konnte man sie als Waffe gegen ihn mißbrauchen. Es konnte nicht seinem Willen entsprechen, daß ich so leicht mit ihr bekannt wurde.

»Ich glaube nicht, daß Ihr jetzt hiersein solltet«, sagte ich daher. »Ich habe das Gefühl, daß Benedict sehr zornig wäre, wenn er es erführe.«

»Ihr seid genauso wie er! Ich bin erwachsen, verdammt noch mal!«

»Habt Ihr mich ein Wort dagegen sprechen hören? Trotzdem solltet Ihr jetzt an einem anderen Ort sein, nicht wahr?«

Anstelle einer Antwort stopfte sie sich einen Bissen in den Mund. Ich tat es ihr nach. Nach mehreren unbehaglichen Minuten des Kauens beschloß ich, das Thema zu wechseln.

»Wie habt Ihr mich erkannt?« fragte ich.

Sie trank einen Schluck aus ihrem Glas und grinste.

»Natürlich von Eurem Bild.«

»Welches Bild?«

»Auf der Karte«, erwiderte sie. »Als ich noch klein war, haben wir immer damit gespielt. Auf diese Weise habe ich meine Verwandten kennengelernt. Ihr und Eric seid zusammen mit Benedict die guten Schwertkämpfer. Das wußte ich. Deshalb habe ich auch . . .«

»Ihr habt einen Satz Trümpfe?« unterbrach ich sie.

»Nein«, sagte sie und schürzte die Lippen. »Er gibt mir kein Spiel – dabei hat er mehrere, das weiß ich.«

»Wirklich? Wo bewahrt er sie auf?«

Sie kniff die Augen zusammen und sah mich starr an.

Verdammt! So begierig hätte meine Stimme nicht klingen sollen!

Doch sie antwortete mir ganz unbefangen. »Die meiste Zeit hat er ein Spiel bei sich, und wo er die anderen verwahrt, weiß ich nicht. Warum? Läßt er Euch die Karten nicht sehen?«

»Ich habe ihn deswegen noch nicht angesprochen«, erklärte ich. »Versteht Ihr die Bedeutung dieser Tarockkarten?«

»Es gab da gewisse Dinge, die ich nicht tun durfte, wenn ich in ihrer Nähe war. Soweit ich weiß, kann man sie auf besondere Art einsetzen, aber er hat mir nie Näheres erklärt. Sie sind ziemlich wichtig, nicht wahr?«

»Ja.«

»Das dachte ich mir. Er stellt sich immer damit an. Habt Ihr ein Spiel? Ich sollte wohl du zu dir sagen, wo wir doch verwandt sind.«

»Ja, ich habe ein Spiel – aber es ist gerade ausgeliehen.«

»Ich verstehe. Und du möchtest die Karten für etwas Kompliziertes und Unheimliches einsetzen?«

Ich zuckte die Achseln.

»Ich möchte sie schon benutzen, doch für etwas sehr Einfaches und Langweiliges.«

»Zum Beispiel?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Wenn Benedict nicht möchte, daß du die Funktion der Karten erfährst, werde ich sie dir nicht verraten.«

»Du hast Angst vor ihm?« fragte sie.

»Ich habe großen Respekt vor Benedict, ganz zu schweigen von meiner Zuneigung.«

Sie lachte.

»Ist er ein besserer Kämpfer als du, ist er besser mit dem Schwert?«

Ich wandte den Blick ab. Sie mußte erst vor kurzer Zeit von einem ziemlich entlegenen Ort zurückgekehrt sein. Die Leute in der Stadt hatten von Benedicts Verstümmelung gewußt. Diese Art Nachricht verbreitet sich immer sehr schnell. Doch ich wollte nicht derjenige sein, der ihr davon erzählte.

»Mach daraus, was du willst«, sagte ich. »Wo bist du gewesen?«

»Im Dorf«, erwiderte sie. »In den Bergen. Großvater hat mich dorthin gebracht, zu Freunden, die Tecys heißen. Kennst du die Tecys?«

»Nein.«

»Ich bin schon früher dortgewesen«, erzählte sie. »Er bringt mich immer ins Dorf, wenn es hier Probleme gibt. Der Ort hat keinen Namen. Ich nenne ihn einfach Dorf. Alles ist dort irgendwie seltsam – die Leute, das Dorf. Sie scheinen uns irgendwie anzubeten. Sie behandeln mich, als wäre ich etwas Göttliches, und antworten nie richtig auf meine Fragen. Der Ritt dorthin ist nicht lang, aber die Berge sind ganz anders, der Himmel ist ganz anders, alles! – und es ist, als gäbe es keinen Weg zurück, sobald ich einmal dort bin. Schon früher habe ich versucht, aus eigener Kraft zurückzukehren, aber dabei habe ich mich nur verirrt. Stets mußte Großvater mich holen kommen, und dann machte der Weg keine Probleme. Die Tecys folgen allein seinen Anweisungen und verraten mir nichts. Sie behandeln ihn, als wäre er eine Art Gott.«

»Das ist er auch«, sagte ich. »Für sie.«

»Du hast gesagt, du kennst sie nicht.«

»Das brauche ich auch nicht. Aber ich kenne Benedict.«

»Wie schafft er das? Sag´s mir.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Wie hast du es denn geschafft?« fragte ich sie. »Wie hast du diesmal zurückkehren können?«

Sie leerte ihr Glas und hielt es mir hin. Als ich es vollgeschenkt hatte und mein Blick ihrem Blick begegnete, hatte sie den Kopf auf die rechte Seite gelegt und die Stirn gerunzelt; ihre Augen blickten in die Ferne.

»Eigentlich weiß ich es nicht«, sagte sie, hob das Glas und kostete von dem Wein. »Ich weiß gar nicht mehr, wie ich es überhaupt angefangen habe . . .«

Mit der linken Hand begann sie an ihrem Messer herumzuspielen und nahm es schließlich zur Hand.

»Ich war wütend, ausgesprochen wütend, daß er mich wieder einmal aus dem Weg geschafft hatte«, fuhr sie fort. »Ich sagte ihm, ich wolle hierbleiben und kämpfen, doch er ritt mit mir aus, und nach einer Weile trafen wir im Dorf ein. Ich weiß nicht, wie. Es war kein langer Ritt, doch plötzlich waren wir am Ziel. Ich kenne die Gegend. Immerhin bin ich hier geboren und aufgewachsen. Ich bin überallhin geritten, Hunderte von Meilen in allen Richtungen. Doch auf diesen Ausflügen habe ich das Dorf niemals finden können. Verstehst du: niemals. Trotzdem kam es mir so vor, als wären wir nur kurze Zeit unterwegs gewesen, und plötzlich waren wir wieder bei den Tecys. Allerdings waren seit meinem letzten Besuch mehrere Jahre vergangen, und mit dem Älterwerden hat sich auch mein Wille gefestigt. Ich beschloß, allein zurückzukehren.«

Mit dem Messer kratzte sie nun in der Erde neben sich herum, anscheinend achtlos.

»Ich wartete bis zum Einbruch der Dunkelheit«, erzählte sie, »und betrachtete die Sterne, die mir einen Anhalt geben sollten. Es war ein unheimliches Gefühl. Die Sterne sahen ganz anders aus! Ich vermochte keine einzige Konstellation zu erkennen. Ich ging ins Haus zurück und dachte darüber nach. Ich hatte ein wenig Angst und wußte nicht, was ich tun sollte. Den nächsten Tag verbrachte ich mit dem Versuch, die Tecys und die anderen Leute im Dorf zu befragen.

Aber das Ganze war wie ein böser Traum. Entweder waren die Menschen strohdumm, oder sie legten es bewußt darauf an, mich zu verwirren. Es gab nicht nur keinen Weg von dort nach hier, sie hatten auch keine Ahnung, wo das ›Hier‹ lag und waren sich über das ›Dort‹ noch weniger im klaren. In dieser Nacht sah ich mir von neuem die Sterne an, um mich zu vergewissern, was ich da gesehen hatte – und da war ich fast bereit, den Leuten zu glauben.«

Sie bewegte das Messer hin und her, als versuche sie es zu schleifen. Dabei glättete sie den Boden und klopfte ihn fest. Dann begann sie Linien zu zeichnen.

»In den nächsten Tagen versuchte ich den Rückweg zu finden«, setzte sie ihren Bericht fort. »Ich hoffte unseren Weg finden und ihm folgen zu können – doch er verschwand einfach irgendwie, ich weiß nicht, wie. Dann tat ich das einzige, was mir noch einfiel. Jeden Morgen ritt ich in einer anderen Richtung davon, ritt bis zur Mittagsstunde und kehrte um. Doch nichts kam mir bekannt vor. Die ganze Situation war sehr verwirrend. Mit jedem Abend steigerten sich mein Zorn und meine Verwirrung über die Entwicklung – und ich war entschlossener denn je, den Weg zurück nach Avalon zu finden. Ich mußte Großvater beweisen, daß er mich nicht länger wie ein Kind zur Seite schieben und erwarten konnte, daß ich friedlich blieb.

Nach etwa einer Woche begann ich Träume zu haben. Alpträume, so muß ich sie wohl nennen. Hast du schon einmal geträumt, endlos zu laufen, ohne je irgendwohin zu gelangen? So etwa waren meine Träume über das brennende Spinngewebe. Eigentlich war es gar kein Spinngewebe – es gab keine Spinne, und gebrannt hat es auch nicht. Aber ich war darin gefangen und lief darauf herum und hindurch. Dabei bewegte ich mich eigentlich gar nicht. Diese Beschreibung ist sehr ungenau, aber ich weiß nicht, wie ich es anders ausdrücken soll. Und ich mußte den Versuch fortsetzen – ich wollte den Versuch fortsetzen, darin vorwärtszukommen, heraus aus dem Gewebe. Als ich erwachte, war ich müde, als hätte ich mich tatsächlich die ganze Nacht hindurch angestrengt. So ging es viele Nächte hindurch, und jedesmal kam mir der Traum stärker und länger und realer vor.

Dann kam der Morgen, da ich aufstand und mir der Traum noch im Kopf herumspukte. Und ich wußte, daß ich nach Hause reiten konnte. Noch halb in dem Traum befangen, ritt ich los. Ich ritt die ganze Strecke, ohne einmal anzuhalten, doch diesmal kümmerte ich mich nicht besonders um die Umgebung, sondern dachte nur an Avalon – und im Reiten wurde die Gegend immer bekannter, bis ich wieder hier war. Erst jetzt hatte ich das Gefühl, völlig wach zu sein. Und inzwischen kommen mir das Dorf und die Tecys, der fremde Himmel, die Sterne, der Wald und die Berge wie ein Traum vor. Ich bin gar nicht sicher, daß ich dorthin zurückfinden würde. Ist das nicht seltsam? Kannst du mir sagen, was da passiert ist?«

Ich stand auf und ging um den Rest unserer Mahlzeit herum. Dann hockte ich mich neben ihr nieder.

»Erinnerst du dich an das Aussehen des brennenden Spinngewebes, das eigentlich gar kein Spinngewebe war und auch gar nicht brannte?« fragte ich.

»Ja – einigermaßen schon.«

»Gib mir das Messer.«

Sie reichte es mir.

Mit der Spitze begann ich ihre Zeichnung im Sand zu erweitern, verlängerte hier eine Linie, verwischte dort eine andere, fügte eigene hinzu. Sie sagte kein Wort, doch sie verfolgte jede meiner Bewegungen. Als ich fertig war, legte ich das Messer zur Seite und wartete einen stummen Augenblick lang.

Schließlich sagte sie mit leiser Stimme: »Ja, das ist es«, wandte sich von der Zeichnung ab und starrte mich an. »Woher wußtest du das? Woher wußtest du, was ich geträumt habe?«

»Weil ich . . .«, sagte ich. »Weil du ein Gebilde geträumt hast, das in deiner Erbmasse niedergelegt ist. Warum und wie – das weiß ich nicht. Diese Erscheinung beweist aber, daß du in der Tat eine Tochter Ambers bist. Dein Erlebnis nennt man ›durch die Schatten gehen«. Und geträumt hast du das Große Muster von Amber. Dieses Muster verleiht Menschen von königlichem Geblüt die Macht über die Schatten. Weißt du, wovon ich spreche?«

»Nicht genau«, sagte sie. »Ich glaube nicht. Ich habe Großvater auf die Schatten fluchen hören, aber ich habe ihn nie richtig verstanden.«

»Dann weißt du nicht, wo Amber wirklich liegt.«

»Nein. In dieser Frage ist er mir immer ausgewichen. Er hat mir wohl von Amber erzählt und von der Familie. Aber ich kenne nicht einmal die Richtung, in der Amber zu finden ist. Ich weiß nur, daß es weit entfernt liegt.«

»Es liegt in allen Richtungen«, sagte ich, »oder in jeder Richtung, die man sich aussucht. Man braucht nur . . .«

»Ja!« unterbrach sie mich. »Ich hatte es vergessen, oder dachte, er wolle nur geheimnisvoll oder herablassend tun – doch Brand hat vor langer Zeit einmal genau dasselbe gesagt. Aber was steht dahinter?«

»Brand! Wann war Brand hier?«

»Vor Jahren«, entgegnete sie. »Ich war damals noch ein kleines Mädchen. Er kam oft zu Besuch. Ich war sehr in ihn verliebt und fiel ihm auf die Nerven. Er erzählte mir viele Geschichten, brachte mir Spiele bei . . .«

»Wann hast du ihn zum letztenmal gesehen?«

»Oh, ich würde sagen, vor etwa acht oder neun Jahren.«

»Hast du noch andere kennengelernt?«

»Ja«, sagte sie. »Julian und Gérard waren vor nicht allzu langer Zeit hier. Das ist erst wenige Monate her.«

Ich kam mir plötzlich sehr ungeschützt vor. Benedict hatte mir manches verschwiegen. Es wäre mir lieber gewesen, er hätte mir Lügen aufgetischt, als mich völlig im dunkeln tappen zu lassen. Wenn man dann die Wahrheit herausfindet, kann man sich leichter aufregen. Der Ärger mit Benedict war der Umstand, daß er zu ehrlich war. Er zog es vor, mir lieber nichts zu erzählen, als mich anzulügen. Doch ich hatte das Gefühl, etwas Schlimmes wälze sich auf mich zu, und ich wußte, daß ich nicht zögern durfte, daß ich so schnell wie möglich handeln mußte. Ja, es würde ein harter Höllenritt werden, an dessen Ende mich die Steine erwarteten. Doch zunächst gab es mehr zu erfahren. Die Zeit . . . verdammt!

»Hast du sie bei dieser Gelegenheit zum erstenmal gesehen?« fragte ich.

»Ja«, sagte sie. »Und ich war sehr gekränkt.« Sie schwieg einen Augenblick lang und seufzte.

»Großvater hat mir verboten, unsere Verwandtschaft zu erwähnen. Er stellte mich als seinen Schützling vor. Und er weigerte sich, mir den Grund zu nennen. Verdammt!«

»Ich bin sicher, er hatte gute Gründe.«

»Oh, die hatte ich auch. Aber das hilft einem trotzdem nicht weiter, wenn man sein ganzes Leben lang darauf gewartet hat, Verwandte kennenzulernen. Weißt du, warum er mich so behandelt hat?«

»Amber macht im Augenblick eine schwere Zeit durch«, sagte ich, »und die Lage dürfte sich noch verschlimmern, ehe sie wieder besser wird. Je weniger Leute von deiner Existenz wissen, desto geringer ist die Chance, daß du in die Sache hineingezogen wirst und Schaden nimmst. Er wollte dich nur schützen.«

Sie tat, als spucke sie aus.

»Ich brauche keinen Schutz«, sagte sie. »Ich kann selbst auf mich aufpassen.«

»Du bist eine vorzügliche Fechtmeisterin«, sagte ich. »Leider ist das Leben komplizierter als ein Duell, bei dem es fair zugeht.«

»Das weiß ich auch. Ich bin ja kein Kind mehr! Aber . . .«

»Nichts ›aber‹! Ich hätte an seiner Stelle genauso gehandelt. Er schützt sich und dich. Ich bin überrascht, daß er Brand eingeweiht hat. Er wird sich ziemlich aufregen, wenn er erfährt, daß ich ebenfalls die Wahrheit kenne.«

Ihr Kopf fuhr herum, und sie starrte mich mit aufgerissenen Augen an.

»Aber du würdest uns doch nicht schaden wollen!« sagte sie. »Wir . . . wir sind doch immerhin verwandt . . .«

»Woher, zum Teufel, willst du wissen, warum ich hier bin oder was ich denke!« rief ich aus. »Vielleicht hast du dich und deinen Großvater soeben ans Messer geliefert!«

»Du machst doch einen Scherz, nicht wahr?« fragte sie und hob wie abwehrend die linke Hand.

»Ich weiß nicht. Es muß durchaus kein Scherz sein – doch ich würde wohl kaum darüber sprechen, wenn ich etwas Übles im Schilde führte, nicht wahr?«

»Nein . . . wahrscheinlich nicht«, sagte sie.

»Ich will dir etwas sagen, das dir Benedict längst hätte offenbaren müssen«, fuhr ich fort. »Du darfst niemals einem Verwandten vertrauen. Das ist viel schlimmer als Vertrauen gegenüber Fremden. Bei einem Fremden besteht immerhin die Möglichkeit, daß du nicht in Gefahr bist.«

»Das meinst du ja ernst, oder?«

»Und ob!«

»Und du selbst beziehst dich ein?«

Ich lächelte. »Für mich gilt das natürlich nicht. Ich bin ein Muster an Ehre, Freundlichkeit, Gnade und Güte. Du kannst mir rückhaltlos vertrauen.«

»Das werde ich tun«, sagte sie; ich lachte.

»O doch!« beharrte sie. »Du würdest uns kein Leid antun. Das weiß ich.«

»Erzähl mir von Gérard und Julian«, sagte ich. Mir war unbehaglich zumute wie immer, wenn mir jemand ungebeten Vertrauen entgegenbrachte. »Weshalb waren sie hier?«

Sie schwieg einen Augenblick lang, ohne den Blick von mir zu nehmen. »Ich habe dir schon ziemlich viel anvertraut«, sagte sie schließlich, »nicht wahr? Du hast recht. Man kann nie vorsichtig genug sein. Ich glaube, jetzt bist du mal an der Reihe!«

»Gut. Du lernst den Umgang mit unseresgleichen rasch. Was willst du wissen?«

»Wo liegt das Dorf wirklich? Und wo Amber? Die beiden sind sich irgendwie ähnlich, nicht wahr? Was sollte das heißen, als du vorhin sagtest, Amber liege in allen Richtungen oder in jeder, die man sich aussucht? Was sind Schatten?«

Ich stand auf und blickte auf sie hinab. Dann streckte ich die Hand aus. Sie wirkte plötzlich sehr jung und verängstigt, doch sie ergriff mutig meine Hand.

»Wohin . . .?« fragte sie im Aufstehen.

»Hier entlang«, sagte ich und führte sie an die Stelle, wo ich geschlafen hatte. Wir betrachteten den Wasserfall und das Mühlrad.

Sie wollte etwas sagen, doch ich unterbrach sie.

»Schau hin«, sagte ich. »Du mußt nur schauen.«

Und so standen wir da und starrten auf das Wirbeln, Plätschern und Drehen, während ich meine Gedanken ordnete. Dann sagte ich: »Komm«, ergriff sie am Ellbogen und ging mit ihr auf den Wald zu.

Als wir uns zwischen den Bäumen bewegten, verdunkelte eine Wolke die Sonne, und die Schatten wurden tiefer. Die Stimmen der Vögel klangen schriller, und Feuchtigkeit stieg aus dem Boden auf. Wir gingen von Baum zu Baum, und die Blätter wurden länger und breiter. Als die Sonne zurückkehrte, wirkte ihr Licht gelber, und hinter einer Wegbiegung stießen wir auf Pflanzenranken. Die Stimmen der Vögel erklangen nun zahlreicher und heiserer. Der Weg führte plötzlich bergan, und ich geleitete sie an einer Steinformation vorbei auf höheres Gelände. Ein fernes, kaum vernehmliches Grollen schien sich hinter uns bemerkbar zu machen. Das Blau des Himmels veränderte sich, während wir über eine Lichtung schritten und eine große braune Eidechse verscheuchten, die sich auf einem Felsen gesonnt hatte. Als wir um eine andere Felsgruppe bogen, sagte sie: »Ich wußte gar nicht, daß es hier so etwas gibt. Dabei dachte ich, ich kenne mich gut aus, aber hier bin ich noch nie gewesen.« Doch ich antwortete ihr nicht, denn ich war mit meiner ganzen Willenskraft beschäftigt, die Substanz der Schatten zu verändern.

Kurz darauf sahen wir uns wieder dem Wald gegenüber, doch jetzt führte der Weg hangaufwärts zwischen Bäumen hindurch. Die Bäume waren tropische Riesen, durchsetzt mit Farngewächsen, und neue Geräusche – Gebell, Zischen, Summen – wurden laut. Während wir weiter ausschritten, verstärkte sich das Grollen ringsum, der Boden begann förmlich davon zu vibrieren. Dara klammerte sich fester an meinen Arm; sie sagte nichts mehr, verschlang aber jedes Detail mit den Augen. Große, flache helle Blumen wuchsen im Unterholz zwischen Pfützen, in denen sich die von oben herabtropfende Feuchtigkeit niederschlug. Die Temperatur war ziemlich angestiegen, und wir schwitzten nicht wenig. Das Grollen wurde zu einem übermächtigen Tosen, und als wir an den Rand des Waldes kamen, wurden wir von dem Lärm bestürmt wie von ständigem Gewitterdonner.

Ich führte das Mädchen an den Rand des Abgrunds und deutete in die Tiefe.

Vor uns fiel der Wasserfall gut tausend Fuß hinab – ein mächtiger Katarakt, und der Fluß dröhnte unter dem mächtigen Aufprall wie ein Amboß. Die Strömung trug das Wasser kraftvoll dahin, ließ Luftblasen und mächtige Gischtwolken über weite Strecken wirbeln, ehe sie sich schließlich auflösten. Uns gegenüber, etwa eine halbe Meile entfernt, halb verdeckt durch Regenbogen und Wasserdunst, einer von Riesenhand geformten Insel ähnlich, rotierte langsam ein gigantisches Rad, bedächtig und schimmernd. Hoch über uns ließen sich große Vögel wie schwebende Kruzifixe in den Luftströmungen dahintreiben.

Wir verweilten ziemlich lange an dieser Stelle. Ein Gespräch war unmöglich, was mir nur recht sein konnte. Als sie sich schließlich von dem Bild abwandte, um mich mit zusammengekniffenen Augen abschätzend anzusehen, nickte ich und deutete mit den Augen wieder auf den Wald. Wir machten kehrt und schritten in die Richtung, aus der wir gekommen waren.

Bei der Rückkehr liefen dieselben Vorgänge umgekehrt ab, wobei ich es nicht ganz so schwer hatte. Als wir endlich wieder sprechen konnten, schwieg Dara dennoch, da sie offenbar inzwischen erkannt hatte, daß ich ein Teil der Veränderungsprozesse war, die ringsum abliefen.

Erst als wir wieder an dem alten Fluß standen und das kleine Mühlrad beobachteten, ergriff sie das Wort.

»War das ein Ort wie das Dorf?«

»Ja. Ein anderer Schatten desselben Orts.«

»Und wie Amber?«

»Nein. Amber wirft diese Schatten. Wenn man sich darauf versteht, läßt es sich in jede gewünschte Form bringen. Jener Ort war ein Schatten, ebenso dein Dorf – und auch dieses Fleckchen ist ein Schatten. Jeder Ort, den du dir nur vorstellen kannst, existiert irgendwo in den Schatten, du mußt nur die Kunst beherrschen, dorthin zu gelangen.«

». . . Und du und Großvater und die anderen – ihr könnt euch in diesen Schatten bewegen und euch nehmen und aussuchen, was ihr wollt?«

»Ja.«

»Und ich habe dasselbe getan, als ich aus dem Dorf zurückkehrte?«

»Ja.«

Ihr Gesicht war eine Studie aufdämmernder Erkenntnis. Ihre fast schwarzen Augenbrauen senkten sich um einen Zentimeter, und ihre Nasenflügel weiteten sich mit einem plötzlichen Atemzug.

»Ich kann es also auch . . .« sagte sie. »Ich kann mich überallhin bewegen, kann alles tun, was ich will!«

»Die Fähigkeit schlummert in dir«, sagte ich.

Da küßte sie mich in einer impulsiven Geste und wirbelte davon; ihr Haar umtanzte den schlanken Hals, als sie versuchte, sich alles auf einmal anzusehen.

»Ich kann alles!« sagte sie und blieb stehen.

»Es gibt Grenzen und Gefahren . . .«

»So ist das Leben nun mal«, sagte sie. »Wie lerne ich die Gabe einzusetzen?«

»Der Schlüssel dazu ist das Große Muster von Amber. Du mußt es durchschreiten, um die Fähigkeit voll zu erringen. Es ist in den Boden eines Saales unter dem Palast von Amber eingezeichnet. Es ist ziemlich groß. Man muß außen beginnen und ohne stehenzubleiben zur Mitte gehen. Dabei tritt ein ziemlich starker Widerstand auf, und man muß sich sehr anstrengen, um ihn zu brechen. Wenn man stehenbleibt oder das Muster zu verlassen versucht, ehe man es zu Ende beschriften hat, vernichtet es den Betreffenden. Doch begeht man es, wird die angeborene Macht über die Schatten der bewußten Kontrolle unterworfen.«

Sie eilte zu unserem Picknicklager und betrachtete das Muster, das wir dort in den Boden geritzt hatten.

Ich folgte ihr langsam. Als ich näher kam, sagte sie: »Ich muß nach Amber reisen und das Muster beschreiten!«

»Ich bin sicher, daß Benedict entsprechende Pläne mit dir hat – eines Tages.«

»Eines Tages?« fragte sie. »Nein, jetzt! Ich muß das Muster sofort beschreiten! Warum hat er mir nie etwas von diesen Dingen erzählt?«

»Weil du dieses Ziel noch nicht erreichen kannst. Die Verhältnisse in Amber sind so, daß es für euch beide gefährlich wäre, deine Existenz dort bekanntwerden zu lassen. Amber ist vorübergehend gesperrt für dich.«

»Das ist nicht fair!« sagte sie und starrte mich mürrisch an.

»Natürlich nicht«, sagte ich. »Aber so liegen die Dinge nun mal. Mir darfst du keine Schuld daran geben.«

Die Worte wollten mir nicht so recht über die Lippen, lag doch ein Teil der Schuld tatsächlich bei mir.

»Fast wäre es besser, wenn du mir nichts erzählt hättest«, sagte sie, »wenn ich doch noch nicht die Erfüllung finden kann.«

»So schlimm ist es nun auch wieder nicht«, sagte ich. »Die Situation in Amber wird sich stabilisieren – es dauert nicht mehr lange.«

»Wie erfahre ich davon?«

»Benedict wird es wissen. Er wird dir davon erzählen.«

»Er hat mir bisher nie viel erzählen wollen!«

»Wozu auch! Nur damit du dich benachteiligt fühlst? Du weißt, daß er dich gut behandelt hat, daß er sich Sorgen um dich macht. Wenn die Zeit reif ist, wird er die nötigen Schritte unternehmen.«

»Und wenn er es nicht tut? Wirst du mir dann helfen?«

»Ich werde tun, was ich kann.«

»Wie kann ich dich finden? Wie kann ich es dich wissen lassen?«

Ich lächelte. An diesem Punkt des Gesprächs waren wir angelangt, ohne daß ich bewußt darauf abgezielt hatte. Den wichtigen Aspekt brauchte ich ihr nicht zu verraten. Nur genug, um mir vielleicht später zu nützen . . .

»Die Tarockkarten«, sagte ich. »Die Familientrümpfe. Die sind mehr als eine sentimentale Narretei. Sie sind ein Verständigungsmittel. Besorge dir meine Karte, blicke sie fest an, konzentriere dich darauf, versuche alle anderen Gedanken aus deinem Geist zu vertreiben, tu so, als hättest du es wirklich mit mir zu tun, ehe du mich ansprichst. Dabei wirst du feststellen, daß dein Wunsch Wirklichkeit geworden ist, daß ich dir tatsächlich antworte.«

»Das sind alles Dinge, die mir Großvater beim Umgang mit den Karten verboten hat!«

»Natürlich.«

»Wie funktioniert das?«

»Das erzähle ich dir später einmal«, sagte ich. »Eine Hand wäscht die andere, weißt du noch? Ich habe dir von Amber und den Schatten erzählt. Jetzt erzähl du mir von Gérards und Julians Besuch.«

»Ja«, sagte sie. »Da gibt es allerdings nicht viel zu berichten. Vor fünf oder sechs Monaten hielt Großvater eines Morgens mitten in seiner Tätigkeit inne. Er war gerade dabei, einige Bäume im Obstgarten zu beschneiden – das macht er gern selbst –, und ich half ihm dabei. Er stand auf einer Leiter und schnipselte herum, und plötzlich erstarrte er, senkte die Schere und bewegte sich mehrere Minuten lang nicht. Ich dachte schon, er ruhe sich aus, und harkte weiter. Dann hörte ich ihn sprechen – er murmelte nicht nur vor sich hin, sondern sprach, als wäre er an einer Unterhaltung beteiligt. Zuerst dachte ich, er meinte mich, und fragte, was er gesagt habe. Doch er kümmerte sich nicht um mich. Jetzt kenne ich die Trümpfe und weiß, daß er mit einem von ihnen gesprochen haben muß. Wahrscheinlich mit Julian. Jedenfalls stieg er anschließend hastig von der Leiter, sagte mir, er müsse auf einen oder zwei Tage fort, und ging zum Haus. Doch gleich darauf blieb er stehen und kehrte zurück. Dann sagte er mir, daß er mich, falls Julian und Gérard auf Besuch kämen, als verwaiste Tochter eines getreuen Bediensteten vorstellen würde. Wenig später ritt er davon und nahm zwei reiterlose Pferde mit. Er hatte das Schwert angelegt.

Er kehrte mitten in der Nacht zurück und hatte beide Brüder bei sich. Gérard war nur noch so eben bei Bewußtsein. Sein linkes Bein war gebrochen, und die gesamte linke Körperhälfte wies Prellungen auf. Julian war ebenfalls ziemlich mitgenommen, hatte aber nichts gebrochen. Die beiden sind fast einen Monat lang bei uns geblieben; sie haben sich schnell wieder erholt. Dann liehen sie sich zwei Pferde aus und verschwanden. Seither habe ich sie nicht wiedergesehen.«

»Was haben sie über die Gründe ihrer Verwundungen gesagt?«

»Nur, daß sie in einen Unfall verwickelt worden seien. Sie wollten mit mir nicht darüber sprechen.«

»Wo? Wo ist das geschehen?«

»Auf der schwarzen Straße. Ich habe sie mehrmals davon sprechen hören.«

»Wo liegt die schwarze Straße?«

»Das weiß ich nicht.«

»Was haben sie darüber gesagt?«

»Sie haben sie lauthals verflucht. Das war alles.«

Ich blickte hinab und sah einen Rest Wein in der Flasche. Ich bückte mich, schenkte zwei letzte Gläser voll und reichte ihr eins.

»Auf unser Wiedersehen«, sagte ich und lächelte.

». . . Auf das Wiedersehen«, wiederholte sie, und wir tranken.

Sie begann unser Lager aufzuräumen, und ich half ihr. Plötzlich machte sich wieder das Gefühl bemerkbar, daß mir die Zeit zwischen den Fingern hindurchrinne.

»Wie lange soll ich warten, bis ich mich mit dir in Verbindung setze?« fragte sie.

»Drei Monate. Laß mir drei Monate Zeit.«

»Wo wirst du dann sein?«

»Hoffentlich in Amber.«

»Wie lange bleibst du hier?«

»Nicht sehr lange. Offen gesagt muß ich auf der Stelle einen kleinen Ausflug unternehmen. Bis morgen müßte ich zurück sein. Und dann bleibe ich wahrscheinlich nur noch ein paar Tage.«

»Ich wünschte, du bliebest länger.«

»Ich auch. Es würde mir sicher Spaß machen, wo ich dich jetzt kenne.«

Sie errötete und schien sich ganz auf den Korb zu konzentrieren, den sie packte. Ich suchte unsere Fechtsachen zusammen.

»Kehrst du jetzt zum Haus zurück?« fragte sie.

»In die Ställe. Ich reite sofort los.« Sie nahm den Korb auf.

»Dann gehen wir zusammen. Mein Pferd steht in dieser Richtung.«

Ich nickte und folgte ihr zu einem Pfad, der sich rechts von uns entlangzog.

»Wahrscheinlich wäre es das beste, wenn ich niemandem etwas sage, und schon gar nicht Großvater, nicht wahr?«

»Das wäre ratsam.«

Das Plätschern und Gurgeln des Flüßchens auf seinem Wege zum Meer verhallte, nur noch das Quietschen des Mühlrads, welches die Wasserfläche zerteilte, war eine Zeitlang zu hören.

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